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Das Geheimnis der „Donna Inez“

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Geheimnis der „Donna Inez“.

 

W. Belka.

 

Der Hafen von Tampiko an der Ostküste Mexikos war noch zu der Zeit, als der unglückliche Erzherzog Maximilian von Österreich den kurzen mexikanischen Kaisertraum mit dem Leben bezahlen mußte, ein elendes Städtchen. Bald darauf nahm es aber einen gewaltigen Aufschwung, und heute bildet es für Nordmexiko den Stapelplatz einer gewaltigen Waren-Ein- und Ausfuhr. Daß Tampiko trotzdem nicht mit bedeutenderen Hafenplätzen anderer Länder zu vergleichen ist, daß noch manche seiner Einrichtungen recht primitiv und besonders die sanitären Verhältnisse äußerst bedenkliche sind, daran trägt lediglich die politische Lage der von ewigen Revolutionen und Parteistreitigkeiten schwer geschädigten mexikanischen Republik die Schuld. Der unruhige, dabei doch recht träge, was ernste Arbeit anbetrifft, und unzuverlässige Charakter dieses Volkes, das keine reine Rasse, sondern ein buntes Gemisch von Abkömmlingen aller Nationen und Hautfarben darstellt, betätigt sich nur zu gern auf politischem Gebiet. Unzufriedene sind stets vorhanden, die einem neuen Anwärter für den Präsidentenstuhl in Scharen zuströmen und einen vielleicht eben erst beendeten Bürgerkrieg aufs neue entfachen.

Die fremden Staaten sind in Tampiko fast sämtlich durch Konsulate vertreten, so auch das Deutsche Reich.

Dem deutschen Konsul wurde nun an einem Maitage des Jahres 1905 durch den Kommandanten des mexikanischen Kreuzers „Sonora“ ein kleiner, etwa fünfzehnjähriger Landsmann zugeführt, den das Kriegsschiff von einer entlegenen, öden Insel im Golfe von Mexiko mitgebracht hatte.

Der Knabe, der auf den nicht gerade sehr poetisch klingenden Namen Emil Zulpe getauft war und aus Hamburg stammte, hatte, wie er dem Konsul erzählte, gegen den Willen seiner Mutter, einer in bescheidenen Verhältnissen lebenden Witwe, mit der Segeljacht „Möwe“ eine Fahrt über den Atlantik mitgemacht, war dann durch eine Verkettung besonderer Umstände an Bord eines wracken Segelschiffes, der Brigg „Donna Inez“ gekommen und hatte mit dieser sehr bald Schiffbruch erlitten, nachdem er einen auf der Brigg eingekerkerten älteren Mann, einen armen Wahnsinnigen, aus seinem Gefängnis befreit hatte, ein Liebesdienst, der von dem Geistesgestörten jedoch sehr schlecht belohnt worden war, da dieser den Kajütjungen der „Möwe“ in einem Wutanfall niedergeschlagen hatte. Und sicherlich wäre Emil Zulpe auf dem in Brand geratenen Wrack elend umgekommen, wenn ihn nicht ein an Bord der „Donna Inez“ von ihm vor dem Tode des Verdurstens geretteter Pudel auf die einsame Insel durch die von einem Orkan wildbewegte See geschleppt hätte. Auf diesem Eiland hatte der tatkräftige Junge dann zusammen mit dem braven Hunde, dem er den Namen „Montag“ gegeben hatte, etwa acht Tage als Robinson gelebt, bis eben der mexikanische Kreuzer anscheinend auf der Suche nach Schmugglern dort vor Anker gegangen und so der Befreier des kleinen Hamburgers geworden war.

Der Konsul merkte sehr wohl, daß Emil Zulpe bei der Schilderung seines Aufenthaltes auf der öden Sandinsel irgend etwas verschwieg, vermochte den Knaben jedoch trotz eindringlichen Zuredens nicht zur Preisgabe seines Geheimnisses zu bewegen. – Um ein Geheimnis handelte es sich in der Tat. Aber der Junge hatte es bereits dem Kommandanten des Kreuzers gegenüber, einer augenblicklichen Eingebung folgend, unterschlagen und scheute sich jetzt zuzugeben, daß er mehr auf dem Eiland erlebt hatte, als er eingestand.

Recht unzufrieden entließ der Konsul daher seinen kleinen Landsmann, den er vorläufig im Hause eines ehemaligen deutschen Schiffskapitäns unterbrachte, der jetzt in mexikanischen Diensten den Posten eines Hafeninspektors bekleidete und ein kleines Dienstgebäude in der Nähe des Leuchtturmes bewohnte.

Kapitän Olfers war Witwer und hatte zwei Kinder, von denen das älteste, ein fünfzehnjähriger Junge, sich schnell mit Emil Zulpe anfreundete, während die dreizehnjährige Hildegard, ein eitles, verwöhntes Mädelchen, den Gast sehr von oben herab behandelte.

Emil Zulpe sollte mit dem Dampfer „Agathe“, der am 12. Juni Tampiko verließ, nach Hamburg zurückkehren. Daher blieben ihm immerhin noch vierzehn Tage, die er dazu benutzten konnte, sich in dem fremden Lande umzusehen. Werner Olfers spielte denn auch sehr gern den Führer, und fast täglich machten die Knaben Ausflüge in die weitere Umgebung der Hafenstadt und hatten so Gelegenheit, immer vertrauter miteinander zu werden. Einmal nahm der Kapitän die beiden auch mit nach der Hauptstadt Mexiko, und auf dieser Reise lernte der Hamburger Junge ein Naturwunder kennen, das in der ganzen Welt einzig dastand: den ältesten Baum der Erde, eine Zypresse, die den Stolz des Dorfes Santa Marta de Tula bildet, das zwischen den Städten Mexiko und Queretaro an der Bahnlinie liegt. Schon der berühmte Naturforscher und Weltreisende Alexander von Humboldt[1] erblickte im Jahre 1803 diesen ehrwürdigen Baumriesen, dessen Alter etwa 5000 Jahre betragen dürfte.

Auf dieser Eisenbahnfahrt war es nun, als Emil Zulpe im Zuge einem älteren Manne begegnete, bei dessen Anblick er förmlich zurückprallte. Diese Szene ereignete sich im Speisewagen und war Kapitän Olfers zwar entgangen, nicht aber dessen Sohne, der sofort leise den neugewonnenen Freund fragte, weshalb dieser denn durch die Begegnung mit dem Fremden so auffallend erschreckt worden sei.

Der kleine Hamburger hatte bisher auch Werner Olfers nichts von seinen Abenteuern auf der Sandinsel im Golfe von Mexiko erzählt, inzwischen aber doch so festes Vertrauen zu des Altersgenossen Verschwiegenheit gefaßt, daß er ihm nun auch das mitteilte, was er selbst dem deutschen Konsul nicht erzählt hatte.

„Jener Alte dort drüben“, fügte Emil Zulpe zum Schluß hinzu, „hat nun eine sehr große Ähnlichkeit mit dem Wahnsinnigen, der mich auf der „Donna Inez“ mit einer Kanne zu Boden schlug. – Ich möchte zu gern feststellen, ob ich mich täusche. – Ah – sieh da, Werner, – Welch’ ein Zufall! Dein Vater begrüßt den Mann, der jetzt doch einen völlig gesunden Eindruck macht und recht anständig gekleidet ist.“

Der betreffende Herr verließ in Mexiko dann ebenfalls den Zug. Inzwischen hatte Werner bereits von seinem Vater erfahren, ohne diesem jedoch mitzuteilen, welches Interesse der kleine Hamburger an dem Fremden hatte, daß der Alte ein reicher Kaufmann namens Albert Perlwitz war, der in Mexiko mit allen möglichen Dingen handelte.

Nachdem die Knaben wieder in Tampiko eingetroffen waren, schlug Werner Olfers dem Freunde vor, an Herrn Perlwitz einen Brief zu schreiben und bei ihm anzufragen, ob er vielleicht damals auf der wracken Brigg geweilt habe, als diese nachher in Flammen aufging und auf einer Sandbank der öden Insel scheiterte. Anderswie, meinte Werner, könnte man sich über diese Frage nicht gut Aufschluß verschaffen. – Diese Geheimnistuerei machte den beiden Jungen einen rechten Spaß. Der Brief wurde wirklich abgeschickt, und Herr Perlwitz darin gebeten, die Antwort postlagernd nach Tampiko zu senden. Das Schreiben hatte Emil Zulpe nicht etwa mit vollem Namen, sondern nur mit „Ein Eingeweihter“ unterzeichnet.

