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Der Schiffsjunge der „Esmeralda“

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Schiffsjunge der „Esmeralda“[1].

 

W. Belka.

 

Die beiden einzigen Deutschen der sechzehn Köpfe starken Besatzung der Brigg „Esmeralda“ standen an der Backbordreling des Vorschiffs in leisem Gespräch.

„Merkst Du nun, mein Junge, daß ich recht behalte?!“ sagte der Vollmatrose Jan (Johann) Jensen zu Fritz Melcher. „Wenn wir wirklich nur harmlose Maschinenteile im Raume hätten, würden wir wohl kaum wie die Diebe uns bei Nacht und Nebel in die Bucht dieser öden Insel hineingeschlichen haben und hier nun bereits zwei Tage festliegen, während unser Kapitän ständig von jener Anhöhe aus das Meer überwachen läßt, als erwarte er jemanden oder aber als befürchte er unangenehme Überraschungen.“

Der hagere, langaufgeschossene Schiffsjunge nickte eifrig, schaute sich dann erst argwöhnisch um und erwiderte:

„Wäre ich nur nie auf diese Brigg gekommen …!! Aber – das viele Geld lockte, und die Bark „Luise“, auf der ich vorher angeheuert hatte, würde ja mit der schweren Bodenbeschädigung mindestens noch zwei Monate in New York im Dock gelegen haben. So lange wollte ich nicht feiern. Und jetzt – jetzt werde auch ich seit vorgestern das Gefühl nicht mehr los, daß all die Mexikaner hier an Bord unter einer Decke stecken und vor uns Geheimnisse haben. – Ja, ja, Jensen, es wird schon stimmen, was Ihr bald nach unserer Ausreise von New York sagtet: ist ein Schiff, das Waffenschmuggel treibt, auf dem wir uns befinden …!“

„Das unterliegt für mich keinem Zweifel, ebensowenig, daß die Mexikaner vom Kapitän Rodriga bis hinab zu dem pockennarbigen Schiffskoch Revolutionäre sind. Mexiko wird ja seit einem Jahre von inneren Unruhen heimgesucht, was dem Lande wahrhaftig nicht zum Vorteile gereicht.“

Es war eine sternenklare, warme Frühjahrsnacht. Lichte Dämmerung breitete sich über die vielfach gekrümmte, schmale Bucht und die kleine, unbewohnte Insel aus, auf der man deutlich auf dem grauen Gestein die weiten, helleren Kakteenfelder unterschied, gebildet von einer niedrig wuchernden Art dieser genügsamen Pflanze, über deren eintönige Fläche hier und da in Gruppen riesige Kandelaber- und Säulenkakteen hinausragten.

Da klang plötzlich vom Ufer der Bucht ein lauter Anruf herüber.

Es war einer der Leute, die auf der Anhöhe der Westseite Wache gehalten hatten, ein Dienst, zu dem man die beiden Deutschen nicht hinzugezogen hatte, was auch schon auffällig genug war.

Kapitän Rodriga erschien jetzt mit dem Steuermann an Deck. Beide kletterten in die Jolle und ruderten zu dem Manne hinüber, kehrten aber gleich darauf zurück.

„He, Jensen“, brüllte der schwarzhaarige, sehnige Rodriga dem deutschen Matrosen in verdorbenem Englisch zu. „Kommt einmal her … – Ich habe für Euch, den Jungen und Dich einen besonderen Auftrag. Laßt Euch vom Koch schnell ein paar Lebensmittel geben und eine Kanne Trinkwasser. Dann geht Ihr nach der Ostseite der Insel, wo Ihr am Strande einen einzelnen Felsen finden werdet. Dort bezieht Ihr Wache, bis ich Euch ablösen lasse. – Aber macht hurtig, verstanden?! Und Ihr bleibt unter allen Umständen dort! Nur wenn sich ein großer Dampfer der Insel nähern sollte, der noch außer den Positionslaternen am Bug zwei rote Lichter zeigt, meldet einer von Euch mir das. – So, fort mit Euch …!“

Zehn Minuten später traten Jan Jensen und Fritz Melcher ihre Wanderung nach der Ostseite an. Es war nicht leicht, sich zwischen den zum Teil schulterhohen Kakteenfeldern hindurchzufinden. Oft gerieten die beiden Deutschen in Sackgassen zwischen den grüngrauen, stachligen Flächen und mußten umkehren.

Kaum waren sie allein gewesen, als Jensen auch schon mit einem spöttischen Auflachen zu dem kleinen Landsmanne gesagt hatte:

„Wir sollen dort Wache halten …?! Lächerlich!! Der Kapitän hat uns nur von Bord weghaben wollen …! Das ist so sicher, wie ich Jan Jensen heiße und aus Schleswig stamme. Wer weiß, was die gelbgesichtige Bande auf der „Esmeralda“ vorhat …! Vielleicht sollen die Waffen hier so nahe der Küste Mexikos auf ein anderes Schiff verladen werden. Und dieses Schiff werden die Posten auf der Ostseite vorhin erspäht haben, als einer von ihnen den Rodriga an Land rief.“

Fritz Melcher, der den Beutel mit dem Dörrfleisch und den Schiffszwiebacks sowie die Wasserkanne schleppte, hatte darauf nur erwidert:

„Derselbe Gedanke ist mir auch gleich gekommen, Jensen, – tatsächlich! – Holla – da sind wir schon wieder in eine falsche freie Stelle zwischen den Kakteenfeldern eingebogen. Also kehrt marsch …! Überhaupt doch eine merkwürdige Pflanze, diese Kakteen! Nie hätte ich gedacht, daß sie solche Größe erreichen und so viele verschiedene Formen haben. Hier – dieses Ding sieht wahrhaftig wie ein großer Igel aus. – Etwas anderes als Kakteen scheint es auf der Insel kaum zu geben, – keinen Baum – nichts, nur noch ein paar armselige Sträucher.“

Nach einer Viertelstunde mühseligen Umherirrens zwischen den Kakteen und den verstreuten Felsen hatten sie dann den Oststrand erreicht. Das Ufer fiel hier ziemlich steil ab und bildete nur einen schmalen, sandigen Streifen, von dem sich aber der von Kapitän Rodriga erwähnte Felsblock desto deutlicher abhob. Dieser besaß nach der See hin eine Abplattung, die gerade groß genug war, um als Lagerplatz zu dienen. Hier machten die beiden Landsleute es sich bequem, rauften eine Menge des spärlichen Grases aus, bereiteten sich daraus weiche Sitzgelegenheiten und plauderten noch eine gute Stunde miteinander.

Jensen erzählte von seinen Fahrten, die ihn über alle Meere und nach aller Herren Länder geführt hatten.

Er war nicht mehr jung, dieser Jan Jensen und der Schiffsjunge begriff nicht recht, daß dieser gebildete, gewandte Mensch es noch nicht weiter als bis zum Vollmatrosen gebracht hatte. – Auf Jensens blondbärtigem, braungebranntem Gesicht lag zumeist ein nachdenklicher, fast trauriger Ausdruck. Irgend etwas Schweres schien auf seiner Seele zu lasten, irgend ein Geheimnis in seinem Leben vorhanden zu sein, das ihn hinderte, nach der Heimat zurückzukehren. Fritz Melcher hatte ja schon aus gelegentlichen Bemerkungen seines älteren Freundes – denn das war ihm Jan Jensen auf der „Esmeralda“ geworden! – herausgehört daß dieser seit mindestens zwölf Jahren keinen deutschen Hafen mehr betreten hatte.

Jensen erzählte heute so allerlei. Nur von sich selbst, seinen Eltern, seiner Heimat sprach er nicht.

Dann, es war kurz nach Mitternacht, gähnte er ein paarmal herzhaft und erklärte nun, er wolle drei Stunden schlafen, während Fritz inzwischen wachen solle.

„Gib Dir aber keine Mühe, Junge“, fügte er hinzu, „draußen in See einen Dampfer zu erspähen, wie Rodriga ihn uns beschrieben hat. Das ist alles Schwindel! Wir sollten nur nicht an Bord bleiben, damit wir den Mexikanern nicht zu tief in das Geschäft gucken!“

Er holte sich jetzt noch mehr Gras herbei, auch weichen, trockenen Seesand, machte sich daraus ein Lager und war auch sehr bald eingeschlafen, nachdem er die Wasserkanne noch in eine tiefe Felsspalte gesteckt hatte, damit ihr Inhalt kühl bliebe.

