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Das unterirdische Kloster

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das unterirdische Kloster.

 

W. Belka.

 

Das graugestrichene Kanonenboot mit den beiden schrägen Schornsteinen verschwand am nordwestlichen Horizont.

Zwei in derbe, weißgraue Leinenanzüge von etwas zweifelhafter Sauberkeit gekleidete Gestalten hatten dem mexikanischen Kriegsschiff von der Plattform eines gewaltigen Felsblockes aus geduldig nachgeschaut.

„Wer hätte wohl gedacht, daß wir je so halb und halb in fremde Kriegsdienste treten würden“, meinte jetzt der eine der beiden, ein breitschultriger, kräftiger Mann mit blondem Vollbart, in deutscher Sprache zu seinem erst im Knabenalter stehenden Gefährten. „Nun – man bezahlt uns gut, und das bleibt die Hauptsache! Außerdem: wir haben ja nichts zu versäumen! Und die eine Woche wird bald um sein. Dann holt die „Santa Maria“ uns wieder ab, und wir können in Ruhe uns nach einem Segler umsehen, auf dem wir uns anheuern lassen.“

„Ja – alles ganz schön, Jan Jensen!“ erwiderte der langaufgeschossene Junge etwas gedehnt. „Nur dürfen wir nicht vergessen, daß wir in diesen acht Tagen unseren Auftrag erledigt haben müssen.“ Dabei drehte er sich halb um und zeigte mit der Hand auf ein großes, dunkles Loch, das sich wie ein Schacht senkrecht in den Felsen hineinzog. „Dort unten liegt unsere Aufgabe. Wenn der Kapitän des Kanonenbootes von uns verlangt hat, dem Geheimnis der Mumienhöhlen nachzuspüren, so heißt das doch, wir sollen gleichzeitig auch versuchen, den oder die Leute dingfest zu machen, deren die Matrosen der „Santa Maria“ nicht habhaft wurden und die doch allem Anschein nach noch einen zweiten Zugang zu den Grotten kennen. Die Geschichte wird meines Erachtens nicht so ganz einfach zu erledigen sein, Jensen. Schon das Bewußtsein, daß hier auf der Insel sich außer uns noch ein Mensch, wenn nicht mehrere, befindet, der uns sicherlich alles andere als freundlich gesinnt ist, macht den Aufenthalt hier nicht gerade angenehm.“

Der breitschultrige Matrose lachte beinahe leichtsinnig auf.

„Hast Du etwa Angst, Fritz? Von der Seite habe ich Dich noch nicht kennen gelernt! – Doch nun wollen wir an unser Frühstück denken. Vorwärts, tummele Dich, kleiner Koch!“

Damit schritt er auf die Südseite der Plattform zu, wo eine in eine Aushöhle des Felsens sich einschmiegende Hütte stand.

Die „Santa Maria“ hatte den beiden Deutschen, die hier auf der Insel bereits wochenlang als Robinsons gehaust hatten, allerlei Eßvorräte zurückgelassen, darunter auch gemahlenen Kaffee, aus dem Fritz Melcher jetzt schnell das Morgengetränk herstellte, während Jan Jensen mit den ihnen übergebenen Revolvern ein paar Probeschüsse abfeuerte.

Nachdem sie gefrühstückt hatten, stiegen sie an einer Strickleiter, ausgerüstet mit zwei Laternen, in den zwölf Meter tiefen Schacht hinab, von dessen Boden ein enger Gang in eine lange schmale Höhle führte, an deren Wänden eine große Anzahl indianischer Mumien in aufrechter Haltung festgebunden waren. Die Wände und die Decke dieser Höhle erstrahlten in einem seltsam bleichen, weißlichen Licht. Die Ursache dieser Lichtentwicklung waren sogenannte Leuchtmoose, die sich an den Felsen festsetzt hatten.

Sehr bald hatten sie jeden Winkel dieser Mumiengrotte genau durchforscht. Sie suchten eben nach dem zweiten Ausgang aus diesen unterirdischen Räumen, gleichzeitig auch nach Beweisen dafür, daß sich hier in den Tiefen der Felshügel vielleicht einige mexikanische Rebellen aufhielten, auf die das Kanonenboot Jagd gemacht hatte.

An diese erste Höhle schloß sich eine zweite, breitere an, die in unregelmäßigen Terrassen nach Norden zu anstieg. Gerade über der schmalen, höchsten Terrasse ging auch hier durch die dicke Felsendecke ein Schacht hindurch, der jedoch stark gekrümmt war und schließlich in einer langen Felsspalte an der Oberwelt endigte. Diese Felsspalte war so eng, daß kein Mensch sich hindurchzwängen konnte. Mithin war es ausgeschlossen, daß die Öffnung von dem oder den Leuten als Zugang benutzt worden war, für deren gelegentlichen Besuch in den Grotten die beiden Gefährten unwiderlegliche Beweise besaßen. Es mußte also noch eine andere, für Menschen passierbare Verbindung nach der Oberwelt hin geben. Dies unterlag keinem Zweifel. – Aber wo hatte man diese zu suchen? – Die Matrosen der „Santa Maria“ waren gewiß eifrig genug gewesen, um diesen zweiten Eingang zu finden, hatten aber auch nichts erreicht. Und nun sollten die beiden deutschen Robinsons hier zusehen, ob sie mehr Glück hätten.

Während Jan Jensen und der Knabe sorgfältig jedes Fleckchen des Gesteins mit ihren Laternen ableuchteten, meinte der erstere gelegentlich:

„Ich weiß nicht, ich habe so das Empfinden, als ob der Kapitän der „Santa Maria“ uns gegenüber nicht so ganz aufrichtig gewesen ist. Ich vermute, daß es ihm weniger um das Einfangen des oder der hier noch in Freiheit befindlichen Rebellen als vielmehr um die Klärung der Frage zu tun ist, ob die mexikanischen Revolutionäre auf dieser Insel etwa einen geheimen Waffenstapelplatz angelegt haben. Du weißt ja, mein Junge, – die Brigg „Esmeralda“, auf der wir bis hierher gelangten, flog ja auch nur in die Luft, weil ihr Laderaum mit Waffen und besonders mit Munition vollgestopft war. – Ha – was war das?“

Die beiden Gefährten waren gleichzeitig hochgefahren.

Kein Wunder! – Ein schauerliches Gelächter, das in diesem Raume mit der natürlich gewölbten Felsendecke überlaut widerhallte, war urplötzlich erklungen. Es kam offenbar aus dem Verbindungsgang nach der eigentlichen Mumiengrotte her. – Gleich darauf flog, um diese Überraschung noch aufregender zu gestalten, ein Mumienkopf wie von Geisterhand geschleudert den beiden Deutschen vor die Füße.

Aber Jan Jensen ließ sich durch solche Scherze nicht schrecken. Er hatte schon den Revolver aus der Tasche gerissen und stürmte vorwärts, die Laterne hoch in der Linken haltend.

Der frühere Schiffsjunge der „Esmeralda“ war dicht hinter ihm. So kamen sie in die Mumienhöhle, ließen ihre Augen suchend hin und her gleiten …

Nichts – nichts …! Nur die stummen, eingetrockneten Leiber der Indianer vom uralten Stamm der Azteken standen vornübergebeugt an den Längswänden – regungslos wie aus Stein gehauen mit ihren grinsenden Totenschädeln, den weißen, zwischen den verdorrten Lippen gräßlich hervorleuchtenden Zähnen und den leeren Augenhöhlen …

Diese Grotte mit ihren glatten, in weißlichem Phosphorlicht der Leuchtmoose erstrahlenden Wänden bot keinerlei Versteck. Also hastete Jan Jensen jetzt weiter auf den engen Gang zu, der nach dem Schacht hinführte, durch den die Gefährten vorhin eingestiegen waren.

Auch hier nichts. Die Strickleiter hing noch unberührt. Kahle Steinwände traf das rötliche Licht der Laternen, die einen leichten Geruch von Petroleum verbreiteten, der aber in der hier herrschenden Zugluft schnell verwehte.

„Da soll doch gleich …“ Aber Jan Jensen brachte den ärgerlichen Ausruf nicht bis zu Ende über die Lippen.