An demselben Nachmittag, an dem die Knaben den Brief abgesandt hatten, machten sie nun mit dem dem Kapitän Olfers gehörigen Kutter ohne weitere Begleitung – nur den Pudel „Montag“ nahmen sie mit – eine Segelfahrt im Hafen und gelangten dabei auch in eine im Westen in das Land tief einschneidende Bucht, in der zumeist nur Fischerfahrzeuge vor Anker lagen.

Die Ufer der Bucht waren dicht bewaldet, und hier und da lugten aus dem Grün die Gebäude einer Ansiedlung oder die Hütte eines armen Fischers hervor, der sich hier angebaut hatte, wo der Grund und Boden nicht viel kostete.

In langsamer Fahrt glitt der Kutter jetzt auf dem Rückwege am Nordufer der Bucht entlang. Mit einem Male steuerte dann der kleine Hamburger scharf auf ein vor Anker liegendes Segelboot zu, indem er gleichzeitig Werner Olfers erregt zurief:

„Ich gehe jede Wette ein: das Boot dort ist Herrn Armin Blenkens Jacht „Möwe“, wenn sie jetzt auch einen dunkelgrünen Anstrich hat und den Namen – ja, ich lese es ganz deutlich! – „Atlanta“ am Stern in schwarzen Buchstaben führt! – Was mag das nur auf sich haben, Werner?! Die „Möwe“, die doch als verschollen gilt, hier in der Nähe von Tampiko?! – Bedenke doch, was ich Dir von meinem Erlebnis auf der öden Insel erzählt habe, von dem von mir zufällig entdeckten, im Sande begrabenen Dreimaster, der scheinbar als Schmugglerversteck eingerichtet war und in dessen Kajüte ich jenen Zettel fand, den fraglos der Millionär Armin Blenken geschrieben hat und den ich ebensowenig wie auch Du entziffern konnte, da die Zeilen wirr durcheinander gehen, so daß man notwendig annehmen muß, Blenken hat diese Nachricht im Dunkeln niedergeschrieben.“

Werner Olfers, nicht minder abenteuerlustig als sein Freund, war jetzt ebenso begierig wie dieser festzustellen, ob es wirklich die Jacht war, mit der der Millionär, um eine Wette von einer Million zu gewinnen, in 25 Tagen von Hamburg nach Mexiko den Atlantischen Ozean hatte durchkreuzen wollen.

Das jetzt grüngestrichene kleine Fahrzeug lag etwa hundert Meter vom Ufer entfernt vor einem größeren, scheinbar unbewohnten Gebäude. An Bord war niemand zu sehen, so daß die Knaben den Kutter ohne Scheu dicht neben die Jacht brachten, wodurch Emil Zulpe die Möglichkeit gegeben wurde, einen Blick auf das Verdeck zu werfen. Und dieser eine Blick genügte.

„Es ist die „Möwe“!“, flüsterte der kleine Hamburger ganz heiser vor innerer Aufregung. „Siehst Du die Messingverzierung an der Ruderpinne? – Daran erkenne ich sie mit aller Bestimmtheit wieder.“ (Ruderpinne ist der Hebelarm des Steuers).

Dann ließ er den Kutter wieder in den Wind laufen, indem er zu dem Freunde sagte:

„Wir dürfen nicht zu lange neben der Jacht verweilen, Werner. Das könnte auffallen! Jedenfalls wollen wir diesem Rätsel nachspüren, – meinst Du nicht auch?! – Herr Blenken und auch August Schwendling, der alte Bootsmann der „Möwe“, der als dritter die Wettfahrt über den Atlantik mitmachte, sind ja spurlos verschwunden. Kein Mensch hat mehr etwas von ihnen gehört, nachdem sie damals mich auf die „Donna Inez“ geschickt hatten, um mich auf Deck des Wracks einmal umzusehen, und dann auf und davon gefahren waren, ohne mich mitzunehmen, gerade als ob sie mich hatten loswerden wollen. Der Konsul hat zu diesem Verhalten ja auch sehr empört den Kopf geschüttelt. Und ich bin mir heute noch nicht klar darüber, weshalb meine Gefährten, die mich doch auf der „Möwe“ bis dahin so gut behandelt hatten, mit einem Male mich einfach im Stiche ließen und dazu noch auf einem steuerlos treibenden, von der Besatzung verlassenen Schiffe, auf dem ich später nur die wenig angenehme Bekanntschaft des Wahnsinnigen machte …!!“

„Wirklich, – es ist ein seltsames Rätsel“, erklärte Werner Olfers eifrig. „Und Du hast ganz recht: wir müssen versuchen, ob wir nicht eine Lösung für all diese sonderbaren Tatsachen finden können!“

Am nächsten Vormittag segelten die Freunde abermals mit dem Kutter nach der Bucht, machten ihn dann unweit des einsamen Gebäudes am Ufer fest und schlichen zu Fuß nach dem Hause hin. Dieses stand mitten in einem recht verwilderten Garten, hatte vor den Fenstern starke Holzladen und war offenbar unbewohnt.

Als die beiden Knaben dann aber keck in den Garten eindrangen, sahen sie sich plötzlich einem riesigen Neger gegenüber, der sie mit groben Worten fortjagte.

So endete diese Kundschafterfahrt denn ohne jedes Ergebnis. Trotzdem gedachten die Freunde jedoch, nunmehr auf andere Weise herauszubekommen, wer in dem einsamen Hause wohnte, vor dem in der Bucht die deutsche Jacht vor ihrem Anker sich träge auf und ab wiegte. Werner Olfers erkundigte sich bei einem in der Nähe hausenden, ihm bekannten Fischer. Aber auch dieser wußte nicht, wem die kleine Farm gehörte, die unlängst den Besitzer gewechselt haben sollte.

Die Aussichten der Freunde standen mithin recht schlecht, was die Lösung des Rätsels anbetraf, das jetzt all ihre Gedanken gefangennahm. Und Werner machte dem kleinen Hamburger nun allen Ernstes den Vorschlag, man solle die ganze Geschichte seinem Vater erzählen. Der würde am besten wissen, wie man der Sache auf den Grund gehen könne. – Doch Emil Zulpe lehnte diesen Rat energisch ab. Er schämte sich, eingestehen zu müssen, sowohl vor dem Kommandanten der „Sonora“ als auch vor dem deutschen Konsul ohne rechten Grund Dinge verschwiegen zu haben, die doch von erheblicher Wichtigkeit waren.

Nach längerem Hin- und Herreden ließ sich Werner Olfers gleichfalls davon überzeugen, daß man sich dem Kapitän immer noch anvertrauen könnte, – eben dann, wenn man selbst das Geheimnis des Auftauchens der „Möwe“ hier in der Bucht wirklich nicht zu lösen imstande war. Und die Knaben beschlossen weiter, daß der in Tampiko überall gut bekannte Werner bei der Polizei unter einem Vorwand nachfragen solle, wem das einsame Haus eigentlich gehöre.

Am folgenden Morgen schon begab sich Werner Olfers auf das Polizeibureau, tat hier so, als sei er von seinem Vater ausgeschickt, und brachte wirklich heraus, daß jene kleine Farm vor vier Monaten in das Eigentum eines Mexikaners namens Almada übergegangen war. Im übrigen war über diesen Almada jedoch nichts zu erfahren, nur daß er bei Queretaro eine Hazienda besaß, aber nicht in den besten Vermögensverhältnissen leben solle. – Also auch hier hatte sich nichts Wichtiges auskundschaften lassen. Der Eifer der Knaben wurde durch diese Mißerfolge jedoch keineswegs lahmgelegt. Im Gegenteil! Und ihre ganze Hoffnung setzten sie nun in die Antwort auf den anonymen Brief, der längst in Perlwitz’ Hand sein mußte. Als sie dann am Abend gemeinsam nach der Post wanderten, um nach einem postlagernden Schreiben unter E. Z. zu fragen, ahnten sie nicht, welche Folgen ihre Lust, sich mit so ernsten Dingen zu befassen, für sie haben sollte.

