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Der Fakir ohne Arme

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 148:

 

Der Fakir ohne Arme.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Taubenpost.

Wir wohnten damals im Hotel d’Angleterre in Bombay. Inkognito. Wir wollten uns ausruhen und Bombay dann in aller Stille verlassen. Wir hatten uns als holländische Kaufleute ausgegeben, und unsere Masken waren ebenso bieder und unauffällig wie unsere Namen van Hoonler[1] und Schreetjen …

Niemand beobachtete uns. Wir schlenderten am zweiten Tage gegen sechs Uhr nachmittags am Hafen entlang und wurden so Zeugen, wie eine große überaus elegante Privatjacht am Kai festmachte. Die Jacht hieß Hudson, und am Heck wehte stolz das Sternenbanner.

Harald sagte lebhaft:

„Ah – Hudson! Sie gehört dem[2] größten Kriegsgewinnler der Vereinigten Staaten, Thomas Orlington, jetzt Milliardär, im Jahre[3] 1914 noch Besitzer eines kleinen Kramladens auf Manhattan … Muß ein Genie sein dieser Orlington … Man sagt, daß er verschiedene europäische Staaten bankerott machen kann, wenn er will … Über die Größe seines Vermögens gehen die tollsten Gerüchte um … An der Neuyorker Börse schätzt man ihn auf zehn Milliarden Dollar … Rechne Dir mal aus, mein Alter, was das in Reichsmark bedeutet …! Wenn ich so reich wäre, würde ich meinen Beruf endgültig an den Nagel hängen …“

„Na – na …!“ Und ich lachte … „Du und an den Nagel hängen, Du und faulenzen …! Dazu hast Du unseren Beruf doch viel zu lieb …!“

Er nahm eine frische Mirakulum aus dem Etui und zündete sie am Stummel der alten an …

Diesen Stummel zerrieb er dann auf einem der Zementpfähle des Kais …

„Vorsicht ist stets bekannt …“ warf er so im Plaudertone hin … „Meine Mirakulum sind zu bekannt … Und drüben die beiden Leute wandeln auf faulen Pfaden … glotzen uns mißtrauisch an, obwohl ihr Hauptinteresse der Jacht sich zuwendet … Bitte, schau nicht hin, mein Alter … Die beiden Kerle sehen wie Matrosen aus und halten sich hinter einem Stapel Kisten halb verborgen … – Wir wollen weitergehen … Ich habe absolut keine Lust, hier etwas zu beobachten, das mich reizen könnte, unsere Ferien abzukürzen und …“

Und – schwieg …

Flüsterte hastig: „Hallo – das heißt Pech haben …! Nun sah ich doch soeben etwas höchst Merkwürdiges … – Gehen wir … trotzdem – – oder gerade deshalb …!“

Und er schob seinen Arm in den meinen …

Bedächtig, wiegenden Ganges, so recht wie bequeme holländische Großkaufleute, schlenderten wir davon …

Ich aber wußte genau, daß die Ferien nun in der Tat vorüber. Ich kannte meinen Harald … Wenn der „etwas höchst Merkwürdiges“ beobachtet hatte, so hieß das mit aller Bestimmtheit, daß er diesem „höchst Merkwürdigen“ auf den Grund gehen würde …

Wir bogen in die breite Edward-Street ein …

Ich fragte: „Und – was sahst Du, Harald?“

„Daß eine blonde Dame aus einem der runden Heckfenster der Jacht den beiden Matrosen Zeichen gab und … – nun rate mal weiter …“

„Hm – und einen Zettel auf den Kai warf – ein Papierkügelchen – dergleichen …“

„Nicht schlecht, nicht schlecht … – Du bemerktest doch die vielen Möwen, die die ankernden Schiffe und auch die Hudson umschwärmten …“

„Ja … Und …?!“

„Nun, weil so zahlreiche Möwen in der Luft schwebten, konnte niemand auf die graue Brieftaube aufmerksam werden …“

„Also – die blonde Frau ließ eine Brieftaube aus dem Fenster emporfliegen?“

„Ja … Sie tat es aber erst, nachdem einer der Matrosen ihr zugewinkt hatte … – So, hier wollen wir in diese Seitenstraße einschwenken, die wieder zum Hafen hinabläuft und die uns den beiden Matrosen näherbringen wird – von hinten …“

Er seufzte … „Mein Alter – ade Ferien!! Eine Milliardärsjacht, zwei schäbige Matrosen, ein blondes, hübsches Weib und eine Brieftaube: sollen wir uns das entgehen lassen?!“

Und ich – lachend: „Allerdings nicht …! Milliardäre sind lohnende Objekte, sowohl für uns wie für unsere verehrten Freunde, die Herren Gauner aller Arten …“

Da öffnete sich die Straße bereits auf den Kai …

Das wundervolle Bild eines der schönsten und sichersten Häfen der Welt lag vor uns …

Links am Kai die schneeweiße Jacht mit dem Sternenbanner am Heck … Und dreißig Schritt halbrechts der Stapel Kisten … Die beiden Matrosen – noch immer auf ihrem Posten …

„Glück muß der Mensch haben …!“ meinte Harald. „Drüben die kleine Kneipe mit dem Zelt vor der Tür bietet uns einen bequemen Beobachtungsstand …“

Und wir gingen, fanden ein Tischchen hinter grüner Schutzwand, bestellten bei dem katzbuckelten Chinesen Eisgetränke und lugten durch das Grün hinaus in das noch immer grelle Sonnenlicht …

Um uns her saßen Seeleute, Kapitäne, Schiffsoffiziere … Es war eine bessere Kneipe. An zwei Tischen wurde sogar Sekt getrunken …

Man benahm sich hier allgemein sehr zwanglos … Für völlig nüchterne Gäste, wie wir es waren, ging es reichlich lärmend her …

Neben uns lümmelten sich vier stiernackige, rotnasige Kapitäne über den Tisch und sprachen über die Jacht … Engländer waren’s …

Einer brüllte:

„Kommt aus Kolombo, die Schieber-Jacht …!! Sah sie dort im Hafen ankern … Macht seine Hochzeitsreise, der Orlington …! Kenne den Kerl von früher her … Habe so manchmal bei ihm Kleinigkeiten gekauft, als er noch die Hafenstore in Neuyork hatte …“

Unsere beiden Matrosen kamen jetzt gleichfalls auf die Kneipe zu. Ich konnte mir die Gesichter in Ruhe anschauen.

Der eine war lang, hager, bartlos, sonngebräunt – eine Visage wie ein Cowboy, – verwegen, frech, blitzende Augen unter dicken Brauen …

Der andere einen Kopf kleiner, schmal in den Schultern, gleichfalls sehnig, um das Gesicht einen blonden kurzen Bart … Und auch dieses Gesicht verdiente Beachtung … Es war nicht weniger intelligent, nicht weniger kühn als das des Langen …

Beide aber schäbig gekleidet, schmierige blaue Leinenanzüge, schmierige Wäsche und zerknüllte weiche Strohhüte …

Und doch: mein für Kleinigkeiten geschärfter Blick entdeckte bei den Leuten mancherlei, was zu dem Gesamtbilde nicht recht stimmte …

Erstens: ihr Gang!

Das war niemals der Gang von seefesten Jan Maaten …!

Und dann die Haltung …! Etwas Stolzes, Selbstbewußtes kam in der Art zum Ausdruck, wie die beiden die Köpfe trugen … Nichts Faules, Nachlässiges war in ihren Bewegungen … Sie hielten sich straff, fast militärisch … –

Nachdem sie dann einen Blick auf die besetzten Tische geworfen hatten, schwenkten sie ab und schritten davon … Die Gäste hier waren zu fein für sie …

Wir hatten unsere Getränke sofort bezahlt und erhoben uns nun …

Hörten aber noch, wie derselbe Kapitän mit seiner Orkanstimme seinen Freunden zurief:

„Verdammt – die beiden Boys, die da soeben vorübergingen, sind ein paar seltsame Vögel … Kamen in Kolombo zu mir an Bord … Bezahlten die Passage bis hier … Wurde nicht recht schlau aus den Brüdern …“

Mehr hörten wir nicht …

Aber – auch das genügte ja …

Wir nun hinter den beiden her … Mit aller Vorsicht … Immer in Deckung bleibend …

Und die Boys waren mißtrauisch wie zwei steckbrieflich Verfolgte … Schließlich nahmen wir einen Wagen, und Harald sagte dem braunen Kutscher Bescheid, der denn auch infolge eines im voraus gezahlten Trinkgeldes überaus gewandt seine Aufgabe erledigte …

Freilich – wir mußten Geduld haben …

Bis weit über die Eingeborenenstadt hinaus wanderten die beiden, bis zum Eingang des jetzt völlig verwilderten Parkes des ehemaligen Djeibar-Schlosses, einer höchst malerischen Ruine inmitten von dornenumwehrten Felsmassen.

Wir fuhren im dichten Strome anderer Fuhrwerke aller Art über den Park hinaus, entlohnten dann den braunen Kutscher und wanderten auf einem schmalen Fußweg dem Parke wieder zu, gelangten an die Westseite der verfallenen Mauer und drangen hier trotz der auch an dieser Stelle eindringlich die Touristen warnenden Tafel

!! Vorsicht !!
!! Giftschlangen !!

in diese grüne pfadlose Wildnis ein …

Nur Indien zeigt dem Fremden in der Nähe der Großstädte ein solches Doppelgesicht …

Nur in Indien findet man vier Kilometer von modernen Bahnhöfen, von tadellosen Straßenbahnen und abends in Lichtfluten erstrahlenden Riesenhotels entfernt derartige dem Verfall preisgegebene, einstmals hervorragende Baudenkmäler und Parkanlagen …

Nur in Indien merkt der Europäer auf Schritt und Tritt, daß dieses ungeheure Land mit seinen zweihundert Millionen Einwohnern noch vor kaum zwei Jahrhunderten eine Epoche unerhörten Glanzes durchlebt hat … –

Wir drangen in die Wildnis ein …

Wir, denen dieses Indien nichts Neues mehr bieten konnte … Denen die Kobra mit der brillengeschmückten aufgeblasenen Haube kaum mehr eine Gefahr bedeutete …

Fanden schließlich eine Art Pfad, der sich durch das Gestrüpp schlängelte … Fanden unter Unkraut vergrabene Marmorspringbrunnen mit köstlichen Marmorfiguren, die selbst in ihrer Verwitterung noch das Auge entzückten …

Fanden eingestürzte Marmorpavillons, zusammengesunkene Wandelhallen, deren Wände noch die Spuren von Goldeinlagen zeigten … Das Gold selbst war längst gestohlen worden, brutal herausgekratzt …

Dann eine Lichtung … Und drüben der Hauptweg – die Allee, die vom Parktor hierher führte …

Und ringsum die feierliche Totenstille abgestorbener Herrlichkeit …

Ringsum nur das ebenso feierliche Rauschen tropischer Riesenbäume … Und das vielstimmige Konzert der gefiederten Bewohner der Wildnis …

Hin und wieder das grelle Aufkreischen der hier in voller Freiheit hausenden graugrünen Affen …

Und – noch etwas …

Etwas – auf das Harald mich aufmerksam machte …

Links von uns ein geradezu ungeheurer, in diesen Breiten sonst sehr seltener Rasamala-Baum …

Über diesem Riesen in der klaren Luft ein Schwarm Tauben …

Tauben …!!

Und – als ich nun, was so nahelag, eine Vermutung hinsichtlich dieser zahmen, kreisenden Vögel aussprechen wollte, zog Harald mich rasch in die Büsche zurück …

Ich sah … sah, daß die beiden schäbigen Matrosen auf einer Leiter aus den untersten Ästen des Rasamala herabstiegen …

Daß sie der Allee zuschritten …

Verschwanden …

„Sie haben sich die Brieftaubenpost abgeholt,“ sagte Harst leise … „Die Taube der blonden Frau ist hierher geflogen, war hier daheim, war vielleicht nach Kolombo gebracht und dort der Blonden übergeben worden …“

So sprach er …

Und kürzer und übersichtlicher konnten wohl kaum unsere einzelnen Beobachtungen zu einem Ganzen zusammengeschmiedet werden …

 

2. Kapitel.

Gräfin Wera …

Drei Stunden später …

Ein ander Bild: die Vorderseite der Medaille von Bombay, wenn man so sagen will …

Hotel Excelsior – auf den Malabar Hills … Kein Hotel – ein Palast … Ein Bauwerk, bei dessen Entwurf der Künstler alles vermieden hatte, was auch nur entfernt an ein Massenlogierhaus erinnern konnte …

In diesem modernen, stilvollen Prachthotel, bei dessen Inneneinrichtung überwiegend deutsche Raumkunst Triumphe gefeiert hat, war der amerikanische Großmogul Mr. Thomas Orlington nebst Gattin und Gefolge abgestiegen, obwohl er vielleicht auf seiner Jacht bequemer gewohnt hätte. Aber es gehörte nun einmal zum guten Ton, das Excelsior zu besuchen … Außerdem will man doch schließlich als Milliardär auch bewundert und beneidet werden …

Zehn Uhr abends also … Im Speisesaal des Excelsior …

Eine erstklassige Jazzkapelle macht Geräusche. Je erstklassiger Jazzkapellen sind, desto weniger Musik im alten überlebten Sinne … Das heißt: diese alte überlebte Musik wird wieder zu Ehren kommen. Die Hälfte der Menschheit ist eben nach dem Weltkrieg ein wenig außer Rand und Band geraten, was den Geschmack betrifft … Bubiköpfe, Knieröckchen, Damen um die Vierzig, die wie Babys von hinten ausschaun, – – Weltkrankheit – wie manches andere … All das renkt sich von selbst wieder ein …

Die Jazzkapelle gab vor, den Donauwellen-Walzer zu spielen …

An der Tafel neben dem Marmorspringbrunnen wiegt sich Mr. Tom Orlington im Korbsessel nach dem verschwommenen Takt grunzender Instrumente …

Neben ihm sitzt seine blonde Gattin … Und weiter sitzen am selben Tisch des Dollarkönigs Gefolge: Privatsekretär, Leibarzt, der Kapitän der Jacht und ein paar Freunde … – Milliardäre haben immer Freunde …

Und drei Tische weiter zwei blondbärtige Herren mit Hornbrillen … Herren, die mit Andacht das Menü herunteressen und die scheinbar für nichts anderes Interesse haben …

Wir …

Wir beide, die wir heute nur des Großmoguls wegen hier den Abend zubringen …

Ringsum eine Gesellschaft, die geradezu nach Gold riecht … Hier wie überall Herr und Frau Raffke und Familie Neureich aller Nationalitäten üppig vertreten …

Armes Hotel Excelsior …!