Fritz Melcher aber ging, um im Sitzen nicht vom Schlaf übermannt zu werden, am Strande auf und ab. Es war so hell, daß er genau ein paar große Krebse erkannte, die sich an einem Fischkadaver gütlich taten. Auch bemerkte er einige Schildkröten, darunter recht stattliche Exemplare, die im Ufersande im Schutze der Nacht ihre Eier in flachen Löchern ablegten und diese nachher wieder mit Erde bewarfen.

Die Beobachtung des Tierlebens am Ufer bot dem Knaben, der für die Natur stets sehr viel übrig gehabt hatte, so mannigfache Abwechslung, daß die Zeit ihm schnell verstrich. Als er jetzt nach seiner billigen Nickeluhr sah, war er überrascht, daß bereits zwei Stunden seiner Wache vergangen waren.

Er kehrte gerade wieder bei seinen langsamen Hin und Her schlendern nach dem Felsen zurück, als er in der Ferne und zwar aus der Richtung der Bucht einen schwächeren Knall vernahm, dem wenige Sekunden später das Donnergetöse einer schweren Explosion folgte.

Gleich darauf stieg auch über den zerklüfteten Felsen, die die Mitte der Insel füllten, eine schwarze, dicke Rauchtraube hoch, die sich im Nachtwinde langsam zerteilte.

Jan Jensen war bei dem ungeheuren Krach sofort auf die Füße gesprungen.

„Die „Esmeralda“ ist in die Luft geflogen“, rief er dem Schiffsjungen zu. „Jetzt wissen wir, welche Menge Munition sie auch im Raume gehabt haben muß …! – Was tun wir? Eilen wir nach der Bucht oder bleiben wir hier? – Meines Erachtens lebt auch nicht eine einzige Ratte der Brigg mehr. Ich denke, wir sehen mal nach, was geschehen ist. Wir brauchen uns ja nicht blicken zu lassen, falls meine Vermutung nicht stimmt.“

Fritz Melcher brannte natürlich darauf, schleunigst an die Unglücksstätte zu kommen. – In eiligem Trab liefen die beiden nun der Bucht zu. Aber gerade weil sie jetzt noch weniger als auf dem Hinwege die Kakteenfelder mit ihren oft recht schmalen Durchgängen auf ihre Passierbarkeit prüften, gerieten sie immer wieder in Sackgassen, so daß sie weit über zwanzig Minuten brauchten, ehe sie den im Sternenschein matt funkelnden Wasserspiegel der Bucht vor sich sahen.

Nun gingen sie langsamer und tief gebückt weiter, stets sich im Schutze von Kakteengruppen haltend. Ein Zufall hatte sie mehr nach der Seeseite der Bucht an die Ecke der nächsten Krümmung geführt, so daß sie sowohl den Ankerplatz der „Esmeralda“ als auch einen mittelgroßen Dampfer erblicken konnten, der hinter der Biegung mit abgeblendeten Lichtern lag.

Die Brigg war verschwunden. Auch nicht eine Spur war von ihr übriggeblieben; vielleicht ein paar Trümmer, die im Wasser umherschwammen, die aber von dem Standorte der beiden Deutschen bei dieser Beleuchtung nicht zu erkennen waren.

Dann hörten Jensen und Fritz vor sich am Ufer erregte Stimmen, auch schwachen Ruderschlag und gleich darauf das Knirschen eines Bootskieles auf dem Ufergeröll.

Jensen befahl dem Schiffsjungen zurückzubleiben und schlich davon, um die Männer, die da eben ihr Boot auf den Strand getrieben hatten, zu belauschen.

– – – – – – – –

Der Matrose hatte jedoch Pech – richtiges Pech. Als er eben auf allen Vieren hinter einen Felsblock kriechen wollte, der ihm gute Deckung geboten hätte, ging dicht vor ihm aus einem verkrüppelten Strauche surrend eine ganze Schar kleiner Vögel hoch.

Hierdurch aufmerksam gemacht, näherte sich einer der Leute aus dem Boote dem Felsen und mußte so notwendig die in einen schmutzigen, einst weiß gewesenen Anzug gekleidete Gestalt Jensens bemerken.

Wenige Minuten später stand der blondbärtige Matrose im Kreise von etwa 12 Mexikanern, unter denen sich auch Kapitän Rodriga befand, der als einziger die Explosionskatastrophe überlebt hatte, abgesehen von den beiden Deutschen. Und diese Rettung hatte er auch nur dem Umstande zu verdanken, daß er sich gerade an Bord des Dampfers begeben hatte, als die Brigg infolge einer Unachtsamkeit beim Verladen der Munitionskisten in die Luft gesprengt wurde.

Die Mexikaner, die recht phantastisch gekleidet und sämtlich bewaffnet waren, musterten Jensen mit feindseligen Blicken, als Rodriga nun erklärte, wen man vor sich hatte. Der Kapitän fuhr Jensen grob an, weil dieser seinen Posten ohne Befehl verlassen hätte.

„Du bist heute Mitwisser eines gefährlichen Geheimnisses geworden“, sagte er dann finster. „Und Mitwisser, die einer fremden Nation angehören, können wir nicht brauchen. – – Was soll mit dem Manne geschehen, General?“ wandte er sich an einen langen, hageren Menschen, dessen Gesicht von einem mächtig breitrandigen Strohhut beschattet wurde.

„Erschießen“, sagte der Parteigänger des mexikanischen Bandenführers Villa kurz.

„Es ist ein Deutscher“, meinte Rodriga, als ob er den Rebellengeneral vor den möglichen Folgen eines solchen Mordes warnen wollte. Und fügte hinzu, indem er das Wort wieder an Jensen richtete:

„Wo ist der Schiffsjunge. Dein Landsmann?“

„Tot“, erklärte Jensen gleichgültig.

„So? Und wie das?! – Du lügst Bursche …?!“

„Wie das? – Sehr einfach, Kapitän. Man badet nicht in der See in diesen Gewässern, wenn einem das Leben lieb ist. Der vielen Haifische wegen. Der Junge war ja aber klüger als ich.“

Vielleicht erzielte Jensen gerade durch diese knappen Angaben den gewünschten Erfolg. Rodriga lachte jedenfalls kurz auf und meinte:

„Gut so, – dann haben wir’s nur noch mit Dir zu tun.“

Er nahm jetzt den langen Mexikaner, der offenbar hier zu bestimmen hatte, bei Seite und flüsterte eine geraume Zeit mit ihm.

Der deutsche Matrose gab in diesem Augenblick keinen Pfennig für sein Leben. Aber das hatte er sich doch vorgenommen: ohne Widerstand ließ er sich nicht niederknallen! Noch hatte er ja die Arme frei, und die Leute, die um ihn herumstanden, wollte er schon mit ein paar Stößen und Hieben fortschleudern, um freie Bahn zur Flucht zu bekommen.

Aber Rodriga war schlauer. Er wußte, über welche Körperkräfte der deutsche Matrose verfügte, zog jetzt plötzlich einen Revolver und schlug auf Jensen an.

„Keine Bewegung, oder ich schieße Dir ein drittes Augenloch in den Schädel!“ drohte er. „Bindet ihn!“ rief er den Rebellen dann zu. Und ehe Jensen es sich versah, lag er am Boden, wurde von einer Übermacht festgehalten und im Handumdrehen mit Lassos gebunden. Nachdem man ihm dann eine Decke über den Kopf geworfen hatte, wurde er wie ein Bündel von drei Leuten fortgetragen. Sehr sanft gingen diese mit ihm nicht um. Er hörte, daß ein paar Männer den Trägern den Weg wiesen, hörte sie sprechen und glaubte auch Rodrigas Stimme zu erkennen.

Erst hatte er angenommen, daß man ihn tatsächlich füsilieren würde. Bald wurde ihm jedoch klar, wie wenig diese Vermutung zutreffen konnte, da die Mexikaner ihn jetzt offenbar auf die Hügelgruppe schleppten, die in der Mitte der Insel lag. Oft erhielt er böse Püffe, oft wurde er rücksichtslos über den Boden hingeschleift.