Vor dem Schalter für postlagernde Sendungen war trotz der späten Stunde ein ziemliches Gedränge. Aber die Hauptsache: ein Brief unter E. Z. war da und wurde den Knaben anstandslos übergeben. Neugierig traten die Freunde sofort in eine Ecke, öffneten den Umschlag und … fanden darin einen völlig leeren Briefbogen. Bevor sie sich noch von ihrem nur zu berechtigten Erstaunen über diese merkwürdige Art von Antwort erholt hatten, wurden sie von einem elegant gekleideten, dunkelhäutigen Mexikaner angesprochen, der sie in englischer Sprache bat, für ihn gegen gute Bezahlung sofort eine eilige Nachricht nach einem im Hafen liegenden Dampfer zu bringen. – Das Geld lockte, und Werner Olfers nahm das Schreiben denn auch in Empfang, das dem Kapitän des Schiffes ausgehändigt werden sollte, und trabte mit Emil Zulpe davon. Nach deutschem Gelde hatte der Fremde ihnen für den kleinen Dienst, der in zehn Minuten zu erledigen war, etwa zwanzig Mark gegeben – also für die Knaben ein kleines Vermögen!

Der Dampfer sollte „Bordeaux“ heißen, am dritten Ladekai liegen und einen gelben Schornsteinring haben. Er war also leicht zu finden, und tatsächlich waren die beiden Jungen keine acht Minuten später schon an Deck des Schiffes, auf das sie über eine Ladeplanke bequem hinübergelangt waren. Ein Matrose führte sie in die Kajüte des Kapitäns, in der eine Petroleumlampe brannte und drei Männer anwesend waren.

Werner Olfers wollte nun seinen Auftrag erledigen, reichte dem einen der Männer, der eine Kapitänsmütze trug, den Brief, mußte dann aber zu seinem Erstaunen von dem Seemanne sich darüber aufklären lassen, daß der elegante Herr auf der Post sich nur einen Scherz mit ihnen gemacht haben könne.

„Seht selbst, Jungens“, meinte der Kapitän lachend. „Der Brief enthält als Einlage nur eine alte Zeitung. – Nun – Ihr seid jedenfalls tüchtig gelaufen, um das Geld ehrlich zu verdienen. – Hier habt Ihr jeder eine Limonade! Trinkt nur – sie wird Euch erfrischen!“

Ganz verdutzt folgten die Freunde der liebenswürdigen Aufforderung. Ihnen war wirklich heiß geworden. Die Limonade schmeckte gut, und der Kapitän fragte dann noch allerlei, – wie der Herr auf der Post ausgesehen habe, wie sie hießen und anderes mehr.

Die Unterhaltung wurde in englischer Sprache geführt. Werner Olfers beantwortete alle Fragen bereitwilligst, merkte aber bald, daß ihm die Zunge im Munde nicht mehr recht gehorchte, daß ein Gefühl bleierner Müdigkeit ihn beschlich und plötzlich sogar die Kajüte sich um ihn in tollem Wirbel zu drehen begann. Dann schwanden ihm die Sinne …

Nicht anders erging es Emil Zulpe. Als dieser erwachte, lagerte rabenschwarze Finsternis um ihn her. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich nun mit seinem wirren Kopf auf die letzten Vorgänge an Bord des Dampfers „Bordeaux“ einigermaßen besann. Während er noch so aufrecht dasaß und Klarheit in seine Gedanken zu bringen suchte, hörte er neben sich ein ganz, ganz leises Winseln, fühlte plötzlich auch am Bein eine sanfte Berührung …

„Montag, – der Pudel!!“ schoß es ihm durch den Kopf. – Ja, – aber wie kam der Hund hierher …? – Befand er sich denn etwa im Hause Kapitän Olfers, und war alles nur ein Traum gewesen, gab es vielleicht gar keinen Dampfer „Bordeaux“, hatte er nie in dessen Kajüte Limonade getrunken und dann die furchtbare Mattigkeit verspürt, diese völlige Kraftlosigkeit, die ihn schließlich doch, soweit er sich zu besinnen vermochte, hatte zu Boden sinken lassen …?!

Es war wirklich der Pudel, und zärtlich streichelte Emil Zulpe jetzt den Kopf des treuen vierbeinigen Freundes, während er mit der Linken vorsichtig umhertastete, um auf diese Weise festzustellen, was für ein Raum es eigentlich war, in dem er sich so wieder fand.

Der Boden war mit trockenem Grase bedeckt. Darunter gab es eine schwache Grasnarbe, die aus einem sandigen Boden hochsproß …

Plötzlich dann eine neue Entdeckung: des Knaben umherfühlende Hand hatte eine Holzwand gespürt, – eine Wand aus unregelmäßig behauenen Balken eines weichen Holzes …

Sollte … sollte …?! – Emil Zulpe saß jetzt ganz regungslos da. Er konnte nicht glauben, daß die eben in ihm aufgeblitzte Vermutung zutraf. Zu sonderbar wäre es gewesen, geradezu unfaßlich, wenn er wirklich in derselben Hütte weilen sollte, die er sich damals während seines kurzen Robinsondaseins auf jener öden, kahlen Insel errichtet hatte.

Und doch: immer mehr befestigte sich in ihm die Überzeugung, wirklich das richtige zu vermuten.

Dann abermals etwas, das sein Herz schneller schlagen ließ: von der anderen Wand her vernahm er ein tiefes Aufseufzen, dann eine schlaftrunkene, leise Stimme: „Mein Gott, wo bin ich nur?“

„Werner!“ rief Emil Zulpe da jubelnd, „Werner, also auch Du hier – hier in meinem Robinsonhäuschen?!“

Gleich darauf standen die Freunde Arm in Arm vor der Hütte. Freudig bellend umsprang Montag sie. Und über ihnen spannte sich ein dunkler, wolkenbedeckter Nachthimmel aus. In der Ferne grollte die See in unaufhörlichem Branden …

„Meine Insel, – wirklich meine Insel!“ sagte der kleine Hamburger leise. „Ja – es ist das fruchtbare Tal am Ende der langen Halbinsel meines Eilandes, in dem wir jetzt stehen, der einzige grüne Fleck Erde hier. Siehst Du dort die Buchen, dort den kleinen Weiher und die Quelle …? – Alles stimmt – alles …!! Meine Insel ist’s!“

Werner Olfers vermochte das ungläubige Staunen noch immer nicht zu überwinden.

„Aber sag’ mir eines: wie, – wie nur in aller Welt sind wir hierher gelangt“, meinte er grüblerisch. Dann beantwortete er selbst diese Frage. Ihm war plötzlich wie mit einem Blitzschlage die Erleuchtung gekommen!

„Alles war ein abgekartetes Spiel!“ stieß er hervor. „Wir sollten durch den Brief des eleganten Mexikaners nur an Bord des Dampfers gelockt werden! Daher auch das viele Geld für den kleinen Dienst! Und die Limonade hat ein starkes Betäubungsmittel enthalten. Uns, die wir bewußtlos waren, hat man dann zu Schiff hierher gebracht. Die Leute, die dies ganze Komplott geschmiedet haben, wollten uns eben beseitigen, unschädlich machen, und überführten uns deshalb auf das einsame Eiland … – So muß es sein! Dies ist der Zusammenhang all des Seltsamen, das wir erlebten!“

Emil Zulpe, geistig etwas schwerfälliger als der Freund, gab diesem nach einigem Nachdenken in allen Stücken recht. Dann sagte er zögernd:

„Aber Montag …?! – Wie kann nur der Pudel …“

„Sehr einfach!“ unterbrach Werner ihn. „Montag hatten wir doch in unser Zimmer eingesperrt, als wir zur Post gingen. Besinnst Du Dich? – Nun also! Und da ist der Pudel uns einfach nachgelaufen bis an Bord des Dampfers. Irgend jemand wird ihn aus dem Zimmer herausgelassen haben. Vielleicht Hildegard. Und seine feine Nase hat ihn unsere Spur finden lassen selbst durch die belebten Straßen. Die Leute werden ihn dann an Bord behalten haben. Es gibt viele Hundefreunde. Und Montag versteht sich einzuschmeicheln.“

Emil Zulpe nickte.

„So wird es sein, Werner. – Ist es nicht wirklich mehr als seltsam, dieses Erlebnis!“ fügte er hinzu. „Nun werden wir vielleicht längere Zeit gemeinsam hier Robinson spielen müssen …“

„Oh, wenn ich nicht wüßte, daß Vater sich in Tampiko um uns sorgen wird, so wäre mir dieses abenteuerliche Leben für ein paar Monate schon ganz lieb. Aber so …!! Vater weiß ja nicht, wo wir hingeraten sein können. Welche Aufregung wird das daheim geben!“

Über den Rändern der das Tal einschließenden hohen Hügel, die mit dichten Kakteenfeldern bewachsen waren, erschien jetzt im Osten ein grauer, heller Schimmer, der schnell einen rötlichen Farbenton annahm.