Wiederum das überlaute, höhnische Lachen, vielleicht noch schauerlicher klingend als das erstemal … Es schnitt dem Matrosen das Wort vom Munde ab, hallte in den Felsmassen wider und wurde durch die besondere Form der Mumiengrotte, aus der es auch jetzt wieder hervortönte, mehrmals und allmählich schwächer werdend wie ein Echo zurückgeworfen.

Fritz Melcher fühlte, wie ihm ein Eiseshauch über den Rücken lief, wie er erblaßte. Die Laterne in seiner Hand zitterte. Am liebsten wäre er eiligst die Strickleiter hinaufgeklettert, nur um nichts mehr zu hören … Und dabei war er gewiß kein Feigling, dieser kräftige Junge. Im Gegenteil! Doch dieses Gelächter, – das war zu viel für ihn, das weckte in ihm die Erinnerung an all die Gespenstergeschichten, die unter dem Seevolke von Mund zu Mund gehen.

Auch Jan Jensens Gesicht hatte sich verändert. Aber in anderer Weise. Grimme Wut sprach aus den halbverzerrten Linien, aus den festzusammengepreßten Lippen.

„Höhnt nur!“ brüllte er. „Ich finde Euch doch!“ Und schon machte er kehrt und eilte in die Totenkammer der Azteken zurück.

Leer – leer, – kein lebendes Wesen zu sehen, – nur die stille Versammlung der Abgeschiedenen an den Wänden.

„Wir müssen nochmals hier jeden Fußbreit des Gesteins prüfen“, wandte der Matrose sich nun an seinen jungen Gefährten. „Ich gehe nicht eher von hier fort, bis ich – – –“

Er kam nicht weiter. Seine Augen öffneten sich, wurden starr – –

Die beiden Deutschen hatten mitten zwischen den Mumienreihen sich gegenübergestanden. Da war urplötzlich in einen der vertrockneten Leichname gerade hinter Fritz Melcher Leben gekommen. Der Kopf hob sich blitzschnell, der Körper richtete sich auf, zwei Arme streckten sich aus und umschlangen den Jungen – – –

Jan wollte einen Warnungsruf ausstoßen.

Zu spät … Eine Schlinge glitt über seinen Kopf, die Schlinge eines ledernen Lassos, der sofort mit scharfem Ruck angezogen wurde und den Matrosen hintenüber[1] riß. Da stürzen sich auch schon zwei Leute auf ihn. Sie hatten leichtes Spiel. Jan Jensen war so hart mit dem Kopf aufgeschlagen, daß er für ein paar Minuten das Bewußtsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, lag er eng gefesselt am Boden der Mumiengrotte. Neben ihm lehnte, gleichfalls gebunden, mit dem Rücken gegen die Felswand Fritz Melcher.

Vor den beiden so heimtückisch besiegten standen drei Männer, – ein Europäer in einem graugrünen Leinensportanzug mit Kniehosen und einer weichen Mütze und zwei ganz in Leder gekleidete Indianer.

Der Weiße hatte ein von der Sonne gebräuntes, bartloses, scharfgeschnittenes Gesicht. Ein ironisches Lächeln umspielte jetzt seine Lippen. Und dann sagte er zu Jan Jensen voller Hohn:

„Haben wir das nicht sehr fein angestellt? Es war so einfach, die Lumpen der Mumien sich umzuhängen und hier die Toten zu spielen, bis wir Euch bequem griffbereit hatten. – War ’ne feine Überraschung, als mit einem Male die eine Mumie Leben bekam, wie – –?! – Ja, Ihr hättet besser hinsehen sollen, als Ihr an uns vorüberranntet, um nach den frechen Lachern zu suchen …!!“

Der Graugrüne sprach englisch. Und echt englisch war auch das magere längliche Gesicht mit dem breiten, brutalen Kinn.

Jan Jensen kochte innerlich vor Wut. Er schämte sich, daß er sich dergestalt hatte überlisten lassen. Doch – jetzt war’s zu Selbstvorwürfen zu spät. Jetzt half nur noch die Klugheit. Und daher erwiderte er, absichtlich den in sein Schicksal völlig Ergebenen spielend:

„Wer seid Ihr? Und – weshalb behandelt Ihr uns als Feinde?“

Der Engländer grinste hämisch.

„Weil Ihr uns unbequem seid. Nur deswegen. Wir sind nicht hergekommen, um uns von Euch deutschem Gesindel stören zu lassen. Wir wissen, daß Kapitän Marlitz von der „Santa Maria“ Euch damit beauftragt hat, diese unterirdischen Räume abzusuchen. Ihr solltet den zweiten Eingang zu den Grotten herausfinden. Nun – Marlitz war schlau oder auch gewissenhaft genug – gewissenhaft, weil die mexikanische Regierung das Geheimnis dieser Höhlen nicht allzu vielen mitteilen will –, Euch nicht zu eröffnen, daß ihn weniger einige noch in Freiheit befindliche Rebellen als vielmehr – – Doch nein!“ unterbrach er sich. „Ich schweige gleichfalls besser. – – Was denkt Ihr nun wohl, daß mit Euch beiden geschieht, he?!“

Jan Jensen hatte scharf aufgepaßt, hatte auf jedes Wort geachtet. – Es gab hier in den Grotten also fraglos noch ein besonderes Geheimnis, – nicht nur dasjenige des zweien Ausgangs …! Aber – worum mochte es sich dabei handeln? – Ein Waffenlager, wie er bereits vermutet hatte? – Wohl kaum! Hier lag noch etwas anderes vor. Das ging aus des Engländers Worten hervor.

Der Matrose mußte jedoch vorläufig das Nachdenken über die Dinge aufgeben.

Der Graugrüne wiederholte seine letzte Frage.

„Antwort will ich haben! – Also – wie stellt Ihr Euch Eure Zukunft vor?“

Jensen zuckte die Achseln.

„Das werdet Ihr wahrscheinlich ebensowenig wissen wie ich“, meinte er gelassen. „Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, – und nicht in der Euren, um das gleich zu betonen!“

„Ihr scheint ja sehr fromm zu sein, Maat!“ höhnte der Engländer „Gott wird Euch hier nicht viel helfen. Das gebe ich Euch schriftlich, wenn Ihr’s haben wollt.“

Dann winkte er den beiden Indianern, zwei älteren Männern, die bisher schweigend und regungslos wie die Bildsäulen dagestanden hatten.

Jedem der Deutschen wurde nun eine Decke um den Kopf gewickelt, die die Roten bisher über den Lederanzügen um die Schulter getragen hatten.

Jensen fühlte sich darauf mit einem Male hochgehoben und fortgetragen.

– – – – – – – –

Wenige Minuten später wurde die Decke wieder entfernt. Jan schaute neugierig um sich. Er befand sich jetzt in einem viereckigen Gemach, dessen Wände aus an der Luft getrockneten Tonziegeln bestanden.

Der niedrige Raum besaß nur eine einzige Öffnung, eine Tür aus dunklem Holz, das offenbar sehr dick und fest war. Im übrigen war er bis auf eine Petroleumlaterne, die in der Mitte auf dem Steinboden stand, völlig leer. Die Luft hier war schwer und stickig. Modergeruch, vermischt mit anderen Düften, war deutlich zu spüren.

Kaum hatte Jan Jensen sich in diesem zellenähnlichen Gelaß etwas umgeschaut, als er draußen an der Tür ein Geräusch vernahm, als werde ein schwerer Riegel fortgeschoben. Gleich darauf öffnete sich die Tür nach außen und der Engländer trat ein. Er hatte eine sehr hell brennende moderne Acetylenlaterne im Gürtel festgehakt und in der Rechten schußbereit einen Revolver.

Zunächst untersuchte er des Matrosen Fesseln. Offenbar traute er Jensen nicht, hielt ihn sicher für einen sehr gefährlichen Gegner.

Nun aber, wo er sah, daß der Deutsche inzwischen die Lederstricke nicht etwa abgestreift hatte, hielt er jede weitere Vorsicht für überflüssig.