Dann fühlte er, wie die Hände der Träger ihn losließen, wie er mit den Füßen nach unten an einem Seile oder Lasso, das unter seinen Armen durchgezogen war, irgendwohin hinabgelassen wurde. Die ihn umgebende Luft wurde kühler und kühler. Es mußte also wohl eine enge Felsspalte sein, in die man ihn abwärtsgleiten ließ. Jetzt fühlte er festen Boden unter den Füßen. Dann glitt das Seil unter seinen Armen durch. Ohne Zweifel zog man es wieder nach oben. Und nun lüftete sich auch die schwere Decke, die seinen Kopf verhüllt hatte und die die Mexikaner an den Lasso angeknotet hatten.

Er hob den Kopf. – – Über sich erblickte er einen unregelmäßig runden, hellen Fleck, – das Felsloch, durch das er soeben hinabbefördert worden war. Er sah die Sterne blinken, sah auch eine Gestalt, die sich über den Rand der Öffnung oben beugte und dann verschwand. Als letztes bemerkte er noch die Decke, die schnell aufwärtsschwebte wie eine schwarze, große Fledermaus.

Dann nichts mehr – nichts – – Stille, Totenstille um ihn her – – – Und so stand er, an Armen und Beinen gefesselt, eine ganze Weile regungslos, drehte nur mechanisch den Kopf und suchte das ihn umgebende Dunkel mit den Augen zu durchdringen.

Ihn zu erschießen hatten die Rebellen nicht gewagt. – – Aber sie wollten sich seiner auf unblutige Art erledigen, ihn hier unten verhungern und verdursten lassen …!!

Nun – Jan Jensen war nicht der Mann, um so schnell den Mut zu verlieren. Auch Lederriemen lassen sich an scharfen Felskanten durchreiben, wenn man nur Geduld [hat][2] und einigermaßen geschickt ist.

Der dunkle Schlund, in dem der Matrose sich befand hatte hier und da vorspringende Felsnasen, von denen sich Jensen, indem er mit seinen auf den Rücken gefesselten Händen das Gestein abtastete, sich eine geeignete Stelle aussuchte.

Gewiß, er konnte nicht verhindern, daß bei dieser Arbeit des Durchsägens der geflochtenen Riemen Stücke der Haut mitgingen. Aber was machte das aus, wo es sich um Leben und Freiheit handelte …!

Eine halbe Stunde brauchte er gut, ehe er mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung die Schlingen des Lassostückes abstreifen konnte.

Das Weitere war eine Kleinigkeit, da die Mexikaner ihm alle seine Sachen gelassen hatten, also auch das große Klappmesser in der linken Tasche seines Beinkleides. – So wurde er sehr schnell auch die Fußfesseln los.

Seine Hände waren feucht von Blut und schmerzten stark. Als er nun die Bewegungsfreiheit seiner Glieder wiedererlangt hatte, überkam es ihn doch wie ein leichter Schwächeanfall. Er mußte sich setzen, lehnte sich gegen die Felswand des Schachtes und ruhte sich erst eine Weile aus. Dann holte er sein Feuerzeug hervor. Zum Glück war die Luntenschnur noch recht lang. Er brauchte also nicht gerade allzu sparsam damit umzugehen.

Der Wind hatte in die Felskluft mit der Zeit eine ganze Menge trockene Gräser und verdorrte Kakteenzweige hineingeweht. Sehr bald hatte Jensen die Genugtuung, in dem Ballen von Gräsern um die glimmende Lunte herum ein Flämmchen aufzucken zu sehen. Und nun flackerte knisternd am Boden des Schachtes ein von Kakteen genährtes Feuer auf, das den etwa vier Meter im Durchmesser weiten Schlund genügend erleuchtete, um dem Matrosen eine niedrige Öffnung zu zeigen, die an der einen Seite noch tiefer und offenbar als ziemlich wagerechter Gang verlaufend in das Felsmassiv hineinführte

Jensen war gespannt, was er hier unten noch alles entdecken werde. Bewies ihm doch eine über dem Felsloche in den Stein eingemeißelte Bilderschrift, daß dieser Ort einst von irgend welchen Ureinwohnern Mexikos häufiger besucht worden war und für sie eine besondere Bedeutung gehabt haben müsse.

Er hatte ja, gleich nachdem die „Esmeralda“ die Bucht bei Nacht angelaufen hatte, auf einer in seinem Besitz befindlichen Seekarte mit ziemlicher Sicherheit festgestellt, daß die Insel mit den weiten Kakteenfeldern nur das unbewohnte, zehn Meilen von der Küste Mexikos entfernte Eiland Salatara sein könnte, das im Südostwinkel der großen Tampeche-Bai dem öden Strande der Yukatan-Halbinsel vorgelagert, ebenso einsam und weltabgeschieden ist, als rage es irgendwo aus den Fluten in der Mitte des Atlantik heraus. Mithin müßte die Bilderschrift über der Felsöffnung indianischen Ursprungs und sehr, sehr alt sein. Kein Wunder also, wenn Jensen seine traurige Lage völlig über dem Wunsche vergaß, tiefer in das Berginnere einzudringen.

Schnell hatte er genügend Kakteenzweige und Gräser gesammelt, um daraus ein paar primitive Fackeln herstellen zu können. Kühn wagte er sich dann in den Felsengang hinein, stellte fest, daß dieser sich bald zu einer schmalen, langen Höhle erweiterte und … blieb hier nun wie angewurzelt stehen.

Der Anblick, der sich ihm darbot, war so seltsam, so geisterhaft und schaurig zugleich, daß ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat und etwas wie eine Lähmung ihn befiel.

Die Wände der Höhle erstrahlten nämlich ebenso wie große Teile der Deckenwölbung in einem weißlichen, geradezu überirdisch erscheinenden Lichte. Und dieses schwache Leuchten hätte auch ohne die brennende Fackel in Jensens hocherhobener Rechten genügt, um das erkennen zu können, was diesem Raume erst das Schauerliche gab: zu beiden Seiten der Höhle standen an den Wänden in kurzen Abständen eine Unzahl Mumien, die durch starke Lederriemen in aufrechter Stellung festgehalten wurden. Einzelne waren auch nach vorn übergefallen, anderen fehlten die Köpfe und einzelne Gliedmaßen, die über den Felsboden verstreut waren.

Der Matrose schüttelte das Grauen mit aller Energie von sich ab. – Was taten ihm diese vertrockneten Leichen die hier vielleicht schon viele Jahrhunderte weilten …?! – Die stumme, regungslose Gesellschaft der Mumien verlor für Jan Jensen bald alles Schreckliche. Er begann die hier in der trockenen Höhlenluft ohne jede Einbalsamierung konservierten Toten näher zu betrachten. In den Pyramiden Ägyptens und den Totengrotten Perus hatte er bereits genügend Mumien gesehen, um in ihnen jetzt nur noch eine recht harmlose Versammlung der sterblichen Reste von seinesgleichen zu sehen, – von Menschen, allerdings farbigen Menschen, Indianern, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Die Mumien waren sämtlich einst bekleidet gewesen und zwar mit Überwürfen von gegerbtem Leder, das den Jahrhunderten jedoch nur teilweise hatte trotzen können und entweder völlig zusammengeschrumpft oder in Staub zerfallen war. Manche Köpfe waren noch sehr gut erhalten. Andere bildeten nur noch mit braunschwarzer Haut überzogene, grinsende Totenschädel.

Für einen Mann mit weniger guten Nerven als Jan Jensen sie besaß wäre der Aufenthalt in dieser Höhle eine Pein gewesen. Aber der deutsche Matrose war über die Scheu vor Toten völlig erhaben. Nachdem er die Mumienhalle durchschritten und gesehen hatte, daß diese am anderen Ende noch eine Fortsetzung in Gestalt eines engen Felsenganges besaß, untersuchte er jetzt erst einmal die Wände, um zu sehen, wie die Lichterscheinung an dem Gestein zustande kam.

Die Erklärung dafür war schnell gefunden. Der Fels zeigte überall einen feinen Überzug jener Flechten, die der Wissenschaft als sogenannte Leuchtmoose bekannt, aber sehr selten sind und nur unter ganz bestimmten Bedingungen gedeihen.

Als Jensen dies festgestellt hatte, mußte er jetzt schon über sich selbst etwas geringschätzig lächeln. Ein Mann von seiner Bildung hätte auch nicht einen Augenblick in diesem Raume seine Fassung verlieren dürfen, sagte er sich, hätte nicht wie ein nervenschwaches Weib lediglich das Unheimliche dieser Mumienhöhle auf sich wirken lassen dürfen …! Hier gab es ja genug Interessantes, um nur dieses zu empfinden und nicht auch den Gesamteindruck des Schauerlichen.