Der junge Tag zog herauf. Und mit der Morgenröte verschwand auch das dichte Gewölk. Immer mehr klärte sich der Himmel auf. Bald schossen die ersten Strahlen der Sonne über das Tal hinweg …

Werner Olfers hatte nach seiner Taschenuhr gesehen und sie aufgezogen. Sie war noch nicht völlig abgelaufen gewesen. Daraus ersah er, daß die Fahrt von Tampiko etwa nur 24 Stunden in Anspruch genommen haben könne. Die Uhr hatte nämlich ein 48-Stunden-Werk. Und weiter bewies sie auch, daß die Freunde fast zwei volle Tage bewußtlos gewesen waren.

Bald bekamen beide einen wütenden Hunger. Aber Emil Zulpe wußte hierfür schnell ein Gegenmittel. Am Strande gab es Schildkröten genug, und in der Hütte stand noch der kleine Herd aus Steinen und waren auch noch die beiden Kochtöpfe vorhanden, die er damals aus dem brennenden, gestrandeten Wrack geborgen hatte. (Die Erlebnisse Emil Zulpes auf der Wettfahrt über den Atlantik sind im vorigen Hefte dieser Sammlung unter dem Titel „Das brennende Wrack“ geschildert worden.)

Die Freunde stellten dann fest, daß man ihnen den gesamten Inhalt ihrer Taschen gelassen hatte, – ihre Messer, etwas Bindfaden, Spiegel, Zündholzschachteln und andere Kleinigkeiten.

Die Zündhölzer waren jetzt am wichtigsten. Während der Sohn Kapitän Olfers nun im Herde Feuer anmachen mußte, eilte der kleine Hamburger zum Oststrande und erbeutete dort auch wirklich sehr bald eine große Schildkröte, deren Fleisch eine kräftige Suppe abgab.

Nachdem die Gefährten sich gesättigt hatten, wobei sie den Pudel nicht vergaßen, wollten sie sich zunächst Aufschluß darüber verschaffen, ob sie auf der Insel auch tatsächlich allein wären, und wanderten daher am Oststrande der Halbinsel entlang nach dem Haupteiland hin, das mit seinen gelben Sanddünen, die im Sonnenlicht förmlich vor Unfruchtbarkeit leuchteten, einen traurigen Eindruck machte. Hier gab es weder Baum noch Strauch, nur wenige spärliche Gräser, und im Süden der Insel ein einziges Kakteenfeld in einem Tale, durch das ein geheimer Pfad hindurchlief bis hin zu dem Eingang des im Sande begrabenen, alten Dreimasters, den Emil Zulpe für einen Schmugglerschlupfwinkel hielt und in dessen Kajüte er jenen von Armin Blenken geschriebenen Zettel entdeckt hatte.

Alles zeigte der kleine Hamburger dem Freunde, was es hier zu sehen gab, wobei sie immer mehr die Überzeugung gewannen, daß man sie tatsächlich zu einem einsamen Leben fern von allen bewohnten Stätten verurteilt hatte. Außer ihnen befand sich kein Mensch auf der Insel. Nur in der runden Bucht, die in der Mitte des Eilandes lag, bemerkten sie am Ufer frische Eindrücke eines Bootskieles im Sande und fanden auch menschliche Spuren, die über die Halbinsel nach dem fruchtbaren Talkessel im Norden hinliefen.

Das verschüttete Wrack des Dreimasters betraten sie jetzt jedoch nicht, da sie keine Reisigfackeln mithatten, die zu einem Besuche des dunklen Schiffsinnern nötig waren.

Nach diesem ersten Kundschaftergange kehrten sie dann nach der Hütte zurück, badeten im Weiher und besprachen sich, wie sie nun ihr Leben hier „in der Verbannung“, wie Werner Olfers es nannte, einrichten wollten. Dabei kamen sie zu recht verschiedenartigen Vorschlägen. Emil Zulpe meinte, man solle in dem fruchtbaren Tale in seiner alten Hütte bleiben. Auf diese Weise hätte man nicht die Mühe, ein neues Häuschen zu errichten. – Er war sehr erstaunt, als der Freund hiervon nichts wissen wollte.

„Du mußt bedenken“, sagte Werner in seiner langsamen, nachdenklichen Art, „daß wir in diesem Tale jeden Augenblick von den Leuten, die uns auf so heimtückische Art entführt haben, wieder überrascht werden können. Wir sind keine Sekunde vor ihnen sicher, da sie uns hier ja ohne jede Mühe auffinden können. Fraglos haben sie doch ein großes Interesse daran, uns sozusagen unschädlich zu machen. Kannst Du wissen, ob ihnen nun nicht eines Tages unser hiesiges Exil zu unsicher dünkt und ob sie nicht beabsichtigen, uns anderswohin zu bringen?! – Nein, wir müßten meines Erachtens an diesem Orte in steter Sorge und Angst sein. Ich möchte lieber an einer Stelle eine neue Niederlassung gründen, die so versteckt liegen muß, daß wir uns dort in Ruhe zum Schlafe hinlegen können.“

Emil Zulpe mußte zugeben, daß die Bedenken des Freundes gegen das grüne Tal ihre gute Berechtigung hatten.

Nachdem sie dann abermals eine reichliche Mahlzeit eingenommen hatten, machten sie sich auf die Suche nach einem Platze, der ihren Absichten geeignet erschien.

Bei diesem Spaziergange, der sie zunächst um die Halbinsel herum am Strande entlangführte, stießen sie an deren Nordspitze auf eine breite, steinige Stelle des Ufers, die sich weit bis in die Sanddünen hineinerstreckte. Hier war es, wo Werner Olfers stehen blieb und meinte:

„Die Steine nehmen keine Spuren unserer Füße an. Das ist ein großer Vorteil. Wenn wir hier in der Nähe uns ein Unterkommen schaffen könnten, so hätten wir die Quelle dicht bei dem neuen Heim. Und das Trinkwasser brauchen wir doch so sehr nötig.“

Jetzt zeigte sich, daß Werner zwar der geistig regere, Emil aber wieder der praktischer veranlagte von beiden war.

„Ein Heim?! – Hm, ja“, erklärte er eifrig. „Das würde gehen. Siehst Du dort die steile Dünenwand, die ziemlich dicht mit Gras und auch einigen kleinen Kakteenstauden bewachsen ist? Wenn wir in dieser Düne uns so etwas wie eine Höhlenwohnung bauen und dann ringsherum größere Kakteen anpflanzen, die unseren Schlupfwinkel vor jedem forschenden Blick verbergen sollen, so können wir über den steinigen Boden, ohne eine Fährte zu hinterlassen, ganz nach Belieben aus- und eingehen. Natürlich müßten wir die Erdwohnung mit Balken, die wir aus Säulenkakteen herstellen, abstützen und auch mit Wänden, einer Decke und auch einem Fußboden versehen. Aber all das läßt sich unschwer durchführen. In solchen Arbeiten habe ich bereits einige Übung, und zum Glück ist ja das Beil noch vorhanden, das mir beim Bau meiner ersten Hütte geholfen hat.“

Die Freunde gingen dann auch sofort ans Werk, nachdem Emil Zulpe aus ein paar Planken der gescheiterten, ausgebrannten Brigg Spaten angefertigt hatte. Am Abend war die Höhlenwohnung bereits zur Hälfte vollendet, da der Hamburger Junge klugerweise die zunächst notwendigen Balken dadurch gewonnen hatte, daß er sein Häuschen in dem grünen Tale einfach auseinanderriß.

Immerhin vergingen jedoch noch drei Tage, bevor Emil Zulpe hochbefriedigt erklären konnte: „Werner, – die Sache haben wir fein gemacht! Besonders das neugepflanzte Kakteenfeld ist tadellos geraten. Wenn wir jetzt die einzelnen Kakteen in der ersten Zeit ein wenig begießen, werden sie nicht nur den Platzwechsel sehr gut überstehen, sondern auch mächtig wachsen. Wenigstens hast Du mir ja erzählt, daß diese stachligen Gewächse sozusagen schon nach jedem Tropfen Wasser geradezu unheimlich in die Höhe schießen.“

Die neue Behausung bestand aus zwei Räumen, von denen der vordere als Wohn- und Schlafgemach, der dahinter liegende bedeutend kleinere als Vorratskammer dienen sollte. Sehr geschickt hatte Emil Zulpe den Rahmen der niedrigen Tür so weit verbreitert, daß sich darin noch zwei Fensteröffnungen hatten anbringen lassen. Nicht minder kunstvoll war der Schornstein des Herdes, der in dem Vorratsraume seinen Platz gefunden hatte, durch die Sandmassen hindurchgeführt worden.