„Ich habe Euch beide getrennt, damit Ihr nicht etwa gemeinsam Dummheiten macht“, begann er. „Dein Gefährte sitzt gleichfalls in einem genau so glänzend ausgestatteten Gemache wie Du. Wenn Du mir nun schwörst – und als frommer Christ, der Du zu sein scheinst, wirst Du einen solchen Schwur wohl halten! – keinen Fluchtversuch zu unternehmen, so will ich Dir hier einige Bequemlichkeiten schaffen, so gut ich es vermag. Wenn nicht – nun, dann bleibst Du gefesselt und siehst vielleicht das Licht des Tages nie wieder. – Also erkläre Dich!“

Jan Jensen schüttelte den Kopf.

„Ein Schwur ist eine heilige Sache. Und Deine Pläne sind sicher recht unheiliger Art. Da paßt ein Schwur nicht hinein. Aber ich will Dir versprechen, die Insel nicht ohne Deine Einwilligung zu verlassen.“

Absichtlich hatte er den Engländer gleichfalls mit Du angeredet.

Der Graugrüne begann denn auch über diese Frechheit sofort wütend zu schimpfen, zog aber doch daraus eine Lehre und unterließ zukünftig diese Art der Anrede.

Dann sagte er:

„Gut denn, – ich will Euch Vertrauen schenken. Ich erwarte aber, daß Ihr Euer Versprechen auch haltet.“

„Da könnt Ihr ganz unbesorgt sein. Bei einem ehrlichen Mann gilt ein Versprechen genau so viel wie ein Schwur.“

Der Engländer rief nun einen der Indianer herbei und ließ dem Matrosen die Riemen abnehmen. Nachher brachte derselbe Indianer einen Arm voll trockenes Gras und eine Decke herbei. Dann nahm er die Laterne mit und verriegelte die Tür von außen.

Jan Jensen war allein in stockdunkler Finsternis. Als erstes befühlte er nun seine Taschen. Die waren jedoch geleert worden. Nichts hatte man ihm belassen, nichts.

Die Stunden schlichen hin. Dann kam derselbe Indianer mit einem Napf voll gerösteter Nüsse und einer Blechkanne voll Wasser, verschwand aber sofort wieder.

Abermals saß der Matrose in der Finsternis auf dem Haufen Gras und schlang nun vor Hunger die leicht bitter schmeckenden mexikanischen Erdnüsse hinunter. – Wieder vergingen Stunden, bis der Engländer erschien und seinem Gefangenen mitteilte, daß dieser erst am nächsten Morgen bessere Kost erhalten könne.

Jan benutzte diese Gelegenheit, um zu fragen, ob der Abend schon angebrochen sei. Er wolle an seiner Lebensweise nichts ändern und möchte gern die Nacht zum Schlafe benutzen. – So erfuhr er, daß es tatsächlich bereits zehn Uhr abends war.

Wieder allein mit seinen Gedanken, kam er bald zu einem bestimmten Entschluß. Er hatte dem Engländer nur versprochen, nicht ohne dessen Zustimmung die Insel zu verlassen. Mit voller Absicht hatte er nur von der Insel hierbei gesprochen, nicht von der Zelle.

Er begann nun die Ziegelwand mit den Fingern zu befühlen. Die Tonziegel waren sicher ein sehr altes Fabrikat und daher bereits zum Teil recht mürbe. Trotzdem hätte man ohne Werkzeuge nie ein Loch in die Wand brechen können. Aber Jan Jensen hatte noch seine derben Seemannsschuhe an den Füßen, deren Hacken eiserne Hufeisen besaßen. Er zog also beide Schuhe aus und löste das eine Eisen ab, indem er mit dem anderen darunterhakte. All das im Dunkeln zu erledigen war nicht leicht. Bald hielt er die beiden Hufeisen in Händen. Und dann begann er mit Hilfe dieser einen Angriff auf die Tonziegel, indem er bald mit der Rechten, bald mit der Linken die gebogenen kleinen Eisen als Werkzeuge benutzte, mit denen er in den Fugen entlangfuhr. Mörtel war hier zum Verbinden der einzelnen Steine nicht benutzt worden, und wenn, dann höchstens in Gestalt von feuchtem Ton. Daher schritt die Arbeit auch verhältnismäßig schnell vorwärts und ohne viel Geräusch.

Nach zwei Stunden etwa – wenigstens schätzte Jan Jensen die verflossene Zeit so ab – hatte er sechs Ziegel der ersten Schicht entfernt. Dahinter lag noch eine zweite Schicht, die jedoch auch glücklich durchbrochen wurde.

Nun kam alles darauf an, ob er sich in seinen Berechnungen nicht getäuscht hatte. Er hatte die eine Seitenwand in Angriff genommen, die, wie er hoffte, zu einer ähnlichen Nebenzelle gehörte wie die, in der er sich befand, und deren Tür vielleicht unverschlossen sein würde.

Vorsichtig schob er sich nun durch das Loch ganz hindurch, nachdem er zunächst auf der anderen Seite der Mauer durch Betasten mit den Händen festzustellen versucht hatte, ob die Bauart des Nebenraumes dieselbe war.

Jan Jensen erlebte keine Enttäuschung. Die Tür dieser Zelle war nur angelehnt. Aber auch hier außerhalb der Nebenzelle befand er sich in voller Finsternis. Lautlos schlich er nun erst einmal nach links an der Wand entlang. Die Stiefel hatte er nicht wieder angezogen. Und bevor er sich einen Schritt weiter vorwärts wagte, prüfte er erst mit dem Fuße, ob der Weg auch frei sei.

So hatte er, wie er genau mitzählte, fünfzehn Schritte zurückgelegt, als die Wand, nachdem er noch an drei weiteren Türen vorübergekommen war, eine scharfe Ecke nach rechts hin bildete. Und nun bemerkte er auch vor sich einen schwachen Lichtschimmer, der aus der Spalte einer nur angelehnten Tür hervordrang.

Noch behutsamer als bisher drang er weiter vor. Jetzt konnte er den Kopf durch die Türspalte stecken.

Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, in das er hineinblickte. Auf dem Boden brannte am Kopfende einer Lagerstatt eine Petroleumlaterne. In eine Decke gehüllt schlief hier der Engländer offenbar im Gefühl völliger Sicherheit ganz fest und schnarchte sogar leise. Sonst standen in diesem Raum nur einige altertümliche Gerätschaften indianischen Ursprungs.

Jan Jensen überlegte nicht lange. Auf allen Vieren kroch er an den Schläfer heran, holte dann aus und versetzte ihm einen Fausthieb gegen die Stirn, der gerade genügte, den Engländer so lange zu betäuben, bis der Matrose ihn mit Hilfe einer in Streifen gerissenen Decke gefesselt und auch geknebelt hatte.

Als Jensen dem Gegner sowohl dessen eigenen als auch seinen und Fritz Melchers Revolver abgenommen hatte, fühlte er sich bereits völlig als Herr der Lage.

Nun galt es, den Schlafraum der beiden Indianer auszukundschaften. Wieder begann das lautlose Umhertappen im Dunkeln. Eine gute halbe Stunde brauchte der Matrose, ehe er rechts von seiner Zelle aus einem unbeleuchteten Raume, dessen Tür gleichfalls halb offenstand, die tiefen Atemzüge zweier Schlafenden vernahm.

Nach kurzem Nachdenken hatte Jan Jensen einen Entschluß gefaßt. Er kehrte zu dem Engländer zurück, holte die Laterne und ließ dann deren Lichtschein von der Tür aus schnell über das Gelaß hinweggleiten, in dem die Roten ihr Nachtquartier bezogen hatten.

Auch dieser Raum besaß nur die eine Tür, sonst keinerlei Öffnung. Und außen an der Tür war ein schwerer Metallriegel angebracht, der vorläufig genügte, um auch die beiden Indianer unschädlich zu machen.

