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Die Diamanteninsel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Diamanteninsel.

 

W. Belka.

 

Das Vorschiff der „Minneapolis“ brannte lichterloh. Und wie eine Riesenfackel nahm sich der Vordermast mit seinen weit über die Spitze hinauslodernden Flammen aus.

In großem Umkreise war die spiegelglatte See, in der sich der ausgestirnte Nachthimmel in unzähligen flimmernden Pünktchen widerspiegelte, taghell erleuchtet.

Dann barst eines der auf dem Vorderteil lagernden Palmölfässer vor Hitze und gab dem Brande neue Nahrung. Schnell verbreitete sich das Flammenmeer nun auch nach der Kommandobrücke hin, die über dem Mittelaufbau des Dampfers lag.

Längst hatte die Besatzung, mit wenigen Ausnahmen alles Amerikaner, die Löschversuche aufgegeben. Schon vor zwei Stunden war Kapitän Robertson zu dem Entschluß gelangt, das Schiff zu räumen. Da aber hatte sich gezeigt, wie sehr die San Franzisko-Austral-Reederei, der die „Minneapolis“ gehörte, lediglich auf ihren Vorteil bedacht gewesen und wie vernachlässigt alles an Bord war. Von den vier Booten, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren und die der Dampfer nur mit sich führte, weil die Schiffahrtgesetze dies verlangten, ließ sich nur ein einziges in der Eile so weit instandsetzen, daß man wagen durfte, sich ihm anzuvertrauen. Doch für die fünfzehn Personen, die sich auf dem Dampfer befanden, war es zu klein. Mit knapper Not konnte es ein Dutzend tragen. Und unter diesen Umständen hatte Kapitän Robertson befohlen, daß das Los entscheiden solle, wer zurückbleiben und versuchen müsse, sich auf einem schnell zusammengeschlagenen Flosse zu retten.

Ob’s ein Zufall war, daß gerade den einzigen deutschen Matrosen an Bord sowie die als Passagiere mitfahrenden Geschwister Mörner das Los zum Verzicht auf die Benutzung des Bootes bestimmte …?! – Wohl kaum! Wenigstens war das hämische Lächeln des Steuermannes Gawner, eines Stockengländers und wütenden Deutschenhasser, vielsagend genug gewesen, als er das Ergebnis der von ihm erledigten Auslosung verkündet hatte.

Karl Stelter wäre dem Steuermann am liebsten an die Kehle gesprungen. Er ahnte den Betrug. Aber – was hätte sein Protestieren genützt, was ein tätlicher Angriff gegen den schuftigen Gawner …?! Nichts – nichts!

Seiner selbst wegen empfand Karl Stelter ja auch nicht diese dumpfe Wut gegen den Steuermann. Aber die Kinder taten ihm leid, die Robertson gegen hohe Bezahlung wohlbehalten zu ihren Verwandten nach San Franzisko hatte bringen wollen. Besonders das blonde, hübsche Mädelchen nicht im Boote mitzunehmen, war eine Gefühlsroheit, die dem deutschen Matrosen erst die Augen über die wahren Charaktereigenschaften seiner Kameraden und Vorgesetzten öffnete.

Als jetzt ein zweites und drittes Ölfaß mit lautem Knall auseinandersprang, gab es für die zwölf Leute kein Halten mehr. Sie stießen schleunigst von der „Minneapolis“ ab, ohne auch nur daran zu denken, das für die drei Deutschen bestimmte, aber noch lange nicht fertiggestellte Floß zu vollenden. Nur zum Schein erhob Kapitän Robertson gegen dieses unwürdige Verhalten Widerspruch. Seine Leute waren stark angetrunken, und daher tat er so, als habe er jede Gewalt über sie verloren.

Karl Stelter sah, wie das Boot jetzt mit schnellen Ruderschlägen sich entfernte, und er hatte den Eindruck, als treibe das schlechte Gewissen die Besatzung fort, die sich sehr wohl darüber im klaren sein mußte, welche Gemeinheit sie gegen die Zurückbleibenden begangen hatte, indem sie nicht einmal half, das Floß fertigzumachen.

Die Geschwister Mörner hatte Kapitän Robertson vorhin in die Kajüte geschickt. Hauptsächlich wohl aus Scheu vor den reinen Kinderaugen der kleinen Gertrud, deren fragenden, bittenden Blick selbst dieser verrohte Patron fürchten mochte.

Jetzt holte der deutsche Matrose beide wieder an Deck. Er konnte ihre Hilfe nicht missen. Um sie nicht zu erschrecken, stellte er die Dinge anders dar, tat so, als sei es weit besser, daß man nicht mit dem vollbesetzten Boote sich dem Meere anvertraut habe.

Das Mädelchen nahm dies denn auch gläubig hin. Aber Friedel Mörner sagte so leise, daß nur Stelter es hören konnte: „diese elenden Schufte!“ Und dieses Schimpfwort, das nur die heftigste Empörung dem Knaben über die Lippen drängte, bewies dem Matrosen, wie richtig der vierzehnjährige, kräftige Junge die Lage beurteilte.

Inzwischen war Karl Stelter bereits zu einem bestimmten Entschluß gelangt, auf welche Weise einzig und allein eine Rettung möglich sei. Den Gedanken, das Floß fertigzustellen, mußte man als allzu zeitraubend fallen lassen. Eile tat not. Die Explosionen der Ölfässer auf dem Vorschiff mehrten sich, und das im Innern der „Minneapolis“ wütende Feuer mußte wohl sehr bald den Maschinenraum erreichen und die Gefahr heraufbeschwören, daß eine Sprengung des Kessels stattfand, dessen Wasserinhalt ablaufen zu lassen die Maschinisten verabsäumt hatten.

Friedel Mörner mußte jetzt mit Hand anlegen, um die Jolle, das kleinste Boot des Dampfers, das ebenso leck wie die übrigen war, mit einer starken Öltuchplane außen zu überspannen, indem man diese mit Nägeln am Bootsrande befestigte. So wurde in knapp fünf Minuten die Jolle völlig wasserdicht gemacht. Dann schwang man sie mit Hilfe der Davits (Kranbalken für die Schiffsboote) ins Wasser, brachte ein Wasserfäßchen, einen Sack Schiffszwieback und anderes hinein und stieß schleunigst von der dem Untergange geweihten „Minneapolis“ ab, da sich die Hitze selbst auf dem Hinterdeck derart gesteigert hatte, daß ein längeres Verweilen in der Nähe des brennenden Dampfers unmöglich war.

Aus einiger Entfernung bot das Schiff, das jetzt von haushohen Flammen umlodert wurde, während über ihm eine dichte, schwarze Rauchwolke in der stillen Luft hing, einen schaurig-schönen Anblick dar.

Dann erschütterte ein heftiger Knall weithin die Atmosphäre. Der Kessel war geplatzt und hatte den Boden des alten Holzdampfers wahrscheinlich mit aufgerissen, da dieser nunmehr schnell zu sinken begann.

Kaum fünf Minuten später verschwand die „Minneapolis“ für immer.

Im Osten graute der Morgen. Er brachte einen leichten Wind mit, der es den Insassen der Jolle gestattete, das kleine Segel zu hissen und mit der Arbeit des Ruderns aufzuhören.

Da Karl Stelter genau wußte, wo der Dampfer sich befunden hatte, als das Feuer ausbrach, hatte er eine Seekarte des mittleren Teiles des Stillen Ozeans zu Rate gezogen, um sich darüber klar zu werden welchen Kurs man halten müsse, damit man am schnellsten eine Insel-Gruppe erreiche. Das Boot mit den zwölf Leuten der versunkenen „Minneapolis“ war mit der Absicht davongefahren, nach Norden auf die Hawaii- oder Sandwich-Inseln zuzusteuern. Hiervon mußte der Matrose in Rücksicht auf die kleine, seeuntüchtige Jolle, der schon jede stärkere Brise gefährlich werden konnte, Abstand nehmen. Nur das unbewohnte, im Osten gelegene Inselchen Palmyra kam für die drei Deutschen als rettendes Land in Betracht.

So nahm man denn den Kurs nach Osten.