Gemächlich holte er jetzt seine kurze Tabakpfeife hervor, füllte sie aus dem kleinen Lederbeutel und blies dann mit Behagen die ersten Rauchwolken in die kühle, trockene Luft des seltsamen Massengrabes.

– – – – – – – –

Die Höhle war durch den Gang, wie der Matrose dann feststellte, mit einer zweiten verbunden, die jedoch nicht wagerecht verlief, sondern in verschiedenen unregelmäßigen Terrassen nach Norden zu, was Jensen durch seinen kleinen Kompaß erkannte, anstieg. Über der höchsten dieser Terrassen, von der aus man die Grottenwölbung mit den Fingerspitzen berühren konnte, zog sich ein zweiter Schacht durch die Felsmassen nach oben. Hier vermocht der Matrose jedoch nichts von dem ausgestirnten Nachthimmel zu sehen. Die obere Öffnung des Schachtes war also sicher gekrümmt, wie Jensen lediglich auf Grund seiner Beobachtung der Zugluft herausfand, das Licht der armseligen, nur zu schnell herunterbrennenden Fackeln nicht weit genug aufwärts reichte.

Leider bemerkte der Matrose aber auch hier, daß es keine Möglichkeit gab, an den Wänden des Schachtes hochzuklimmen. Dies hatten die Mexikaner sicherlich auch gewußt.

Trotzdem glaubte Jensen keinen Grund zum Verzweifeln zu haben, hoffte vielmehr auf die Hilfe des Schiffsjungen, der fraglos aus einiger Entfernung beobachtet hatte, was mit dem älteren Freunde geschah. Freilich, wenn in Kapitän Rodriga nachher doch vielleicht Zweifel an der Wahrheit seiner – des Matrosen – Aussage aufgestiegen waren und man Fritz Melcher auf der Insel gesucht hatte, dann konnte es geschehen sein, daß der Knabe den Mexikanern in die Hände gefallen war, und dann stand es mit dem zum Hungertode verurteilten Gefangenen der Rebellen wirklich schlimm. Wie sollte Jensen wohl aus diesen unterirdischen, natürlichen Grotten heraus, wo doch beide Schachte mit ihren steilen Wänden weder Händen noch Füßen Halt boten …!

Der Matrose fühlte sich jetzt durch diese soeben in ihm aufgestiegenen Bedenken doch stark beunruhigt und beeilte sich, nach dem ersten Schachte zurückzukehren, bevor die letzte Fackel gänzlich heruntergebrannt war. Wenn Fritz Melcher noch frei war, so würde er sich ja wohl sehr bald melden und sich mit dem Gefährten von oben durch Zurufe durch den vorderen Schacht verständigen. Also mußte Jensen notwendig dort fürs erste sein Lager aufschlagen.

Als er die Mumienhöhle passiert und den Schacht erreicht hatte, wurde er gewahr, daß der Himmel sich bereits zu lichten begann.

Er war jetzt doch nach den Aufregungen der letzten Stunden recht müde geworden, setzte sich in eine Ecke und wartete, hin und wieder einnickend, die Tageshelle ab. Sehr schnell färbte sich die Öffnung über ihm immer klarer. Dann sah er, wie die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne über das Felsloch hinwegglitten. Jetzt herrschte auch unten bei ihm eine halbe Dämmerung, die gerade groß genug war, um das Gefühl zu verdrängen, in ein dunkles Kerkerloch eingesperrt zu sein.

Aber Stunde um Stunde verrann, und kein Fritz Melcher ließ sich blicken oder irgendwie vernehmen. Jensen begannen Hunger und Durst zu peinigen. Die Sonne stand jetzt bereits fast senkrecht über dem Schachte. Die Uhr des Matrosen zeigte auf elf. Da wurde es ihm klar, daß er auf Hilfe von Seiten des Knaben nicht mehr rechnen dürfe.

Tiefe Mutlosigkeit überkam ihn. Aber nicht für lange. Plötzlich erhob er sich und maß mit den Augen die Höhe des Schachtes aus, betrachtete die Wände ganz genau, prüfte jeden Vorsprung, jede Spalte.

Nein – zu erklettern waren diese steilen Felsen nicht, wenigstens nicht ohne Hilfsmittel.

Die Höhe betrug etwa zwölf Meter. In sieben Meter Höhe über dem Boden aber gab es etwas wie einen natürlichen Balkon, eine breite vorspringende Gesteinsnase. Und auf diese setzte Jensen jetzt alle seine Hoffnung.

Zunächst knotete er die durchschabten Lassostücke zusammen, so gut es ging. Dann stellte er sich eine Fackel her und betrat wieder die Mumienhöhle, wo er von den eingetrockneten Körpern alle diejenigen Überwürfe loslöste, die noch leidlich geschmeidig und haltbar waren. Mit dieser Beute kehrte er in den Schacht zurück und begann nun die Ledermäntel in Streifen zu zerschneiden, aus denen er, als Matrose mit solchen Seilerarbeiten wohlvertraut, einen Strick flocht, den er auch in zwei Stunden nach Wunsch fertigbrachte. Dann suchte er in der Terrassengrotte nach einem länglichen, nicht allzu schweren Felsstück, das er an das eine Ende des etwa acht Meter langen Strickes knotete, den er noch durch die Lassoteile verlängerte.

Nun kam es darauf an, den festgebundenen Stein so über die Felsnase zu werfen, daß er sich zwischen dieser und der Wand des Schachtes festklemmte.

Hätte Jensen nicht so bedeutende Armkraft besessen, so würde ihm dieser schwierige Wurf nie geglückt sein. Aber – es gelang. Und gleich darauf turnte er an dem Strick geschickt in die Höhe und stand nun auf der Felsnase – freilich noch immer fünf Meter unterhalb der Schachtöffnung.

Der Rand des Schachtes wies nun hier und da tiefe Risse wie Kerben auf, und gerade der Felsnase gegenüber lag hoch oben so eine Kerbe, in der, wenn man Glück hatte, sich das über den Rand hinweggeschleuderte und vorsichtig wieder angezogene Felsstück mit den Stricke verankerte.

Jensen probierte den Wurf zwölfmal vergeblich. Erst der dreizehnte gelang nach Wunsch. – Nachdem er sich dann durch ruckweises Ziehen an der geflochtenen Leine davon überzeugt hatte, daß der Anker oben wirklich zuverlässig sich festgelegt hatte, vertraute er sich dem Schutze des Allgütigen an, packte das Seil hoch über seinem Kopf und zog die Beine an. Sofort trug ihn der schräg nach unten angespannte Lederstrick gegen die gegenüberliegende Wand, wo er ziemlich hart anstieß.

Es waren furchtbare Sekunden, die der Matrose jetzt durchlebte. Löste sich oben der Stein, so stürzte er in den Schacht hinab – acht Meter tief …!!

Aber der primitive Anker hielt. Und vorsichtig kletterte Jensen nun höher und höher, bis er mit den Händen über den Rand der Öffnung hinübergreifen, sich in einer Ritze des Bodens festkrallen und vollends hochziehen konnte.

Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er das Wagnis geglückt sah und er hoch oben auf einer breiten Plattform stand, die, von allen Seiten steil abfallend, wie eine mächtige, natürliche Esse den Schacht in sich barg.

Dieser enorme Felsblock, der aus den Felsenhügeln wie ein Turm herauswuchs, besaß jedoch noch mehr Eigentümlichkeiten. Nach Süden zu wölbte sich über seinen Rand, wie eine ziemlich tiefe Laube anzusehen, eine Steinwand, die einen vor den Unbilden der Witterung ziemlich geschützten Ort schuf. Dies hatte auch ein Steinadlerpaar klug für seine Nistzwecke ausgenutzt. In dem großen, aus Baumästen, Gräsern, Laub und Moosstücken bestehenden Neste befanden sich zwei halbflügge Junge, deren Eltern wohl auf Raub nach dem Festlande unterwegs waren.

Noch bemerkenswerter als dieser Adlerhorst war jedoch der Zugang zu dieser für Menschen sonst nur mit Hilfe sehr langer Leitern ersteigbaren Plattform, die im Nordteile einen spitzen Winkel bildete, der sich zu einer natürlichen, schmalen Felsenbrücke verjüngte. In einem Bogen von etwa zehn Meter Spannweite führte dieses gewölbte Felsstück über einen tiefen Abgrund nach der Spitze eines Hügels hin, der in breiten, mit Kandelaberkakteen bewachsenen Terrassen nach allen Seiten hin abfiel.