Ganz leise drückte Jensen die Tür zu, schob dann aber ohne Rücksicht auf ein Geräusch den Riegel vor, weil er drinnen einen lauten Ausruf gehört hatte. Einer der Roten war erwacht. Das leise Kreischen der Türangeln hatte genügt, ihn aufzuwecken. Und nun warf er sich drinnen mit aller Gewalt gegen die schwere, feste Holztür. Zu spät. Der Riegel lag schon vor, und als Jan Jensen diesen nun noch auf seine Festigkeit hin geprüft hatte, konnte er sich ganz sicher fühlen. Ruhig ließ er die Indianer gegen die Tür hämmern. So lange, bis er seinen kleinen Freund befreit hatte, würde diese schon halten.

Das Auffinden Fritz Melchers machte keine Schwierigkeiten, da in dem breiten Gange, auf den überall Zellentüren mündeten, nur noch eine neben dem jetzigen Gefängnis der Roten verriegelt war. Und dahinter saß tatsächlich der Knabe, der zunächst seinen Augen kaum traute, als Jensen bei ihm eintrat.

– – – – – – – –

„Jan Jensen – Jan Jensen – – wirklich – wirklich?!“

Der ehemalige Schiffsjunge der „Esmeralda“ rieb sich noch immer die Augen. Der Laternenschein blendete ihn, und außerdem war er auch etwas schlaftrunken.

Der Matrose lachte gutmütig.

„Jan Jensen in eigener Person, lebend und, wie Du siehst, bewaffnet mit ein paar hübschen Handknallbüchsen, kleiner Freund! – Doch genug des Staunens! Wir haben besseres zu tun, als hier auch nur zwei Worte unnütz zu verlieren. – Da, nimm den einen Revolver, und nun wollen wir uns zunächst mal schnell diese seltsamen unterirdischen Räume ansehen, bevor wir dem Herrn Engländer etwas auf den Zahn fühlen.“

Der Engländer lag noch ebenso gut gefesselt in seinem Gemach wie Jensen ihn dort zurückgelassen hatte. Nachdem die Gefährten die beiden Acetylenlaternen angezündet hatten, überzeugten sie sich, ob auch die eingesperrten Indianer sich ruhig verhielten. Dann erst begannen sie den Besichtigungsgang durch die Höhlenwohnung. Am meisten kam es Jensen darauf an, die Verbindung mit der Mumiengrotte zu finden. Sie brauchten zu diesem Zweck auch nicht lange zu suchen.

Die einzelnen Gemächer waren aus Tonziegeln in eine niedrige, in einer scharfen Krümmung verlaufende Höhle hineingebaut. Im ganzen gab es achtzehn kleinere und vier größere Zellen, deren Türen sämtlich auf den einen Mittelgang mündeten. Dieser wieder hatte an seinem nördlichsten Ende eine richtige, sehr praktisch eingerichtete und aus einem in eine Öffnung der Mumiengrottenwand genau eingepaßten Felsstück bestehende Geheimtür, die von außen, von der Totenkammer aus, tatsächlich kaum zu bemerken war.

Sonst bot diese unterirdische Behausung weiter keine Besonderheiten dar. Jensen meinte, sie mache ganz den Eindruck, als handle es sich hier um ein Kloster oder etwas Ähnliches. Man fand auch in verschiedenen Zellen noch allerlei sehr alte Einrichtungsgegenstände, sogar altindianische Waffen und eine vollständige Kücheneinrichtung, deren Alter der Matrose gleichfalls auf Hunderte von Jahren schätzte.

Nun erst wurde dem Engländer in seinem Gemach ein längerer Besuch abgestattet. Nachdem Jensen ihm den Knebel aus dem Munde entfernt und die Arme loser gefesselt hatte, fragte er ihn, wie er heiße, weshalb er mit den beiden Roten hierher gekommen sei, und anderes mehr.

Der Mann hielt es jedoch für angebracht so zu tun, als wäre der deutsche Matrose völlig Luft für ihn. Auch nicht ein Wort sprach er. Nur ein geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen.

Jensen zuckte die Achseln.

„Fritz, durchsuche seine Taschen“, befahl er kurz.

Da kam Leben in den stolzen Briten. Eine Flut von Schmähungen und Drohungen ergoß sich über die beiden Deutschen, bis es dem Matrosen doch zu viel wurde und er dem Engländer den Knebel gewaltsam wieder zwischen die Zähne schob.

Dieser wehrte sich jetzt wie ein Verzweifelter gegen die Plünderung seiner Taschen. Aber gerade dieser Widerstand deutete darauf hin, daß er etwas bei sich führen müsse, was für ihn sehr wertvoll sein mußte.

Fritz erledigte das Geschäft denn auch mit aller Gründlichkeit, während Jensen den sich Hinundherwerfenden festhielt. Der Gefangene besaß nun außer einer Brieftasche mit vielen Papieren noch einen flachen Lederbeutel, den er an einer Schnur um den Hals auf der nackten Brust trug. Als der Knabe auch diesen Beutel entdeckt hatte, stieß der Geknebelte ein dumpfes, tierisches Wutgebrüll aus. Doch das half ihm alles nichts.

Jetzt schickte Jensen den Schiffsjungen als Wächter vor die Zellentür der beiden Indianer, indem er ihm einschärfte, auch des öfteren in die beiden Nachbargelasse hineinzuschauen, damit die Roten nicht etwa ebenfalls mit Hilfe eines Messers oder dergleichen sich einen Weg durch die Ziegelwand bahnten.

In aller Ruhe sah der Matrose dann zuerst den Inhalt der Brieftasche durch.

Aus den Papieren – Briefen, Pässen, Depeschen und anderem – ging hervor, daß der Engländer John Harritt hieß und Vertreter einer englischen Waffenfabrik war, die mit dem mexikanischen Rebellengeneral Villa bereits größere Lieferungsgeschäfte gemacht hatte.

Nun war ja auch zur Genüge erklärt, wie die drei – Harritt und die beiden Indianer – nach der Insel gelangt waren, – eben mit demselben Dampfer, den das Kanonenboot als den Revolutionären gehörig beschlagnahmt hatte. Aus einem Briefe Villas an Harritt war zu ersehen, daß dieser berüchtigte Rebellenführer dem Engländer die beiden Roten, die zum Stamm der Yuma gehörten, selbst aufs wärmste sozusagen als persönliche Leibwache empfohlen hatte.

In demselben Schreiben fand sich noch eine Stelle, die Jensen zunächst nicht verstand. Sie lautete in deutscher Übersetzung:

„Ich wünsche Ihnen zu Ihrem Unternehmen Glück. Viel verspreche ich mir aber von der Sache nicht. Wenn alle diese alten Überlieferungen aus den Zeiten, wo noch die Azteken Mexiko beherrschten, auch nur zur Hälfte wahr wären, so mußten sich die früheren Herren meines jetzigen Vaterlandes geradezu in Gold haben wälzen können.“

Nun nahm Jensen auch den Lederbeutel vor. Dieser enthielt zunächst drei Ausschnitte aus Werken über Mexiko als eines der ältesten Kulturländer.

In diesen Ausschnitten stand gleichlautend etwa folgendes:

„Aus alten Bilderschriften geht mit ziemlicher Sicherheit hervor, daß an der Ostküste Mexikos auf einer einsamen Insel ein Kloster sich befunden haben muß, das den Vornehmen als Begräbnisstelle diente. Die dort hausenden Priester sollen ungeheure Schätze an Gold und kostbaren Steinen angesammelt haben, indem sie dafür, daß sie die Toten in unterirdischen Grotten mit sehr trockener Luft zu natürlichen Mumien ausdörren ließen, hohe Geschenke erhielten. Diese sagenhafte Insel ist bisher jedoch noch nicht gefunden worden.“

Weiter lag in dem Lederbeutel noch ein zusammengefalteter Bogen eines sehr dauerhaften Papieres, auf den mit Tinte eine Zeichnung entworfen war, unter der allerlei kurze Bemerkungen standen.

Die Zeichnung stellte, wie Jensen sehr bald herausfand, die Insel dar, auf der die beiden Deutschen bereits so merkwürdige Dinge erlebt hatten. Besonders genau waren die Plattformfelsen, der Schacht und das darunterliegende Höhlensystem eingezeichnet.