Als die Sonne über dem Meere hochstieg, erschien gleichzeitig am östlichen Horizont eine Wolkenwand, die, wie ein fernes, dunkles Gebirge anzusehen, langsam sich höher und höher schob.

Karl Stelters Gesicht wurde besorgt. Nicht zu Unrecht! Eine halbe Stunde später bereits kamen grobe Seen dahergezogen, die Sonne war verschwunden, und eine düstere Dämmerung lagerte über dem Meere.

Die Jolle wurde wild hin und her geworfen. Nur des Matrosen Kaltblütigkeit und seemännische Erfahrung bewahrte das kleine Boot vor dem Untergang.

Das Mädelchen hockte zusammengekauert zwischen den Ruderbänken am Boden des winzigen Nachens, der bei gerefftem Segel pfeilschnell vor dem nur allzu kräftigen Winde dahinflog. Friedel Mörner hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Sein junges Gesicht, in dem Angst, Spannung, Aufmerksamkeit und ein gewisser Trotz gegen die Ungunst der Schicksalsfügung dieser letzten zwölf Stunden einen Ausdruck von Frühreife hervorbrachten, erschien um Jahre gealtert. Er hatte trotz seiner Jugend schon so manches erlebt, hatte mit den Eltern jahrelang auf einer einsamen Plantage an der Westküste der Insel Neu-Mecklenburg gehaust und sollte nun zusammen mit der kleinen, zwölfjährigen Schwester die deutsche Schule in San Franzisko besuchen, wo ein Bruder seines Vaters in guten Verhältnissen ein Geschäft betrieb. Der Brand der „Minneapolis“, die rohe Selbstsucht der Besatzung des versunkenen Dampfers und jetzt der eben aufgekommene Sturm waren Ereignisse, die den Zukunftswegen der Geschwister eine andere Richtung geben sollten.

Die Jolle wurde immer wieder durch schwere Spritzer halb gefüllt, so daß Friedel alle Hände voll zu tun hatte, um das Wasser auszuschöpfen. Dunkler und dunkler ward’s ringsum. Unheimlich, gewaltig und die Herzen erbeben machend war das Wüten des Meeres, schaurig das Heulen der Windstöße und das brausende Donnern der sich überstürzenden Wogen.

Dann erhielt das Boot plötzlich einen starken Stoß, der auch den Matrosen von seinem Sitz am Steuer schleuderte. Aber Karl Stelter war sofort wieder auf den Füßen. Ein Blick genügte ihm, um die Natur des kuppelförmigen Hindernisses zu erkennen, auf das die Jolle aufgerannt war.

Es konnte nur der gewaltige Rücken eines toten Riesenwales sein, auf dessen höchstem Punkte das Boot jetzt wie auf einer Klippe schwebte – vorläufig noch! Die nächste Welle mußte es wieder mit forttragen.

Da rief Friedel Mörner, und seine Stimme klang ganz schrill vor Schreck und Entsetzen:

„Das Öltuch ist bei dem Anprall zur Hälfte abgerissen …!! Hier – durch die Risse der Planken dringt das Wasser überall hinein …!!“

Der Matrose wußte, was dieses neue Unheil zu bedeuten hatte: sicheren Tod!!

Er besann sich nicht lange. Im Rücken des Wales steckten zwei Harpunen, deren Schäfte gut zwei Meter herausragten. – Wenige Worte genügten, und im Augenblick hatte Karl Stelter das Mädelchen bereits an einer der Harpunen festgebunden, während der Knabe mit eigener Hand sich auf dieselbe Weise vor dem Fortgespültwerden schützte.

Da kam auch schon ein neuer Wasserberg herangeflutet, nahm die leere Jolle mit und tauchte die drei armseligen Menschlein völlig in seine grüne Nässe ein.

Zum Glück hielten die Harpunen fest, so daß auch weitere Angriffe der gierigen Wellen erfolglos blieben.

Eine Stunde durchlebten Karl Stelter und die Geschwister auf ihrem toten Fahrzeuge, wie sie nicht furchtbarer sein konnte. Dann tauchte in der Windrichtung ein düsteres Gestade auf, davor aber ein blendend weißer Gischtkranz einer gefährlichen Brandung.

Nun aber zeigte sich die Vorsehung den bedauernswerten Schiffbrüchigen gnädig: gerade durch eine freie Stelle der Klippenreihe, gegen die die Wogen anrannten und sich in haushohen Gischt verwandelten, zog eine scharfe Strömung den toten Wal in ruhigeres Wasser und setzte ihn hier auf den Strand …

– – – – – – – –

Der Matrose band die Kleine los und trug sie schnell auf das steinige Ufer, das hier allmählich anstieg und mit seinen zerstreuten Felsblöcken, zwischen denen nirgends auch nur ein einziger grüner Halm sichtbar wurde, trostlos genug wirkte.

Das Mädelchen war halb bewußtlos und zitterte in seinen durchnäßten Kleidern wie Espenlaub, weniger vor Kälte als vor namenloser Todesangst. Auch Karl Stelter und der Knabe waren am Rande ihrer Widerstandskraft angelangt. Taumelnd vor Mattigkeit folgte Friedel dem großen Beschützer, der mühsam mit seiner lebenden Last die Uferhöhe emporklomm.

Jetzt hatte er diese erreicht, jetzt lag die kleine Insel, zu der das tote Fahrzeug sie hingetragen hatte, vor ihnen.

Eine Steinwildnis war’s, nichts anderes. Das Auge mochte noch so viel suchen: kein freundlicher grüner Fleck, der eine Vegetation verraten hätte, hob sich von dem Grauschwarz der Felsen ab.

Aber jetzt war nicht die Zeit dazu, sich um den landschaftlichen Charakter des Eilandes zu kümmern. Und daher schritt Karl Stelter weiter mitten in dieses Gewirr von Steinblöcken hinein, zwischen denen ein wahres Labyrinth von Gassen sich hindurchzog. Dann hatte der junge Matrose gefunden, was er suchte: an einer größeren, freien Stelle erhoben sich an der Ostseite drei Felsen, die, dicht aneinandergelehnt, etwas wie eine offene Grotte bildeten.

Hier setzte Karl Stelter das Mädelchen nieder, befahl Friedel, bei dem Schwesterlein zu bleiben, und eilte wieder weiter, – nun dem Weststrande zu, indem er so das Eiland durchquerte, wobei er nur zu oft in der Felsenwildnis sich geradezu verirrte.

In der Tat: förmliche Gassen und Straßen durchschnitten das Innere dieser wüsten Insel, über die eine Laune der Natur unzählige Felsblöcke, manche davon von dem Umfange eines zweistöckigen Hauses, ausgeschüttet hatte. Wie in tiefen Hohlwegen eilte der Matrose hier vorwärts, indem er nur seinem Richtungsgefühl folgte, wenn er in eine neue Gasse einbog.

Endlich hatte er dann doch den Weststrand erreicht, der genau so steinig war wie das Ostufer, wo die drei Schiffbrüchigen mit dem toten Walfisch gelandet waren. Hier unter Wind stand an den das Eiland umgebenden Riffen keine Brandung, hier war ruhiges Wasser, das dem Matrosen gestattete, nach einigermaßen trockenem Treibholz und von der Sonne ausgedörrtem Seetang zu suchen. An ersterem war die Ausbeute sehr gering, genügte aber wohl zunächst. Letzteren gab es in Menge, und Stelter raffte denn auch einen ganzen Armvoll zusammen und machte sich darauf wieder auf den Rückweg.

Es wurde ihm nicht leicht, die Grotte zu erreichen. Erst als er durch ein paar laute Hallos den Knaben veranlaßte, in gleicher Weise zu antworten, fand er sich in diesem Wirrsal von natürlichen Felsengassen zurecht.

Er traf Friedel in großer Aufregung an.

„Weshalb nur liefen Sie vorhin davon, Karl?“ fragte der Junge sofort, nachdem Stelter seine Last auf den Boden der Grotte geworfen hatte. „Oder – waren Sie es vielleicht gar nicht, der vor kaum drei Minuten dort drüben zwischen den Blöcken hervortrat, bei meinem Anblick aber spornstreichs kehrtmachte und verschwand?“

Der Matrose schüttelte verwundert den Kopf.