Da ist ein Oberkellner, der still hin und her geht – mit einem ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck … So, als ob er immerfort innerlich grinse …

Wir kennen ihn … Der Oberkellner hieß einst Fürst Sergius Tschergin und war der drittreichste Mann Europas – – einst …

Und fraglos grinst er innerlich … Denn er kann beurteilen, was vornehmes Getue ist und was wahre Bildung heißt … –

Die beiden Holländer haben längst festgestellt, daß Frau Orlington, seit fünf Wochen glückliche Gattin des Neuyorker Nabobs, dieselbe Dame ist, die aus dem runden Kabinenfenster die Brieftaube aufsteigen ließ … Der Gang hier ins Excelsior hat also gelohnt …

Ich präpariere mir ein Röstschnittchen mit Kaviar und nehme den ersten Bissen, als Harald, der mir soeben einen Vortrag über die verschiedenen Sorten Kaviar hält, plötzlich mitten im Satz stockt und dann … „Donnerwetter!!“ sagt – und dies in einem Tone, als ob er so ziemlich aus allen Wolken falle …

„Was gibt’s?“ – und ich schiele umher …

Da sagt er: „Gegenüber – genau unter dem großen Ventilator …“

Ich beeile mich keineswegs hinzusehen … So allmählich visiere ich …

Und – – falle genau so aus den Wolken …

Donnerwetter – – da sitzen unsere beiden Matrosen …

Die schäbigen Kerle …

Das heißt: jetzt sind’s Gentlemen geworden … Der Lange trägt sogar Monokel …

Ich schüttele den Kopf …

„Harald, soll man so was für möglich halten …!! Die Boys schaun vornehmer aus als das ganze Schiebergesindel hier rundum!“

„Dja – geahnt hab’ ich das …“

„Ich auch …“

„Die Geschichte macht mir Spaß, mein Alter … Das wird eine feine Arbeit, das wird ein „großer Fall“ …!“

„Ist es schon, wenn man bedenkt, daß die beiden Gents bei dem armlosen Fakir, dem Taubenzüchter, waren – in seiner Baumhütte …“

„Stimmt – der Schmierfink von Fakir im Park von Djeibar … Auch ein wandelndes Rätsel … Soll mit seiner Enkelin dort erst seit zwei Wochen hausen, wie der Bettler vor dem Parktor uns zu erzählen wußte … In zwei Wochen haben sich Tauben an einen Schlag und an eine Umgebung völlig gewöhnt …“

„Und – das Ganze?“ fragte ich leise. „Ob etwa des Nabobs junges Weib zweifelhafter Herkunft ist und etwas gegen Orlington plant, gegen seine Milliarden?!“

Er … winkte einem Kellner …

„Die India-World[4] von der vorigen Woche …“ bestellte er …

Und da wußte ich, daß ich in dem illustrierten Heft etwas über Frau Orlington finden würde.

Der Kellner brachte die Zeitschrift. Ich blätterte darin, fand auch …: Photographien, acht Stück – von der Hochzeit des Neuyorker Großmoguls …

In dem Begleitartikel:

„Miß Lydia Alexandra Wera Gräfin Oligow[5], Vater russischer General von den Bolschewisten standrechtlich erschossen, flüchtete aus Sewastopol in der Verkleidung eines Heizers und rettete sich nach Konstantinopel. Hier erfuhr sie, daß auch ihre Mutter und ihre Geschwister hingemordet worden waren. Arm, krank und weltfremd, unendlich verwöhnt und doch beseelt von einer Tatkraft, die durch die unerhörten Gefahren in ihr geweckt worden, schlug sie sich stets in Männerkleidung bis Neuyork durch, wo andere russische Flüchtlinge des früheren Regimes für sie sorgten. Sie trat in eins der großen Unternehmungen Orlingtons als Stenotypistin ein. Orlington sah sie zwei Jahre später, machte sie zu seiner Privatsekretärin und heiratete sie, als er auf andere Weise nicht zum Ziele kam …“

Ich legte das Heft aus der Hand. Unwillkürlich suchte mein Blick den Oberkellner, den Fürsten Sergius Tschergin.

Auch er Russe … Auch er, wie wir durch den Direktor des d’Angleterre unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren hatten, ein Flüchtling aus jenen Zeiten des Schreckens …

Der Oberkellner stand hinten vor einem großen Spiegel, schien seine Krawatte zurechtzuzupfen …

Schien …

Der Spiegel gab auch den Tisch Orlingtons wieder … Und Wera Orlington – ich sah es ganz genau – führte die Hand an die Stirn, ballte diese Hand zur Faust und spreizte dann nur den Mittelfinger ab …

Dieselbe Handbewegung tat der Fürst – genau dieselbe …

Dann wandte er sich um und schlenderte wieder durch die Tischreihen …

Kam zum Tische der beiden Gentlemen, denen nachmittags noch jeder Gutmütige eine Münze geschenkt hätte …

Verbeugte sich …

Ganz Oberkellner …

Sprach ein paar Worte … schritt weiter … –

Harald – ganz leise zu mir:

„Ich denke, mein Alter, wir lassen die Finger von dieser Geschichte weg … Das riecht mir nach Politik … Und Du weißt: mit derlei befasse ich mich nicht …! Das ist stets ein Kampf gegen ein ganzes System …“

„Du meinst, die beiden Gentlemen sind ebenfalls Russen, und Wera Orlington …“

„… könnte Kraft der Milliarden ihres Mannes insgeheim Rachepläne schmieden – das meine ich! Wenn wir also die Sache weiterverfolgen wollen – aus Sport, bleiben wir nur Zuschauer und greifen auf keinen Fall ein.“

Ich schaute mir nochmals Thomas Orlington an … Nun, für einen Kriegsgewinnler sah er überaus manierlich aus. Vierzig Jahre zählte er. Dem mageren faltigen Gesicht sah man die Intelligenz und die brutale Energie an. Sein Benehmen seiner Frau gegenüber war geradezu von ritterlicher Zärtlichkeit. Alles in allem eine sympathische Erscheinung …

Ich schaute hin und beobachtete auch die geborene Gräfin etwas schärfer … Ein schönes, kaltes Gesicht mit dunklen melancholischen Augen … Um den üppigen Mund ein rätselhafter Zug … schwer zu sagen, ob Seelenleid oder verbitterter Haß … Wenn sie mit Orlington sprach, lächelte sie ein wenig – ein ebenso fragwürdiges Lächeln …

Weiß Gott, ich hätte diese Frau nicht zum Weibe haben mögen … Ich hätte mich vor diesem Sphinxlächeln gefürchtet …

Harald raunte nur:

„Medusa – – das Lächeln der Blutgier …! – Mein Alter, ich möchte die Gedanken lesen, die in diesem Frauenhirn sich jagen … Wehe denen, die Wera Oligows Familie hinschlachteten …! Wir … werden die Zuschauer bleiben, Zuschauer, die noch heute das d’Angleterre verlassen und einen kleinen Bungalow mieten werden – in der Nähe des Djeibar-Parkes … – Komm, für heute abend[6] ist’s genug … Wir finden schon noch einen Agenten, der uns einen Bungalow vermittelt …“

So verließen wir den Hotelpalast. Der Direktor im d’Angleterre wies uns an einen Inder, den er telephonisch anrief. Um elf Uhr bereits fuhren wir im Auto und mit unseren Koffern in Begleitung des Maklers Selim Darba nach dem winzigen weißen Landhäuschen, das zwischen den Hügeln westlich vom Djeibar-Park unter alten Bäumen in einem tadellos gepflegten Gärtchen lag. Drei Zimmer und reichlich Nebengelaß – dazu zwei Diener und einen Koch, all das für vierzig Mark pro Woche, – so etwas gibt es nur in Indien … –

Die Diener und der Koch trafen um Mitternacht ein. Der Makler garantierte für ihre Ehrlichkeit. Es waren der Religion nach Hindus, ältere, bescheidene Leute, an den Umgang mit Europäern gewöhnt …

Und die Einrichtung des Bungalow – alles weißlackierte Möbel, alles peinlich sauber, das ganze ein Schmuckkästchen …

Selim Darba verabschiedete sich, nachdem er die Vorauszahlung für eine Woche in Empfang genommen hatte …

Wir begleiteten ihn noch bis zur Gartenpforte … Zu unseren Füßen jenseits des Weges breitete sich im klaren Mondlicht der weite Djeibar-Park aus …

„Sagen Sie mal, Selim,“ begann Harald, als der Makler sich schon zum Gehen wandte … „Wie kommt es, daß der Bungalow so spottbillig vermietet wird, daß er überhaupt leer steht? Da scheint mir irgend etwas nicht so ganz zu stimmen, Selim … Uns gegenüber können Sie ganz offen sein …“

Selim wurde sichtlich verlegen …

„Oh … es … es hat sich hier ein … Unfall zugetragen, Sir …“

Und – rasch eilte er davon – so rasch, daß es mir zu sehr nach Flucht aussah …

Harst pfiff leise durch die Zähne …

„Nehmen wir mal unsere Dienerschaft ins Gebet, mein Alter … Ich bin neugierig … Dieser Unfall wird wohl ein Mord gewesen sein …“

Er irrte sich … Es war kein Mord … Es war etwas ganz anderes …

 

3. Kapitel.

Ein Irrtum in der Person …

Wir kehrten ins Haus zurück. Harald rief den Koch auf die Veranda. Der machte den intelligentesten Eindruck.

Ahmed hieß er. Der Zuname tut nichts zur Sache.

Harst hat seine besondere Art mit Farbigen umzugehen. Hier, wo wir Holländer spielten – und die Niederländer haben noch stets infolge ihrer ganzen Charakter-Veranlagung die Eingeborenen ihrer Kolonien friedlich für sich zu gewinnen gewußt, die Atchinesen ausgenommen – konnte er seine Methoden unbeschadet unseres Aussehens als Europäer abermals anwenden.

„Setz Dich, Ahmed …“ Und er wies auf den dritten Korbsessel …

Ahmed verneigte sich. „Das gebührt mir nicht, Sahib … – Was befiehlst Du?“

„Nichts. Ich bitte Dich nur die Wahrheit zu sprechen … – Was ist in diesem Bungalow unlängst vorgegangen? Selim Darba wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken, weil er fürchtete, wir könnten sofort wieder ausziehen … Wir sind jedoch keine alten Weiber. Also sprich ganz offen …“

Ahmed machte eine hilflose Handbewegung, schüttelte den Kopf …

„Sahib, ich und die beiden Diener, wir sind erst vorgestern hier in Bombay eingetroffen … Wir waren bis dahin in Goa bei einem Portugiesen in Stellung. Wir wissen nichts, wirklich gar nichts … Es ist die Wahrheit …“

Harald nahm die Zigarette aus dem Munde …

„Mein guter Ahmed, Du gestattest: Du lügst! Du hast von Selim Verhaltungsmaßregeln bekommen … – Wenn Du in Goa gewesen bist, so beschreibe mir einmal das Zollhaus am Hafen …“

Der gute Ahmed ließ den Kopf auf die Brust sinken …

Harald aber zog eine Zehnpfundnote aus der Brieftasche …

„Da, Ahmed, das teile mit den beiden Dienern … Zehn Pfund sind für Euch ein kleines Vermögen …“

Der Koch wand sich, als ob er Leibgrimmen hätte …

Dann … griff er nach der Banknote … Stieß hervor:

„Sahib, in diesem Bungalow sind drei Männer verschwunden, drei Europäer und ein junges Mädchen … Vor drei Wochen … Sie haben hier nur fünf Tage gewohnt … Eines Morgens fanden wir – denn Ramsur, Bahla und ich waren gleichfalls diesen Europäern durch Selim zugeteilt worden – dort im Wohnsalon alles mit Blut bespritzt und eine wilde Unordnung … Die Koffer der Europäer waren erbrochen und alles daraus gestohlen, die Europäer selbst verschwunden … – Die Polizei kam und stellte fest, daß das Blut nichts als Ziegenblut war und daß die Leute offenbar nur so getan hatten, als seien sie ermordet und beraubt worden. Die Polizei hat sich nicht weiter um die Angelegenheit bemüht, Sahib …“ –

Ich war im ersten Moment enttäuscht … Andererseits aber auch beruhigt.

Harald schien der Sache jedoch weit mehr Gewicht beizulegen …

„Wie hießen die Leute?“ fragte er, indem er eifrig qualmte und sich halb in blaugraue Wolken hüllte …

„Verzeih, Sahib … Die Namen waren sehr schwer … Ich habe sie vergessen … Es waren Russen …“

Oh – da fuhr ich doch zusammen …

Russen – –!! Und ich dachte an Frau Orlington, den Oberkellner-Fürsten und die beiden Gentlemen mit den kühnen Gesichtern …

Auch Harald beugte sich vor …

„Bestimmt Russen, Ahmed?“

„Ja, Sahib … Musiker … Sie spielten hier im Hotel Esplanade … Es waren Künstler … Die Polizei nimmt an, daß sie wegen zu geringer Bezahlung kontraktbrüchig geworden sind … Sie wollten ihre Abreise bemänteln …“

„So … so … – Hat die Polizei ermittelt, wohin sie gereist sind?“

„Ja … Auf einem Frachtdampfer, der nach Madras bestimmt war, waren heimlich vier Kabinenplätze belegt worden …“

„Und die Russen haben diesen Dampfer auch wirklich benutzt?“

„Man nimmt es an, Sahib …“

„So … so … – nimmt es an …! – Waren die vier miteinander verwandt?“

„Ja … Es war ein Vater mit zwei Söhnen und Tochter … – Oh – jetzt fällt mir auch der Vatername ein: Ursichow, – – Künstlerkapelle Ursichow – so war’s …!“

„Dann – gute Nacht, Ahmed … Der Selim ist ein Narr, daß er uns dies verschweigen wollte …! Ziegenblut – – natürlich sind die vier ausgerückt! Ihre Instrumente waren wohl ebenfalls verschwunden?“

„Es ist so, Sahib …“

Ahmed bücklingte und zog sich zurück.