Jan Jensen lief es noch jetzt kalt über den Rücken, als er daran dachte, daß die Mexikaner ihn in der verflossenen Nacht über diese stellenweise kaum ein Meter breite Naturbrücke getragen hatten. Wie leicht hätte einer der Leute in der Dunkelheit über eine der Unebenheiten des Felsens stolpern können …! – Ein Glück, daß die Decke ihm die Augen verhüllt hatte, so daß er nichts von der Gefährlichkeit des Weges geahnt hatte, der von den Trägern mit ihrer lebenden Last zurückgelegt wurde.

Nun – das lag ja alles hinter ihm! Also fort mit den Gedanken …! Jetzt galt es, zunächst den kleinen Freund zu suchen, um den er wirklich schon ernstlich in Sorge war.

Die Brücke war bald überschritten und ebenso schnell der Abstieg von dem gegenüberliegenden Hügel bewerkstelligt. Vorher aber hatte der vorsichtige Matrose das ganze Gebiet der Insel, so weit er es von der Plattform zu überblicken vermochte, genau überschaut, ob nicht etwa noch einer seiner Todfeinde – denn als solche mußte er die mexikanischen Rebellen jetzt betrachten – in der Nähe sei. Nun – diese Angst war überflüssig gewesen. Keine Menschenseele war sichtbar. Die grüngrauen Kakteenfelder, die Gebüschgruppen, die hochragenden Kandelaber- und Säulenkakteen mit den dazwischen gestreuten kahlen Felsblöcken und grauschwarzen, steinigen Hügelpartien lagen so einsam und verlassen da, als habe sich nie an dieser Stätte vor kurzem eine furchtbare Katastrophe abgespielt, der so und soviele Menschen zum Opfer gefallen waren.

Am Fuße des Terrassenhügels angelangt, blieb Jan Jensen unschlüssig stehen und überlegte, wo er den Schiffsjungen zuerst suchen solle. Dann fiel ihm jedoch etwas anderes ein. Und schleunigst lenkte er seine Schritte nach der Bucht, um sich zu überzeugen, ob der Rebellendampfer die Insel auch wirklich verlassen habe.

Dieser Gang nach der Bucht, bei dem Jensen es in keiner Weise an der nötigen Vorsicht fehlen ließ, zeigte ihm, daß er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Der Dampfer war verschwunden. Jetzt erst fühlte der Matrose sich ganz sicher. Von der Plattform aus hatte er nur einzelne Teile der Bucht überblicken können. Nun war er sehr zufrieden, daß er es bei dieser oberflächlichen Ausschau nach dem Schiffe nicht hatte bewenden lassen, da er erst jetzt sich wirklich frei bewegen konnte.

Die Neugierde trieb ihn nach dem Ankerplatze der „Esmeralda“ hin. Am Ufer fand er ein paar zerbrochene Planken und Teile der Masten, und weiter landeinwärts noch mehr Trümmer der Brigg, die deutlich genug für die ungeheure Kraft der Explosion sprachen, durch die das hölzerne Schiff völlig auseinandergesprengt worden war.

Wie er noch zwischen einem Felde von Säulenkakteen, die ganz den Eindruck eines Haines von der Kronen beraubten Palmen machte, nach Teilen einer Anzahl bis hierher geflogener und zerbrochener Gewehre suchte, um vielleicht daraus eine brauchbare Waffe herstellen zu können, griff die lenkende Hand der Vorsehung in das Leben der beiden Deutschen gütig ein. Nie hätte Jan Jensen vielleicht den Schiffsjungen gefunden, wenn er nicht gerade in dem zum Teil recht hohen Grase, das zwischen den Säulenkakteen wucherte, so emsig nach Teilen der zerstörten Gewehre sich umgesehen haben würde.

Plötzlich stutzte er. Dann war er mit ein paar langen Sätzen auf der kleinen Lichtung, wo er am Boden langausgestreckt die regungslose Gestalt Fritz Melchers soeben erblickt hatte.

Der Knabe lebte, wie Jensen bald feststellte, war aber bewußtlos. Eine genaue Untersuchung ergab auch nicht die geringste Verletzung. Der Matrose wußte nicht, wie er sich diese tiefe Ohnmacht seines kleinen Freundes erklären sollte. Nochmals befühlte er jetzt den mit dichtem blonden Haar bedeckten Hinterkopf, indem er an eine Schädelwunde dachte.

Dann stieß er einen halb unterdrückten Schreckensruf aus, beugte sich tiefer über das linke Ohr des armen Jungen und spießte nun mit der langen, glasharten Stachel einer verdorrten Kugelkaktee eine Spinne auf, die halb in den Gehörgang des bewußtlosen Jungen sich hineingepreßt hatte.

Das Insekt war nichts viel größer als ein ausgewachsenes Exemplar unserer einheimischen Kreuzspinne, aber grünbraun mit schwarzen Querstrichen gefärbt und mit ein Paar auffallend kräftig entwickelten Beißzangen bewehrt.

Jan Jensen kannte dieses kleine Ungeheuer nur zu gut. Hatte er sich doch einmal ein ganzes Jahr in den nördlichen Staaten Südamerikas aufgehalten und bald als Reiherjäger, bald als Farmarbeiter oder Maultiertreiber sein Brot verdient, nur um auch im Inneren Land und Leute kennenzulernen. Und bei dieser Gelegenheit hatte er zum ersten Male von der giftigsten aller Spinnen, der Latrodektes terribilis[3], etwas gehört und dann auch selbst erlebt, welche Wirkungen ihr Biß hervorruft.

Es ist eine Eigentümlichkeit der Latrodektes, daß sie Menschen und Tieren zumeist während des Schlafes in die Ohren kriecht und sich hier in der weichen Haut der empfindlichen Teile dieses Organes festbeißt. Ihr Gift wirkt bereits nach knappen fünf Minuten, indem es die Gehirntätigkeit stört, Bewußtlosigkeit hervorruft und in vielen Fällen zu schweren Lähmungen, wenn nicht gar zum Tode führt. Kleinere Tiere, – Schafe, Ziegen, Hunde usw., gehen an dem Biß zumeist ein.

Kein Wunder, daß Jan Jensen ganz starr vor Entsetzen war, als er in der auf dem Kakteendorn wütend mit den Beinen strampelnden Spinne tatsächlich eine Latrodektes erkannte.

Nachdem er die Spinne zertreten hatte, hob er schleunigst den ohnmächtigen Jungen auf und trug ihn nach dem Ufer der Bucht hinüber, wo er sich alle Mühe gab, ihn wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Lange waren alle seine Anstrengungen umsonst. Erst ein Vollbad, das er dem von ihm entkleideten kleinen Landsmann zukommen ließ, erweckte diesen für einige Minuten aus der tiefen Betäubung.

Aber Fritz war so schwach, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Nur ein frohes Lächeln glitt über sein eingefallenes, heute so ungesund grau aussehendes Gesicht, als er Jensen erblickte. Gleich darauf schwanden ihm abermals die Sinne.

Der Matrose wußte nun von seinen abenteuerlichen Fahrten in Südamerika her, daß auch bei Latrodektes- wie bei Giftschlangenbissen der Alkohol als Mittel zur Belebung der Herztätigkeit öfters geradezu erstaunlich gut gewirkt hatte. – Wo aber Alkohol hernehmen?! Es gab für ihn ja keine Möglichkeit, diesen zu beschaffen. Gewiß – auf der „Esmeralda“ hatten sich ein paar Fäßchen Spirituosen befunden, wie er selbst einmal gesehen hatte. Aber diese Fäßchen waren jetzt genau so vernichtet worden wie das Schiff samt Ladung und Besatzung.

Mutlos und in wahrer Herzensangst um das Leben des einzigen Gefährten seiner Einsamkeit schaute er auf den Knaben herab, den er jetzt im Schatten einiger Büsche in das Gras gelegt hatte.

Dann gab es ihm plötzlich einen förmlichen Ruck durch den Körper.