„Ich verstehe Dich nicht recht, mein Junge! Ich soll davongelaufen sein …?! – Unmöglich! Es war jemand anderes – falls Du nicht gerade das Opfer einer augenblicklichen Sinnestäuschung geworden bist.“

„Sinnestäuschung?! Ausgeschlossen! Dort erschien der Mann, den ich nur einen Moment zu Gesicht bekam. Ich habe mir’s eigentlich gleich gesagt, daß Sie es nicht gewesen sein könnten. Das Verhalten des Menschen war so seltsam, so unerklärlich.“

Karl Stelter kniete jetzt am Boden und schnitzelte mit seinem Taschenmesser von einem harzigen Zweige kleine Späne ab, die er dann mit einem Streichholz aus seiner wasserdicht schließenden Zündholzbüchse in Brand steckte.

Dabei sagte er nachdenklich:

„Wir befinden uns also nicht allein auf diesem Eiland. Aber – weshalb mag der Fremde wohl vor Dir die Flucht ergriffen haben, Friedel? Das ist mir vollkommen unverständlich.“

Dann wurde dieser Gegenstand zunächst nicht weiter erörtert, vielmehr machten die beiden männlichen Schiffbrüchigen der „Minneapolis“ sich an die Arbeit, die Grotte schleunigst zu einer primitiven Behausung umzugestalten. Das Feuer brannte jetzt lichterloh und trocknete schnell des Mädelchens Kleider, das am meisten unter der Nässe litt. Der Rauch fand bequemen Abzug durch zwei Öffnungen des von den überhängenden und übereinandergreifenden Felsen gebildeten Daches.

Eine dicke Steinmauer mit einer Türöffnung, die durch lange, schmale Felsstücke eingerahmt war, verschloß bald die vorher offene Seite, und ebenso schnell hatte man auch den Felsboden der neuen Robinsonwohnung von Schutt befreit und darauf aus trockenen Algen ein Lager für die kleine Gertrud hergerichtet, die denn auch im Augenblick, bedeckt mit Karl Stelters mittlerweile gleichfalls trocken gewordener blauer Seemannsjacke, fest eingeschlafen war.

Dies war dem Matrosen und dem Knaben nur angenehm, da sie jetzt ungestört weiter tätig sein konnten, um ihre gemeinsame Behausung noch wohnlicher herzurichten und auch an die Beschaffung einer Mahlzeit zu denken.

Gegen elf Uhr vormittags klärte sich der Himmel auf, der Sturm ließ nach, und bald lag der blendende Sonnenschein eines heißen Tropentages über der Wildnis des langgestreckten, von Norden nach Süden sich hinziehenden und bei einer halben Meile Länge etwa tausendachthundert Meter breiten Inselchens.

Die erst recht niedergedrückte Stimmung des Knaben besserte sich unter dem freundlichen Lichte des Tagesgestirns von Minute zu Minute mehr auf. Friedel Mörner hätte kein frischer, gesunder Junge sein müssen, wenn er nicht schnell an diesem Robinsonleben mit seinen vielfachen kleinen und großen Sorgen Gefallen gefunden haben würde. Das freundschaftliche Verhältnis zu Karl Stelter, der eine gute Schulbildung besaß und später sich auf das Examen als „Schiffer für große Fahrt“ (berechtigt zur Führung eines Überseedampfers oder -seglers) vorbereiten sollte, erleichterte das Zusammenleben ganz wesentlich, zumal der junge Matrose ein froher, offener Charakter war.

Stelter schlug jetzt einen Gang nach dem Oststrande vor, um zu sehen, was aus dem Walfisch geworden sei. Bei der Wanderung durch die Felsengassen, zwischen denen es auch hier und da größere steinfreie Flächen gab, machte Friedel die ganz zutreffende Bemerkung, daß das Innere der Insel mit seinem Kranze von hohen Uferhügeln geradezu den Eindruck einer Stadt mit Straßen, Gäßchen und Plätzen erwecke. Man solle das Eiland daher auch Karlsort nennen und ebenso den Hauptverbindungswegen Namen geben.

„Dann können wir uns einbilden, wir lebten in einer verlassenen Stadt“, fügte er hinzu.

Worauf der Matrose jedoch an den Fremden erinnerte und erklärte, man könne gar nicht wissen, ob nicht vielleicht „Karlsort“ doch von mehreren Leuten, Schiffbrüchigen wie sie selbst, bewohnt sei.

Da war man auch schon am Ufer angelangt, freilich an einer Stelle mehr nördlich als die, wo man vor vier Stunden gelandet war.

Den Walfisch erblickten die beiden Gefährten schon von weitem. Er lag jetzt ganz auf dem Trockenen, da inzwischen die Ebbe die Wasserhöhe bedeutend verringert hatte.

Wer beschreibt aber Stelters und Friedels Erstaunen, als sie am Ufer gegenüber dem Riesenfische fünf große, leere Konservenbüchsen fanden, die so gut erhalten waren, daß sie unmöglich hier schon längere Zeit gelegen haben konnten. Im Gegenteil: der Matrose meinte, irgend jemand müsse sie vor kurzem hier hingestellt haben, und dieser Jemand sei wahrscheinlich der Fremde oder einer von dessen Gefährten gewesen. Weiter schloß Stelter aber noch aus dieser für sie so überaus wertvollen Gabe, daß der Unbekannte nicht die Absicht habe, mit ihnen persönlich in näheren Verkehr zu treten.

„Seltsam genug ist dies Verhalten“, meinte er nachdenklich. „Der Fremde hat allen Anschein nach gewußt, daß wir ohne jedes Hilfsmittel hier angetrieben sind, hat uns durch die großen Blechbüchsen nützliche Kochtöpfe geliefert, meint es also gut mit uns, zeigt sich aber trotzdem nicht. Nun – die Hauptsache bleibt, daß er sich freundschaftlich zu uns stellt. – Ich bin nur neugierig, wie dieses Abenteuer ausgehen wird.“

Dann schritt er auf den gut fünfzehn Meter langen Wal zu, kletterte auf dessen gewaltigen Rücken und bemühte sich, die beiden Harpunen herausziehen, was auch gelang. Diese Lanzen mit den langen Eisenspitzen mußten den Robinsons noch sehr wertvoll werden. Das sah auch Friedel sofort ein.

Karl Stelter verabredete nun gleich mit seinem kleinen Freunde, den Wal recht bald abzuhäuten und alles davon an Land zu schaffen, was sie brauchen konnten, besonders die Speckstücke, die ausgeschmolzen und in Gestalt von Tran als Brennmaterial für eine Lampe dienen könnten. Auch die Haut würde sich zu allerlei Dingen gut verwenden lassen, ebenso die Knochen des riesigen Meeressäugetieres, nicht minder die Barten seines ungeheuren Maules, die als Fischleim im Handel einen erheblichen Wert hätten.

Auf dem Rückwege nach der Wohnung wurde dann am Strande eine Menge eßbarer Krebstiere aufgelesen und in eine der Blechbüchsen getan. Absichtlich schritten die Gefährten jetzt aber zunächst bis zur Nordspitze der Insel hin, um auch diesen Teil von Karlsort kennen zu lernen. So konnten sie denn feststellen, daß das Eiland gegenüber der Nordspitze etwa zweihundert Meter von dieser entfernt noch eine Art Vorgebirge in Gestalt einer steil aus dem Meere aufragenden Felsmasse besaß, die entfernte Ähnlichkeit mit den Ruinen einer von zwei Türmen flankierten Burg hatte.

Bis zu der neuen Behausung von hier sich zurückzufinden, war wieder nicht ganz leicht. Karlsort war wirklich ein wahres Labyrinth. Und Karl Stelter erklärte, er habe doch schon manche einsame Insel kennen gelernt. Etwas so Merkwürdiges wie dieses Eiland sei ihm aber doch noch nicht vorgekommen.

Dann blieb Friedel plötzlich stehen und rief erstaunt, indem er mit der Hand auf einen Felsen wies:

„Da Karl, – ein Pfeil in schwarzer Farbe ist auf das Gestein gemalt …!! Und die Farbe glänzt noch ganz frisch …“

Der Matrose hatte schon mit dem Finger etwas von der Farbe weggestrichen und untersuchte diese durch den Geruchssinn.