Ich blickte Harald an …

Um die elektrische Lampe über dem Tische schwärmten große Nachtfalter …

Nachtfalter mit dicken Köpfen … Wenn sie gegen die Glühbirne flogen, gab es einen leise klingenden Ton …

Harst beobachtete diesen Flattertanz ums Licht …

„Alles drängt dem Lichte zu,“ meinte er. „Und wenn Jahrzehnte verflossen: jedes Verbrechen kommt einmal an den Tag. Die Fälle, in denen eine Untat unentdeckt bleibt, sind äußerst selten …“

Ich wußte, daß er auf die vier Russen anspielte …

„Du glaubst also doch, daß sie ermordet worden sind?“ fragte ich mit gedämpfter Stimme …

„Nein!“

Ich war mehr als überrascht …

„Was glaubst Du denn, Harald?!“

„Das werde ich Dir vielleicht zwei Stunden später sagen können …“ nickte er und erhob sich. Und – ganz leise: „Jetzt gehen wir zum Schein schlafen … In Wahrheit – neue Maskerade … Dann der Fakir ohne Arme …!“

Er schaltete das Licht aus …

Und – im selben Moment ein anderer klingender Ton …

So, als ob ein Nachtfalter mit besonders hartem Kopf gegen die Birne der Lampe geflogen war …

Harst – aus dem Dunkel heraus:

„Gerade zur rechten Zeit …! Das galt mir … – Bücke Dich, mein Alter … Krieche im Schutz der Verandabrüstung zur Treppe … Und – passe dort auf … Es war keine Riesenmotte, sondern ein Blasrohrpfeil … Ich hätte ihn ins Gesicht bekommen, wenn ich nicht im Aufstehen gegen die Lampenglocke gestoßen haben würde … Sie pendelte …“

Daß ich unter diesen Umständen zunächst völlig vergaß, meinen Oberkörper in Sicherheit zu bringen, ist wohl verständlich …

Ich war tatsächlich wie gelähmt. Wenn man aus einem Gefühl vollkommener Sicherheit in solcher Weise aufgeschreckt wird, wenn man bisher auch nicht im geringsten geahnt hat, daß jemand irgendwie Attentatspläne schmiedet, wenn man auch nicht im entferntesten ahnt, wer dieser oder diese Attentäter sein könnten, dann braucht man Zeit, sich in den jähen Umschwung der Dinge hineinzufinden …

Haralds Stimme da – ärgerlich, warnend:

„Willst Du Dich morgen vielleicht als tote Leiche wiedersehen!“

Und – da duckte ich mich schleunigst … Haralds billiger Kalauer war verdammt ernst gemeint …

Duckte mich und kroch wie befohlen zur Treppe … Draußen im Garten lugte der tief stehende Mond durch die Bäume und warf nur hier und dort helle Flecke auf den Boden – auf den Kies der Wege und den Rasenplatz … Alles andere lag im Schatten der heißen Tropennacht …

Meine Augen suchten und fanden nichts … Es war ja mit Sicherheit anzunehmen, daß der Blasrohrschütze nach dem einen Schuß das Weite gesucht hatte …

Zehn Minuten vergingen …

Von Harst sah und hörte ich nichts …

Nochmals zehn Minuten …

Ich schaute auf das grüngelb schimmernde Zifferblatt meiner Uhr … Die schwarzen Zeiger standen auf ein halb eins …

Ich wurde besorgt …

Da – kam eine schlanke Gestalt von der Gartenpforte her die kleine Allee entlang …

Harald …!! – Und mitten auf dem Rasenplatz machte er halt … Winkte …

Ich zu ihm …

Er, einen anderthalb Meter langen Stock in der Hand schwenkend:

„Du kannst ihn Dir ansehen, mein Alter … Es ist der … armlose Fakir …“

Meine Überraschung war jetzt vielleicht noch stärker als vorhin …

„Wir gehen am besten um den Bungalow herum, wie ich es vorhin tat,“ fügte er hinzu[7] … „Entschuldige schon, daß ich Dich ein wenig beschwindelte … Ich wollte den Kerl täuschen … Er sollte glauben, ich vermutete den Schützen im Garten … Ich wußte genau, daß der Pfeil aus dem Hause gekommen – durch das offene Fenster … Der Pfeil fuhr an meinem Hinterkopf und an meinem Ohr vorüber – von rückwärts … Durch das Fenster des Schlafzimmers stieg ich ein … Und erwischte den Burschen auch wirklich … Damit, daß einer von uns ihn dort im Hinterzimmer suchen würde, rechnete er nicht …“

Er zog mich mit sich fort …

„Hier ist das Blasrohr … Für alle Fälle habe ich es mitgenommen … Übrigens ein tadelloses Blasrohr …“

Ich kam jetzt etwas zu Atem …

„Du hast den Fakir also gefesselt?“ fragte ich zögernd …

„Ja – und so sicher, daß er unmöglich entschlüpfen kann … Auf einen Stuhl habe ich ihn festgebunden …“

Wir waren an der Rückseite des Bungalows angelangt. Die Hintertür hatte Harald nur eingeklinkt. Im Flur schaltete er jetzt das Licht ein … Die erste Tür links führte in das Hinterzimmer, das als Bibliothek eingerichtet war …

Diese Tür stand weit offen …

Harald stutzte …

Mit drei schnellen Schritten war er im Zimmer …

Licht flammte auf …

In der Mitte ein Rohrstuhl … Um ihn herum auf dem Bastteppich Stücke einer festen Gardinenschnur …

Harst bückt sich, nimmt vom Sitz des Stuhles einen Zettel auf …

Ich stelle mich hinter ihn, lese die mit verstellter Schrift geschriebenen Bleistiftzeilen:

„Entschuldigen Sie, Mr. Harst … Es war ein Irrtum in der Person.“

Nichts weiter als dies …

Und – dies von dem entflohenen Fakir …!! Woher wußte der Mann, daß der blondbärtige Holländer der deutsche Detektiv Harald Harst war?! Woher?!

Auch Harald schüttelt den Kopf …

„Mir unverständlich …!“ meint er … „Vollkommen unverständlich …!“ Und er hebt die Stücke der Gardinenschnur empor …

„Zerschnitten – mit einem Messer … Der Fakir kann nur durch eine zweite Person befreit worden sein … Und diese zweite Person war ein Europäer. Der schrieb den Zettel … Es ist eine Männerhandschrift … – Hattest Du etwa geglaubt, der Fakir sei der Schreiber gewesen, mein Alter?! Dann müßte der Mann Fußkünstler sein …! Ohne Arme – – Fußkünstler … Außerdem der Inhalt des Zettels: das Englisch stammt von keinem Inder! – All das ist auch gleichgültig … Die Hauptsache: Wem galt der Giftpfeil?! Wen glaubte der Blasrohrschütze vor sich zu haben?! Ich denke, wir fragen ihn persönlich danach. Er dürfte kaum ahnen, daß wir seine Baumwohnung im Djeibar-Parke kennen … schon kennen! Daß wir sie ermitteln, daß wir ihn ins Gebet nehmen wollen, weiß er natürlich. Harst und Schraut lassen solche Vorgänge nicht unaufgeklärt. Aber in dieser Nacht wird er sich noch sicher wähnen … Also – gehen wir zum Schein zu Bett. Unser Programm bleibt dasselbe …“

Und er schritt auf die Veranda hinaus …

Ich ahnte, den Blasrohrpfeil wollte er holen. Der lag auch auf dem Tisch in Haralds aufgeklapptem Zigarettenetui …

Ein Pfeil – unten ein Büschel bunter Seidenfäden, oben eine haarscharfe Stahlspitze …

„Merkwürdig!“ meinte Harald. „Siehst Du etwas von Gift?! Ich nicht …“

Und er nahm sein Taschenmesser und kratzte über die Stahlspitze hin – wollte etwas abschaben, was nicht vorhanden: eingetrocknetes Gift!

Schabte nur winzige Stahlteilchen auf das Blatt Papier, das ich darunter hielt …

„Merkwürdig …!! – Dann also – zu Bett …!“

Es war jetzt ein Uhr …

Bis halb zwei blieb es in unserem gemeinsamen Schlafzimmer dunkel. Dann erhoben wir uns, verhängten die beiden Fenster auf das sorgfältigste mit Decken und verwandelten uns in zwei ärmliche indische Kulis.

Harald schrieb noch für alle Fälle einen Zettel, den er auf den Schreibtisch legte:

„Ahmed, wir haben einen Ausflug unternommen und kehren vielleicht erst morgen zurück.“

Sollten wir nun irgendwie verhindert werden, noch in dieser Nacht unseren Bungalow wieder aufzusuchen, so würden Ahmed, der Koch, und die Diener sich nicht weiter beunruhigen.

Gegen zwei Uhr verließen wir den Bungalow durch eins der Fenster, die auf die Terrasse hinausgingen … Kriechend erreichten wir die Büsche, und bereits eine Viertelstunde später standen wir an der eingestürzten Mauer der Rückfront des Djeibar-Parkes …

 

4. Kapitel.

In der Garage.

Standen im Schatten einer Geröllhalde, zwischen stachligen Papor-Sträuchern, deren köstlich duftende Blüten sich nur nachts öffnen, umgeben von einem Dornengehege wie gut gehütete zarte Jungfrauen …

Zehn Schritt vor uns die Wildnis des Parkes … Uralte Baumriesen, die im Nachtwinde knarrend hin und her schwangen … Um uns her Raunen und Wispern von tausend feinen Stimmchen der Gräser und Blätter …

Und ein Chaos von Gerüchen, von all den tropischen Pflanzen, die hier so ungestört gediehen und ihre Farbenpracht selbst nachts offenbarten …

Leuchtkäfer am Rande des Parkes – kleine fliegende Laternchen, zuweilen in ganzen Wolken aus dem dichten Unterholz emporschießend – ein kleines Feuerwerk …

„Achtung …!!“ raunte Harald mir zu … „Näher an das Geröll heran …!“

Und da sah auch ich in einer Lücke der Bäume eine wandernde Lichtbahn – den Leuchtkegel einer Taschenlampe …

Zwei Gestalten dahinter – zwei Männer …

Näher und näher … Bekannte Gestalten – die beiden Matrosen vom Hafenkai …!!

Arglos schritten sie vorüber … Der, der die Taschenlampe trug, hatte in der Rechten einen Knüttel – gegen die Kobras … Der andere aber hielt ein Blasrohr wie ein Gewehr über der Schulter …

Vielleicht wären wir ihnen nicht gefolgt, wenn sie nicht das Blasrohr bei sich gehabt hätten … Das – gab den Ausschlag …

Ein weiter Weg wurde es … Bis zu den Villen der Ostabhänge der Malabar Hills …

Ein doppelt schwieriger Weg, da wir uns hüten mußten, den beiden allzu nahe zu rücken …

Dann eine Terrasse mit Parkanlagen … Ein Gitterzaun … Ein Landhaus in ganz anderem Stil als die sonstigen Bauten ringsum – mehr blockhausähnlich, dunkel lackiert die runden Stämme der Wände …

Woran erinnerte mich nur dieses große Blockhaus, das doch trotz allem den Villencharakter gewahrt hatte?!

Ich fand keine Zeit zu längerem Nachdenken …

Die beiden unechten Matrosen waren bereits über den Zaun hinweg …

Aber – sie hielten sich mehr rechts, wo die Stallgebäude lagen … Plötzlich schlug ein Hund an … Es mußte ein sehr großes Tier sein … – Dann wurde es wieder still …

Die beiden waren verschwunden …

Harald half mir … Ich überkletterte den Zaun … Er folgte … Wir dann dicht am Zaune entlang – bis zu einer Stelle, wo wir den zementierten Vorplatz einer Doppelgarage überblicken konnten …

Und – sahen noch gerade die beiden Gentlemen mit den kühnen Gesichtern aus der einen Garagentür schlüpfen, sahen sie die andere vorsichtig öffnen … Sie traten ein, blieben etwa vier Minuten und erschienen wieder, drückten die Tür zu und schlüpften nach dem Zaune hin … Keine sechs Meter neben uns stiegen sie über das Gitter und eilten davon – denselben Weg offenbar zurück …

Harald, der neben mir hinter einem großen Müllkasten kniete, flüsterte:

„Merkwürdig!! Weshalb mögen sie nur das Blasrohr mitgehabt haben?!“

„Vielleicht … der Hund …?!“

„Getötet?! – Ausgeschlossen – ausgeschlossen! So schnell wirkt kein Gift … – Nein – immerhin, suchen wir den Hund … dort drüben schlug er an … Wir werden ihn schon finden …“

Und – wir fanden ihn …

Bewußtlos nur – halb schon wieder bei Besinnung … Eine dänische Dogge, ein Prachttier … Dort, wo der Hund am Rande eines Gartenweges lag, ein aufdringlicher Geruch nach Chloroform …

Harald beugte sich über den Kopf des Tieres …

„Nun ist es klar: sie haben ihn mit Chloroform angespritzt …! Was wir für ein Blasrohr hielten, war eine Spritze, eine aus einem Blasrohr hergestellte lange Spritze, aus der die beiden Gentlemen den Hund mit Chloroform einsprengten … – Vielseitige Herrschaften, weiß Gott!! – Nun in die Garagen, mein Alter … Aber Vorsicht … Der Boden hier ist verdammt gefährlich … Die Villa im Stil der russischen Bauernhäuser läßt es als gewiß erscheinen, daß hier ein Russe wohnt, vielleicht gar der russische Generalkonsul, der hier in Bombay amtiert … – Also: Augen und Ohren auf, Max Schraut!“

An mir sollte es nicht liegen … Ich strengte meine Sinne über Gebühr an … Ich stand Posten, während Harald das Innere der ersten Garage untersuchte … Was er dort eigentlich wollte, wußte ich nicht …

Nichts geschah …

So kam die zweite Garage heran …

Ich wieder hinter der nur angelehnten Tür …

Hinausspähend in die nächtliche Dämmerung, der bereits der erste bleiche Schimmer des neuen Tages etwas Gespenstisch-Fahles gab …

Drüben die Villa …

Und – von dort her urplötzlich fünf, sechs windschnelle Gestalten … Männer, klein, affenflink …

Noch vier … Jetzt zehn im ganzen … Zehn, die viel zu eilig nahten, als daß wir noch hätten flüchten können …

Ich drücke die Tür ins Schloß …

Harst schon neben mir …

„Was gibt’s?“

„Zehn Leute – – Chinesen – in Dienertracht – von der Villa her …“

Im gleichen Moment wird die Tür aufgerissen …

Laternenschein trifft uns …

Ehe wir noch zurückspringen können, hängen die gelben Kerle an unserem Halse wie eine Meute von Hunden …

Harst ruft:

„Wir ergeben uns …!! Wir sind die Falschen!!“

Seine paar Brocken Russisch hat er zusammengesucht … Es war die höchste Zeit …

Mich hatten sie bereits niedergerissen … Einer der kleinen gelben Teufel hatte schon mit einem krummen Tscherkessendolch ausgeholt …

Wir wären hier stumm gemacht worden für alle Zeit, wenn Harst nicht als Nachsatz gebrüllt hätte:

„Ich bin der Detektiv Harald Harst, ein Deutscher …!“

Und da – aus dem Rudel die Stimme eines Europäers, aber ein schriller Befehl in chinesischer Sprache …

Die Gelben ließen von uns ab … Umstanden uns wie sprungbereite Bulldoggen …

Ein breitschultriger Herr trat vor uns hin. Ich war schnell aufgestanden …

Der Mann hielt einen Browning schußbereit … Seine Augen bohrten sich prüfend in Harsts gefärbtes Gesicht ein …

„Näher die Laternen!“ rief er … Und zu Harald:

„Wenn Sie Mr. Harst sind, – was suchen Sie hier?!“

„Ich bin Harald Harst … Sprechen Sie deutsch?“

„Ja …“

„Dann also: meinem Deutsch hören Sie wohl an, daß ich kein Russe bin … – Mit wem habe ich die Ehre?“

„Konsulatssekretär Dolgurow …“

„Gut, Herr Dolgurow, dem Generalkonsul werde ich Rede und Antwort stehen … Ihnen nicht. Dazu sind die Dinge zu wichtig, die ich mit Ihrem Chef zu besprechen habe …“

Dolgurow verneigte sich.