Mit Einrichtungsgegenständen für das Dünenheim war es zunächst allerdings sehr schlecht bestellt. Die sogenannten Möbel waren mehr als primitiv. Mit der Zeit hofften die Knaben aber auch diesen Mangel auszugleichen. Die Hauptsache blieb ja, daß die Wohnung für einen Uneingeweihten kaum aufzufinden war, da das Kakteenfeld sich mit seinen stachligen Pflanzen undurchdringlich ringsherum ausbreitete und der durch dasselbe hindurchlaufende Pfad so vortrefflich maskiert war, wie dies überhaupt geschehen konnte.

Den beiden Freunden machte dieses abenteuerliche Dasein, das noch nebenbei den Reiz einer gewissen Gefahr besaß, zunächst recht viel Spaß, und Werner Olfers besonders, der bisher in aller Bequemlichkeit in Tampiko dahingelebt hatte, fand stets neue Anregung in dem fortwährenden Zwange, sich den einfachsten Lebensbedingungen anpassen zu müssen. Nur etwas vergällte den Knaben diese unfreiwillige Robinsonade: die geringe Abwechslung in der täglichen Kost. Außer Schildkrötensuppe, gekochten Krebstieren, Fischen und Möweneiern hatten sie nichts, aber auch gar nichts, – keine Früchte, kein Brot und … kein Salz!! Alles mußten sie völlig ungewürzt genießen, wodurch sie sich die einzelnen Gerichte nur noch schneller überaßen.

Nach den ersten fünf Tagen ihres Exils rüsteten sie sich dann zu einem Ausfluge nach dem Haupteilande, um hier dem im Sande begrabenen Dreimaster einen Besuch abzustatten. Werner Olfers war recht neugierig auf das, was er im Innern des alten Schiffes zu sehen bekommen würde, und eifrig half er dem Freunde, aus trockenen Buchenzweigen die nötigen Fackeln zusammenzubinden. Am Morgen des sechsten Tages wurde dann aufgebrochen. Inzwischen hatten die Knaben sich auch mit Waffen versehen, – Speeren, Bogen und Pfeilen. Eisenstücke, die sich zu Spitzen umschmieden ließen, hatte man noch von Emil Zulpes erstem Aufenthalt auf der Insel in der Hütte im grünen Tale vorgefunden.

Lustig bellend sprang der Pudel voraus. Zuerst erkletterten unsere Robinsons den hohen Dünenberg, der sich am äußersten Ende der Halbinsel auftürmte, um Ausschau über das Meer und das im Süden gelegene Haupteiland zu halten. Diese Vorsichtsmaßregel hatten sie bisher an keinem Morgen verabsäumt, um ja rechtzeitig gewahr zu werden, wenn etwa ein Fahrzeug sich der Insel näherte oder bereits in der runden Bucht ankerte. Diese war von dem hohen Beobachtungsposten gut zu überblicken. Wenigstens mußten Masten und Schornstein eines Schiffes sofort ins Auge fallen.

Aber auch heute zeigte sich nichts Verdächtiges. Montag durfte daher auch ganz nach Belieben vorauslaufen, eine Freiheit, von der er nur zu gern Gebrauch machte.

Bald standen die Freunde dann vor dem tunnelähnlichen Eingang zu dem verschütteten Dreimaster, den einst ein furchtbarer Orkan so weit ins Innere der Insel geworfen haben mußte, daß der Flugsand der Dünen ihn im Laufe der Jahre unter sich begraben konnte.

Die Fackeln wurden angezündet, und vorsichtig betraten die Freunde das Innere des Wrackes, dessen verschiedene Räume jedoch auch heute ebensowenig mit Schmugglergut angefüllt waren wie damals, als Emil Zulpe hier zum erstenmal eingedrungen war. Schließlich kamen die Knaben auch in die Kapitänskajüte, in der der kleine Hamburger seiner Zeit den unleserlichen, mit einer Stecknadel an der Wand befestigten Zettel gefunden hatte.

„Schade, daß wir nichts von diesen altertümlichen Möbeln von hier fortschaffen dürfen“, meinte Werner Olfers. „Täten wir es, so würden unsere Feinde sofort wissen, daß ihr Schlupfwinkel entdeckt ist. Es geht also nicht. Überhaupt ist es nötig, daß wir sehr genau acht geben, ja keine Spuren unserer Anwesenheit hier zu hinterlassen, denn …“

Weiter kam er nicht. Plötzlich hatte Emil Zulpe mit hartem Griff seinen Arm gepackt.

„Sieh – sieh – dort an der Wand – genau an derselben Stelle – – ein neuer Zettel!!“ rief er jetzt.

Dann hielt er das aus einem Notizbuch herausgerissene Blatt in der Hand und überflog die wenigen Bleistiftzeilen, die auch hier wieder durcheinander liefen, immerhin aber noch zu entziffern waren.

Auch diese Nachricht rührte von dem jungen Millionär Armin Blenken her. Sie lautete:

„August Schwendling und ich werden hier gefangengehalten. Ich biete 100 000 Mark dem, der uns befreit. Man will von mir eine unerhörte Summe erpressen. Bisher habe ich mich geweigert, die nötigen Schriftstücke zu unterzeichnen. – Armin Blenken.“

Emil Zulpe hatte die Sätze mit halblauter Stimme vorgelesen. – Am wichtigsten war ja ohne Frage das „hier“ in dem ersten Satz. Sollte dieses „hier“ nun heißen „auf der Insel“ oder „in dem verschütteten Dreimaster“? – Hierüber besprachen sich die Freunde nun zunächst. Beide waren der Ansicht, Schwendling und der Millionär hätten sich in dieser Beziehung wohl etwas genauer ausdrücken können. Werner Olfers erklärte dann nach einigem Nachdenken:

„Befinden sich unsere Landsleute wirklich auf dem Eiland, gleichgültig ob in dem versandeten Wrack oder nicht, so bleibt auf jeden Fall ganz unverständlich, daß man für sie keinen Wächter zurückgelassen hat. Sie können doch nicht allein ohne Aufsicht hier hausen? Und wenn es so ist, dann sind sie doch offenbar an einem Orte eingesperrt, der einer festen Gefängniszelle gleichen muß. Eine solche kann sich aber nur hier in dem Dreimaster meines Erachtens befinden, wofür ja auch der Umstand spricht, daß Herr Blenken zweimal Gelegenheit gehabt hat, einen Zettel an der Wand dieser Kajüte festzustecken.“

Emil Zulpe nickte eifrig.

„Suchen wir das Wrack also nochmals ganz sorgfältig ab“, meinte er. Dann beugte er sich zu dem Pudel herab, hielt ihm den Zettel an die Nase und sagte halb schmeichelnd, halb befehlend: „Such’, Montag, – such’, mein Hundchen!“

Montag beschnüffelte das Papier und lief eilfertig in der Kajüte hin und her. Ganz schien er noch nicht begriffen zu haben, was man von ihm verlangte. Aber der kleine Hamburger ließ nicht nach, dem klugen Tiere die Aufgabe immer wieder klarzumachen.

Plötzlich kratzte Montag dann in wilder Aufregung an der eingeklinkten Tür einer Nebenkammer, die völlig leer und in die durch ein zerbrochenes Oberfenster eine ganze Menge Sand von oben eingedrungen war.

Jetzt erst bemerkten die Freunde, daß dieser Sand stellenweise von Männerstiefeln breit auseinander getreten war. Das deutete darauf hin, daß dieses kleine, schmale Nebengelaß, früher wahrscheinlich die Wohnung eines der Schiffsoffiziere, häufiger aufgesucht wurde. – Zu welchem Zwecke aber, da es hier auch nicht ein einziges Möbelstück gab?!

Die Antwort auf diese wichtige Frage erteilte der Pudel. – Die eine Wand dieser Kammer wurde von den Steuerbordplanken des Dreimasters gebildet. Und hier fing Montag nun abermals unter leisem Winseln zu kratzen an, indem er sich immer wieder an den Balken aufrichtete.

„Näher heran mit den Fackeln!“ rief Emil Zulpe jetzt. „Ich wette, es gibt hier eine geheime Tür oder dergleichen.“

„Unmöglich“, meinte Werner. „Diese Tür würde ja dann in die Sandmassen hineinführen, die den Dreimaster als hohe Düne bedecken!“

Doch der kleine Hamburger ließ sich durch diesen Einwand nicht stören. Er hatte sein Taschenmesser zur Hand genommen und untersuchte mit der großen Klinge die Spalten und Risse des völlig ausgetrockneten Holzes. Bald stieß er ein jubelndes „Aha! da haben wir’s!“ aus.