„Es ist Tran, mit pulverisierter Holzkohle vermischt. – Was mag dies nun wieder zu bedeuten haben?“

Der Pfeil wies auf den Eingang einer schmalen Gasse hin. Dort gab es einen zweiten, der nach Westen deutete. So fand man noch ein gutes Dutzend dieser Zeichen, die die beiden Gefährten schließlich in der Nähe des Nordweststrandes auf einen großen, freien Platz hinführten, in dessen Mitte eine klare, kühle Quelle aus einer Bodenspalte hervortrat und sich als kleiner Bach nach dem Meere hinschlängelte.

„Ah, der Fremde ist der Maler gewesen. Er hat uns die Quelle zeigen wollen“, meinte Stelter kopfschüttelnd. „Seltsam das alles – mehr wie seltsam! Der Mann scheint geradezu menschenscheu zu sein.“

Zwei der Büchsen wurden nun mit Wasser gefüllt, und fünf Minuten später standen die beiden Robinsons wieder vor ihrer Behausung, wo sie die kleine Gertrud noch fest schlafend vorfanden.

– – – – – – – –

Acht Tage waren vergangen. Unsere drei Robinsons hatten sich jetzt auf ihrer Insel bereits völlig eingelebt. Not litten sie nicht. Die Nahrungsmittel lieferten ihnen das Meer und der Strand mit seinen Seevögelkolonien. Ihre Behausung war auch ganz behaglich eingerichtet worden, soweit sich dies mit den hier zur Verfügung stehenden Mitteln ermöglichen ließ. Allerdings waren Karl Stelter und Friedel Mörner auch in diesen Tagen überaus fleißig gewesen. Die meiste Mühe hatte ihnen das Zerlegen und Abhäuten des Wales gemacht. Als Werkzeuge standen ihnen ja hierzu nur die beiden Harpunen mit den langen Eisenspitzen zur Verfügung. Außerdem war dies auch ein recht schmutziges und unappetitliches Geschäft gewesen. Aber Karl Stelter ermunterte immer wieder den Knaben zu neuem Ausharren bei dieser durch die Verwesungsdünste bald geradezu unerträglichen Arbeit, indem er darauf hinwies, daß man nicht wissen könne wie lange man hier noch in der Einsamkeit leben müsse und wie nützlich die Haut des Riesentieres und auch der Tran ihnen sein würden.

Natürlich war es den beiden an Jahren recht ungleichen Gefährten unmöglich, den Körper des Walfisches für ihre Zwecke voll auszunutzen. Nur die Haut, die in große Stücke zerschnitten wurde, suchten sie ganz loszulösen, was ihnen auch bis auf kleine Teile gelang. Den gewonnenen Tran sammelten sie in Ermangelung genügend großer Gefäße in einem tonnenähnlichen Felsloche unweit der Wohnung, während zur Unterbringung der Haut, der mächtigen, losgelösten Knochen und der Barten an der anderen Seite des freien Platzes, auf dem die Grottenbehausung lag und den der Matrose zu Ehren der kleinen Gefährtin Gertrudplatz getauft hatte, eine besondere Vorratshütte errichtet wurde.

Die Walfischhaut, die doppelt so dick als Rindleder war, suchte Karl Stelter zu gerben, indem er sie sorgfältig reinigte und mit Salz behandelte, das man durch Verdunstenlassen des Meereswassers gewann. Bei dieser Arbeit ging ihm auch das Mädelchen eifrig zur Hand, das sich überhaupt nach Kräften nützlich machte, indem es die Bereitung der Mahlzeiten bald ganz allein übernahm. Stücke der Haut, die auf glattem Boden unter Belastung mit Steinen gerade getrocknet wurden, ließen sich sehr gut als Ersatz für Bretter verwenden und lieferten nicht nur eine Tür, sondern auch Tischplatten und Sitze für Stühle, die der Matrose aus Treibholz herstellte, indem er die fehlenden Nägel zum Verbinden der einzelnen Teile durch Lederriemen ersetzte.

Auch hier machte Übung den Meister. Hatten sich die Robinsons zunächst noch in mancher Hinsicht etwas ungeschickt angestellt, so lernten sie von Tag zu Tag mehr, sich auch mit den bescheidensten Werkzeugen und dem unzulänglichsten Material abzufinden.

Karl Stelter sah sehr darauf, daß in der kleinen Kolonie niemand ohne Beschäftigung blieb. Er wußte, daß Arbeit die beste Ablenkung von unnötigen Gedanken ist. Und diese konnten sich bei den Kindern in Gestalt von Heimweh nur zu leicht einstellen. Außerdem hielt er sie auch dadurch stets in guter Stimmung, daß er gelegentlich erklärte, vielleicht käme einmal ganz plötzlich ein Schiff nach der Insel, das sie dann wieder in bewohnte Gegenden bringen würde. So blieb die Hoffnung auf eine unerwartete Beendigung des Robinsondaseins in den Geschwistern stets rege, und der Matrose hatte dank seinem verständigen Verhalten die Genugtuung, daß es trübe Stimmung oder gar Tränen auf dem Eiland überhaupt nicht gab. Im Gegenteil, besonders Friedel machte dieses ungebundene Leben viel Vergnügen, und dies bekundete er wiederholt dadurch, daß er manche Anregung zu neuen Arbeiten, so zum Beispiel auch zur Herstellung von Bogen und Pfeilen, gab, die aus dem Fischbein hergestellt wurden, indem man die elastischen Barten zu mehreren zusammenband, während die Pfeile wieder Spitzen aus den Röhrenknochen der Seevögel erhielten.

Nur etwas störte auf „Karlsort“ die Behaglichkeit unserer Freunde: das Bewußtsein, daß zusammen mit ihnen entweder ein einzelner Mann oder mehrere Leute lebten, die sich ängstlich verborgen hielten und die jetzt, nachdem sie die leeren Blechbüchsen gespendet und die Pfeile als Wegweiser nach der Quelle an die Felsen gemalt hatten, sich nicht wieder blicken ließen, auch kein neues Zeichen ihrer Anwesenheit gaben.

Oft genug besprachen Karl Stelter und Friedel dieses seltsame Benehmen des oder der Fremden, – falls es sich eben wirklich um mehrere Personen handelte. Beide hatten jetzt auch die merkwürdige verlassene Stadt mit ihren zahlreichen Straßen, Gassen und Plätzen nach allen Richtungen hin des öfteren durchstreift und trotzdem nirgends Spuren einer Behausung oder dergleichen entdeckt.

Es gab also auf Karlsort ein richtiges Geheimnis. – Nachdem nunmehr acht Tage verstrichen waren, ohne daß man auch nur den geringsten neuen Beweis für die Anwesenheit von Menschen auf der Insel gefunden hatte, kam der Matrose zu der Schlußfolgerung, der oder die Unbekannten müßten inzwischen das Eiland wieder verlassen und dabei ihre schwerwiegenden Gründe dafür gehabt haben, die deutschen Schiffbrüchigen nicht mitzunehmen.

Am 8. August 1908 waren unsere drei Freunde auf Karlsort gelandet, und am 16. erklärte dann Stelter mit aller Bestimmtheit, er habe die Überzeugung gewonnen, daß man jetzt tatsächlich allein auf dem Eiland sei.

Am Abend dieses Tages saßen die drei Bewohner der Grottenbehausung vor deren Tür, wo Stelter eine Art Veranda mit einem Sonnendach aus Walfischhaut erbaut hatte. Friedel war soeben von einem kurzen Ausfluge nach dem größten freien Platze zurückgekehrt, den man Zirkus getauft hatte, weil er mit seinen ihn einschließenden terrassenartig ansteigenden Felsen in der Tat dem Innern eines Zirkus mit runder Manege und Zuschauersitzen glich. Dieser Platz war insofern noch anders als die übrigen freien Stellen der Insel gestaltet, als gerade in der Mitte sich ein tiefes, großes Loch mit flachen Rändern befand, in dem das Regenwasser sich angesammelt hatte und so einen kleinen Teich am Boden der Vertiefung bildete.