„Ganz wie Sie wünschen, Herr Harst … Der Generalkonsul dürfte sich inzwischen angekleidet haben … Aber – eine Frage gestatten Sie mir wohl: Sind Sie im Auftrage anderer hier?“

„Nein … aus eigenem Antrieb. – Bitte – lassen Sie Ihren Chef hierher holen … Nur hier kann ich ihm das zeigen, was ihm wichtig sein dürfte …“

Der Generalkonsul brauchte nicht geholt zu werden …

Er war von selbst gekommen, hatte Haralds letzte Sätze mit angehört und schickte nun die Chinesen hinaus …

„Bleibt vor der Tür!!“ befahl er …

Und zu uns:

„Mein Name ist Urtschoff …“ – durchaus höflich, fast liebenswürdig – durchaus Mann von Welt …

Dolgurow hatte jetzt das elektrische Licht in der Garage eingeschaltet …

Ich sah mir Urtschoff genauer an …

War ein hagerer Herr, bartlos, das schwarze Kopfhaar glatt zurückgestrichen – ein Fanatikergesicht, blaß – Augen wie glühende Kohlen …

Aber Diplomat, sehr beherrscht … Ein gezähmtes Raubtier … Ich traute seiner Freundlichkeit nicht … –

Harst hatte unsere Namen genannt und hinzugefügt: „Sie hatten Ihre Diener offenbar schon bereitgehalten, Herr Urtschoff. Rechneten Sie mit ungebetenen Gästen?“

Der Generalkonsul krauste ein wenig die hohe Stirn …

„Nein, Herr Harst …!“

„Verzeihen Sie, das ist wohl kaum der Wahrheit entsprechend, Herr Urtschoff. Wenn Sie von mir die Wahrheit erfahren wollen, müssen auch Sie bei der Wahrheit bleiben …“

„Weshalb vermuten Sie, daß ich fremde Eindringlinge erwartete?“ erwiderte Urtschoff kühl …

„Weil zu dieser Stunde kaum die gesamte Dienerschaft eines Hauses wach und fix und fertig angezogen sein dürfte, dazu noch Ihr Vertrauter, Herr Dolgurow …“

Der Generalkonsul war offensichtlich mit seiner Diplomatie nun in einer bösen Sackgasse … Ein Diplomat ohne Lügen ist eben wie ein Schuh ohne Sohlen: ein Unding!!

„Es … ist ein Zufall,“ erklärte er ohne jede Überzeugungstreue – ein kläglicher Versuch, sich erneut herauszulügen …

„Auf dieser Grundlage werden wir uns kaum einigen,“ meinte Harald da … „Die einzig mögliche Grundlage wäre … Hudson …“

Hudson – die Milliardärsjacht …!! – Die Anspielung wirkte …

Herr Urtschoff fuhr leicht zusammen … Dolgurow aber, weniger geistesgegenwärtig, rief:

„Was Teufel, – Sie wissen Bescheid, Herr Harst?!“

Harald nickte. „Scheint so, meine Herren … Ich weiß jedenfalls eine ganze Menge … – Nochmals, Herr Urtschoff: wollen wir nicht …“

Der Generalkonsul unterbrach ihn …

„Es stimmt, so kommen wir nicht weiter, Herr Harst. Also gut, wir waren auf ungebetene Gäste gleichsam vorbereitet …“

„Die … es auf Ihre Person abgesehen hatten, Herr Urtschoff …“

„Ja – wie ich annehmen muß …“

„Aus politischen Gründen?“

„Hm – ist diese Frage nötig, Herr Harst?“

„Unbedingt … – Also doch nicht Politik, Herr Urtschoff … Das setzt mich etwas in Erstaunen … Immerhin: die Jacht Hudson ist beteiligt … Mehr brauche ich wohl nicht anzudeuten … Und jetzt bitte ich um die reine Wahrheit, Herr Urtschoff … Andernfalls … sind Sie morgen ein toter Mann, und das so gewiß, wie wir hier jetzt lebend neben diesem Ihrem Auto stehen …“

Der Generalkonsul lächelte überlegen …

„Meine Vorsichtsmaßregeln schützen mich, Herr Harst …“

„Ein Irrtum … Ich warne Sie! Sie sind verloren, wenn Sie nicht auf mich hören … So gewiß verloren, daß selbst ein Regiment Truppen den Tod nicht von Ihnen fernhalten könnte …“

Urtschoff lächelte weiter …

„Ich habe achtzehn Diener … Dieses geschlossene Auto ist gepanzert … Ich benutze es nur zur Fahrt bis zum Konsulatsgebäude im Geschäftsviertel … Mit Bomben werden meine Gegner niemals operieren, nur mit Schußwaffen … im äußersten Notfalle … Ich bin auch kein Feigling, Herr Harst … Meine Chinesen sind treu und wachsam und schlau …“

„Diese drei Eigenschaften bezweifle ich, Herr Urtschoff … Die Treue ist bei den Gelben lediglich Geldsache … Die Wachsamkeit ist mit der Schlauheit eng verwandt, bei Ihren Leuten aber nur spärlich vorhanden, da diese nicht einmal wissen, daß vor uns schon zwei Leute hier eingedrungen waren, zwei, die den Hund mit einer Chloroformspritze erledigten und dann die Garagen hier besuchten …“

Der Generalkonsul rief: „Dann haben die Schufte … je eine Höllenmaschine mit einem Uhrwerk in die Autos gestellt …! Wir werden …“

„… nichts finden,“ fiel Harst ihm ins Wort. „So bestimmt nichts finden, daß es Zeitvergeudung wäre, danach zu suchen … Trotzdem: suchen Sie!“

 

5. Kapitel.

Des Todes Spitzen …

Dolgurow rief vier der Diener herein …

Ich kann mich in diesem Punkte ganz kurz fassen: von Höllenmaschine oder dergleichen natürlich keine Spur!

Wir standen dicht dabei, als die Schlitzäugigen suchten … Beide Autos nahmen sie vor …

Dann schickte Urtschoff sie wieder hinaus … Wir waren in die Garage Nr. 1 zurückgekehrt, wo der gepanzerte Wagen seinen Platz hatte …

Die beiden Russen schauten Harst etwas ratlos an. Der lehnte an der Seite des Autos und schwieg …

„Herr Harst, ich …“

„Herr Urtschoff – die Wahrheit! Es geht um Leben oder Tod … – Waren Sie mal in Sewastopol?“

„Ja … – Aber – ich habe mit der … Katastrophe der Familie Oligow nichts zu schaffen, mein Wort darauf, Herr Harst …! Ich verabscheue derartige Schlächtereien … Das ist keine Redensart. Wenn Sie vielleicht im Auftrage der Gräfin Wera …“

„– – weder in deren noch im Auftrage eines anderen – ich sagte es schon … Ich bin durch Zufall auf die jetzige Frau Orlington aufmerksam geworden, gleichzeitig auf verschiedene merkwürdige Dinge, die mich als Detektiv reizten … Mein Freund und ich folgten vorhin den beiden Männern, die hier … den Tod für Sie zurückgelassen haben … Nachdem die beiden verschwunden, habe ich mir Ihre Autos angesehen und – ich habe etwas gefunden … – Also bitte – sprechen Sie!“

Urtschoff schaute zu Boden …

Offenbar kämpfte er mit sich … Dann hob er den Kopf …

„Herr Harst, ich habe vor zwei Wochen etwa Drohbriefe erhalten,“ erklärte er hastig. „Aus diesen Briefen ging hervor, daß man mich irrtümlicher Weise für den Tod der Familie Oligow verantwortlich macht. In den drei Briefen hieß es, daß ich sterben müsse … Das ist die Wahrheit …“

Harald wiegte den Kopf hin und her …

„Das kann nur die halbe Wahrheit sein, Herr Urtschoff … Wie soll ich wohl glauben, daß Leute, die Sie beseitigen wollen, Sie gleichsam warnen werden?! Außerdem: Sie widersprechen sich … Vorhin erklärten Sie, Politik scheide hier aus … – Nein, Herr Urtschoff … so kommen wir wirklich nicht von der Stelle …“

Der Generalkonsul hatte sich auf die Lippen gebissen … Er war mit seiner Diplomatie abermals in der Sackgasse … In dieser Not nahm er Dolgurow beiseite. Sie flüsterten miteinander … eine geraume Weile …

Dann trat Urtschoff wieder vor Harald hin …

„Ich werde Ihnen die Briefe zeigen, Herr Harst …“ meinte er sehr höflich. „Das wird Ihre Zweifel zerstreuen … Wenn Sie mich bitte begleiten wollen … Ich habe die Briefe in einem geheimen Wandfach meines Arbeitszimmers …“

Und er machte eine auffordernde Handbewegung nach der Garagentür, die Dolgurow bereits geöffnet hatte …

Harst rührte sich nicht …

Die beiden Russen warteten …

Ich war stummer, aufmerksamer Zuschauer …

Dann Harald: „Halten Sie mich für dumm, Herr Urtschoff?! – Sie spielen hier ein sehr gefährliches Spiel … Sie wollen Schraut und mich in die Villa locken und dort festhalten, bis ich Ihnen die Gefahr näher bezeichnet habe, die Ihnen droht … – Sie lügen beständig … Daß die Drohbriefe existieren, bezweifele ich nicht … Nur dürfte der Inhalt ganz anders lauten – ganz anders! – Also …“

Dolgurow hatte die Tür wütend wieder zugeworfen, trat näher. Er und Urtschoff tauschten einen hilflosen Blick …

„Sehen Sie,“ meinte Harst … „Sie geben Ihre Heimtücke ja bereits zu … Unter diesen Umständen werden wir uns verabschieden. Unser Freund Goddwell erwartet uns. Er wird neugierig sein, was wir entdeckt haben …“

Der Generalkonsul machte eine erschrockene Handbewegung …

„Detektivinspektor Goddwell, Herr Harst …?“

„Es gibt nur einen Goddwell in Bombay, mit dem uns berufliche Freundschaft verbindet … – Gute Nacht, Herr Urtschoff … Wenn es Ihnen übrigens lieber ist, werde ich Goddwell nichts von diesem kleinen Abenteuer erzählen …“

Urtschoff war jetzt derart verlegen, daß er die Hände dauernd aneinander rieb, als ob ihn fröre …

„Herr … Herr Harst …“ stammelte er … „Ist … ist es denn wahr, daß … daß … wirklich Lebensgefahr für mich besteht …?“

Ich … lüge nicht …“

„Gut – dann … dann werde ich eben die verdammten Autos nicht mehr benutzen – tagelang nicht … Nachher wird wohl jede Gefahr, daß …“

„Ein Irrtum, – die Gefahr schwindet nie, Herr Urtschoff …“

Der Russe war bleich geworden. Das Temperament ging mit ihm durch …

„Dann – werde ich die Autos zerschlagen lassen – oder ins Meer werfen …!“

„Dazu kann ich Ihnen nur raten … Am besten zerschlagen, Herr Urtschoff – mit allem Zubehör …! Und verbrennen …!“

Urtschoff schnappte förmlich nach Luft, schaute seinen Vertrauten an …

„Dolgurow, rate mir …!“ rief er … „Zum Teufel, – so mach doch den Mund auf …!“

Dolgurow verbeugte sich vor seinem Chef …

„Ich würde Herrn Harst bitten, sich um diese Dinge nicht weiter zu kümmern und Goddwell gegenüber zu schweigen … Die Autos bleiben hier in den Garagen eingeschlossen, werden nicht mehr benutzt, nicht mehr angerührt, und wir kaufen zwei neue Wagen, die drüben im Schuppen untergestellt werden können …“

Er blickte fragend Harald an …

Der nickte … „Von mir aus – gebilligt und zugesagt, meine Herren … Bis auf einen Punkt: ich werde mich weiter darum bemühen, dieser Angelegenheit auf den Grund zu kommen … – Gute Nacht …“

Und – schritt zur Tür …

Ich neben ihm … Öffnete die Tür …

Ins Freie hinaus …

Morgendämmerung … trübe Helle … Mein Herz klopfte … klopfte … Jeden Moment erwartete ich, daß Urtschoff die gelbe Meute auf uns hetzen würde …

Nichts geschah …

Wir schritten an der Villa vorüber … dem Gartenausgang zu … Die Pforte war verschlossen …

Wir kletterten hinüber …

Gingen die Villenstraße hinab – schweigend …

Ein Motorsprengwagen kam uns entgegen … Bäche von Wasser näßten das Zementpflaster …

Nichts geschah …

Harald schaut sich um …

Sagt: „Natürlich – vier der Gelben hinter uns …“

Und ich: „Was … was war’s mit den Autos?!“

Er – ganz schlicht:

„In den ledernen Sitzpolstern stecken je sechs Blasrohrpfeile, mit den Spitzen nach oben … Und diese Spitzen, mein Alter, sind vergiftet … Hätte Urtschoff in einem der Wagen Platz genommen, würden die Spitzen das Leder und Urtschoffs Beinkleider und Schenkelhaut durchbohrt haben … Er würde emporgefahren sein … In wenigen Minuten jedoch … Leiche …“

Ich … sagte gar nichts …

Mir war ganz wirr im Kopfe …

Wir schritten immer weiter … Die erste elektrische Straßenbahn brachte uns nach Bombay – uns im Vorderwagen, die vier Spione im Anhänger …

Dann schlug Harald die Richtung nach dem Hafen ein …

Und – – gegenüber der Jacht Hudson setzten wir uns auf ein paar Balken …

Wir, die beiden indischen Hafenkulis …

Und hinter uns … lungerten die vier Chinesen umher …

So … kam der neue Tag …

Und so … beginnt der neue zweite Abschnitt des „armlosen Fakirs“ – ein neues Geschehen …

Der Leser wird auch damit zufrieden sein, hoffe ich …

 

 

Das Kranichnest.

 

1. Kapitel.

Wera Orlingtons Besuch.