Säulenkakteen ...!! – Daß er auch nicht früher daran gedacht hatte! In Kolumbia am Magdalenen-Strom hatte er damals in jenem Jahre seiner Abenteurerfahrten zu Lande einen Monat unter dem wilden Volke der Reiherjäger gelebt, die unausgesetzt die entlegensten Wälder und Sumpfgebiete durchziehen, um neue Kolonien dieser Vögel zu suchen, denen man lediglich ihrer wertvollen Federn wegen nachstellt. Und von den Reiherjägern hatte er es gelernt, aus bestimmten, schon äußerlich kenntlichen Säulenkakteen einen Saft zu gewinnen, dessen berauschende Wirkung der stark gebrauter Spirituosen wenig nachsteht.

Wie sich auf den Blättern unserer Eiche durch den Stich eines Insektes jene bekannten, kugelförmigen Auswüchse entwickeln, so wird in ähnlicher Weise bei den Säulenkakteen durch die Einwirkung eines anderen Tieres, einer Abart des Zwergspechtes die geringe Saftbildung dieser eigenartigen, auf dem dürrsten Boden gedeihenden Pflanze auffällig beeinflußt. Der Zwergspecht sucht sich mit Vorliebe für die Anlage seiner Wohnung den weichen Stamm der Säulenkakteen aus, in den er bis in das Mark hinein ein rundes Loch zimmert, dessen hinteres Ende er zu einer größeren Aushöhlung erweitert. Ob es nun die Wirkungen des Unrates des Vogels oder ob es Mikroben sind, die er in das Mark der Pflanze hineinträgt, durch die die Saftbildung krankhaft gesteigert und der Saft selbst chemisch verwandelt wird, ist durch die Wissenschaft noch nicht genügend festgestellt. Jedenfalls geht der untere Teil der Markschicht einer von einem Zwergspecht bewohnten Säulenkaktee sozusagen in Gärung über und es sammelt sich in der Pflanze dicht über dem Erdboden eine ganze Menge einer trüben, scharfriechenden, dicken Flüssigkeit an, die recht viel Alkohol enthält, leicht süßlich schmeckt und von den Eingeborenen sowohl als von Europäern als Ersatz für Spirituosen gern getrunken wird.

Kaum hatte Jan Jensen sich dies alles ins Gedächtnis zurückgerufen, als er auch schon nach dem Säulenkakteenhain hineilte, wo er bald eine gut drei Meter hohe Pflanz herausfand, die von einem Zwergspecht bewohnt war. Mit seinem Messer bohrte er nun unten den Stamm an, benutzte das große tütenartige Blatt einer anderen, rotblühenden Kakteenart als Becher und ließ den dicken Saft hineinfließen. Im ganzen füllte er auf diese Weise acht Blätter. Dann flößte er dem Bewußtlosen den Inhalt von dreien dieser lederartigen Becher geschickt ein.

Der Erfolg blieb nicht aus. Zwei Stunden später war Fritz wieder bei klarer Besinnung. Und abends bereits vermochte Jensen den kleinen Freund nach der Plattform zu tragen, die er als vorläufige Wohnung herzurichten gedachte.

Die beiden alten Steinadler waren inzwischen von ihrem Beutezuge nach ihrem Horste zurückgekehrt. Der Matrose vertrieb sie durch Steinwürfe und trug ihre wütend um sich beißenden Sprößlinge nach dem Terrassenhügel, wo er ihnen aus Teilen des von ihm zerstörten Nestes ein neues baute, damit die Steinadler ihre Jungen hier weiter verpflegten.

Das Nest hatte er deshalb aus der überwölbten, offenen Grotte der Plattform entfernt, da er diesen Platz für die zukünftige Wohnung bestimmt hatte.

An diesem Tage begann das eigentliche Robinsondasein der beiden Deutschen auf Salatara. Und diese erste Nacht schliefen sie auf einem Lager von Gräsern hoch oben auf den Felsen als neue Bewohner des Adlerhorstes.

Unter der treuen Obhut und Pflege Jan Jensens erholte sich Fritz recht schnell, nachdem erst einmal die wirkliche Gefahr beseitigt war. Immerhin verging eine Woche, bevor der Knabe zum ersten Male sein Lager verlassen konnte.

Inzwischen hatte der Matrose der Plattform dank seines unermüdlichen Fleißes ein völlig verändertes Aussehen gegeben. Sie besaß jetzt eine Einfassung von Felsstücken, die zu einer niedrigen Mauer aufgeschichtet waren, ebenso wie auch die Öffnung des in die Mumienhöhlen hinabführenden Schachtes mit einer solchen, hier nur höheren Einfassung umgeben war.

Weit mehr in die Augen fallend war jedoch die Umgestaltung der Grotte, die den Steinadlern als Horst gedient hatte. Der breite Grotteneingang war sehr geschickt und sehr gefällig durch Säulenkakteen wie durch eine Balkenwand verschlossen worden. In dieser Wand befand sich sowohl eine Tür- als auch auf jeder Seite eine Fensteröffnung, so daß die Höhlenwohnung genügend Licht und Luft hatte. Für die innere Einrichtung war gleichfalls in Ermangelung von Holz dasselbe leicht zu bearbeitende Material verwendet worden. Der findige Jensen hatte sich bei der Herstellung dieser primitiven Möbel geradezu selbst übertroffen. Nichts fehlte in der Wohnung, um sie behaglich zu machen. Freilich hatte der Matrose auch insofern es leichter als mancher andere Robinson gehabt, als er in der Nähe des Ankerplatzes der auseinander gesprengten „Esmeralda“ auf dem Lande bei genauem Suchen doch noch eine ganze Anzahl durch die Explosion verstreuter Gegenstände gefunden hatte, darunter auch Handwerkszeug oder doch jedenfalls genügend Eisen, um daraus das fehlende sich selbst schmieden zu können. So war es ihm auch gelungen, aus den Teilen einer größeren Anzahl von Gewehren desselben Systems zwei brauchbare Waffen zusammenzusetzen. Es waren dies ehemalige französische Kavalleriekarabiner eines ausrangierten Modells, die die Regierung Frankreichs offenbar in größerer Zahl an Händler abgegeben hatte. Auch Patronen mit Messinghülsen dazu hatte Jan Jensen in der Nähe des Ufers in ziemlicher Menge glücklich zusammengesucht, so daß die beiden Gefährten nicht mehr wehrlos irgend welchen feindlich gesinnten Leuten gegenüberstanden.

Kurz: der Matrose hatte in acht Tagen geradezu Staunenswertes geleistet. Die Arbeiten waren ihm ja auch spielend leicht von der Hand begangen, und sein auf alles Abenteuerliche gerichteter Sinn ließ ihn dieses Robinsonleben durchaus nicht als härtere Prüfung, nein, vielmehr als angenehme interessante Abwechslung erscheinen.

Wirkliche Entbehrungen brauchten die beiden Deutschen auf der Insel ja auch nicht durchzumachen. An der Nordseite des Terrassenhügels entsprang eine klare kühle Quelle. Für Trinkwasser war also gesorgt. Und die nötige feste Nahrung lieferte die Insel ebenfalls reichlich in Gestalt von Fischen, die in der Bucht mit selbstgefertigten Angelschnüren gefangen wurden, ferner durch Schildkröten, eßbare Krebstiere und verschiedene Vögel, die vom Festlande öfters herüberkamen, so besonders Wildenten, -gänse und -tauben, denen der Matrose mit dem Karabiner nachstellte, und schließlich noch durch mexikanische Erdnüsse.

Heute war es nun der dritte Tag, an dem Fritz Melcher sich im Freien bewegte. Der Knabe fühlte sich bereits wieder völlig frisch.

Gegen zehn Uhr vormittags kehrte Jan Jensen von einem Jagdausfluge nach den Ufern der Bucht zurück. Eine Wildgans und zwei Tauben sowie mehrere Fische brachte er mit, die sofort in den sogenannten Keller, eine tiefe Felsspalte, gelegt wurden.

„Eine Hitze ist’s wieder!“ meinte der Matrose aufstöhnend. „Einfach unglaublich! Man merkt, daß wir uns im August und an der Küste Südmexikos befinden …!“

Fritz Melcher hatte vor der kleinen Küche, die seitwärts von der Grottenwohnung erbaut war, die drei verbeulten Kochgeschirre ausgescheuert. Jetzt trat er an Jensen mit einer Bitte heran, die er seines leidenden Zustandes wegen bisher zu stellen nicht gewagt hatte. Er wollte in die Mumienhöhle hinab, von der Jensen ihm so viel Merkwürdiges erzählt hatte.