Friedel hatte den Zirkus deswegen aufgesucht, weil es dort einige Kolonien von Ratten gab. Es waren dies die einzigen Vertreter der Familie der Säugetiere auf dem Eiland, und der Matrose nahm mit Recht an, daß die langschwänzigen Nager durch einen Schiffbruch auf die einsame Felseninsel gelangt sein müßten. Der Knabe stellte nun mit seinem Bogen den Ratten sehr eifrig nach, weil er es auf deren Felle abgesehen hatte, die er zu einer großen Decke für die Schwester zusammenzusticken beabsichtigte. Die Ratten waren jedoch sehr scheu, und daher hatte der Junge heute auch nur zwei Exemplare mit heimgebracht.

Außerdem hatte er aber noch etwas anderes in einer Felsspalte des Zirkus heute gefunden: ein faustgroßes Stück eines schlackenähnlichen, harten Gemenges, auf dessen einer Seite, die glatt abgespalten war, drei schwärzliche Steinchen von etwa Haselnußgröße herausragten, die in die graue Masse fest eingeschmolzen waren.

Friedel hätte diesem Stück Gestein wohl kaum Beachtung geschenkt, wenn nicht die scharfen Kanten der darin eingebetteten schwärzlichen Körper im Lichte der untergehenden Sonne wie Glas gefunkelt haben würden. Nur deshalb hatte er das Schlackenstück in die Tasche seiner Jacke gesteckt, holte es jetzt hervor, reichte es Karl Stelter und sagte:

„Da, Karl, – Sie wissen ja in der Mineralogie (Gesteinkunde) so gut Bescheid. Was halten Sie von diesen Kieseln, die in das Stück Koksschlacke eingebettet sind?“

Der Matrose, der in jungen Jahren ein eifriger Sammler von Mineralen gewesen war und so halb spielend sich auf diesem Gebiet gute Kenntnisse erworben hatte, die er dann auf seinen Seereisen bei Ausflügen von fremden Hafenorten ins Innere des Landes aus noch erweitern durfte, griff mit sichtlichem Interesse nach dem grauen, unscheinbaren Schlackenstück und besichtigte es sehr genau, nahm dann sein großes Taschenmesser vor, an dem sich auch eine Feile befand, und kratzte mit dieser die schwärzliche Schicht von den Steinchen ab, die Friedel geringschätzig als Kiesel bezeichnet hatte.

Diese Schicht sah wie verbrannt aus. Als Karl sie, besonders an den Kanten des größten Steinchens, teilweise entfernt hatte, war bereits zu erkennen, daß diese eingebetteten Fremdkörper durchsichtig wie Glas waren.

Die Geschwister sahen dem Tun des großen Freundes voller Neugier zu. Als dieser nun gar seine Taschenuhr vorzog und mit der Kante des halb gereinigten Steinchens über das Uhrglas hinfuhr, wobei ein knisterndes Geräusch entstand, fragte Friedel interessiert:

„Wozu tun Sie das, Karl? – Das gibt ja ein Geräusch, als ob man Glas mit einem Diamanten schneidet.“

In dem Benehmen des jungen Matrosen war plötzlich eine seltsame Veränderung eingetreten. Sein Gesicht war trotz der braunen Hautfarbe, die die Sonne und die Seeluft erzeugt hatten, vor innerer Erregung dunkelrot geworden. Und seine Hände zitterten leicht, als er dem Knaben jetzt die Uhr hinhielt.

„Da, schau! Siehst Du, daß sich über das Uhrglas eine feine Rille hinzieht? Siehst Du das?! – Wenn dieses Steinchen hier nun wirklich nur aus einer glasähnlichen Masse bestehen würde, so hätte ich damit nie auf dem harten Uhrglase eine solche Rille erzeugen können! Glas schneidet nicht Glas! Nur ein Stein ist hart genug, um die Oberschicht des Glases anzugreifen, – nur einer …!! Und das ist …“

„… Der Diamant“, vollendete Friedel ganz atemlos vor Spannung.

„Ja – der Diamant!“ sagte Karl fast feierlich. „Und ich wette, daß diese drei „Kiesel“ hier, die in das Schlackenstück eingeschmolzen sind, nichts anderes sein können als eben Diamanten!!“

„Unmöglich – unmöglich!“ stammelte der Knabe kopfschüttelnd. „Ich habe doch einmal gelesen, daß Diamanten zumeist in dem sogenannten „blauen Grunde“, einer sandähnlichen Masse, gefunden werden und sofort dort an ihrer glasklaren Oberfläche zu erkennen sind. Und diese schwärzlichen, angebrannten Kiesel sollen Diamanten sein …?! Sie machen wohl nur einen Scherz mit uns, Karl?“

„Ich war nie ernsthafter als in diesem Augenblick“, erklärte der Matrose. „Es kann Euch beiden nichts schaden, wenn Ihr mal etwas Näheres über Diamanten und ihre Entstehungsgeschichte hört. Fürchtet keine langweiligen streng wissenschaftlichen Ausführungen! Ganz kurz will ich Euch erzählen, was ich über diese wertvollsten Steine weiß. – Der Diamant findet sich in praktisch verwendbaren Stücken nur in Südafrika, Südamerika und Südasien. Von den Diamantengruben in Kimberley in Südafrika habt Ihr sicherlich schon gehört, ebenso von dem Diamantenreichtum Indiens und den Flußdiamanten Brasiliens. – Was sind nun Diamanten? Nichts als ein von der Natur in Kristallform übergeführtes Gas, und zwar Kohlenstoff. Wie diese Kristallisierung zustandegekommen ist, darüber sind die Ansichten verschieden. Die landläufigste ist die, daß in prähistorischen Zeiten bei Verwesung großer Pflanzenmassen diese ihren Wasserstoff verloren haben und den Kohlenstoff kristallisiert ausschieden. Diese Entstehungstheorie ist jedoch ohne Zweifel falsch. Ein deutscher Gelehrter, Meydenbauer, hat schon 1882 darauf hingewiesen, daß allerlei dafür spricht, daß Diamanten nichts als Teile von Meteoriten sind, von Körpern, die aus fernen Welten stammen und die so lange im Weltall umherirren, bis sie in den Anziehungsbereich der Erde gelangen und dann den Luftkreis dieser entweder nur in Form von Sternschnuppen durchschneiden oder aber auf die Erde herabfallen. Die auf der Erde gefundenen Meteoriten enthalten nun sowohl die verschiedenartigsten Gesteinsarten als auch Metalle, unter letzteren hauptsächlich Eisen und Nickel. Aber auch Diamantenkristalle hat man darin festgestellt, so besonders in einem 1892 im Canon Diablo in Arizona gefundenem Meteoreisen und zwar in Gestalt schwärzlicher Körner, die sich nachher als echte Diamanten erwiesen. Wäre die vorhin erwähnte, bisher stets geglaubte Theorie der Entstehung der Diamanten durch Zersetzung von Pflanzenstoffen richtig, so müßte man doch in den Steinkohlenbergwerken – denn Steinkohlen sind nichts als zersetzte Pflanzenreste – mindestens hier und da auf Diamanten gestoßen sein. Dies ist aber nicht der Fall. Mit einem Wort: Diamanten sind Fremdlinge auf Erden, die aus dem Weltall kamen. Ihre Ausbreitung auf bestimmte Länder hat man sich so vorzustellen, daß einst vor undenklichen Zeiten ungeheure Mengen von Meteoriten gerade auf Südafrika, Asien und Südamerika herabfielen, wo dann das sogenannte Muttergestein, das sind die die Diamanten umgebenden Schlacken, verwitterte und nur die Edelsteine übrigblieben. – Wenn wir uns jetzt, meine lieben, kleinen Gefährten. unsere drei „Kiesel“ und deren Einfassung nochmals ansehen, so müssen wir uns sagen, daß wir in diesem Schlackenstück den besten Beweis für die Richtigkeit der Meydenbauerschen Theorie in Händen haben. Unsere Diamanten sind an der Oberfläche geschwärzt. Das sind Verbrennungsreste, da die Meteoriten einst im glühendem Zustande auf die Erde aufprallten und die in ihnen eingebetteten Edelsteine durch die enorme Hitze teilweise in Graphit verwandelt wurden. Unter Abschluß der Luft kann man nämlich jeden Diamanten in Graphit bei genügender Temperatur verbrennen, während er in der Luft zu Kohlensäure sich auflöst. – Doch nun genug hiervon. Jedenfalls besitzen wir jetzt drei recht hübsche Edelsteine, die, wenn sie erst geschliffen sind, einen erheblichen Wert darstellen. Morgen aber wollen wir im Zirkus weitersuchen, ob wir nicht noch mehr solche „Kiesel“ finden. Vielleicht können wir dann einmal unsere Insel als reiche Leute verlassen.“

Noch eine halbe Stunde unterhielten unsere Freunde sich über Friedels wichtige Entdeckung. Dann ging man zur Ruhe. Karl Stelter sah darauf, daß stets mit Tagesanbruch aufgestanden wurde. Morgenstunde hat Gold im Munde, und wer früh die Augen zum Schlafe schließt, bekommt sie auch früh wieder auf.