Jetzt, wo die Nacht vorüber, wo bereits die ersten Sonnenstrahlen über Bombay hinwegglitten, – jetzt fühlte ich so recht, wie müde und abgespannt ich war …

Ich saß zusammengesunken neben Harald auf den Balken, gähnte krampfhaft und hatte nicht einmal Gedanken für das, was nun geschehen würde …

Harst spielte Statue …

Die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in beide Hände gestützt, die Augen geschlossen: so verhielt er sich regungslos …

Ich war fest überzeugt, daß er die Vorgänge der Nacht nochmals an seinem Geiste vorüberziehen ließ …

Irrtum …! Denn mit einem Male hörte ich ihn ganz leise schnarchen …

Wahrhaftig – – er schlief …

Und wie fest er schlief, merkte ich an seinen Atemzügen – auch daran, daß ihn nicht einmal das Heulen der Dampfersirenen weckte …

Ich gähnte … gähnte … Versuchte es ihm gleichzutun … Versuchte einzuschlafen …

Keine Möglichkeit … Es gelang mir nicht … Und doch konnte ich keine Ordnung in meine Gedanken bringen … Ich gab mir Mühe, nun meinerseits die Ereignisse kritisch zu zerlegen und insbesondere das Blasrohrattentat richtig zu bewerten …

Der Blasrohrpfeil war doch nicht vergiftet gewesen …

Und – das war sehr auffällig … Da stimmte irgend etwas nicht … irgend etwas …

Dann – zerriß mir der Gedankenfaden wieder. Mein Hirn streikte … Stumpf starrte ich auf die Jacht, wo am Deck vier Wachen faul hin und her gingen … –

Die Sonne wurde sehr bald unangenehm …

Wir saßen hier nun bereits anderthalb Stunden … Und Harst schlief … schlief …

Da – neben mir taucht ein Chinese auf, – gelber Leinenanzug, Strohhut … – einer von Urtschoffs Leibgarde … Einen versiegelten Brief in der Hand – für Harst …

„Mr. Schraut, ich soll auf Antwort warten …“ keucht der Bursche ganz außer Atem …

Ich wecke Harald. Im Moment ist er munter …

„Was gibt’s? – Ah – also doch …!“ Und zu dem Boten: „Du hast Deinem Herrn gemeldet, daß wir hier vor der Jacht sitzen?“

„Ich nicht, Mr. Harst … Ein anderer telephonierte … Ich wurde nur hierher geschickt mit dem Briefe … Ich kam mit einem Fahrrad …“

Harald öffnete den Briefumschlag …

Wir lesen die noch frischen Zeilen – deutsch …:

„Herr Harst, ich biete Ihnen 10 000 Pfund, wenn Sie sofort Bombay verlassen. Sofort …! – Glauben Sie mir, daß ich von der Familie Oligow keinen Tropfen Blut vergossen habe. Mein Ehrenwort darauf. Mischen Sie sich nicht in Dinge, die Ihnen nur gefährlich werden können – nicht von meiner Seite! Genau wie Sie mich gewarnt haben, warne ich Sie vor Wera Orlington. Diese blonde Frau besitzt die Energie eines Dutzends von Männern und wird jede Einmischung Ihrerseits mit Gegenmaßnahmen beantworten, von denen Sie nur die Wirkungen spüren. Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, daß hier in Bombay vor kurzem vier Russen, eine Künstlerfamilie, beseitigt worden sind … Die Polizei glaubt anderes … Ich weiß es besser. Auch dahinter steckt Wera Orlington. Sie kennt kein Erbarmen, ist aber auch nicht zu fassen … – Gehen Sie auf meinen Vorschlag ein, Herr Harst! Es ist besser für alle Teile, glauben Sie mir!

U.“

Harald wandte sich an den Boten …

„Bestelle Deinem Herrn, daß ich ablehne … Sage ihm aber auch, daß ich mich hier nur so nahe der Jacht niedergesetzt hatte, weil ich hoffte, daß die Angst, ich könnte Frau Orlington ins Vertrauen ziehen wollen, Deinen Herrn zur Preisgabe der Wahrheit veranlassen würde … – Hier gebe ich Dir den Brief wieder mit … Meine Hoffnung hat sich nicht erfüllt … Also – muß es auf andere Weise gelingen …“

Der Chinese machte ein sehr bekümmertes Gesicht …

„Mr. Harst, mein Herr wird toben … Ich habe das Geld bei mir … Ich sollte es Ihnen gleich auszahlen …“

„Tut mir leid … – Verschwinde …“

Er erhob sich …

Wir gingen am Kai entlang … Dort, wo die Ramsur-Anlegestelle mit ihren zahllosen Ruderbooten als weiße Brücke die Kaimauern unterbricht, sprangen wir in ein Motorboot …

„In den Hafen hinaus – schnell,“ rief Harald dem indischen Bootsführer zu …

Der merkte, daß er verkleidete Europäer vor sich hatte …

Knatternd schoß das Boot davon … Die vier Spione kamen zu spät … Unser Boot war bereits jenseits der Makarar-Spitze, als sie kaum erst von der Brücke losmachten …

Wir landeten unweit der Stelle, wo wir drüben an den Hügelabhängen die Ruine des Djeibar-Schlosses erkannten … Bezahlten den Bootsführer und eilten davon … waren bald in dem ersten Buschwäldchen verschwunden. Die Spione hatten das Nachsehen …

Behaglich schlenderten wir weiter, umschritten die Wildnis des großen Djeibar-Parkes und standen gegen sieben Uhr morgens an der Pforte des Gartens unseres Bungalows. Einer der Diener harkte die Wege, kam ahnungslos herbei und fragte nach unserem Begehr.

Die tadellose Verkleidung schützte uns glänzend … Der Diener erkannte uns nicht …

„Ich habe im Auftrag Deines Sahibs Ahmed, dem Koch, etwas zu bestellen,“ erklärte Harald in gebrochenem Englisch … „Eile Dich … Hole Ahmed herbei …“

Der Diener lief davon – um den Bungalow herum … Und wir über den Zaun – rasch auf die Veranda – durch das offene Fenster in den Wohnsalon – dann ins Schlafzimmer … Im Nu die Bärte herunter …

Da sahen wir Ahmed auch schon zur Pforte eilen … Verdutzt stehen bleiben, sich umschauen …

Kopfschlackernd machte der Koch wieder kehrt …

Wir hörten ihn mit dem Diener zanken. Er glaubte, der habe ihn angeführt …

Harald rief mit Donnerstimme, die beiden sollten sich ruhig verhalten … Um zwölf wollten wir geweckt sein …

Stille …

Wir ins Bett … Noch eine Beruhigungszigarette, und wir schliefen ein …

Ich träumte …

Ich säße in einem Auto … Fühlte, wie mir scharfe Nadeln in die Sitzpolster fuhren …

Und – schnellte mit einem Schrei empor …

Starrte wild umher …

Harst stand vor dem Spiegelschrank und rasierte sich …

„Morgen, mein Alter … Du bist gerade zur rechten Zeit munter geworden … Deine Kehrseite lag ein wenig bloß, und die Mücke tat ihre Schuldigkeit … – Im übrigen beeile Dich … Man läßt Damen nicht allzu lange warten, besonders keine Milliardärinnen … Frau Wera Orlington sitzt draußen auf der Nordseite der Veranda und wünscht uns dringend zu sprechen … Kannst Dir wohl denken, weswegen … oder nicht?!“

„Nein …“

„Na, dann wirst Du es ja hören … – Bitte, der Platz hier vor dem Spiegel ist frei … Rasiere Dich, mache Dich schön … Frau Wera soll uns als Gentlemen kennen lernen … Außerdem hält ein falscher Bart auf Bartstoppeln sehr schlecht …“ –

Nach einer Viertelstunde waren die beiden Holländer Hoonler und Schreetjen fix und fertig …

Gingen die Veranda hinab, bogen links ein …

Hier auf der kühleren Nordseite erhob sich Frau Wera Orlington aus dem Rohrsessel …

Wir verbeugten uns …

Und sie – ohne Einleitung:

„Meine Herren, ich weiß, daß Sie beide Deutsche sind – Herr Harst und Herr Schraut …“

Sie benutzte unsere Muttersprache … Sie hatte die Stimme vorsichtig gedämpft.

„Bitte, behalten Sie Platz, gnädige Frau …“ erwiderte Harald. Wir zogen uns Sessel herbei, und Harst klatschte in die Hände.

Ahmed kam, brachte Eislimonade, Zigaretten und die Schale mit Eisstückchen … Entfernte sich wieder … –

Frau Wera war schön … Gerade diese blonden Russinnen mit den melancholischen Augen sind ein Frauentyp, der jeden besticht …

Sie lehnte zwanglos und mit vornehmer Ruhe in dem[8] tiefen Korbsessel … Sie musterte uns mit einem halben Lächeln … Unsere Masken schienen ihr Interesse wachzurufen.

Dann nickte sie …

„Glänzend, meine Herren … Ich kenne doch Bilder von Ihnen … Ich hätte Sie nie erkannt …“

„Desto merkwürdiger, daß Sie unsere wahren Namen wissen, gnädige Frau … Woher, gestatte ich mir zu fragen?“

Das halbe Lächeln verschwand …

„Darüber möchte ich nicht sprechen, Herr Harst …“

Aha – sie ahnte nicht, daß wir ihre Verbündeten kannten … Sie hoffte, Harald würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben …

„Weshalb nicht, gnädige Frau?!“ sagte er wie erstaunt. „Wenn, wie ich vermuten muß, Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen wollen, ist doch gegenseitige Offenheit nötig … – Mit wem habe ich die Ehre?“

„Sollten Sie mich nicht kennen, Herr Harst?!“

„Darüber … möchte ich nicht sprechen, gnädige Frau … Ich weiß, daß Sie verheiratet sind … Der Ehering zeichnet sich unter Ihrem Handschuh ab … Sie sind offenbar Russin von Geburt … Ihr Gesichtsschnitt und Ihr hartes Deutsch verraten es. Sie müssen sehr reich sein, da Sie eine Brillantbrosche tragen, die ein Vermögen wert ist. Sie besitzen eine Jacht, da Ihr schlichter Strohhut mit einem Marineband geschmückt ist … Sie haben heute früh mit dem Milliardär Orlington im Esplanade-Hotel das Frühstück eingenommen, weil …“

Da … lachte sie herzlich …

„Ja – weil Sie eben wissen, daß ich Wera Orlington bin …!“

„Darüber – möchte ich nicht sprechen, gnädige Frau …“

„Oh – Sie machen es sehr schwer, Herr Harst …!“

„Was denn?! Verlange ich etwa zuviel, wenn ich …“

„Nein, nein … – Nun denn: Bekannte von mir haben zufällig festgestellt, daß die hier in diesem Bungalow wohnenden Holländer zwei deutsche Berühmtheiten sind …“

„So … so … Bekannte, die mit einem Blasrohr operieren …!!“

Sie wurde leicht verlegen …

„Das … das … war ein Irrtum in der Person, Herr Harst …“

„Und wenn der Pfeil getroffen hätte?!“

Sie senkte den Kopf, seufzte:

„Gut, daß er nicht getroffen hat … Ich …“

„Nun – ich?!“

„… Ich war sehr ungehalten über dieses Vorgehen meiner Freunde …“

„Ihre Freunde haben überhaupt seltsame Neigungen, gnädige Frau … Taubensport, Blasrohrschießen, Sitzpolsterdurchlöcherung …“

Sie starrte Harald an … Ihre rosigen Wangen wurden unter der Puderschicht farblos …

„Taubensport … wie … meinen Sie das, Herr Harst …?!“

„Ich sah, daß Sie eine Brieftaube aufsteigen ließen, nachdem die Jacht kaum am Kai vertäut war … So begann mein Interesse für Sie, gnädige Frau …“

„Oh – – dann … dann … hat es keinen Zweck mehr …“ flüstert sie tonlos … Und erhob sich langsam … „Dann will ich … mich wieder verabschieden, meine Herren …“

„Ja, weil Sie hier ein undurchsichtiges Spiel beginnen wollten, Frau Orlington … Ich möchte Sie warnen … Ich werde keinen Mord dulden … Ich habe Urtschoff geraten, die Autos nicht zu benutzen …“

Sie … wankte …

Tastete nach der Lehne des Sessels und stützte sich … Ihr Gesicht war grau …

„Ich … ich … habe … nie einen … Mord beabsichtigt, Herr Harst … Aus solcher Veranlassung … mordet man nicht … Nur … einschüchtern wollten wir Urtschoff … Nur das …!“

„So sind … die Spitzen in den Sitzpolstern nicht vergiftet?!“

„Vergiftet – ja … Aber nicht so, daß ein Mensch daran stirbt, Herr Harst …“

„Setzen Sie sich bitte wieder, gnädige Frau … Ich glaube, nun werden wir doch als Freunde scheiden … – Setzen Sie sich …!“

 

2. Kapitel.

Das Kranichhaus.

Nun begann, um dies gleich im Voraus zu bemerken, genau derselbe Kampf um die Wahrheit wie in der Garage mit Generalkonsul Urtschoff … Genau dasselbe Ringen um das Verheimlichen der Wahrheit von seiten Frau Wera Orlingtons wie dort …

Nur daß diese Gegnerin weit intelligenter war und sehr bald durchschaut hatte, daß Harald im Dunkeln tappte.