Die Bemerkungen, die von John Harritts Hand herrührten, besagten, daß er die Skizze der Insel auf einem Grabstein im Garten des Museums in Mexiko entdeckt und auf das Papier übertragen hatte, da er des Waffenschmuggels wegen bereits mehrfach auf dem Eiland gewesen war und ihm die Ähnlichkeit dieses mit der Grabsteinzeichnung sofort aufgefallen war.

Jetzt war Jensen auch die eine Stelle aus Villas Brief klar wie überhaupt der Zweck des Aufenthaltes John Harritts und der Roten auf der Insel. Der Engländer wollte nach den Schätzen des merkwürdigen Klosters suchen …!! Damit war alles gesagt.

Der Matrose packte jetzt die Papiere wieder zusammen und sagte dabei zu dem Engländer:

„Ich schließe mich hinsichtlich des Schatzes ganz dem Urteil des Rebellengenerals Villa an: viel verspreche ich mir nicht von der Sache. – Jedenfalls war es sehr überflüssig, daß Ihr Euch uns gegenüber so heimtückisch und feindselig benahmt. Wir hätten Euch nicht gestört …! Meinetwegen könnt Ihr hier alles von oben bis unten umkrempeln. Freilich – jetzt liegen die Dinge anders. Euch ist nicht zu trauen, und daher werden wir wohl Eure Gefangenenwächter spielen müssen, bis das Kanonenboot uns und Euch hier abholt. Angenehm wird die ganze Geschichte für Euch daher kaum enden, Master Harritt. Die mexikanische Regierung dürfte für den Vertreter einer zu Villa in Beziehungen stehenden Waffenfabrik wahrscheinlich eine Zuchthauszelle, falls nicht gar sechs Kugeln oder eine Hanfschlinge bereithaben. Ihr seid also selbst schuld daran, wenn die Schatzsucherei etwas anders läuft, als Ihr gedacht habt.“

John Harritt verfärbte sich.

„Das Kanonenboot kehrt sehr bald zurück?“ fragte er gespannt.

Jensen merkte, wieviel dem Engländer auf die Antwort ankam, die er erhalten würde. Diese Frage, ob mit dem Erscheinen der „Santa Maria“ „sehr bald“ zu rechnen sei, mußte eine besondere Bedeutung haben.

Unauffällig beobachtete der Matrose daher das Gesicht des Gefangenen, als er erwiderte:

„Sehr bald?! – Wie man’s nimmt. Jedenfalls in einer Woche.“

Über Harritts scharfgeschnittenes, mageres Antlitz lief ein zufriedenes Aufleuchten. Und trotzdem erklärte er nun, den gänzlich in sein Schicksal Ergebenen spielend:

„Schon in acht Tagen …?! – Gibt es denn keine Möglichkeit, daß wir zu einer Verständigung gelangen? Ich will Euch gern einen Teil der Schätze abgeben, wenn Ihr uns suchen helft und uns nachher dem Kapitän der „Santa Maria“ nicht ausliefert.“

Jan Jensen brach in ein vergnügtes Lachen aus.

„… einen Teil abgeben …!! – Mann, Ihr verschenkt ja Sperlinge, die noch in der Luft herumfliegen …!! – Aber, um die Sache ernst zu behandeln: selbst wenn Ihr mir tatsächlich Millionen bietet könntet, würde aus einem solchen Pakt nichts werden. Nein, ich werde Euch jetzt die Beinfesseln lösen, und dann bringe ich Euch hinüber zu Eurer roten Leibgarde, damit Ihr Gesellschaft habt und wir weniger Mühe mit der Bewachung. – Kein Wort weiter. Dabei bleibt es!“

Harritt zeigte jetzt wieder seinen wahren Charakter.

„Deutscher Hund, das soll Dir teuer zu stehen kommen!“ brüllte er. „Mich mit Indianern zusammenzusperren – mich einen Weißen, einen Engländer! Du wirst schon erleben, daß …“

Er vollendete den Satz, der offenbar in eine Drohung auslaufen sollte, nicht, sondern fügte nach kurzer Pause nur verächtlich hinzu:

„Tut mit mir, was Ihr wollt. Euch um Schonung bitten, – das sollte mir einfallen!“

Willig ließ er sich dann nach der Zelle der beiden Yumas führen. Während Jensen mit je einem Revolver in jeder Hand sich vor der Tür aufpflanzte, öffnete Fritz diese und schob Harritt hinein. Gleichzeitig leuchtete er den Raum mit einer der Acetylenlaternen ab.

Die Indianer saßen in einer Ecke auf ihrem Lager und dachten auch nicht im entferntesten daran, etwa einen Ausbruchsversuch zu wagen.

Der Riegel wurde wieder vorgeschoben. Dann blieb Fritz abermals als Wächter vor der Tür stehen, während Jensen Trinkwasser und Proviant für die Gefangenen von der Plattform herbeiholte.

Inzwischen war der Tag angebrochen. Als der Matrose seine Blicke über die Insel mit ihren weiten Kakteenfeldern hinschweifen ließ, als er den prachtvollen Sonnenaufgang beobachtete und die leichte, kühle Morgenbriese sein Gesicht erfrischend umspielte, da kamen ihm die Ereignisse dieser Nacht tatsächlich schon wie ein phantastischer Traum vor. In seinem abenteuerreichen Leben hatte er gewiß schon manches Seltsame durchgemacht. Aber in einer Lage, die der jetzigen auch nur entfernt ähnlich war, hatte er sich noch nicht befunden.

Die Sonnenstrahlen gaben den Spitzen der Felshügel ringsum die Farbe schimmernden Silbers. Und eine Bahn von silbernen Blättern schien über das Meer nach Sonnenaufgang zu ausgestreut zu sein.

Edelmetall – Silber …!! Und Jensen dachte an John Harritt, an die Schätze der Azteken-Priester …

Und er lächelte … Märchen all das, Märchen …! Wo sollten nicht überall verborgene Schätze ruhen …!!

Dann belud er sich mit einem großen Blechgefäß voll Wasser, band sich das Bündel mit den Dörrfischen und den Erdnüssen auf den Rücken und kletterte in dem Schacht die Strickleiter wieder hinab.

– – – – – – – –

Nachdem der Proviant in die Zellen der Gefangenen gestellt war, begab sich Jan Jensen abermals auf die Plattform, um auch für Fritz und sich ein Frühstück zuzubereiten.

Dieses nahmen sie dann in dem Gange vor der Gefangenenzelle ein, und jetzt fand der Matrose endlich auch die nötige Zeit, um dem kleinen Freunde alles das zu berichten, was aus des Engländers Papieren hervorging.

Der Schiffsjunge hörte mit leuchtenden Augen zu.

„Jan, – also um Schätze handelt es sich …! Wer hätte das gedacht!“ meinte er dann. „Ob wir nicht doch einmal danach suchen …? Man kann ja nicht wissen, ob nicht …“

Jensen schüttelte fast ärgerlich den Kopf.

„Packt Dich auch schon die verd… Goldgier, he?! Laß Dich warnen, mein Junge! Nichts ist verderblicher als das Gold! – Nein, ich rühre auch nicht einen Finger, um dieser Fata Morgana nachzuforschen! Nichts anderes ist’s als eine Fata Morgana, eine trügerische, lockende, unwirkliche Sache, diese ganze Schatzgeschichte …! – – Außerdem –“ er sprach jetzt ganz leise – „außerdem müssen wir sehr auf unserer Hut sein. Des Engländers Verhalten, besonders seine Frage nach dem Zeitpunkte der Rückkehr der „Santa Maria“, beweist mir, daß er auf Hilfe von irgendwoher rechnet, bevor noch das Kanonenboot wieder da ist. Ich kann mir dies nur so erklären, daß ein Rebellenschiff, vielleicht abermals ein Segler mit Waffen als Ladung, hier in den nächsten Tagen erwartet wird. Uns liegt also die doppelte Verpflichtung zu unserer eigenen Sicherheit ob, sowohl die Gefangenen zu bewachen als auch das Meer zu beobachten. Das macht unsere Lage nicht gerade angenehm. Ja – wenn auf die Wände der Zellen Verlaß wäre …!! Aber ebensogut wie es mir gelungen ist auszubrechen, können dies auch die drei vielleicht versuchen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als abwechselnd hier unten aufzupassen.“

„Oh, ich denke, Jan, wir können uns dies doch wesentlich erleichtern“, meinte Fritz. „Die Zelle der Gefangenen hat nach rechts hin drei, nach links hin fünf Nebenzellen. Wenn wir diese alle gleichfalls verriegeln, so ist ein Entweichen der drei so gut wie unmöglich gemacht, da ja die Türen selbst und die Riegel höchstens von innen mit Hilfe von Äxten oder anderen nicht gerade geräuschlos zu handhabenden Instrumenten zu öffnen sind.“

Jensen fand diesen Vorschlag sehr gut. Nachdem die Gefährten dann noch die beiden Yumas, indem man auf sie zu schießen drohte, gezwungen hatte, ihre Messer auszuliefern, war man der Eingeschlossenen ziemlich sicher.