– – – – – – – –

Für das Mädelchen war in der Hütte ein besonderes Kämmerchen abgeteilt worden. Und dort schlief die kleine Gertrud auch heute wohl als ernste ein. Was kümmerte sie sich um Edelsteine, um Reichtum! Ihr Kindergemüt war noch ohne Verständnis für den Wert und … die Nachteile großen irdischen Besitzes.

Anders stand es um Karl Stelter und den Knaben. Ersterer hing allerlei angenehmen Zukunftsbildern nach, bei denen die Diamanten eine große Rolle spielten. Aber es war nicht bloße Habgier bei dem Matrosen, deren häßliche Gedankenwelt ihn nicht so bald einschlummern ließ. Nein, dazu besaß Stelter einen zu braven Charakter. Doch – wer wollte es ihm wohl verargen, wenn er sich ausmalte, wie schön es sein müßte, als wohlhabender Mann in das Elternhaus zurückzukehren, wo Vater, Mutter und drei Schwestern in friedlichem, traulichem Zusammenleben den harten Kampf ums Dasein ausfochten. Seit Jahren waren diese lieben Menschen, an denen Karls Herz mit warmer Zärtlichkeit hing, nichts als Sklaven der Arbeit. Ihnen einmal gute Tage, Erholung und Abwechslung zu schaffen, das war schon immer des jungen Matrosen schönster Traum gewesen …! Und nun hier der Edelsteinfund der zu der Hoffnung berechtigte, daß er nicht der einzige bleiben würde …!! War es ein Wunder, wenn Karl Stelter noch lange mit offenen Augen dalag und bunte Bilder einer frohen, sorgenlosen Zukunft seine Seele in freudige Schwingungen versetzten …?!

Anders wieder Friedel Mörner. Auch er konnte nicht einschlafen. Aber bei ihm sprachen andere Gründe mit. Er war heute abend dem großen Freunde gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen, hatte diesen verschwiegen, daß er bei der Jagd auf die langschwänzigen Ratten bereits mehrfach Schlackenstücke in Spalten und Ritzen gefunden hatte und daß in vielen dieser ihm jetzt als Trümmer von niedergegangenen Meteoriten bekannten Stücke ähnliche, nur kleinere „Kiesel“ eingebettet gewesen waren, die Friedel aber in keiner Weise bisher beachtet hatte. Jetzt nun wollte er in der hellen Tropennacht, sobald der Matrose fest schlief, nach dem Zirkus eilen und von diesen Schlackenstücken so viele zusammensuchen, als er nur irgend noch zu finden vermochte. Er wollte eben den großen Freund am Morgen damit überraschen, wollte ihm seine Dankbarkeit beweisen und ihm eine Freude bereiten.

Leider aber warf sich Karl Stelter noch immer unruhig auf seinem Lager hin und her. Der Schlaf schien auch ihn heute zu fliehen. Dann glaubte Friedel nach einer Weile annehmen zu können, daß der Matrose endlich einschlummert sei.

Ganz leise erhob er sich und schlich ins Freie.

Die Nacht war lau und prachtvoll sternenklar. Deutlich war am Firmament das Kreuz des Südens zu erkennen. Von der Ostseite der Insel drang schwach das Geräusch der Brandung herüber. Und zwischen zwei hohen Zacken der Randhügel des Eilandes trat gerade die volle Scheibe des Mondes hervor.

Eilig durchschritt Friedel die seltsamen Straßen und Gäßchen der Felsenwildnis. Leise knirschte das Gestein unter seinen dahinhastenden Füßen. Und hin und wieder vernahm er auch den Schrei unsichtbarer, ziehender Vogelschwärme über sich in der Luft.

Bald hatte er den breiten Gang erreicht, der gerade auf den Zirkus zuführte. Da, bevor er den freien, runden Platz noch betrat, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen.

Die Helle der Tropennacht ließ ihn deutlich die Gestalt eines Mannes erkennen, der mit einer Stange in dem kleinen Teich in der Mitte des Zirkus herumarbeitete.

Friedel überlegte. Bald hatte er erkannt, daß der Unbekannte dort drüben derselbe war, den er schon einmal flüchtig gesehen hatte. Sollte er nicht am besten Karl Stelter holen, damit dieser entschied, ob man den Fremden nicht ansprechen solle …? – Da erwachte die Lust an Abenteuern in dem Jungen, außerdem auch der Wunsch, den großen Freund mit wichtigen Neuigkeiten überraschen zu können. Er wollte also den Mann heimlich beobachten, ihm dann nachschleichen und zusehen, wo jener eigentlich in der Verborgenheit hauste.

Was trieb der Fremde aber dort nur? Wozu rührte er mit der Stange in dem Wasser des Teiches herum?! – Da – jetzt zog er die Stange an sich, jetzt bemerkte Friedel, daß sie am unteren Ende etwas wie ein aufgenageltes Brett besaß.

Des Knaben Neugierde wuchs. Auf allen Vieren kroch er jetzt weiter, indem er sich stets im Schatten der untersten Terrassenwand hielt. So glückte es ihm, dem Unbekannten in den Rücken zu kommen, der so eifrig beschäftigt war, daß er gar nicht auf die Umgebung achtete.

Eng an den Boden geschmiegt lag Friedel da und ließ kein Auge von dem Fremden, der mit seiner blauen Schirmmütze, dem dunklen Anzug und den hohen Stiefeln ganz den Eindruck machte, als könne er noch nicht allzu lange hier in der Einsamkeit von Karlsort sein lichtscheues Dasein führen.

Dann aber wurde der Knabe sich mit einem Male darüber klar, was der Fremde aus dem Teiche mit Hilfe des harkenähnlichen Instrumentes hervorholte.

Steine waren es …!! Steine in allen Größen, die der Unbekannte sorgfältig sich besah, um dann einige achtlos bei Seite zu werfen, während er andere wieder in einen Sack tat, der neben ihm lag.

Und plötzlich kam Friedel die Erleuchtung: Diamanten suchte der Fremde, – – Schlackenstücke, in die die Edelsteine eingeschlossen waren …!!

Der Knabe hatte das Gefühl, als ob er von dem Unbekannten bestohlen würde. Den Zirkus und seine Schätze betrachtete er eben als sein ureigenstes Gebiet, auf dem niemand etwas zu suchen hatte. Nun wußte Friedel auch, weshalb der Fremde sich so ängstlich verbarg. Der Mann war habgierig, wollte das Geheimnis der Diamantenfunde für sich behalten und suchte daher nur nachts noch nach den kostbaren Schlackenstücken.

Doch zu eingehendem Nachdenken über das Benehmen dieses Mannes, der einen bereits leicht ergrauten Vollbart zu haben schien und nicht mehr jung sein konnte, fand Friedel jetzt keine Zeit, da der Fremde mit einem Male den offenbar recht schweren Sack über die Schulter und die Harke in die Hand nahm und langsam nach Norden zu verschwand.

Es war nicht leicht, ihm auf den Fersen zu bleiben, da die Gänge des Felsenlabyrinthes wenig Deckung für den Verfolger, dagegen für den Verfolgten nur zu sehr die Möglichkeit boten, in einer engen Seitengasse zu verschwinden. Friedel glückte es trotzdem, den Fremden nicht aus den Augen zu verlieren. Dann waren die nördlichen Randhügel erreicht. Hier benutzte der Mann mit der schweren Last auf der Schulter eine versteckte Schlucht, um, ohne viel klettern zu müssen, an den Meeresstrand zu gelangen, wo er zwischen ein paar hohen Klippen ein kleines Boot verborgen hatte, in dem er nun jenem Vorgebirge zuruderte, das steil, wie eine alte Burgruine anzusehen, aus dem Meere herausragte und bisher von den beiden deutschen Robinsons noch nicht besucht worden war, da sie ja über keinerlei Fahrzeug verfügten.