Der Matrose meinte zweifelnd, Fritz würde den Anstrengungen der Kletterpartie durch den Schacht, obwohl man sich diese mit Hilfe einer von der „Esmeralda“ herstammenden Strickleiter wesentlich erleichtern konnte, doch noch nicht gewachsen sein. Schließlich ließ er sich aber erweichen, worauf man sofort mit den Vorbereitungen zu dem Besuche der unterirdischen Grotten begann.

Gerade als Jensen die Strickleiter neben der Schachtöffnung sicher verankert hatte, bemerkte der Schiffsjunge jedoch über den Hügeln der Westseite der Insel eine Rauchsäule, die nur von einem Dampfer herrühren konnte. Sofort brach der Matrose zu einem Kundschaftergange auf. Die Rauchsäule beunruhigte ihn stark, so daß er sich beeilte nach dem Ufer der Bucht zu kommen, um hier denselben Hügel zu erklimmen, von dem aus auch Kapitän Rodriga damals das Meer hatte beobachten lassen.

Fritz Melcher blieb in begreiflicher Aufregung zurück. Jensen hatte ihn angewiesen, schleunigst das Felsloch neben der Wohnung, das die Robinsons als Wasserbehälter benutzten, bis oben zu füllen, außerdem am Fuße des Terrassenhügels den Boden nach den Knollen der mexikanischen Erdnuß zu durchsuchen, die gekocht vielfach trotz ihres leicht bitteren Geschmackes als Viehfutter dient, geröstet aber der Kartoffel ungefähr gleichkommt und daher von den Gefährten stets als Zukost zu den Mahlzeiten benutzt worden war.

Nach einer Stunde erschien Jan Jensen wieder und berichtete mit ernstem Gesicht, daß es fraglos der Rebellendampfer sei, der soeben in die Bucht einlaufe.

„Für uns handelt es sich nun um die Frage, wie wir uns gegenüber diesen unangenehmen Gästen verhalten sollen“, fuhr er hastig fort. „Wir müssen schnell einen Entschluß fassen: wollen wir die Plattform preisgeben und uns irgendwo in einem der Verstecke der dichtesten Kakteenfelder verbergen, oder aber hier bleiben und nötigenfalls uns verteidigen, – uns und unsere Wohnung, die wir so liebgewonnen haben? – Richtiger wäre wohl fraglos das erstere. Aber es widerstrebt mir, vor den gelbgesichtigen Revolutionären auszukneifen, die doch sicherlich hier alles zerstören werden.“

„Und die außerdem so lange nach uns suchen dürften, bis sie uns gefunden haben“, fügte Fritz mit Nachdruck hinzu. „Nein: auch ich wäre mehr dafür, Jensen, daß wir ihnen mal zeigen, wie gut wir unsere Festung nötigenfalls verteidigen können.“

So kamen die beiden Gefährten schließlich doch dahin überein, die weitere Entwicklung der Dinge auf der Plattform abzuwarten. Jan Jensen gab nun noch allerlei Anweisungen, wie man die Bergfeste, wie er den Felsen etwas hochtrabend halb im Scherz bezeichnete, noch erheblich verteidigungsfähiger gestalten könne. Hierzu gehörte in erster Linie, daß man die Bogenbrücke verbarrikadierte. Dies geschah durch einen Steinwall, der am jenseitigen Ende der Brücke aufgeschichtet wurde. Manches andere wurde auch noch erledigt, wozu man noch die Zeit zu haben glaubte.

Dann aber war der Dampfer in die Bucht eingelaufen, und die beiden Deutschen hielten es nun für ratsamer, sich nicht mehr zu zeigen. Bald sahen sie auch einzelne Leute der Besatzung hier und da erscheinen. Die meisten blieben aber in der Nähe der Bucht und verrieten keinerlei Interesse für die Plattform und die natürliche Felsenbrücke. Während der Mittagshitze verschwanden sie ganz, so daß die beiden Landsleute es wagten, ihre kleine Feste zu verlassen und noch mehr Erdnüsse einzusammeln, die zusammen mit ihren Vorräten an gedörrtem Fleisch und geräucherten Fischen nunmehr mindestens acht Tage ausreichen mußten.

So kam der Abend heran. Nichts ereignete sich. Nur selten erblickte man einen der Leute des Dampfers in weiter Entfernung. Jan Jensen wollte sich nun durchaus Aufklärung darüber verschaffen, was das Rebellenschiff hier dieses Mal vorhatte. Vielleicht erwartete es einen Segler mit Waffen und Munition, wie die „Esmeralda“ einer gewesen war, um dessen Ladung überzunehmen und nachher nach der Festlandsküste zu bringen.

Als die Schatten der Dämmerung sich über die Insel herabsenkten und gleichzeitig ein leichter Seenebel in grauen Schwaden, langsam mit dem Ostwinde dahinziehend, das Eiland einhüllte, brach der Matrose zu einem neuen Kundschaftergange auf. Fritz hätte ihn sehr gern begleitet, aber Jensen wollte hiervon durchaus nichts wissen. Einer von ihnen müsse unbedingt die Plattform bewachen, meinte er. Dann verschwand er.

Der Schiffsjunge blieb, indem er genau den von Jensen erhaltenen Anweisungen folgte, stets in der Nähe der Felsenbrücke, die er beständig beobachtete. Er hatte sich zu diesem Zweck auf die Einfassungsmauer des Schachtes gesetzt und den geladenen Karabiner über die Knie gelegt.

So verging eine gute halbe Stunde.

Inzwischen war es noch dunkler geworden. Dann glaubte der Knabe in der Nähe ein Geräusch zu hören, konnte sich aber nicht darüber klarwerden, woher es kam. Angestrengt lauschte er, indem er das Gewehr fester umklammerte. – Da – abermals ein Scharren, als streiche ein Körper über den Boden hin. Und nun fuhr der Schiffsjunge plötzlich mit dem Kopf herum und beugte sich über die Schachtöffnung.

Kein Zweifel: das Geräusch kam aus dem Schachte hervor! Und jetzt nahm Fritz auch wahr, daß die noch immer nach unten hängende Strickleiter sich bewegte.

Ein heftiger Schreck durchzuckte ihn da. Er wußte es sich nicht zu erklären, wie ein lebendes Wesen, ein Mensch, in die Mumienhöhlen gelangt sein könne. In den Schreck mischte sich bald abergläubische Furcht. Er dachte an die Mumien, an all die zahlreichen ausgetrockneten Leichname da unten … Doch sehr bald überwand er diese Angst, beugte sich über die Schachtöffnung und rief hinab, indem er sich der englischen Sprache bediente.

„Halt – wer da? – Antwort, oder ich werfe mit Felsstücken …“

Die Bewegung der Strickleiter hörte sofort auf. Daß jemand daran emporklomm, unterlag keinem Zweifel. Zu sehen vermochte Fritz nichts.

Um nun seiner Warnung größeren Nachdruck zu verleihen, ließ er einen faustgroßen Stein so hinabfallen, daß dieser einen an der Strickleiter hängenden Menschen notwendig treffen mußte.

Gleich darauf geriet die Strickleiter, nachdem der Stein polternd irgendwo aufgeschlagen war, in heftigere Bewegung. Abermals verlangte Fritz, der daran Emporklimmende solle sich melden. Keine Antwort. Nun packte er eine der Holzsprossen und suchte die Leiter hochzuziehen. Zu seiner Überraschung gelang dies wirklich.

Als die Strickleiter jetzt oben auf der Umfassungsmauer lag, fühlte er sich ganz sicher. Dann kehrte auch Jan Jensen ziemlich atemlos zurück.