Der Matrose begab sich nun ins Freie, um womöglich mit dem Karabiner eine Wildgans zu erlegen, da diese Vögel häufig in der Bucht zu finden waren. Die Freunde besaßen im ganzen zwei von dieser Art Schußwaffen, die sie sich aus Teilen der zerstörten Waffenladung der in die Luft geflogenen „Esmeralda“ zusammengesetzt hatten.

Fritz wieder wollte aus den leeren, offengebliebenen Zellen alles an altertümlichen Gerätschaften oben nach der Wohnhütte auf die Plattform schaffen, damit die „Santa Maria“ diese Wahrzeichen der hochentwickelten Kultur des inzwischen ausgestorbenen Aztekenvolkes mit nach Mexiko nehme, wo die Sachen eine wertvolle Bereicherung für das Landesmuseum bilden mußten.

Nachdem Jan Jensen durch den geheimen Ausgang nach der Mumiengrotte hin verschwunden war, nahm der Schiffsjunge eine der Acetylenlaternen und begann nochmals ganz gründlich die Räume des uralten, unterirdischen Klosters zu besichtigen. Er wurde die Gedanken an den Indianerschatz nicht los. Gewiß – wenn ein solcher vorhanden war, dann hatten ihn die ehemaligen Bewohner auch zweifellos so gut versteckt, daß wohl nur ein Zufall diese Schatzkammer einem Uneingeweihten öffnete. Dies sagte sich der Knabe schon selbst. Trotzdem: was konnte es schaden, wenn man ein wenig Zeit mit Nachforschungen vertrödelte …! Das Hinausschaffen der Altertümer hatte keine Eile.

Fritz betrieb die Suche nun keineswegs planlos. Im Gegenteil! Gerade die Art, wie die Azteken-Priester die geheime Verbindungstür nach den beiden Nebenhöhlen angelegt hatten, gab ihm einen Wink, wie und wo er vielleicht am ehesten Erfolg haben könne. Er dachte eben an eine ähnliche aus einem schmalen Felsstück bestehende und in Angeln sich bewegende Tür, die in die Schatzkammer hineinführen würde, – denn eine Schatzkammer würde es wohl sein, – so ähnlich etwa wie die, die in dem Märchen in Tausend und eine Nacht beschrieben war, wo nur das „Sesam, öffne Dich!“ den Ausgang freigab.

Die Zellen schieden hier für diese Nachforschungen insofern nicht aus, weil ihre Rückwände ja durch die natürliche Felswand der Höhle gebildet wurden. Und in diese Felswand konnte sehr wohl, da sie rauh und unregelmäßig war, eine Geheimtür irgendwo eingefügt sein.

Deshalb begann der Junge nun auch eine Zelle nach der anderen abzusuchen, indem er die Rückwände fast Zentimeter für Zentimeter ableuchtete. Aber diese Mühe war umsonst. Allerdings mußte er notwendig den Raum auslassen, in dem die Gefangenen untergebracht waren.

Gerade als er dann die ersten altmexikanischen Gerätschaften nach oben bringen wollte, kehrte Jensen mit einer Wildgans zurück.

Fritz gestand etwas schuldbewußt ein, daß er so ein wenig den Schatzgräber gespielt habe, worauf Jensen nur meinte: „Wenn’s Dir Vergnügen macht – meinetwegen! Du wirst aber ebensowenig etwas finden wie der Engländer – glaube mir!“

In den drei folgenden Tagen ereignete sich nichts, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Gefangenen benahmen sich sehr verständig, und Jensen gewährte ihnen alle Erleichterungen, soweit dies möglich war.

Am fünften Tage nach der Abfahrt des Kanonenbootes gab es morgens ein schweres Gewitter mit reichlichem Regen. Dieser war auch schon sehr nötig, da der Pflanzenwuchs der Insel geradezu nach Nässe lechzte.

Als Fritz gegen acht Uhr, nachdem der Himmel sich wieder aufgeklärt hatte, an der Strickleiter empor auf die Plattform kletterte, als er nun den Horizont mit den Blicken musterte und besonders nach Westen schaute, wo er in weiter Ferne den flachen Küstenstrich der Halbinsel Yukatan zu erkennen glaubte, da zuckte er plötzlich mehr erschreckt als überrascht zusammen.

Von Nordwesten her näherte sich ein kleines Fahrzeug mit erheblicher Geschwindigkeit der Insel. Es besaß keinen Schornstein, aber zwei niedrige Masten ohne Segel. Also ein Motorkutter, entschied Fritz Melcher sachkundig.

Jedenfalls war es nötig, Jensen sofort von dem Erscheinen des Bootes zu benachrichtigen. Vielleicht war dies das Fahrzeug, mit dessen Ankunft John Harritt gerechnet hatte.

Eilig kehrte der Knabe also in die unterirdischen Räume zurück. Die Geheimtür stand offen, und in dem Gange zwischen den Zellen brannte als einzige Leuchte eine der Petroleumlaternen.

Fritz rief Jensen beim Namen.

„He – Jan – wo steckt Ihr?“ wiederholte er nochmals.

Keine Antwort. – Da wurde der Junge unruhig.

Zum drittenmal erklang der Ruf nach dem Gefährten.

Wieder vergeblich – – –

Da eilte Fritz an den Zellentüren entlang. Die eine, gerade die der Gefangenen, war halb offen.

Drinnen brannte Licht, – eine der Acetylenlaternen.

Wie froh war Fritz, als er nun auch den großen Freund erblickte, der offenbar tief in Gedanken mitten in dem Gemache stand.

Aber gleichzeitig nahm der Knabe noch etwas anderes wahr: der Engländer und die beiden Yumas waren verschwunden.

Beim Eintritt des Schiffsjungen fuhr Jensen leicht zusammen. Und wenige Worte genügten dann, um Fritz darüber aufzuklären, was inzwischen hier vorgefallen war.

Jan Jensen hatte mit einemmal aus der Zelle der Gefangenen ein verdächtiges Geräusch hervordringen zu hören geglaubt, war daraufhin mit dem Revolver in der Hand eingetreten und … hatte den Raum leer gefunden.

„Mir ist es ganz unverständlich“, fuhr der Matrose fort, „wo die drei geblieben sein können. Ich habe bereits die Ziegelmauern untersucht. Nirgends ist eine Öffnung darin. Wo also sind unsere Häftlinge hingekommen?! Es ist ja geradezu, als hätte die Erde sie verschluckt!“

Fritz schüttelte wie ungläubig den Kopf. Dann aber hellte sich sein Gesicht auf.

„Halt – ein Gedanke!“ rief er, ergriff die Laterne und begann nun die teils glatte, teils rissige und rauhe, an Vorsprüngen reiche Rückwand abzuleuchten.

„Was soll das?“ fragte Jensen ungeduldig. „Glaubst Du etwa, daß …“

„Hier – hier!“ jubelte der Knabe da bereits. „Hier sieht man deutlich eine schmale, nach unten laufende Rille …! Und dies hier ist fraglos die wagerechte Abgrenzung einer Geheimtür …! Wenn wir nur erst deren Handgriff hätten! Ich denke, es wird genau ein solches vorspringendes Stück Gestein sein, wie bei dem anderen verborgenen Zugang. – Ob dies etwa der Steinknopf ist …?! – Wirklich: er dreht sich! Da – da – offen, offen!! Ich habe recht behalten …!!“

Diese Tür schlug nach innen. Dahinter wurde ein schmaler Gang sichtbar, in dem die beiden Gefährten nun vorwärtseilten, Jensen mit der Laterne voraus.