Und – tappte er wirklich noch im Dunkeln?! Oder tat er nur so?! – Es war dies für mich schwer zu entscheiden … Man wird aus ihm so wenig klug, wenn er seine Gedanken verbergen will … –

Frau Orlington, schließlich von Harald ganz energisch gefragt, weshalb sie zu uns gekommen sei, erklärte nun endlich, wir sollten die Villa Urtschoffs für sie dauernd überwachen, Tag und Nacht, und ihr jede Kleinigkeit melden …

„Verlangen Sie jede Summe, Herr Harst,“ fügte sie hinzu. „Nur auf eins kommt es mir bei alledem an: daß Ihre Meldungen die allergeringsten Kleinigkeiten mit erwähnen …“

Harald überlegte …

Sehr lange …

Dann blickte er die schöne Frau fest an …

„Wenn Sie, die geborene Gräfin Oligow, mir Ihr Wort geben, daß Sie und Ihre Verbündeten hier keine Morde beabsichtigen, will ich es tun …“

Sie reichte ihm die Hand …

„Mein Wort, Herr Harst … Wir wollten Urtschoff nur einschüchtern …“

„Und – die vier Russen, die von hier aus diesem Bungalow verschwunden sind – abgereist angeblich?!“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht …

„Die sind abgereist, Herr Harst … Die Polizei hier könnte Ihnen das bestätigen. Die vier auf jenem Dampfer belegt gewesenen Kabinenplätze sind tatsächlich eingenommen worden …“

Und jetzt – wahrhaftig! –: ein ähnliches Lächeln glitt über Haralds Züge …

Frau Orlington aber fuhr fort:

„Ich habe bereits alles für Ihren Auftrag vorbereiten lassen, Herr Harst. Die Villa neben der Urtschoffs ist ein Fremdenheim, das vornehmste Bombays … Von den nach Osten zu gelegenen Zimmern im zweiten Stock kann man Urtschoffs Grundstück bequem überblicken. Wenn Sie und Herr Schraut vielleicht als älteres Ehepaar zwei dieser Zimmer beziehen – und Sie beide haben ja schon häufiger in dieser Verkleidung gearbeitet –, dann wird dies Urtschoff niemals auffallen …“

„Eine Zwischenfrage, gnädige Frau … Weshalb übernehmen nicht Ihre Verbündeten diese Überwachung?“

„Weil – ja, weil auch das Generalkonsulat am Hafen stets im Auge behalten werden muß …“

„Durch die … Matrosen – verstehe …! – Die Zimmer im Fremdenheim sind frei?“

„Ja … Das heißt, sie sind heute früh telegraphisch von Daman aus für das Ehepaar Doktor Woringer[9] nebst Gattin, Schweizer von Geburt, belegt worden, auch ist sofort für zwei Wochen der Pensionspreis vorausbezahlt worden …“

„Ah – Sie gehen zielbewußt vor, gnädige Frau … Also Schraut und ich werden die Woringers sein …“

„Ja – und heute nachmittag drei Uhr dort eintreffen …“

„Wie Sie befehlen, gnädige Frau …“ Und Harald lächelte wieder … „Weiß Ihr Gatte von alledem?“ fügte er ernst hinzu …

„Nichts, gar nichts … Er ist heute morgen zur Tigerjagd nach Kotar gereist und kehrt erst nach fünf Tagen zurück. Ich … habe mich kränklich gestellt … Tom war nur mit Mühe zu bewegen, ohne mich zu reisen … Er ist so rührend besorgt um mich … Wenn unsere Ehe von meiner Seite auch nur eine Vernunftsheirat war, Herr Harst: ich habe es bisher nicht bereut, diesen Schritt getan zu haben. Tom hat sich längst auch seinem ganzen Auftreten nach seinen Milliarden angepaßt. Daß er überaus intelligent ist, brauche ich wohl kaum zu betonen … Ein Dummkopf erarbeitet keine Milliarden. Nebenbei besitzt er aber auch eine so grundvornehme Gesinnung, daß mir diese Heimlichkeiten ihm gegenüber äußerst lästig und peinlich sind … Später, wenn alles einmal erledigt ist, werde ich ihm ehrlich beichten … Er wird mir verzeihen … Denn das, was ich vorhabe, Herr Harst, ist bei Gott kein Unrecht …! – Um eins bitte ich Sie und Ihren Freund: notieren Sie jede Kleinigkeit – jede! Und die Meldungen fassen Sie bitte so ab, daß keine Namen genannt werden. Einer von Ihnen bringt die Briefe ins Esplanade-Hotel und gibt sie dort dem Oberkellner ab …“

„Ja – dem Fürsten Sergius Tschergin,“ nickt Harald.

Der Name war noch nicht erwähnt worden. Frau Orlington erblaßt denn auch jäh, beruhigt sich schnell und flüstert:

„Ich sehe, daß Sie … mich eigentlich ganz in der Hand haben, Herr Harst … Aber ich weiß auch, daß Sie Gentleman sind … Tschergin wird übrigens von Urtschoffs Spionen dauernd überwacht … Also Vorsicht bei der Ablieferung der Berichte …“

„Das ist wohl selbstverständlich, gnädige Frau … – Noch eins: wen vermuteten Ihre Freunde in uns beiden? Vielleicht Spione Urtschoffs, die der Fakir ohne Arme beobachten sollte?“

„Ja, Herr Harst … Und der Blasrohrschuß war … Abschreckungsmittel …“

„Und der Fakir hat uns belauscht und so erfahren, daß wir Harst und Schraut sind …“

Sie nickte … „Leider erst nach dem Schuß …! Und doch bin ich froh, daß ich auf diese Weise Ihre Bekanntschaft gemacht habe … – Ich möchte mich nun verabschieden, meine Herren … Um drei Uhr müssen Sie ja bereits im Fremdenheim Tabbars sein …“

Harald begleitete sie bis zur Gartenpforte. Sie war zu Fuß gekommen – auf Umwegen und unter allerlei Vorsichtsmaßregeln. In derselben Weise begab sie sich nun ins Hotel Esplanade zurück.

Als Harst die Veranda wieder betrat, fragte ich ihn gerade heraus:

„Du weißt, um was es sich hier handelt?“

„Du etwa nicht, mein Alter?! Nachdem die Rachepläne gestrichen werden mußten, ferner bei Berücksichtigung des Verhaltens Urtschoffs gibt es nur eine Lösung …“

„Und – die lautet?!“

„Kannst Du es Dir wirklich nicht selbst zusammenreimen …?!“

Ich wurde ungeduldig. „Leider nein …! Könnte ich’s, so würde ich nicht fragen … Ich habe allerdings eine Vermutung, die mir aber nicht recht gefällt …“

„Äußere Dich nur …“

„Wenn man Urtschoff Drohbriefe geschickt hat, so will man ihn zu etwas zwingen …“

„Bravo …!“

„Vielleicht lebt noch ein Mitglied der Familie Oligow in Gefangenschaft, irgendwo … Und Urtschoff soll entweder den Ort angeben, wo der Gefangene weilt, oder gar dessen Freilassung erwirken …“

„Bravo …! So ungefähr stimmt das wirklich, mein Alter … Du bist in der Tat der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. – Jetzt wollen wir unsere drei Diener beurlauben … Ich werde Ahmed rufen, ihnen Geld geben und sie wegschicken. Kommen sie abends heim, finden sie einen Zettel vor, daß wir bis auf weiteres verreist sind und daß sie den Bungalow gut in Ordnung halten sollen …“ –

Um halb zwei waren wir allein in dem einsamen Häuschen. Um zwei Uhr verließ Harald als älterer graubärtiger Herr den Bungalow und besorgte ein Auto. Um halb drei waren wir auf dem Zentralbahnhof. Etwas nach drei fuhr das Ehepaar Doktor Woringer vor dem Fremdenheim vor …

Frau Woringer mußte aus dem Auto gehoben werden … Sie war sehr blaß, die rundliche Dame … Und sie saß dann oben auf dem Balkon in Decken gehüllt im Sessel – noch blasser, mit dunklen Schatten um die Augen … Sie litt an Malaria, die Ärmste … –

Ja – ich Armer!! – Man stelle sich vor, was es heißt, ungezählte Stunden im Sessel eine Kranke zu spielen …!

Nun – ich will nicht vorgreifen, will eins nach dem andern berichten. Es gibt noch übergenug zu erzählen. –

Ich saß also dicht an der Brüstung des Balkons, der zu unserem Wohnsalon gehörte … Harald markierte den treubesorgten Gatten … War stets in meiner Nähe … Las mir vor, bemutterte mich, reichte mir Medizin im silbernen Eßlöffel, rieb mir die Schläfen ein …

Und ich – hatte nur Augen für das Nachbargrundstück … Da war die Garage … Da war das Blockhaus, der Garten – alles gut zu überschauen …

Leider aber gab es nichts zu beobachten … nichts …

Die chinesische Dienerschaft ging hin und her … Um fünf Uhr kam Urtschoff in einem neuen geschlossenen Auto aus der Stadt heim … Verschwand im Hause …

Nichts geschah …

Harst las einen Kriminalroman vor …

Und – mitten auf einer Seite flocht er ein:

„Man beobachtete uns eine Weile … Gut, daß ich Dir gerade wieder die sogenannte Medizin gab … – Nimm ein Blatt Papier … bitte … – und schreibe, was ich Dir diktiere … – Hier ist ein Buch als Unterlage … Also vorwärts …

Erster Bericht. – Sechs Uhr nachmittags.

Ankunft hier zweckentsprechend. Bisher nur folgendes: Fünf Uhr kam Er in neuem Auto nach Hause. Ein Viertel sechs trat Er auf die Veranda hinaus und schien sich minutenlang an den beiden zahmen Kranichen zu erfreuen, die in einem großen Vogelhaus im Schatten einer indischen Rotbuche untergebracht sind.

Der Hund liegt jetzt an der Kette. Die Hundehütte steht links von dem Vogelhaus am Fuße des Baumes.

Wir wurden aus einem Dachfenster fünf Minuten lang beobachtet. Argwohn gegen uns nicht vorhanden, da Bild hier auf unserem Balkon zu echt. Meine Frau krank im Sessel. –

Soeben erscheint Er wieder mit einem Teller voll Fischen, geht die Verandatreppe hinab und steht nun vor dem Kranichhaus, wirft dem Kranichpärchen Fische zu. – Sein Vertrauter D. nähert sich ihm. Sie sprechen miteinander. D. eilt zur Gartenpforte, begleitet von vier Dienern. Vor dem Hause hält ein Lastwagen. Man lädt eine grüngestrichene große Hundehütte und eine Kiste ab. Die Hundehütte wird bis zum Kranichhaus getragen und auf die andere Seite, der anderen Hundehütte gegenüber, aufgestellt.

Ein Mann holt aus der Kiste einen großen starken Hund heraus, der einen sehr festen Maulkorb trägt. Der Hund ist eine Kreuzung zwischen Dogge und Bluthund und offenbar sehr bissig. Er wird an die lange Kette der neuen Hundehütte gelegt. Der Mann nimmt ihm den Maulkorb ab und springt zurück. Der Hund rast vor Wut. Auch der andere kläfft. Die Kraniche fliegen erschrocken zu ihrem großen Nest empor, das mitten im Vogelhaus auf einem drei Meter hohen dicken Baumstumpf liegt. –

Er sucht den neuen Hund zu beruhigen. Das Tier wird von dem Manne, der es brachte, mit einem Knüttel mühsam in die Hütte gescheucht, vor deren Eingang ein Schiebegitter sich befindet. Das Gitter wird herabgelassen. –

Er hat durch einen Chinesen Fleischstücke bringen lassen, steht vor der Hütte und redet auf den Hund ein. Das Tier wird ruhiger und frißt, läßt sich auch den Kopf streicheln.

Er läßt nicht nach, sich um das Tier zu bemühen. Er scheint Hundefreund zu sein. Der Hund gewöhnt sich offenbar an seine Stimme und wird zutraulicher.

Er öffnet das Gitter. Die anderen sind zurückgetreten. Der Hund kommt heraus und zeigt sich nun Ihm gegenüber durchaus gehorsam.

Alle gehen ins Haus. Der neue Hund, dessen Kette bis zum Eingang des Kranichhauses reicht, legt sich nieder und beobachtet die Kraniche, die in dem kleinen Bassin in ihrem Käfig jetzt umherwaten.

Der Mann, der den Hund brachte, fährt mit dem Lastwagen davon. Die Diener schauen sich aus vorsichtiger Entfernung den neuen Hund an, der sofort auf sie losgefahren ist und wieder förmlich rast …

Die Diener verschwinden. Das Tier beruhigt sich.

Schluß des Berichtes halb sieben abends.“

Ich hatte Wort für Wort zu Papier gebracht …

Sagte nun:

„Eigentlich lächerlich, diese ganze Meldung …!“

„So?! Meinst Du?!“

Und Harst versiegelt im Zimmer den Brief … Verabschiedet sich von seiner kranken Gattin …

Ich grübelte über sein merkwürdig gedehntes „Meinst Du?!“ nach …

Und – – stutzte …

Der neue Hund …!! Und – die Hütte des anderen jetzt gleichfalls neben dem Vogelhaus …! In der Nacht stand sie noch weiter hinten im Garten …!!

 

3. Kapitel.

Mein Gatte auf dem Ast …

Diese schwarzen indischen Kraniche habe ich in Freiheit schon zu Hunderten gesehen, aber nie geahnt, daß es so komische Vögel sind – die reinen Spaßmacher …

Man hat ihnen die Flügel so weit gestutzt, daß sie nur bis zu ihrem ruppigen, struppigen Riesennest emporflattern können …

Mit den Fischen spielen sie förmlich Ball, bevor sie sie verschlingen … Die Scheu vor dem bissigen Hunde haben sie überwunden und stehen am Gitter und betrachten ihn, wenden den Hals hin und her und stoßen ihre eigentümlichen Schreie aus … –

Ich schaue zu und denke nach … Das so prächtig und großartig klingende Fremdwort für diese Art Geistesübung heißt „Kombinieren“ …

Ohne Zweifel hat Urtschoff allen Grund, das Kranichhaus scharf bewachen zu lassen … Seine zahlreiche Dienerschaft genügt ihm hierzu nicht … Nein, zwei Hunde sollen rechtzeitig melden, wenn sich jemand dem Vogelhaus nähert.

Also: dieses enthält irgend etwas, das nicht entdeckt werden soll …

Irgend etwas …

Und sinnend schaue ich hinüber …

Überlege – – kombiniere …

Dann … kommt mir die Erleuchtung … Harald hat gesagt, daß ich beinahe die Wahrheit getroffen hätte – beinahe … das noch lebende und gefangene Mitglied der Familie Oligow kann vielleicht dort unter dem Zementboden des Kranichhauses stecken … Es kann da eine gemauerte unterirdische Zelle geben … kann … Der dicke Baumstumpf mit seinen Astresten zum Beispiel ist in den Zementboden nur eingelassen und mindestens ein Meter dick … In diesem Stumpf mag die Tür zu der Treppe der Zelle verborgen sein …

So grübele ich …

Und immer mehr bestärkt sich in mir die Überzeugung, daß es so und nicht anders sein muß …

Mit Ungeduld erwarte ich daher Haralds Heimkehr …

Aber mein Herr Gemahl, der Doktor Woringer, Privatgelehrter, läßt sich Zeit …

Es wird acht Uhr … Halb neun … Die Dämmerung kommt … Schon dreimal ist einer der indischen Diener des Fremdenheims fragen gekommen, ob er das Abendessen servieren dürfe …

Mir wird sehr, sehr bang zu Mute, denn bis zum Esplanade sind’s keine zehn Minuten, wenn man zu Fuß geht …

Ich darf mich nicht aus dem Sessel erheben … Ich leide ja an den Nachwehen einer schweren Malaria … Desto peinvoller ist dieses Warten …

Um mich abzulenken, beobachte ich Urtschoffs Grundstück … Die Dämmerung hüllt bereits alles in ungewisses Licht … Ich sehe den Generalkonsul vor dem Kranichhaus stehen und den neuen Hund streicheln … Wie schnell er doch den bissigen Hund an sich gewöhnt hat … Er kann kein schlechter Mensch sein … Unmöglich …! Ein Hund hat ein sehr feines Verständnis und Empfinden für menschliche Charakterveranlagung, weiß genau, wer es mit ihm gut meint …

Ja – überhaupt: dieser Urtschoff ist keine unsympathische Persönlichkeit. Im Gegenteil, auch Harald hat sich über ihn recht günstig geäußert … recht günstig …

Und doch: der Mann kämpft um sein Geheimnis mit einer überaus zähen Energie …! Der Mann hält einen Menschen hier eingesperrt – vielleicht in einem finsteren Loche – unter entsetzlichen Begleitumständen: Gestank, Ungeziefer – anderes noch!