„Schau diese feine Linie, die sich senkrecht nach unten zieht“, sagte er zu Werner. „Und hier in ein Meter Abstand gibt es eine zweite, ebensolche Linie. Die Balken sind an diesen Stellen mit einer sehr schmalen Stichsäge zerschnitten worden, um ein Stück der Bordwand als Tür benutzen zu können.“ – Ganz dicht brachte er nun die Augen an das Holz, prüfte jedes Fleckchen, steckte hier und dort die Messerklinge in eine Ritze und … pfiff dann leise durch die Zähne.

„Dieses dunklere Aststück läßt sich nach hinten drücken, Werner“, flüsterte er heiser vor Eifer. „Da – sieh her, – es gibt nach wie ein Knopf!“

Er nahm nun das untere Ende seines Speerschaftes und preßte es gegen den runden Ast, der sich deutlich von dem übrigen Holze abhob.

Mit einem Male geschah etwas, worauf die Freunde nicht vorbereitet waren. Emil Zulpe hatte so kräftig gedrückt, daß er jetzt, als sich nun tatsächlich eine geheime Tür nach außen öffnete, das Gleichgewicht verlor und … durch die Türöffnung hindurchstürzte, polternd eine Treppe hinabkollerte und so dem Freunde für ein paar Sekunden ganz aus den Augen kam.

Der kleine Hamburger war nicht ohne Beulen bei dieser Rutschpartie weggekommen. Doch was wollte das heißen, wo man jetzt endlich festgestellt hatte, daß der Dreimaster noch mehr Geheimnisse besaß …!!

Die Holztreppe hinter der Geheimtür führte in einen hallenartigen, aus Balken gebauten Raum hinab, der zum Teil mit Kisten, Ballen und Fässern in hohen Stapeln angefüllt war. Den zu diesem geradezu raffiniert angelegten Versteck benutzten Hölzern sah man es an, daß das unterirdische Bauwerk noch nicht lange bestehen konnte. Während unsere beiden Robinsons jetzt neugierig sich hier umblickten, war der Pudel längst wie ein Pfeil hinter einen der Kistenstapel geschossen, wo er nun wie besessen winselte und kratzte.

„Dort geht es weiter zu unseren Landsleuten hin!“ rief Emil Zulpe, indem er eine neue Reisigfackel anzündete. „Vorwärts! Suchen wir, bis wir sie finden! Und wir werden sie finden!“

Hinter dem Kistenstapel fand sich wirklich in der Holz[wand nach kurzer Suche ebenfalls ein dunkleres Aststück][2] und eine zweite, sehr schlau angelegte Tür. Sie mündete in einen schmalen, mit Holz verkleideten Tunnel von etwa zehn Meter Länge. Am Ende dieses Tunnels gab es abermals eine Tür, die sofort auffiel, da sie außen mit starkem Eisenblech benagelt war. Zwei Krampen mit Vorhängeschlössern verwahrten sie von außen.

„So ein Pech!!“ rief Emil Zulpe. „Die Schlüssel fehlen! Da müssen wir …“

„Still!“ unterbrach Werner ihn plötzlich. „Still …!!“

Hinter der Tür vernahmen die Knaben jetzt ziemlich deutlich eine Männerstimme:

„Die Schlüssel liegen oben im Schreibtisch der Kapitänskajüte. – Wer ist da draußen? Etwa Emil Zulpe?“

„Herr Blenken!“ brüllte der kleine Hamburger frohlockend. „Ja, Herr Blenken, ich bin’s! Und gleich sollen Sie frei sein – gleich!“

Er stürmte schon davon, um die Schlüssel zu holen. In der Eile stolperte er jedoch in der kleinen Kammer über den Sandhaufen, schlug der Länge nach hin, so daß die Reisigfackel ihm aus der Hand flog und erlosch.

Brummend rappelte er sich wieder auf. Er befand sich nun in völliger Dunkelheit, mußte sich mühsam zurück nach der Geheimtür und der Treppe tasten.

Da – was war das?! – Waren’s wirklich Stimmen, die aus der Kapitänskajüte hervordrangen?!

Er fuhr herum. Die Tür nach dorthin war nur angelehnt. Und die Spalten zeichneten sich als helle Streifen ab. Also befand sich jemand in der Kajüte nebenan mit einer Laterne …!! Jedenfalls brannte dort Licht! – Und – – abermals Stimmen, rauhe Männerstimmen …!!

Emil Zulpe schüttelte die Erstarrung von sich ab. Einen Augenblick war er wie gelähmt vor Schreck gewesen. Nun hastete er die Treppe abwärts, stand gleich darauf vor Werner Olfers.

„Die Schmuggler!!“ rief er atemlos. „Wir müssen uns verbergen! Hinein in den großen Vorratsraum! Wir verkriechen uns hinter den Stapeln.“

„Herr Blenken – Herr Blenken!“ fügte er hinzu, mit dem Munde ganz dicht an der eisenbeschlagenen Tür. „Die Feinde sind da! Wir werden versuchen, uns zu verstecken!“

In wilder Hast stürzten die Knaben davon. Der kleine Hamburger hatte den Pudel am Lederhalsband gefaßt. Viel Aussicht war nicht vorhanden, daß sie unbemerkt blieben. Aber es mußte doch jedenfalls versucht werden.

Werner leuchtete mit seiner Fackel, und eilig krochen sie dann, den Hund mit sich zerrend, zwischen einen Haufen von Fässern. Dann löschte Werner die Fackel aus, während Emil Zulpe den Pudel in die Arme nahm und ihm das Maul zuhielt.

Dicht beieinander hockten sie nun zwischen den Fässern in der undurchdringlichen Finsternis. Ihre Herzen klopften, und ihr Atem ging stoßweise. Wie würde es ihnen ergehen?! Würden die Schmuggler sie entdecken?! Und – was würden diese dann mit ihnen anfangen?

Ein paar Minuten verstrichen. Alles blieb still. Da flüsterte Werner Olfers dem Freunde zu:

„Wir können ihnen nicht entschlüpfen! Der Rauch der Fackeln wird uns verraten – ganz sicher!“

Wieder die lautlose, atembeklemmende Stille ringsum. Mit einem Male schwere Schritte auf der Treppe und eine gröhlende Stimme dazu:

„Verd…, Diaz, – der Whisky war gut! Er ist mir gehörig in die Beine gegangen!“

Der Mann sprach englisch, vermischt mit ein paar spanischen Brocken. – Werner verstand jedes Wort.

Nun wurde es in der Vorratshalle urplötzlich hell. Rötlicher Lichtschein tanzte an den Wänden entlang.

Der mit Diaz Angeredete erwiderte jetzt:

„Sennor Almada, ich sehe alles doppelt! Mit den Beinen geht’s! Aber bei mir haben die Augen von dem Whisky gelitten …!“ Er lachte schallend, als habe er eben den besten Witz gemacht.

Werner Olfers merkte, daß es nur zwei Leute waren, die noch dazu ordentlich einen über den Durst getrunken hatten. Daher wagte er es auch, vorsichtig zwischen den Fässern hervorzulugen.

Ein Neger und ein Mexikaner! Und der Neger, ein wahrer Riese, trug in der Rechten eine stark qualmende Petroleumlaterne, deren Scheiben dunkel berußt waren. – Noch etwas stellte Werner fest: der Neger hier war ohne Zweifel derselbe, dem man schon im Garten der einsamen kleinen Farm am Ufer der Tampiko-Bucht begegnet war …!!

Die beiden Männer schritten jetzt hinter den Kistenstapel und verschwanden in dem Gange, der auf die Zelle der Gefangenen zulief.

„Ich habe nun doch Hoffnung, daß die beiden uns nicht bemerken“, raunte Werner dem Gefährten zu. „Sie sind schwer trunken. Und da wird ihnen der Qualm der Fackeln nicht auffallen, zumal ihre Laterne einen üblen Petroleumgeruch verbreitetet.“

„Was mögen sie nur bei unseren Landsleuten wollen?“ meinte Emil Zulpe.

„Der Mexikaner trug so etwas wie einen Korb. Ich denke, sie werden den Gefangenen Nahrungsmittel bringen.“

Dann kehrten nach vielleicht fünf Minuten die beiden Männer zurück.