Zu ihrer beiden Überraschung hatte der Gang jedoch sehr bald ein Ende. Ein heller Lichtschimmer fiel von draußen herein, durch dichte Kakteenstauden hindurch, die das Felsloch hier umwucherten. In die Kakteen war ein Loch dicht über den Boden geschnitten, das einem Manne gerade das Hindurchkriechen ermöglichte.

Nun stand Jan Jensen im Freien und zwar in einem engen Tale, das sich nach Südwesten zu nach der Bucht allmählich abwärtssenkte.

Und dort am Ufer der Bucht standen Harritt und die beiden Indianer auf einem Hügel und winkten eifrig … nach dem Motorkutter hinüber, der eben hinter einer Biegung der Bucht sichtbar wurde.

Jan Jensen zog Fritz jetzt schnell hinter ein paar Büsche.

„Nun ist mir alles klar“, sagte er erregt. „Die drei haben diesen Ausgang aus der Zelle natürlich gekannt, der ja gleichzeitig der von uns bisher vergeblich gesuchte zweite Zugang zu den Höhlen ist! Und weiter wußten die drei, daß gerade heute morgen der Kutter hier erscheinen würde, den sicherlich Harritt schon vor Antritt der Fahrt nach der Insel herbeordert hat, um ihn abzuholen. Wir befinden uns nun in einer bösen Klemme. Was tun wir? Der Engländer wird nicht gerade zart mit uns umspringen, wenn wir in seine Gewalt geraten.“

Der Schiffsjunge drehte sich um und wies nach Osten hin, wo sich der steile Felsen mit der Plattform oben wie eine riesige Steinpyramide erhob.

„Was wir tun, Jan“, meinte er frohen Mutes. „Wir ziehen uns auf die Plattfarm zurück, nehmen die Strickleiter aus dem Schachte weg und lassen uns dort oben belagern! Zu lange wird Harritt ja nicht hierbleiben, da er weiß, daß die „Santa Maria“ sehr bald zurückkehrt“.

Jensen nickte.

„Gut – zurück also in die Höhlen und hinauf auf die Plattform!“ erklärte er und verschwand schon wieder unter den Kakteen.

In aller Eile schafften die beiden Landsleute nun alles, was ihnen von Nutzen sein konnte, aus den Zellen auf die Felspyramide, die nur durch eine natürliche, schmale Felsenbrücke mit dem nächsten nördlich gelegenen Hügel verbunden war. Diese Brücke, unter der ein tiefer Abgrund gähnte, ließ sich leicht verteidigen. Schon einmal hatten ja die Gefährten den Entschluß gefaßt, ihre kleine natürliche Festung nicht freiwillig zu räumen. Das war damals gewesen, als der Rebellendampfer in der Bucht erschien, den nachher das Kanonenboot wegnahm. (Vergleiche den vorhergehenden Band „Der Schiffsjunge der „Esmeralda““, wo der Leser die Ereignisse geschildert findet, die den hier erzählten vorausgingen).

Dann wurde die Plattform nach Möglichkeit in Verteidigungszustand gesetzt. Eine Steinmauer am Rande besaß sie bereits. Diese wurde jetzt noch stellenweise erhöht, um es den Feinde unmöglich zu machen, die Spitze der Felspyramide mit Kugeln zu bestreichen.

Die Strickleiter war bereits hochgezogen, so daß der Schacht ganz unpassierbar war. Nun mochte Harritt mit den Seinen nur kommen …!! Ihnen würde ein warmer Empfang bereitet werden. Dazu war Jan Jensen fest entschlossen. Mit den beiden weittragenden Karabinern ließ sich schon etwas ausrichten, zumal man genügend Munition besaß.

– – – – – – – –

Gegen zehn Uhr vormittags tauchte ein Trupp von zehn Leuten, darunter Harritt und zwei andere Weiße, während der Rest Indianer, wahrscheinlich Yumas, waren, auf dem in Terrassen nach allen Seiten hin abfallenden Hügeln auf, der durch die gewölbte Felsenbrücke mit der kleinen Feste verbunden war. Selbst die Roten verfügten über moderne Hinterladergewehre, so daß es sich um einen recht beachtenswerten Gegner handelte.

Harritt schien bereits von der Bucht aus mit Hilfe des Fernglases die Zurüstungen der beiden Deutschen für eine Verteidigung des Felsens beobachtet zu haben. Daher näherte er sich allein der Brücke und begann mit Jensen zu verhandeln, indem er ihn aufforderte sich zu ergeben.

„Ihr seid Anhänger der mexikanischen Regierung, die wir bekämpfen. Das habt Ihr selbst zugegeben. Wenn Ihr Euch nicht ergebt, werden wir Euch aushungern und nachher füsilieren. Auf Hilfe durch die „Santa Maria“ habt Ihr nicht zu rechnen. Das Kanonenboot ist vorgestern durch einen kühnen Handstreich genommen worden.“

Dies waren in Kürze Harritts Worte.

Jan Jensen, der hinter den Steinen der Brustwehr kniete, erwiderte, daß er jeden niederschießen werde, der den Versuch mache, auf den Felsen zu gelangen. Im übrigen lasse er sich durch solche Schwindelnachrichten wie die von der Wegnahme der „Santa Maria“ nicht schrecken. Und mit dem Aushungern habe es gute Weile.

Dann versetzte er Harritt noch einen Hieb, indem er hinzufügte:

„Es spricht nicht gerade sehr für Euren und der Indianer Unternehmungsgeist, daß Ihr während der Tage Eurer Gefangenschaft auch nicht ein einziges Mal mit Hilfe des geheimen Ausganges aus Eurer Zelle versucht habt, uns irgendwie zu überwältigen, sondern vielmehr untätig bliebt, bis der Motorkutter eintraf. Solche Gegner wie Ihr es also seid haben wir kaum zu fürchten.“

Harritt beschränkte sich darauf, mit der Faust herüberzudrohen, und verschwand dann.

Bald wurde es klar ersichtlich, daß der Feind nicht beabsichtigte, einen Angriff auf den Felsen zu wagen. Dieser wurde vielmehr nur beständig durch zwei Yumas beobachtet. Und nur wenn Jensen oder Fritz sich einmal über dem Steinwalle blicken ließen, knallte drüben sofort ein Schuß, ohne daß die Kugeln je Schaden anrichteten.

Nachts waren die Gefährten dann besonders auf ihrer Hut. Aber Harritt schien tatsächlich den Plan der Aushungerung durchführen zu wollen und beschränkte sich auch während der Dunkelheit nur auf eine Bewachung der Felsenbrücke.

So vergingen drei Tage. Sehnsüchtig spähten Jensen und Fritz jetzt immer wieder auf das Meer hinaus, ob die „Santa Maria“ noch nicht auftauchte. Die Woche war ja jetzt um, und jeden Augenblick konnten die niedrigen Schornsteine des Kanonenbootes über dem Horizonte erscheinen. Die Lage der beiden Belagerten war ja keinesfalls angenehm. Das fortwährende Achtgeben auf alles, was auf dem Terrassenhügel gegenüber vorging, die nächtlichen Wachen und der Gedanke, daß der Wasservorrat, der nicht ergänzt werden konnte, nur noch einige Tage reichte, waren nicht dazu angetan, die körperliche und geistige Spannkraft zu heben. Der Feind dagegen hatte es in jeder Beziehung besser. Er konnte sich frei auf der Insel umhertummeln, brauchte keinerlei Mangel zu fürchten und fand die beste Zerstreuung in dem Durchsuchen der Höhlen, eine Arbeit, die von den Weißen und den Yumas offenbar mit gleichem Eifer betrieben wurde.