Ich blicke durch das immer schwächer werdende Tageslicht den Generalkonsul an …

Er steht jetzt dicht am Gitter des Kranichhauses … Der neue Hund reibt schmeichelnd den Kopf an seinem Schenkel …

Er steht und starrt auf den Baumstumpf, auf das vom Unrat der großen Vögel weiße Nest …

Beide Kraniche haben sich bereits zur Nachtruhe nach dort oben zurückgezogen …

Beide stehen auf einem Bein, den Kopf unter den einen Fittich gedrückt … Wie Statuen …

Und Urtschoff – gleichfalls Statue, die Finger in die Maschen des starken Drahtgitters gekrallt …

Statue …

Oh – ich möchte wohl wissen, woran dieser Mann jetzt denkt … Weshalb er immer auf den Baumstumpf stiert …

Vielleicht, weil ihm jetzt die Angst im Nacken hockt, daß man den Gefangenen doch entdecken könnte … Vielleicht, weil er weiß, daß Harst hinter seinem Geheimnis … Und dies Bewußtsein, Harald Harst auf den Fersen zu haben, hat schon manchen zur Verzweiflung getrieben, der noch für Gewissensangst zugänglich war …

Und – so sieht Urtschoff aus … Wie einer, bei dem sich das Gewissen meldet …

Es wird immer dunkler …

Vor der Blockhausvilla flammt die große Bogenlampe auf … Ihr Schein fällt durch die Baumzweige, trifft den einsamen Mann am Vogelhausgitter …

Der neue Hund hat sich zu seinen Füßen niedergetan …

Irgendwo schlägt eine Turmuhr …

Ich zähle mit: neun Uhr abends …!

Da – geschieht etwas Seltsames …

Von der Gartenpforte her ein besonderer Pfiff …

Urtschoffs Kopf fährt herum …

Sein Vertrauter Dolgurow läuft von der Villa her die Allee hinab, ruft dem Generalkonsul etwas zu …

Schade, daß ich nicht russisch verstehe … Ich habe die vier Worte ziemlich deutlich vernommen …

Eine merkwürdige Unruhe überkommt mich …

Ich sehe, daß die Bogenlampe wieder erlischt …

Erhebe mich, ducke mich …

Rasch hinein ins Zimmer …

Rasch das eine Fernglas aus dem Koffer geholt …

Zurück in den Stuhl …

Und das Glas eingestellt …

Gerade noch zur rechten Zeit …

Vier Chinesen schleppen einen großen Koffer in die Villa … – vier der schlitzäugigen Diener …

Hinterdrein gehen Urtschoff und Dolgurow, eifrig miteinander flüsternd, der Generalkonsul offenbar sehr erregt …

Und alle betreten über die Veranda das Haus …

Ich lasse das Fernglas sinken …

Meine Unruhe wuchs …

Der Koffer war recht schwer gewesen. Das hatte ich deutlich gemerkt, als die vier Diener ihn trugen …

Was – was mochte der Koffer enthalten haben?!

Und – wo blieb Harst?! Wo nur?!

Hatte man ihn etwa irgendwie in einen Hinterhalt gelockt?! Hatte man ihn etwa in dem Koffer in Urtschoffs Haus geschafft?! – Ich wurde diesen Verdacht nicht los … Ich wollte noch bis zehn Uhr warten. Wenn Harald bis dahin nicht zurückgekehrt war, dann wollte ich mich bis an mein Bett tragen lassen und der Pensionsinhaberin erklären, daß mein Mann eine wissenschaftliche Besprechung mit einigen Gelehrten im Hotel Esplanade habe … Ich würde daher allein im Bett essen … –

Es wurde zehn Uhr …

Das war die Entscheidung …

Ich hatte die Schnur mit dem elektrischen Klingelkontakt im Schoße …

Wollte gerade läuten …

Da – ein Krächzen – – nochmals, nochmals … Der mißtönende Schrei einer indischen Nebelkrähe … Aber diese Krähe war anderer Art …

Ich atmete erleichtert auf …

Es war Harald – – Harald, der irgendwo im Garten Urtschoffs stecken mußte …

Ich nahm wieder das Fernglas zur Hand … Ich suchte … Aber ich zitterte gleichzeitig, daß der neue Hund, der offenbar viel wachsamer war als der ältere, ihn wittern könnte …

Zum Glück war die Bogenlampe vor dem Hause noch nicht wieder eingeschaltet worden … Der neue Hund hatte sich in die Hütte zurückgezogen …

Ich fand Harald nicht … Ich konnte überhaupt nicht begreifen, wie Harald in den Garten gelangt war … Ob er denn noch die Verkleidung des Doktor Woringer trug …?!

Da – nochmals das Krächzen … Es schien aus den Baumkronen zu kommen …

Ich richtete das Glas auf den mächtigen Baum, unter dessen breit ausladenden Ästen das Kranichhaus stand …

Und – jetzt erkannte ich undeutlich eine Gestalt – so verschwommen, daß schon Phantasie dazu gehörte, in der bereits recht tiefen Dunkelheit die Umrisse zu unterscheiden.

Harst lag offenbar lang auf dem stärksten Seitenast, der das Kranichhaus überragte …

Lag über dem Kranichhaus …

Und da ahnte ich, was er beabsichtigte …

Wie er’s freilich fertigbringen würde, in das Vogelhaus einzudringen und wie er die Kraniche ohne Lärm von dem Nest vertreiben wollte, war mir unklar …

Dann bemerkte ich etwas noch Seltsameres …

Der eine Kranich schlug plötzlich schwer mit den Flügeln und sank dann auf dem Nest zusammen … Dem anderen erging es ebenso …

Das Dach des Kranichhauses, muß ich hier noch erwähnen, bestand ebenfalls nur aus Drahtgeflecht. Da durch eine Baumlücke von schräg oben noch Licht in das Kranichhaus hineingefallen war, hatte ich die Vögel noch recht gut beobachten können, sah jetzt auch, daß von Haralds Platz auf dem Aste etwas wie eine dicke Schnur bis zum Nest herabhing …

Diese Schnur wurde jetzt eingezogen …

Und dann – – flammte auch schon die Bogenlampe am Hausgiebel wieder auf …

Ihr grelles Licht reichte aber nur bis zur Mitte des Vogelhauses. Der Baumstumpf, das Nest und der übrige Raum blieben im Dunkeln – auch oben die Äste, auf deren stärkstem Harald ruhte … –

Während ich noch ängstlich mit den Blicken nachprüfte, ob Harst auch nicht entdeckt werden könnte, hörte ich jemand den Wohnsalon betreten … Ich verbarg schnell das Fernglas …

Es war einer der Diener, der mir einen versiegelten Brief überbrachte …

„Tragen Sie mich ins Zimmer,“ befahl ich … „Machen Sie Licht, schließen Sie die Balkontür und bringen Sie mir das Abendessen … Mein Mann hat eine wissenschaftliche Konferenz im Hotel Esplanade und scheint dort zu speisen …“

Der Diener, übrigens ein christlicher Inder, gehorchte schweigend, trug mich samt dem Rohrsessel ins Zimmer und entfernte sich.

Ich betrachtete die Aufschrift des Briefes. Haralds Handschrift, wenn auch verstellt … Der Umschlag viermal versiegelt …

Nun würde ich endlich Gewißheit erhalten, ob Harald tatsächlich Absichten auf den Baumstumpf hatte, das heißt, ob er den Gefangenen befreien wollte …

Ich schnitt den Umschlag auf … Es war ein graublaues sehr festes Kuvert. Der Bogen darin nur ein Fetzen von einer Zeitung … Am Rande stand mit Bleistift:

„Strickleiter, Balkon, Bindfaden, Garten – Er, Ostecke, Mitternacht …“

Das war alles. Das war ein leicht verständlicher Depeschenstil, bei dem nur die verbindenden Worte fehlten – also:

„Nimm die Strickleiter, befestige sie am Balkon, ziehe sie mit Hilfe eines Bindfadens, nachdem Du hinabgeklettert bist, wieder nach oben, begib Dich nach Urtschoffs Garten an die Ostecke des Zaunes, um Mitternacht.“

Der Befehl war klar und verständlich. Die Ausführung nicht weiter schwierig … – Ich aß zu Abend. Die Pensionatinhaberin kam und erkundigte sich sehr teilnehmend nach meinem Befinden … Es hat sein Gutes, wenn man einmal Schauspieler gewesen ist und wenn man nachher als Detektiv so und so oft schon in derselben Damen-Aufmachung tätig gewesen. Ich wußte, daß niemand in mir einen verkleideten Mann vermutete … fühlte mich als ältliche Frau Doktor durchaus sicher … Bis zehn Uhr leistete die Inhaberin des Pensionats, eine sehr liebenswürdige Witwe, mir Gesellschaft …

Um elf Uhr war im Hause völlige Ruhe … Ich schloß die Türen ab, und in einer Viertelstunde war ich ein blondbärtiger Europäer geworden:

Die seidene leichte Strickleiter legte ich bereit, ebenso den starken Bindfaden. Dann – Licht aus – auf den Balkon …

Aha – Herr Urtschoff ließ die Bogenlampe jetzt über Nacht brennen … Und auf den Stufen der Verandatreppe saßen drei der Schlitzaugen …

Herr Urtschoff war um sein Kranichhaus doch verdammt besorgt …!!

 

4. Kapitel.

Schminke …

Mich hinderten diese drei Wächter kaum. Das Licht der Bogenlampe wurde durch die Bäume abgesperrt, und hier im[10] Pensionsgarten hatte ich nichts zu fürchten.

Die Strickleiter glitt abwärts. Das eine Ende des Bindfadens war unten an der Strickleiter befestigt, das andere wurde durch eine kleine, am Balkongitter festgebundene Rolle gezogen und ebenfalls nach unten geworfen.

Ich kletterte flink hinab, hißte die Strickleiter mit Hilfe des Bindfadens empor und schlang diesen so um einen Strauch, daß er nicht bemerkt werden konnte.

Bereits um drei Viertel zwölf kauerte ich an der Ostecke des Gartenzaunes hinter ein paar kleinen Taspisbüschen[11]. Sie dufteten so intensiv, daß ich sehr bald leichte Kopfschmerzen bekam … Und doch gab es kein anderes Versteck in der Nähe.

Ich wartete … und wartete, daß Harald sich mit dem von ihm befreiten Gefangenen hier einfinden würde …

Oh – es kam ganz anders …

Gewiß – kurz nach Mitternacht schwang sich eine Gestalt über den Zaun … – ein indischer Kuli – mein Harald … Aber allein. Nur mit einem großen und offenbar sehr schweren Sack auf dem Rücken.

Lautlos war Harst aufgetaucht … Lautlos trat er in den Schatten der Büsche neben mich …

„Geglückt, mein Alter …“ – und er atmete hastig und keuchend.

„Wo ist der Gefangene?“

„Frei … – Aber – fort von hier … Noch sind wir nicht in Sicherheit …“

Er deutete nach Norden … Schritt voran … Sehr eilig …

Da … geschah’s … Da geschah das, was nicht im Programm dieser Nacht vorgesehen war …

Ich bekam als erster von hinten einen Schlag über den Schädel … Für einen vierbeinigen Ochsen hätte die Dosis genügt … Für mich genügte sie mehrfach … Ich kippte aus den Pantoffeln, wie die volkstümliche Redensart lautet – fiel nach vorne über und sah noch gerade, daß ein Kerl neben mir vorbeischoß und etwas wie eine Keule auch auf Haralds Schädel niedersausen ließ … Dann war’s mit dem Denken, Hören, Sehen und Fühlen vorläufig vorüber … Sogar gänzlich …

Das Erwachen folgte unter sehr alltäglichen Umständen.

Harald rüttelte mich, quetschte mir den säuerlichen Saft des indischen Wildapfels in den Mund und brachte mich sehr bald vollends zu mir. Ich setzte mich aufrecht, glotzte noch etwas blöde in die Runde …

Da waren Taspisbüsche … Da war zehn Schritt entfernt ein Gartenzaun … Und der Morgen zog gerade herauf, übergoß alles mit fahlem Licht.

Harald kniete neben mir …

„Mein Alter, – hier, kaue diesen Apfel … Du mußt schneller wieder Deine fünf Sinne beieinander haben … Wir sind schändlich hereingefallen … Man hat uns beraubt …“

Mir war noch sehr wirr im Schädel …

„Beraubt?! Was … was ist geraubt worden?“

„Leiser …!! Du brüllst, als ob wir hier in der Wüste Sahara säßen … – Was geraubt ist?! Nun – der Gefangene natürlich … Wer sonst …?! Man hat uns hier niedergeschlagen und einfach liegen lassen … – Das heißt: ich bin schon seit zwei Stunden wach, mein Alter … Bin auch schon oben im Pensionat in unseren Zimmern gewesen und habe einiges geholt, was wir brauchen können – zum Beispiel unsere zweite Garnitur Pistolen … Die erste Garnitur hat der Attentäter uns weggenommen …“

„Und – wer war das?“

„Das wollen wir jetzt feststellen … – So – hopla, da stehst Du ja auf den Beinen … Und nun wollen wir der Fährte des Attentäters zu folgen versuchen … Obwohl das hier ein sehr schwieriges Stück Arbeit werden wird …“

Wir schlüpften davon …

Gelangten an den Rand des Wäldchens … – Man merkte hier, daß es die Kehrseite einer Villenstraße war. Da lagen ganze Haufen leerer Konservenbüchsen, ausrangierte Emailleeimer, Scherben und anderes …

So trottete ich denn zwischen diesen Müllhaufen hinter Harald her, als ein sehr überflüssiges und wertloses Anhängsel von ihm …

Es war inzwischen heller geworden …

Plötzlich blieb Harst stehen … Zur Abwechslung lag hier mal ein Berg Bauschutt … Und in dem weißen Kalkmehl am Fuße dieses Hügels war etwas von einer Fährte zu erkennen: verschwommene Umrisse nur, immerhin eine Spur. – Der Mensch, der hier in das Kalkmehl getreten war, mußte sehr große Füße gehabt haben, – das sah auch ich!