„Sennor Almada“, grunzte der Neger, als sie die Vorratshalle durchschritten, „die Jungen auf der Halbinsel besuchen wir erst nachmittags. Ich muß mich ausschlafen. Unser Frühstück ist zu reichlich ausgefallen.“

Sie stolperten fluchend und lachend die Treppe empor. Und eine Viertelstunde später hatte Emil Zulpe dann festgestellt, daß sie sich nicht mehr in dem Wrack befanden.

Nun wurden die Schlüssel aus der Kajüte geholt. Aber Werner Olfers riet zur Vorsicht.

„Ich werde draußen am Eingang zu dem Dreimaster Wache halten“, meinte er. „Vielleicht kehren die Schmuggler zurück.“

Gleich darauf öffnete Emil Zulpe die Tür der Zelle, prallte aber auch sofort entsetzt zurück. Aus dem dunklen Raume schlug ihm eine geradezu pestilenzialische Luft entgegen, ein Gemisch von schlechten Gerüchen, das einem völlig den Atem benahm.

Das, was er sah, entlockte ihm einen Ausruf des Schreckens. – Es war ein niedriges, viereckiges, mit Steinen ausgemauertes Gelaß. Trockenes Gras bedeckte den Boden. Und auf dieser Streu lagen drei abgezehrte, bleiche Männer, deren Füße mit Ketten an der Wand befestigt waren. Sonst befand sich in dem Raum keine Spur von Einrichtungsgegenständen. Nur in einer Ecke stand ein hölzernes Faß, dessen Bestimmung schon der hier herrschende furchtbare Geruch genügend verriet. Außerdem bemerkte der Knabe am Boden in der Mitte noch einen großen Korb und eine blecherne Wasserkanne. In dem Korbe lagen ein paar runde Brote und Streifen von Dörrfleisch.

Als das Licht der Fackel auf die drei Männer fiel, als der Millionär Armin Blenken seinen Kajütjungen erkannte, erhob er sich schnell von seinem Lager und kam schwankend auf die Tür zu.

„Emil Zulpe, – mein Retter!! Bist Du’s wirklich?!“ sagte er lallend wie ein Trunkener.

Dem Knaben traten vor Mitleid die Tränen in die Augen. – Was war nur in diesem scheußlichen Loche aus dem reichen, verwöhnten Armin Blenken geworden …!! – Ein stoppliger Bart bedeckte dessen Wangen, das Gesicht war mager und blaß wie das eines Schwerkranken und die Stimme heiser und rauh und ohne jeden Klang.

Blenken hatte des Jungen Hand ergriffen und preßte sie immer wieder.

„Du kommst gerade zur rechten Zeit … Da, sieh, unser alter Bootsmann ist schon so schwach, daß er sich nicht mehr aufrichten kann, und dem Sennor Romeiro geht es nicht besser. – Schließe uns los! Der Schlüssel zu unseren Fußfesseln befindet sich an demselben Ringe wie die zu unserer Zellentür. Nur heraus aus diesem verpesteten Raume, nur an die frische Luft …!!“

Draußen vor dem Eingange zu dem verschütteten Wracke lebten die Gefangenen bald wieder auf. Das Sonnenlicht und die erquickende Seeluft, die über das Eiland hinstrich, taten Wunder. Am schlechtesten ging es dem Mexikaner Romeiro, einem stattlichen Manne in den besten Jahren. Er war, als man ihn kaum ins Freie geleitet hatte, in Ohnmacht gefallen.

Armin Blenken ließ sich jetzt kurz die Erlebnisse Emil Zulpes erzählen. Als dieser immer wieder von Schmugglern sprach, denen man all diese Leiden und Widerwärtigkeiten zu verdanken hatte, schüttelte der junge Millionär jedoch energisch den Kopf.

„Ihr irrt Euch, meine kleinen Freunde“, sagte er dann. „Nicht mit Schmugglern haben wir es zu tun, – nein, mit Revolutionären, die den Präsidenten von Mexiko stürzen und ihren Anführer an dessen Stelle setzen wollen. Rebellen sind’s, die seit zwei Jahren in aller Heimlichkeit einen Aufstand vorbereiten, die mit Hilfe englischen Geldes – denn den Herren Briten ist der jetzige Präsident nicht genehm! – hier ein Waffenlager angelegt haben, die eine Anzahl Dampfer besitzen und überall in Mexiko Verbündete.“

„Ich hab’s mir gedacht“, meinte Werner Olfers nun. „Mir ist bekannt, daß die mexikanische Regierung seit Monaten hinter den Führern der Rebellen her ist.“

„Unten in dem Vorratsraume muß es in den Kisten fraglos Schußwaffen und auch Munition geben“, meinte er. „Erst müssen die Leute unschädlich gemacht werden, die hier jede Woche bisher aufgetaucht sind und uns Lebensmittel gebracht haben. – Los denn – bewaffnen wir uns! Ich brenne darauf, diese Schurken in meine Gewalt zu bekommen …!“

Blenkens Vermutung traf zu. In Hülle und Fülle waren moderne Gewehre, Revolver und auch reichlich Munition vorhanden.

Nach kurzer Beratung wurden dann die Knaben als die mit der Örtlichkeit am besten Vertrauten als Kundschafter vorgeschickt.

Die Jungen erledigten ihren Auftrag denn auch sehr geschickt und stellten fest, daß in der runden Bucht ein kleineres Segelfahrzeug dicht am Westufer vor Anker lag. Als sie sich noch näher, auf allen Vieren in einer Mulde entlangkriechend, herangewagt hatten, erkannten sie zu ihrer freudigen Überraschung, daß das gedeckte Segelboot … die „Möwe“ war, – dieselbe jetzt dunkelgrün gestrichene „Möwe“, die in der Tampiko-Bucht von ihnen schon früher entdeckt worden war.

August Schwendling, der alte, langjährige Bootsmann der „Möwe“, war mit der Jolle, ohne daß einer der Schlafenden erwachte, nach der Jacht hinübergerudert und hatte von dort mehrere Stricke geholt, mit denen die völlig ahnungslosen Schurken sicher gefesselt wurden. Diese hatten gegenüber den drohend auf sie gerichteten Gewehrmündungen nicht den geringsten Widerstand gewagt, waren auch noch so stark unter dem Einfluß des überreichlich genossenen Alkohols, daß sie sich auch kaum hätten zur Wehr setzen können.

Inzwischen war die Mittagstunde herangekommen. Da in der Jacht reichlich Proviant aller Art vorhanden war, nahmen die fünf Gefährten zunächst eine gute Mahlzeit ein. Dann wurden die Rebellen in einen Verschlag des Vorschiffes der „Möwe“ eng gefesselt eingesperrt und die Jacht seeklar gemacht. Hierzu genügten der alte Bootsmann und Emil Zulpe. Die anderen drei wollten indessen das geheime Waffenlager der Revolutionäre sich näher ansehen. Besonders Sennor Romeiro lag daran festzustellen, was in dem unterirdischen Versteck alles vorhanden war.

Es wurden nun sämtliche Kisten geöffnet. Die Fässer und Ballen trugen Aufschriften, nach denen ihr Inhalt aus Patronen, Sprengstoffen und auseinandergenommenen Maschinengewehren bestand.

In den Kisten fand man außer Gewehren und Revolvern, die aus englischen Waffenfabriken stammten, noch ein Dutzend kleinkalibrige Schnellfeuergeschütze, die so zierlich wie die Spielzeuge gearbeitet waren und sehr praktische Lafetten besaßen, sowohl zum Anbringen auf Rädern als auch zum Aufstellen auf Schiffen oder in Befestigungen.

Sennor Romeiro, der das ganze Lager für die mexikanische Regierung als beschlagnahmt erklärte, ruhte nun nicht eher, bis Armin Blenken eins der kleinen Geschütze zum Geschenk annahm. – „Sie sollen ein Andenken an dieses ernste Erlebnis behalten“, erklärte er. „Als Salutgeschütz wird die blanke Kanone sich auf Deck Ihrer Jacht recht hübsch machen.“

So wurde denn das Schnellfeuergeschütz zusammen mit einer Kiste Munition, die fünfzig Granatenpatronen enthielt, an Bord geschafft. Um drei Uhr nachmittags verließ dann die „Möwe“ die kleine Bucht und nahm bei frischem Winde Kurs auf Tampiko.

Jetzt erst fand der junge Millionär Zeit, den beiden Knaben auch seine und August Schwendlings Erlebnisse zu erzählen.