Immer undeutlicher wurde der kleine Nachen, dem Friedel mit einer gewissen Enttäuschung nachblickte. Jetzt ärgerte der Knabe sich über sich selbst, weil er den Fremden nicht einfach angesprochen hatte. Dann aber sagte er sich, daß sich schon noch in einer der nächsten Nächte Gelegenheit bieten würde, das Versäumte nachzuholen, wenn der Graubärtige dem Zirkus wieder einen Besuch abstatten sollte.

Gerade wollte der Junge sich nun auf den Heimweg machen, als hinter ihm Karl Stelters Stimme ertönte, – so etwas mit überlegen spöttischem Klang:

„Nun wissen wir ja auch, wo unser geheimnisvoller Mitbewohner haust! – Erschrick nicht zu sehr, kleiner Freund! Ich bin Dir bereits nachgeschlichen, als Du unsere Grottenwohnung verließest. Ich schlief nicht. Und es war gut, daß dem so war. Nun habe ich doch mit eigenen Augen beobachten können, was der Mann hier treibt. Die Diamanten sind’s, denen er die Nacht opfert und deretwegen er allein bleiben will in seinem Felsennest dort drüben. Ich nehme jetzt auch bestimmt an, daß er allein ist und keine Gefährten hat. So wäre denn ein Teil seiner Geheimnisse bereits aufgeklärt. Und den Rest werden wir selbst enthüllen. Ich habe schon eine gute Idee, wie wir das anfangen müssen. – Komm’ jetzt – wir wollen nicht die ganze Nacht den Schlaf missen!“

Auf dem Rückwege ergingen sie sich dann in allerlei Vermutungen, wer der Fremde wohl sein könnte und wie er auf die Insel gelangt wäre.

Karl meinte, man habe in ihm wahrscheinlich einen Schiffbrüchigen vor sich, der hier schon längere Zeit als Robinson lebe.

Dem widersprach jedoch Friedel, indem er darauf hinwies, daß der Mann so gekleidet sei, als weile er erst seit kurzem auf der Insel. – Jedenfalls ließ sich diese Frage durch Schlußfolgerungen nicht klären. Und der Matrose sagte denn auch, man solle alle zwecklosen Erörterungen unterlassen.

„Der Unbekannte wird uns wohl selbst seine Geschichte erzählen“, fügte er hinzu. „Ein schlechter Charakter ist er sicherlich nicht! Gewiß – die Edelsteine mag er ja gern für sich selbst behalten wollen. Wäre sein Herz aber vor Habgier völlig verhärtet, so würde er uns nicht durch das Geschenk der leeren Büchsen und durch die Richtzeichen nach der Quelle beigestanden haben.“

Friedel mußte zugeben, daß Karl Stelter mit diesen Bemerkungen recht hatte.

„Ich wünschte nur, der Unbekannte würde recht bald von uns gezwungen werden, uns seine Lebensgeschichte zu berichten“, meinte er. „Ich bin so gespannt darauf, was wir wohl hören werden. Alltäglich kann das, was der Fremde durchgemacht hat, kaum sein.“

Da waren die beiden Gefährten auch schon bei ihrer Felsenwohnung angelangt. Aber die Ereignisse dieser Nacht hatten sie doch so sehr aufgeregt, daß es noch lange dauerte, ehe sie endlich einschliefen.

– – – – – – – –

Karl Stelters Plan sollte jedoch nicht so bald zur Ausführung gelangen. Man mußte sich schon etwas damit gedulden, den Fremden zu zwingen, seine Einsamkeit aufzugeben. Es folgte nämlich eine längere Regenperiode, bei der derartige Mengen Wasser vom Himmel herunterkamen, daß die Insel zeitweise halb unter Wasser gesetzt war und einzelne der Straßen und Gassen mit gleichmäßigem Gefälle Flüssen und Bächen glichen, die sich durch enge Kanons einen Weg gebahnt haben.

Fünf Tage dauerte dieses Unwetter. Zum Glück lag die Behausung unserer drei Freunde auf der höchsten Stelle des freien Platzes, so daß die Regenmassen ihnen nicht viel anhaben konnten.

Am sechsten Tage schien wieder die Sonne. Gleichzeitig wehte ein kräftiger Wind, der die Felsen schnell trocknete. Gleich am Vormittag begaben Karl Stelter und Friedel sich nach dem Zirkus. Ihre Körper verlangten nach dieser erzwungenen Muße geradezu nach Bewegung, und der Knabe war heute ausgelassen wie ein junges Füllen.

Der Teich in der Mitte des runden Platzes zeigte sich bis zum Rande gefüllt. Sonst waren hier jedoch keine weiteren Veränderungen durch die Regenfluten entstanden. – Friedel holte nun das nach, was er damals in jener Nacht versäumt hatte: er suchte nach den Schlackenstücken, die er früher einmal achtlos weggeworfen hatte. Von einigen wußte er noch, wo sie ungefähr liegen mußten. Tatsächlich fand er denn auch vier Meteoritentrümmer, die er freudig dem Matrosen aushändigte. Sie enthielten an der Bruchstelle kleinere, eingebettete Diamanten, die Karl Stelter sofort aus dem Muttergestein loslöste, indem er es mit einem harten Felsstück vorsichtig zerkleinerte. Hierbei ergab sich, daß die Meteortrümmer auch im Innern noch zahlreiche, meist jedoch recht winzige Diamanten bargen, eine Entdeckung, die den Matrosen nach der Rückkehr zur Hütte veranlaßte, auch das von Friedel damals mitgebrachte Schlackenstück zu zerspalten und die Teile zu feinem Steingrus zu zermalmen. Diese Mühe verlohnte sich durchaus. Auf diese Weise wurde noch ein vierter Edelstein gefunden, der nicht viel kleiner war als die anderen drei.

Jetzt standen die Diamanten wieder im Vordergrunde der Gedankenwelt unserer Robinsons. Selbst das Mädelchen wurde von der Edelstein-Krankheit, wie Karl Stelter dieses ausschließliche Interesse für die wertvollen Kristalle mit feiner Selbstironie nannte, angesteckt. Den ganzen Tag über suchte man den Zirkus und seine nähere Umgebung nach schlackenähnlichen Trümmern ab, wobei man auch solche einsammelte, die auf der Oberfläche keine Spur von Edelsteinen oder auch nur Diamantsplitterchen zeigten. Lag doch die Möglichkeit vor, daß die grauschwarze Masse im Innern etwas von dem kostbaren kristallisierten Kohlenstoffe barg.

Die Beute dieser eifrigen Sammeltätigkeit stellte einen ansehnlichen Haufen äußerlich recht wertlos erscheinender Mineralien dar und wog sicherlich ein paar Zentner. Nach Sonnenuntergang begaben Karl und Friedel sich dann nach dem Nordstrande, näherten sich diesem aber sehr vorsichtig und verbargen sich in den Randhügeln gegenüber den Klippen, hinter denen der Fremde damals sein Boot versteckt hatte. Es wurde schnell finster. Gerade diese Übergangszeit bis zum Auftauchen der Sterne am nächtlichen Firmament war der dunkelste Teil der ganzen Nacht. Ihn benutzte auch der Bewohner des steilen Vorgebirges, um von seinem Schlupfwinkel nach der Insel hinüberzurudern. Nachdem er sein Fahrzeug zwischen den Klippen festgemacht hatte, verschwand er durch die Schlucht nach dem Innern des Eilandes zu.