– – – – – – – –

„Mein Junge, hier auf unserer Insel bereiten sich recht aufregende Ereignisse vor“, berichtete der Matrose, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Denke Dir: es ist tatsächlich ein Segelschiff, ein großer Schoner, eben in die Bucht durch die Boote des Dampfers hineinbugsiert worden. Ohne Frage also soll hier wieder ein Munitions- und Waffentransport umgeladen werden. Als ich mich nun auf den Rückweg machte, nachdem ich mehr mit dem Gehör als mit den Augen genügend festgestellt hatte, was vorging, wäre ich beinahe einem Trupp von Mexikanern begegnet, der, etwa hundert Mann stark, von der Ostseite der Insel nach der Bucht zu auf dem Marsche war. Da das Verhalten dieser Bewaffneten mir sehr zu denken gab, schlich ich nach dem Oststrande und fand dort drei Boote, in denen einige Mexikaner als Wache zurückgeblieben waren. Aus der Unterhaltung der Leute konnte ich entnehmen, daß ich Regierungstruppen vor mir hatte, die von einem mexikanischen Kanonenboot in aller Stille gelandet waren, um die Rebellen zu überfallen. Der Nebel war ihnen dabei zu Hilfe bekommen, so daß sie unbemerkt hatten ausgebootet werden können. Sehr bald dürften wir also von hier aus Zeugen eines Kampfes werden, dessen Ausgang nicht weiter zweifelhaft sein kann, da die Regierungstruppen sich in der Überzahl befinden, außerdem auch das Kanonenboot den Ausgang der Bucht bewacht.“

Als Jensen nun von Fritz ebenfalls die recht aufregende Neuigkeit von dem Auftauchen eines Menschen in dem Schachte erfuhr, erklärte er sofort nach kurzem Nachdenken:

„Es unterliegt also keinem Zweifel, daß die Mumienhöhlen noch einen zweiten Zugang haben müssen, den ich damals nicht bemerkt habe, weil er eben sehr wahrscheinlich überhaupt schwer aufzufinden sein dürfte. Ich nehme nun an, daß es einer der Rebellen ist, der in dem Schachte hat emporklimmen wollen, nicht ein Zugehöriger der Regierungstruppen. Ob der Mann – vielleicht sind es auch mehrere gewesen, es auf uns abgesehen gehabt hat, möchte ich bezweifeln. Eher möchte ich glauben, es müßte vielleicht in den Grotten da unten noch irgend ein Geheimnis geben, welches den Menschen dorthin gelockt hat. Hätte man uns angreifen wollen, so würden die Rebellen wohl vorher am Tage sich davon überzeugt haben, ob wir überhaupt noch am Leben sind. Merkwürdig genug ist es schon, daß man sich so gar nicht um uns kümmert. Das macht beinahe den Eindruck, als ob die jetzige Besatzung des Dampfers eine andere als damals ist und als ob diese Leute gar nichts von uns wüßten. Ich habe mir diese Sache schon sehr durch den Kopf gehen lassen, finde aber keine Erklärung dafür. Nun, die nächste Zukunft wird dies alles ohne Frage aufklären. Warten wir jetzt ab, wie die Verhältnisse sich hier gestalten. Ich habe die Absicht, mich dem Führer des Regierungsschiffs, falls dieses eben die Oberhand gewinnt, anzuvertrauen. Ich hoffe dabei, daß …“

In der Ferne, von der Bucht her, drang der Knall einiger Schüsse herüber. Jensen lauschte, und auch Fritz verfolgte gespannt jeden einzelnen Schuß, der jetzt, wo der kräftiger gewordene Wind den Nebel vertrieben hatte, deutlich zu hören war.

Das Gewehrfeuer nahm schnell an Lebhaftigkeit zu, verstummte wohl auch eine Weile vollends, um dann desto heftiger wieder aufzuflackern.

Etwa nach einer halben Stunde schwieg es ganz. Und nun hielt es Jan Jensen für angebracht, sich davon zu überzeugen, wie der Kampf ausgegangen sei. Er verließ also wiederum die kleine Feste und schlich, jetzt beim Lichte der mittlerweile aufgetauchten Sterne, der Bucht zu, sah hier, daß jetzt ein niedriges, grau gestrichenes Kriegsschiff mit zwei Schornsteinen neben den beiden anderen Fahrzeugen lag, woraus er auf einen Sieg der Regierungstruppen schloß, und wartete nun eine Gelegenheit ab, sich mit dem Kommandanten des Kanonenbootes in Verbindung zu setzen.

Diese Gelegenheit fand sich bald, als ein Boot am Ufer der Bucht anlegte, das fünf bei dem Kampfe Gefallene an Land brachte.

Jensen ging unerschrocken auf die Mexikaner zu, erzählte, wer er sei und wie er auf die Insel gelangt sei, verschwieg aber zunächst absichtlich die Existenz der Mumienhöhlen. Warum er dies tat, vermochte er selbst nicht zu sagen. Er handelte hierbei lediglich nach einer augenblicklichen Eingebung.

Vor den Kapitän des Kanonenbootes geführt, das den Namen „Santa Maria“ hatte, dabei aber ein veralteter Kasten von recht geringem Gefechtswerte war, lernte er in dem hochgewachsenen, blondbärtigen Manne einen Deutschmexikaner kennen, der den Landsmann aufs liebenswürdigste empfing und sofort in seiner Kajüte sehr gastlich aufnahm.

Der Kommandant, Marlitz mit Namen, war ein früherer deutscher Seeoffizier, der vor zehn Jahren in die Dienste Mexikos getreten war und heute endlich dem Waffenschmuggel der Rebellen wohl für längere Zeit ein Ende gemacht hatte. Er ließ sich von Jensen dessen Erlebnisse genau berichten und klärte diesen dann über verschiedenes sehr eingehend auf.

Hierbei stellte sich heraus, daß er von dem Vorhandensein einer Mumienhöhle auf der Insel sehr wohl Kenntnis hatte. Jetzt glaubte Jensen mit dem, was er über diese aus eigener Anschauung wußte, nicht länger zurückhalten zu dürfen.

Als Marlitz hörte, daß ohne Zweifel einer oder mehrere der Rebellen durch einen geheimen Zugang die Grotten vor kurzem betreten haben müßten, ließ er sofort, um auch diese Leute gefangenzunehmen, ein Dutzend der Matrosen des Kanonenbootes nach der Plattform in Marsch setzen, denen er sich gleichfalls in Jensens Begleitung anschloß.

Die Durchsuchung der Grotten verlief ohne jedes Ergebnis. Obwohl die Matrosen mit ihren Laternen jeden Winkel ableuchteten, wurde der geheime Zugang nicht gefunden.

Und doch mußte es einen solchen geben, ebenso wie sich noch mindestens einer der Rebellen in Freiheit befinden mußte. Umsonst ließ Marlitz nachher die Gefangenen, insbesondre die Anführer, einem strengen Verhör unterziehen. Es war nicht festzustellen, wie viele der Leute noch auf der Insel sich frei bewegten und was den Revolutionären über die Grotten bekannt war. Auch Jensen gewann aus diesem Verhör den Eindruck, daß die Rebellen nichts Bestimmtes über die Mumienhöhlen wußten.

Tatsächlich war die Besatzung des Rebellendampfers jetzt eine andere. Ebensowenig befand sich Rodriga darunter.

Das Kanonenboot blieb nur bis zum nächsten Morgen in der Bucht. Nachdem der Dampfer und der Schoner eine Prisenbesatzung erhalten hatten und nach dem nächsten Hafen in See gegangen waren, verließ auch die „Santa Maria“ die Insel.

Vorher hatte Kapitän Marlitz mit Jensen eine längere Besprechung gehabt. Das Kriegsschiff war beauftragt, noch eine auf eine Woche berechnete Kreuzfahrt zum Abfangen von zwei weiteren Seglern zu unternehmen, die gleichfalls Waffen für die Rebellen nach Mexiko einführen wollten. Marlitz hatte nun Jensen gebeten, vorläufig noch auf der Insel zusammen mit dem Schiffsjungen zu bleiben, um womöglich dem Geheimnis der Mumienhöhlen doch noch auf die Spur zu kommen. Er hatte ihm dafür eine gute Bezahlung in Aussicht gestellt, und da dieser Auftrag so recht nach des Matrosen Geschmack an Abenteuern war, willigte dieser ohne weiteres ein. Nach einer Woche wollte das Kanonenboot die beiden Deutschen dann abholen.

Marlitz ließ für sie noch eine Menge Proviant und allerlei nützliche Gegenstände zurück, um ihnen das Leben angenehm zu machen. Dann dampfte das Kanonenboot ab.

Jan Jensen und Fritz erreichten denn auch später glücklich das Festland von Mittelamerika. Aber auf eine andere Weise, als sie es sich gedacht hatten.

Über ihre ferneren Erlebnisse auf Salatara wird der nächste Band berichten.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hefttitel auf der Umschlagseite: „Der Schiffsjunge der Esmeralda“ (ohne Anführungszeichen).
  2. Fehlendes Wort „hat“ ergänzt.
  3. Siehe dazu auch den Artikel von Walter Kabel: Die giftigste aller Spinnen in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jg. 1912, Bd. 13, S. 237–238.