Inzwischen hatte Jensen bereits festgestellt, daß mit dem Motorkutter zwei Weiße und neun Indianer nach der Insel gekommen waren. Zwei der Roten blieben stets auf dem Boote als Wache zurück, während die übrigen mit Ausnahme der beiden Beobachtungsposten auf dem Terrassenhügel zumeist gleich morgens in den Höhlen verschwanden. Durch den Schacht drang dann deutlich fortwährendes Hämmern und Pochen nach oben. Harritt ließ zweifellos jeden Zollbreit der Wände nach dem Versteck des Schatzes absuchen.

Abermals waren drei Tage verflossen. Die „Santa Maria“ erschien nicht. Jetzt erst kam Jensen der Gedanke, daß der Engländer doch vielleicht die Wahrheit gesprochen haben könnte, als er behauptete, die Belagerten hätten auf Hilfe nicht zu rechnen.

Mittlerweile hatten die Leute des Kutters sich in dem Tale, in das der Gang von der einen Zelle aus einmündete, einige Hütten errichtet, bei denen sich nun ein richtiges Lagerleben abspielte.

Die Yumas als geschickte Jäger sorgten stets für frisches Fleisch, und außerdem schien der Kutter auch sehr gut verproviantiert zu sein.

Als fünf Tage nach Ablauf der von Kapitän Marlitz festgesetzten Woche verstrichen waren, sah Jensen ein, daß man dem Gegner sich werde ausliefern müssen und zwar auf Gnade und Ungnade, wenn man so lange wartete, bis der Durst ihre Widerstandskraft völlig gebrochen hatte.

Er nahm daher beim Mittagessen die Gelegenheit wahr, mit dem kleinen Freunde zu beraten, ob es denn kein Mittel gebe, aus dieser bösen Klemme irgendwie herauszukommen.

Fritz erbot sich nun freiwillig, in der nächsten Nacht an der Strickleiter, die, wenn man sie auseinanderschnitt, gerade ein bis zum Boden herabreichendes Tau ergeben mußte, hinabzuklettern und zu versuchen, Trinkwasser zu holen.

Dieser Gedanke, mit Hilfe der beiden sehr festen Seitentaue der Strickleiter die Plattform zu verlassen, war Jensen noch gar nicht gekommen.

Erst dieser Vorschlag des Knaben zeigte ihm die Möglichkeit einen Plan zur Durchführung zu bringen, den er schon einige Tage erwogen, stets aber als unmöglich verworfen hatte.

Jetzt erschien ihm seine eigene Idee in ganz anderem Lichte. Mit Eifer entwickelte er Fritz die Einzelheiten dieses Planes, der denn auch von dem Jungen geradezu mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Große Vorbereitungen waren dazu nicht nötig. Nur das Wetter mußte günstig sein. Sternenklaren Himmel konnten die Gefährten für ihr Vorhaben nicht brauchen. In einer solchen hellen Nacht war die Gefahr des Entdecktwerdens zu bedeutend. Am meisten wünschte Jan Jensen leichten Regen herbei.

Aber die Aussichten hierfür waren sehr gering. Bis zum Spätnachmittage schien die Sonne. Kein Wölkchen war zu sehen. Als das Tagesgestirn dann aber unter dem Horizonte verschwand, zeigte sich in der flammenden Abendröte jene merkwürdige, sternenkranzförmige leichte Wolkenbildung, von der man auch im Volksmunde sagt: die Sonne saugt Wasser.

Und wirklich: gegen elf Uhr abends war am Firmament auch der letzte Stern hinter Wolkenschleiern verschwunden.

Kurz nach Mitternacht befestigte Jan Jensen dann das lange, aus der Strickleiter hergestellte Tau am Südostrande der Plattform. Als erster kletterte Fritz hinab, dem der Matrose dann die Karabiner an dem Seile folgen ließ.

Auch Jensen kam wohlbehalten unten an. Sehr langsam und vorsichtig, immer wieder haltmachend und lauschend und die Karabiner schußbereit in Händen, näherten sich die Gefährten in weitem Bogen der Bucht und der Liegestelle des Motorkutters.

Dieser war an einer niedrigen, aber steil ins Wasser abfallenden Felswand festgemacht. Jensen übernahm es jetzt festzustellen, ob heute ausnahmsweise mehr als zwei Indianer an Bord wachten.

Auf allen Vieren kroch er vorwärts, bis er das Deck überblicken konnte. Auf der vertieften Bank am Steuer saß ein in eine Decke gehüllter Roter, der hin und wieder den Kopf bewegte, bald nach dem Lande hinsah, bald wieder die dunkle Bucht spähend musterte.

Dieser Yuma mußte lautlos unschädlich gemacht werden. Gelang dies nicht, so war das Gelingen des ganzen Planes in Frage gestellt.

Jan Jensen überlegte. Es war nötig, den Roten an Land zu locken.

Nach einer Weile hob der Yuma lauschend den Kopf. Ein starkes Rascheln in den Kakteensträuchern rechts von dem Kutter hatte ihn argwöhnisch gemacht. Nun hörte er ein kräftiges Fauchen, daß nur von einer Wildkatze herrühren konnte.

Der Rote warf die Decke ab, stieg auf den Felsen und näherte sich langsam dem Kakteenfelde. Dann tauchte plötzlich hinter ihm Jensens Gestalt auf. Und die harte Faust des Matrosen traf den Yuma so gut an die Schläfe, daß dieser lautlos zusammensank. Der Mann wurde schnell gefesselt und geknebelt und dann abseits auf eine kleine Lichtung inmitten des Kakteenfeldes getragen, wo er jedenfalls aufs erste keinen Schaden anrichten konnte.

Dann schlich Jensen an Deck des Kutters. Er wußte schon, wo er den zweiten Wächter zu suchen hatte, – sicherlich im Vorschiff, wo es auf größeren Motorbooten stets einen Verschlag als Mannschaftslogis gab.

Ein recht kräftiges Schnarchen wies ihm den Weg. Kein Wilder pflegt zu schnarchen. Daß dieser Yuma an dieser halb krankhaften Angewohnheit litt, zeigte nur, daß dieser Indianerstamm bereits mit der Zivilisation der weißen Rasse auch deren Kulturuntugenden angenommen hatte.

Der Rote wurde in dem offenen Verschlage ebenso leicht überwältigt und nachher neben seinen gefesselten Stammesgenossen gelegt.

Mit dem Motor wurde Jan Jensen bald fertig. Wer ein Jahrzehnt zur See gefahren ist, wird mit allen Fahrzeugen von jeglicher Antriebsart vertraut. Knatternd sprang die Maschine an. Unter dem Heck des Bootes quoll der Wasserwirbel der Schraube hoch. Fritz saß am Steuer, lenkte den schnellen Kutter jetzt sicher dem offenen Meere zu.

Niemand hielt die Flüchtlinge auf. Und am Morgen bereits hatten sie das Städtchen Carmen auf der gleichnamigen Insel erreicht, die im tiefsten Südostwinkel der Kampeche-Bai liegt. Hier vertrauten sie sich dem regierungstreuen Stadtoberhaupte an, der sie reichlich mit Proviant versah, so daß sie es wagen durften, längs der Küste nach Westen zu nach Vera Cruz zu fahren, wo sie fünf Tage später anlangten und den Kutter den Hafenbehörden auslieferten.

Für ihr Eintreten für die Regierung wurden sie reichlich belohnt, so daß sie noch vierzehn Tage lang sich die Hauptstadt Mexiko und auch das Innere des Landes ansehen konnten. Wie sie jetzt erfuhren, war die „Santa Maria“ tatsächlich von den Rebellen genommen worden und seitdem verschwunden. – –

Wir müssen jetzt von den beiden Freunden Abschied nehmen. Erwähnt sei nur noch, daß Harritt und die übrigen Leute von der Insel durch einen Regierungsdampfer abgeholt werden sollten. Dieser kam aber zu spät. Die Insel beherbergte keinen Menschen mehr. – – –

Ob sich in den unterirdischen Räumen wirklich ein Schatz der Aztekenpriester befunden hat, erfahren die Leser unserer Erlebnisse einsamer Manschen vielleicht ein andermal.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Die Diamanteninsel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „hinenüber“.