Gleich darauf hatten Karl und der Junge sich des kleinen Bootes, das aus einem mit Walfischhaut bespannten Gerippe aus Treibholz bestand, bemächtigt und trieben den Fellnachen nun auf die Felsenmasse zu, die düster, unheimlich und anscheinend ganz unersteigbar über das Meer wohl zwanzig Meter hoch hinausragte. Der Unterteil dieses Vorgebirges stellte einen riesigen Würfel von gut vierzig Meter Seitenlänge dar, auf den wieder einige zwölf Meter über dem Wasserspiegel enorme Zinnen in Gestalt einzelner Blöcke aufgesetzt waren, von denen zwei ganz den Eindruck von eckigen Türmen machten. Die Seitenwände des Felswürfels waren hier und da von Spalten und Rissen durchzogen, hatten auch Vorsprünge und Einbuchtungen, boten aber an keiner Stelle die Möglichkeit, an diesen schroffen, natürlichen Mauern emporzuklimmen. Zweimal hatten die beiden Deutschen nun bereits die von der Laune der Naturgewalten geschaffene Burgruine umrudert, ohne herausfinden zu können, wie der Fremde auf diese Felsmasse hinaufgelangte. Daß er seine Wohnung auf der Höhe zwischen den Zinnen hatte, nahm der Matrose als gewiß an. Erst bei der dritten Umrundung des Felsmassivs entdeckte dann Friedel eine Strickleiter, die in eine Längsspalte des Gesteins sorgfältig hineingezwängt war. Diese Strickleiter, hergestellt aus sehr festen geflochtenen Riemen mit Sprossen aus Holz, führte die beiden Gefährten in kurzem auf die von den Zinnen umgebene Plattform des Würfelfelsens. Hier gab es einen geräumigen, ebenen Platz, auf dem außer einem Lederzelt noch ein vorn offener Schuppen mit Steinwänden und einem überragenden Dache aus Walfischhaut stand.

Inzwischen war das zahllose Heer der Sterne am Himmel erschienen, dessen Licht vollauf genügte, um den Schlupfwinkel des Fremden genau besichtigen zu können. Am meisten interessierte Karl und Friedel ein unter dem Schuppen stehendes, halbfertiges großes Boot, das genau nach dem Modell des Ledernachens erbaut war, nur bedeutend fester und gut fünfmal so lang und breit.

Alles, was man hier sah, bewies, daß der Fremde ein selten findiger Kopf sein mußte, der mit geringen Hilfsmitteln sich ein Heim zu schaffen verstanden hatte, das an Behaglichkeit der Einrichtung das der Deutschen bei weitem übertraf.

Nachdem Karl Stelter und der Knabe sich überall genügend umgesehen hatten, wollten sie wieder nach der Insel zurückkehren.

Da ereignete sich jedoch etwas, woran sie auch nicht im entferntesten gedacht hatten. Gerade als sie zwischen den beiden Felszinnen, zwischen denen außen an der schroffen Wand die gutverankerte Strickleiter herabhing, standen und Friedel als erster an der sicheren Leiter abwärtsklimmen wollte, tauchte plötzlich der Kopf des Fremden über dem Rande der Plattform auf.

Der Unbekannte schwang sich geschickt auf festen Boden und trat dann mit drohend erhobener Faust auf die beiden Deutschen zu, indem er in höchster Erregung in gebrochenem Deutsch die Worte hervorstieß:

„Dankt Ihr mir so meine Anteilnahme an Eurem Schicksal …?! Hätte ich gewußt, daß Ihr mir meine Fürsorge auf diese Weise vergelten würdet, – niemals hätte ich für Euch auch nur einen Finger gerührt!“

Karl Stelter beeilte sich jetzt, den Fremden, der halb entkleidet den Meeresarm bis zum Vorgebirge durchschwommen hatte, zu versöhnen, indem er betonte, sie wären nicht etwa in böser Absicht hergekommen, sondern lediglich deswegen, um ihren unbekannten Mitbewohner zu veranlassen, sein zurückgezogenes Leben aufzugeben sich ihnen anzuschließen.

„Freiwillig hättet Ihr dies wohl kaum getan“, meinte der ehrliche Seemann halb scherzend. „Da wollten wir Euch eben durch den Besuch in Eurem Schlupfwinkel zwingen, Eure Einsamkeit aufzugeben. Wir waren gerade dabei, wieder nach der Insel zurückzurudern, wo wir Euch dann in Eurem Boote erwartet hätten. So liegt die Sache. Jedenfalls kann von Undank auf unserer Seite wirklich keine Rede sein.“

Die offene Art des Matrosen verfehlte ihre Wirkung nicht. Schnell war der Friede zwischen den beiden Parteien durch freundschaftlichen Handschlag geschlossen, und gleich darauf saß man zu dreien in dem großen Lederzelt beim Scheine einer Tranlampe und tauschte gegenseitig seine Erlebnisse aus.

Zuerst erzählte der Fremde seine wirklich mehr als seltsame Geschichte. Diese sei hier nur kurz angedeutet.

Sven Sörensen war ein geborener Schwede, der aber schon als jüngerer Mann nach Nordamerika ausgewandert war, wo er in einem Steinkohlenbergwerk in Montana als Chemiker eine gutbezahlte Anstellung gefunden hatte.

Durch eine ungewöhnliche Verkettung von Umständen zog er sich jedoch die Feindschaft sehr einflußreicher Männer zu, die zu den Großindustriellen des Staates gehörten und deren Gewissenlosigkeit ihn schließlich als Robinson auf die entlegene, felsige Insel versetzte, auf der dann später auch die drei Schiffbrüchigen der „Minneapolis“ landeten.

„Meine Feinde pflegen nun in jedem Jahre einmal sich davon zu überzeugen, ob ich auch noch in meinem Exil hier tatsächlich weile“, fuhr Sörensen fort. „Im vorigen Jahre hauste ich nun noch drüben in der Nähe des Platzes, wo Sie sich niedergelassen haben. Dann gelang es mir durch einen Zufall, mir dieses Versteck zu erschließen. Wenn ich mich Ihnen nun nicht gezeigt und ein Zusammentreffen mit Ihnen vermieden habe, so geschah dies lediglich deswegen, damit Sie beim Erscheinen der Jacht deren Besitzern ehrlich berichten konnten, Sie wüßten nichts Näheres von mir. Ich wollte eben nicht, daß Sie drei sich gleichfalls die Feindschaft jener Leute zuziehen sollten, die zur Folge gehabt hätte, daß die Jacht Sie nicht mit in bewohnte Gegenden genommen haben würde. Und die Männer, die mich seit Jahren mit ihrer Todfeindschaft verfolgen, wären eben aus Furcht, daß Sie meine Geschichte erfahren haben und später weitererzählen könnten, nie bereit gewesen, Ihnen von hier fortzuhelfen. Nur aus diesem Grunde blieb ich Ihnen fern. Eine Bekanntschaft mit mir bringt nichts Gutes! Das werden Sie zu Ihrem Leidwesen bald selbst merken.“

Nachdem Karl und Friedel von dem Schweden ganz genau in alle Einzelheiten dieser merkwürdigen Angelegenheit eingeweiht worden waren, beschlossen sie, sich ganz auf Sörensens Seite zu stellen.

Sie hatten dies nie zu bereuen. Nach einem halben Jahre schlug den vier nunmehr vereinten Bewohnern von Karlsort die Stunde der Befreiung. Wohlbehalten gelangten sie auf einen deutschen Dampfer, dem sie unterwegs begegneten. Und treue Freundschaft verband besonders Karl Stelter mit dem um anderthalb Jahrzehnte älteren Chemiker noch lange Zeit, bis auch ihre Lebenswege sich wieder trennten.

Für die Geschwister Mörner aber bildete das Robinsondasein auf der Felseninsel im Stillen Ozean stets eine Quelle zumeist freundlicher Erinnerungen. Arm, entblößt von allem, hatten die Kinder das Eiland einst betreten. Als sie es verließen, waren sie im Besitze eines Anteiles an den gefundenen Diamantenschätzen, der ihren Eltern genau so die Erfüllung längst gehegter Wünsche ermöglichte, wie dies bei dem jungen Matrosen geschah. Nicht immer bringt der leichte, schnelle Erwerb von Reichtümern böse Gefahren für deren Besitzer mit sich.

Das, was Sven Sörensen den beiden Gefährten damals über seine seltsame Lebensgeschichte im einzelnen erzählte und was sich später noch auf dem Eiland zutrug, soll im nächsten Bande geschildert werden.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Der Verbannte auf Karlsort.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.