Harst nickte zufrieden …

„Das wäre der Anfang …!“

Und ich, mit einiger Ironie: „Weshalb suchst Du nach Spuren?! Es ist doch natürlich einer der Chinesen Urtschoffs gewesen, der uns erledigte und dann …“

„Stopp, Alterchen …! An Dir muß der Kerl doch vorbeigehuscht sein, als er Dir den Klapps versetzt hatte und mich nun vornehmen wollte … Vielleicht hast Du mit Deinem bereits schwindenden Bewußtsein doch noch irgend einen Eindruck von dem Menschen erhascht …“

Ich sann angestrengt nach …

„Allerdings …“ meinte ich. „Der Kerl war sehr groß und dürr und – hm – nein, es war kein Chinese, bestimmt nicht … Es war ein Europäer …“

„Merkwürdig!“ murmelte der Freund da. „Sollte etwa hier eine Schurkerei übelster Art …“ – und verstummte, winkte mir …

Die Kalkspur zog sich über eine kleine grüne Fläche nach einem Gebüsch zu weiter …

Wir drangen in die Sträucher ein … Hier in dieser Lichtung hatten Kinder gespielt, hatten sich eine primitive Bank errichtet und daneben ein Hüttchen …

Harald musterte die Bank …

Das Sitzbrett war offenbar dem Berge Bauschutt entnommen und weiß von Kalkstaub …

Harst hob die Rechte, spreizte den Zeigefinger ab …

„Was siehst Du dort?“ fragte er …

Auf dem Sitzbrett war nichts als ein Stückchen Goldpapier und ein brauner Strich zu bemerken …

„Nichts …!“ erwiderte ich … „Nichts sehe ich …!“

„Und das Stückchen Goldpapier?“

„Hm – bedeutet das etwas?“

„Allerdings … Schau es Dir mal genauer an …“

Ich tat’s … Und wußte sofort: es war Goldpapier von einem Schminkstift, die ja unten sehr häufig mit Goldpapier umhüllt sind. – Ein wenig braune Schminke haftete noch an dem Papier. Mithin rührte der braune Strich ebenfalls von Schminke her …

Und da kam mir eine Art Erleuchtung …

„Der Attentäter hat sich hier verkleidet,“ meinte ich …

„Ganz bestimmt hat er das getan, mein Alter. Doch diese Weisheit nützt uns nicht viel. Ich möchte Dir nun erklären, daß der Attentäter keiner von Urtschoffs Leuten gewesen ist … Niemand ahnt dort bisher, daß ich den Gefangenen entführt hatte, daß der Gefangene nicht mehr in dem Kranichhause steckt …“

„Ja – unter dem Baumstumpf steckte er,“ nickte ich stolz …

„Pardon – ein kleiner Irrtum, Alterchen … Oben im Baumstumpf!“

„Mein Gott, dann muß der Kerker ja entsetzlich gewesen sein …“

„Das stimmt … Und unsauber …“

„Wie bist Du denn in das Vogelhaus hineingelangt …?“

„Nun, zunächst habe ich mit einem Gummischlauch von oben die Kraniche durch Chloroform betäubt …“

„Unglaublich …!“

„Dann die Hunde durch Fleischstücke, die Morphium enthielten, zum Einschlafen gebracht. Dann mit einer Drahtschere[12] ein Loch in die Gitterdecke des Käfigs geschnitten, an einem Tau hinab, den Gefangenen befreit, wieder nach oben, nachdem ich das Kranichnest wieder leidlich geordnet hatte …“

„Das Nest?!“

„Ja – unter dem Nest war der Gefangene verborgen … Ich behaupte, daß Urtschoff noch nicht ahnt, daß sein Kranichhaus nun wertlos … Er hatte die Geschichte verdammt schlau angefangen – verdammt schlau! Wenn er nicht jetzt übervorsichtig gewesen wäre und wenn nicht diese Vorsichtsmaßregeln uns auf den Käfig aufmerksam gemacht hätten …“ – und … brach jäh ab, trat an den nächsten Baum heran …

Dort hing noch das verknotete Ende einer Schnur … etwa in Schulterhöhe … Und vor dem Baume im Grase war zu erkennen, daß der Attentäter sich scheinbar hier mehrmals um sich selbst gedreht und sich so auf den Baum zu bewegt hatte – Harald erklärte mir die besondere Eigentümlichkeit dieser Spuren … Und das tat er mit einer gewissen Freudigkeit, fügte hinzu:

„Du wirst noch sehr erstaunt sein, wenn Du die volle Wahrheit erfährst … Jetzt wollen wir schleunigst einmal Toilette machen … Das ist bei Dir nicht mehr nötig … Aber bei mir …“

Und er öffnete das Bündel …

Ich half ihm … Er legte einen weißen Leinenanzug an, nachdem er den bräunlichen Hautfarbstoff mit Spiritus abgerieben hatte … Wurde wieder Gentleman, und so wanderten wir beide zum nächsten Postamt, das dicht neben unserem Pensionat lag …

Harald telephonierte … An Frau Wera nach dem Esplanade … Bekam sehr bald Anschluß … ich stand in der Telephonzelle neben ihm …

„Hallo – hier Doktor Woringer … Guten Morgen, gnädige Frau … Etwas Neues? – So – – nichts Neues?! Das ist seltsam … Hat der Fakir nichts gemeldet? – So … nichts? – Danke … Erwarten Sie uns im Hotel und schweigen Sie, gnädige Frau … Sollte der Fakir erscheinen, so halten Sie ihn unter einem Vorwand fest …“

Dann wandte Harald sich mir zu …

„So, nun kommt die Entscheidung … Los denn – zum Djeibar-Park …!“

 

5. Kapitel.

Der befreite Gefangene.

Ein köstlicher Morgen … Nicht allzu heiß …

Und in der Wildnis des Djeibar-Parkes eine Freude der dort hausenden Tierwelt, daß einem das Herz aufging … Ein Jubilieren der Vögel, ein Umhertollen der halbzahmen Affen, – es war eine Lust, diese Wildnis zu durchstreifen …

Eine Lust … wäre es gewesen, wenn nicht unser Geschäft unsere Gedanken so vollkommen in Anspruch genommen hätte, besonders meine Gedanken.

Die an Harald gerichteten Fragen waren zwecklos. Er wich mir aus. Er wollte mir die Überraschung nicht verderben, wie er sich ausdrückte.

Jetzt am hellichten Tage brauchten wir der Kobras wegen nicht mehr so vorsichtig zu sein wie gestern … Nein, durchaus nicht … Wir machten diesen Weg ja zum zweiten Male …

Und kamen an die Lichtung … Drüben der Baum, der Tropenriese … Drüben in den Ästen die spitze Laubhütte des Fakirs …

Wir am Rande der Lichtung auf den Baum zu …

Urplötzlich zog Harst mich tiefer ins Gestrüpp …

Da kam der hagere schmierige Fakir vom Parkeingang her … Ohne Arme – langsam, würdevoll …

Die Strickleiter erreichte er …

Mit Füßen und Zähnen arbeitete er sich empor …

Harst schlüpfte vorwärts …

Zwei Sprünge …

Packt das Obergewand des Fakirs …

Reißt es herab …

Oben in den Ästen ein gellender Schrei … Oben auf der Plattform aus Ästen vor der Hütte steht zusammengeduckt, wie sprungbereit, des Fakirs Tochter …

Ich habe die Clement erhoben …

Ziele auf das Mädchen …

Und sehe doch, daß … der Fakir keineswegs armlos ist, daß er nur die Arme an den Leib gebunden hat …

Und da – begreife ich verschiedenes … Da begreife ich, daß die Spuren im Grase neben der Kinderbank, wo der Attentäter sich um sich selbst gedreht hatte, davon herrührte, daß … dieser Fakir dort seine Arme wieder mit der Schnur umwickelt hatte, deren eines Ende an den Baum gebunden gewesen … Da weiß ich, daß der Fakir kein Inder, sondern ein verkleideter Europäer ist und daß er und das Mädchen und die beiden Matrosen-Gentlemen die Künstlerfamilie gewesen, die in unserm Bungalow gehaust haben …

Harst hat den Fakir herabgezerrt von der Strickleiter …

„Wo haben Sie das, was Sie mir vor sieben Stunden raubten?“ fährt er ihn drohend an …

Die Szene wird zum Tribunal …

Der angebliche Fakir zuckt zurück …

„Heraus mit der Wahrheit …!! Wo ist der Sack, den ich nachts aus dem Kranichhause brachte?! Reden Sie!!“

Das Mädchen oben auf der Plattform weint …

Weint kläglich …

Dann – ruft sie klagend: „Dimitri, sag’ die Wahrheit …! Herr Harst wird gnädig sein …!“

Und dieser Dimitri stiert jetzt den beiden … Matrosen entgegen, die soeben im Laufschritt vom Parktor nahen – die Gentlemen-Matrosen … Hinter ihnen … der Oberkellner aus dem Esplanade, Fürst Sergius Tschergin …

Die drei stehen neben uns …

Tschergin fragt:

„Herr Harst, was geht hier vor …? – Wera, meine Kusine, schickt uns … Urtschoff ist bei ihr im Hotel … Urtschoff hat ihr den Tscherginschen Familienschatz ausliefern wollen – wollen!! Aber der Schatz ist gestohlen – in dieser Nacht …“

Ein … Familienschatz …?!

Mir fällt’s da in Wahrheit wie Schuppen von den Augen …

Das, was Harald mit „Der Gefangene“ bezeichnet hat, sind Familienjuwelen, die Urtschoff beiseite geschafft hat, die er nun doch herausgeben wollte …! –

Harald deutet auf den Fakir ohne Arme …

„Fürst, wer ist der Mann?“

„Ein Detektiv, gebürtiger Russe, den wir, meine Kusine und ich, mit seiner Frau beschäftigten … Die beiden sollten unsere Familienjuwelen suchen … Wir ahnten, daß Urtschoff sie hier verborgen hielt. – Und diese Herren …“ – er deutet auf die Gentlemen-Matrosen – „sind Weras Brüder, die damals doch dem Blutbade entgingen … Weras Mutter war die Schwester meines Vaters … Die Familienjuwelen hatte Urtschoff hier in dem Nest der …“

„… der beiden Kraniche versteckt, – das weiß ich, Fürst … Und ich war’s, der den kostbaren Sack von dort raubte – für Frau Orlington … Dieser Kollege aber schlug Schraut und mich nieder und …“

Tschergin trat dicht vor den Kollegen hin …

„Senetow – wo sind die Juwelen?!“ Er hob die Hand … ließ sie aber wieder sinken …

„Lump, Du bist es nicht wert, geschlagen zu werden …“

Dimitri Senetow senkte den Kopf, stammelte …

„Die Verführung war zu groß … Ich … bereue … Dort … dort habe ich den Sack vergraben, Fürst … Verzeihen Sie mir … Ich habe Ihnen bisher treu gedient … Verzeihen Sie mir …“

Und sein Weib rief:

„Fürst, ich hätte Dimitri umgestimmt … Er ist nicht schlecht … Er hat sich durch die böse Eingebung eines Augenblicks blenden lassen …“

Tschergin nickte … „Gut, Senetow … Hier haben Sie Ihr Honorar …“ Er warf eine Brieftasche ins Gras … Und dann zerschnitt er Senetows Armfesseln …

Der Kollege hatte im Nu den Sack herbeigeholt …

Wir fünf, die drei Vettern und wir beide, schritten der Straße zu – mit dem „befreiten Gefangenen“ … Stiegen in das wartende Auto … Waren im Esplanade … im Salon Frau Orlingtons …

Dort saßen Wera und Urtschoff am Frühstückstisch …

Der Generalkonsul erhob sich, lächelte ein wenig verlegen und meinte:

„Ich habe mit meinen Landsleuten Frieden geschlossen, Herr Harst … Ich wollte die Familienkleinodien herausgeben … Meinen Schreck können Sie sich wohl vorstellen, als das Kranichnest leer war … – Gott sei dank, ich sehe, der Fürst trägt den kostbaren unscheinbaren Beutel …“

Wir hatten Urtschoff also wirklich nicht falsch beurteilt. Er war ein anständiger Mensch. Daß er zunächst die Juwelen „beschlagnahmt“ hatte, – ja, zu jenen Zeiten war es nicht nur in russischen Seelen drunter und drüber gegangen! –

Als nun auch wir mit an der Frühstückstafel saßen, als wir alle bei bester Laune den „Fall“ besprochen und ins Komische zogen, da gestattete ich mir eine Frage an Urtschoff zu richten:

„Gestern abend wurde doch ein sehr schwerer großer Koffer in Ihre Villa geschleppt …?!“

„Ja, Herr Schraut … Es waren Aktenbündel aus dem Konsulat darin … Was glaubten Sie?“

„Hm – ehrlich: ich fürchtete, Harald sei in dem Koffer verstaut worden …“

Tschergin rief: „Das ist einen Likör wert!!“

Alles lachte …

Wir tranken auf das Wohl des … befreiten Gefangenen … –

So endete denn dieses Problem mit einer vergnüglichen kleinen Zecherei … Wir hatten’s eben mit Russen zu tun … Und keine echt russische Freude ohne Alkohol …

 

Nächster Band:

Joe Billwakers Verbrechen.

 

 

Verlagswerbung:

Wir weisen alle Freunde dieser Detektiverzählungen darauf hin, daß das Bild Harst–Schrauts mit eigenhändiger Unterschrift der beiden berühmten Gentlemandetektive gegen Einsendung von 1,60 Mark vom Verlag zu beziehen ist.

 

 

Gute und billige
Romane:

 
 
 
 
 
pro Band

50

Pfennige

Die Lahore-Vase
Der hüpfende Teufel
Das Haus am Mühlengraben
Der Mutter Name
Komm an mein Herz
Die Brettldiva
Rittergut Tressin
Im Schatten der Schuld
Um Leben und Tod
Das Haus des Hasses

erhältlich in jeder Buchhandlung oder direkt beim
VERLAG MODERNER LEKTÜRE
Berlin SO 16 / Michaelkirchstraße 23a

Postscheckkonto: Berlin Nr. 17 262

 

 

Anmerkungen:

  1. „Hoonler“ / „Horrler“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Hoonler“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „den“.
  3. In der Vorlage steht: „Jahe“.
  4. In der Vorlage steht: „India Morld“.
  5. „Oligow“ / „Orligow“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Oligow“ geändert.
  6. In der Vorlage steht: „Abend“.
  7. In der Vorlage steht: „hin“.
  8. In der Vorlage steht: „den“.
  9. „Woringer“ / „Waringer“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Woringer“ geändert.
  10. In der Vorlage steht: „ihm“.
  11. „Taspisbüschen“ / „Taspis-Büsche“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Taspisbüsche(n)“ geändert.
  12. In der Vorlage steht: „Drahtscheere“.

 

Verlagswerbung: 

Wir weisen alle Freunde dieser Detektiverzählungen darauf hin, daß das Bild Harst–Schrauts mit eigenhändiger Unterschrift der beiden berühmten Gentlemandetektive gegen Einsendung von 1,60 Mark vom Verlag zu beziehen ist.