„Als wir Dich, mein wackerer Junge, damals an Bord der steuerlos treibenden Brigg geschickt hatten“, wandte er sich an Emil Zulpe, „und als wir die „Möwe“, die wir an dem vom Heck herabhängenden Tau festgemacht hatten, für einige Minuten ohne Aufsicht ließen, indem wir in die schattige Kajüte hinabstiegen, erlebten wir bald eine recht unangenehme Überraschung. Plötzlich tauchten nämlich in der Kajüte der Neger Diaz und der Rebell Almada auf, beide mit Revolvern in den Händen. Sie waren von Deck der Brigg, ohne daß Du sie wahrnahmst, an dem Tau hinabgeklettert. Sie zwangen uns dann, mit der Jacht schnell davonzusegeln. Während sie sich in dem Niedergang zu der Kajüte verborgen und ihre Revolver auf uns gerichtet hielten, mußten wir Dich im Stiche lassen und durften nicht einmal Deine gellenden Rufe beachten. – Als wir uns dann nach eintägiger Fahrt Tampiko gegen Abend näherten, setzte sich der Neger ans Steuer und brachte die Jacht bei völliger Dunkelheit unbemerkt in jene Bucht, wo Ihr beide sie dann vor Anker liegen sahet. Mehrere Männer mit Masken vor den Gesichtern erschienen nun an Bord. Wir wurden eingehend verhört und dann mit verbundenen Augen und gefesselt fortgeschafft. Ich nehme an, daß wir die ersten drei Tage unserer Gefangenschaft in einem Keller jener einsamen Farm am Buchtufer eingesperrt gewesen sind. Schon dort versuchten die Rebellen, mir eine volle Million als Preis für meine und Schwendlings Freilassung zu erpressen. Ich sollte mein Berliner Bankhaus schriftlich anweisen, dem Überbringer des Schreibens diese Riesensumme auszuzahlen. Die Rebellen hatten sich die Sache sehr gut überlegt und an alles gedacht, so daß das Geschäft ohne Gefahr für sie sich hätte erledigen lassen. Ich aber weigerte mich standhaft, drohte mit Vergeltungsmaßregeln der deutschen Regierung, wurde aber nur ausgelacht. Schließlich verloren die Revolutionäre die Geduld. Sie wollten mich auf andere Weise jetzt mürbe machen. Ein Dampfer brachte Schwendling und mich nach der Insel in die schreckliche Zelle, wo wir bereits den Sennor Romeiro als Gefangenen vorfanden, den die Rebellen als ihren erbittertsten Verfolger bei guter Gelegenheit aus Mexiko hatten verschwinden lassen. Einige Male wurde ich nun in die Kajüte des verschütteten Dreimasters hinaufgeführt, wo man mir wiederum nahelegte, die Million für meine Freiheit zu opfern. Es gelang mir, zweimal Zettel, die ich in unserem dunklen Kerker geschrieben hatte, heimlich mit Stecknadeln an die Wand der Kajüte zu befestigen. Viel versprach ich mir hiervon nicht. Und doch sind wir nur auf diese Weise gerettet worden.“

Der junge Millionär schwieg und drückte nacheinander den beiden Knaben dankbar die Hand. – Aber Emil Zulpe war noch lange nicht zufriedengestellt. Er wollte wissen, was es mit der von der Mannschaft verlassenen Brigg „Donna Inez“ und besonders mit dem wahnsinnigen Landsmanne Perlwitz auf sich gehabt habe. – Hier mischte sich nun der Polizeihauptmann ein.

„Über diese Dinge vermag ich Aufschluß zu geben. Es sind zwar nur Vermutungen, die ich hier vorbringe, aber sie treffen sicher zu. Ich kenne ja die in Betracht kommenden Verhältnisse zur Genüge. – Die Brigg „Donna Inez“ ist Eigentum des Kaufmannes Perlwitz. Dieser hatte für die mexikanische Regierung eine Waffenlieferung übernommen, zumeist moderne Geschütze, die bei der Firma Krupp-Essen in Auftrag gegeben waren. Die Brigg hat sicher die Geschütze aus Deutschland abgeholt und wird dann auf der Heimreise von einem Rebellendampfer im Golfe von Mexiko überfallen worden sein, wobei die Besatzung des Seglers, um jeden Verrat unmöglich zu machen, kaltblütig umgebracht worden sein dürfte. Nur Perlwitz ließ man am Leben. Er ist reich, und wahrscheinlich hoffte man, aus ihm noch erhebliche Geldsummen herauszupressen. Der Rebellendampfer fuhr dann mit den auf ihm verladenen Geschützen davon, während auf der Brigg nur Diaz und Almada zurückblieben. Diese hatten sicher den Auftrag, die „Donna Inez“ nach der nahen, einsamen Insel zu steuern, um dort Perlwitz vorläufig in demselben Kerker zu verbergen, den auch wir zur Genüge kennengelernt haben. Ich nehme an, daß der Rebellendampfer die Brigg bis dicht an die Insel geschleppt hat, dann aber, vielleicht infolge des Auftauchens eines unserer Kreuzer, schleunigst davonfuhr. Und weiter vermute ich, daß Diaz und Almada als unverbesserliche Trunkenbolde sich weniger um ihren Auftrag als vielmehr um den Whisky gekümmert haben, so daß die „Donna Inez“ wieder von der Insel forttrieb und wohl tagelang im Golfe von Mexiko ohne rechte Führung kreuzte, bis dann Ihre Jacht, Sennor Blenken, auftauchte und den beiden Schurken Gelegenheit bot, die Brigg, die sie allein nicht regieren konnten, zu verlassen. Inzwischen hatte der Verstand des eingesperrt gehaltenen Perlwitz[3] infolge von Hunger und Durst schwer gelitten. Trotzdem hat er sich von dem brennenden, gescheiterten Schiffe gerettet und ist nach Mexiko gelangt. Sicherlich hat ihn ein anderes vorbeifahrendes Fahrzeug aufgenommen. Perlwitz dürfte sich dann sehr schnell wieder erholt, aber die Erinnerung an jene Schreckenstage verloren haben. Nur so ist es ja zu erklären, daß man in Tampiko nichts von dem Überfall auf die „Donna Inez“ gewußt hat. Die Rebellen haben Perlwitz nun fraglos scharf bewacht und auch alle Briefe, die er erhielt, abgefangen. Als Du, kleiner Deutscher, daher an ihn geschrieben hattest, fiel auch dieser Brief den Revolutionären in die Hände. Sie hielten Dich und Werner Olfers hiernach für zu gefährlich, um Euch in Freiheit zu lassen. Ihr solltet verschwinden. Und wie dies geschehen, wißt Ihr am besten.“ – –

Bald nach der Ankunft in Tampiko stellte es sich heraus, daß der Polizeihauptmann Punkt für Punkt richtig vermutet hatte. Die mexikanische Regierung war jetzt in der Lage, die Häupter der Rebellen unschädlich zu machen. Es erging ein strenges Strafgericht, und auch Diaz und Almada gehörten zu denen, die standrechtlich erschossen wurden. – –

Sechs Wochen später trafen Blenken, Schwendling und Emil Zulpe auf einem Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie glücklich in der Alsterstadt wieder ein. Der junge Millionär sorgte dann dafür, daß Frau Zulpe ihrem Einzigen verzieh und erlaubte, daß er eine Seemannsschule besuchte.

Die Millionenwette hatte Armin Blenken verloren. Nur um zwei Stunden war er zu spät mit der „Möwe“ und dazu noch als Gefangener in Tampiko eingelaufen. Und doch reute ihn die Riesensumme nicht. Der Aufenthalt in der Kerkerzelle des versandeten Wracks hatte ihn völlig verwandelt. Er, der Müßiggänger und gedankenlos in den Tag hineinlebende Nichtstuer war ein anderer geworden. Mit seinem Gelde beteiligte er sich an einem großen industriellen Unternehmen und wurde ein arbeitsfreudiger, von allen geachteter Fabrikherr, der auch in dem Geringsten seiner Angestellten den gleichberechtigten Menschen sah.

Als Emil Zulpe dann sein Examen „für große Fahrt“ (Kapitänsprüfung) bestanden hatte, kaufte er ihm einen neuen Dampfer, mit dem der „kleine Hamburger“ auf eigene Rechnung und mit viel Glück nach überseeischen Ländern Frachtschiffahrt betrieb, unterstützt und beraten von dem alten August Schwendling, dem die Jahre nichts anhaben zu können schienen.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Deutscher Naturforscher, siehe auch Wikipedia: Alexander von Humboldt.
  2. Hier fehlt in der Vorlage eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  3. In der Vorlage steht: „Perlitz“.