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Joe Billwakers Verbrechen

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 149

 

Joe Billwakers Verbrechen

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Geschichte der Familienkleinodien des Fürsten Tschergin hatte, wie der Leser noch in der Erinnerung haben dürfte, eine überaus befriedigende Lösung gefunden. Generalkonsul Urtschoff hatte uns gebeten, über die Vorgänge der ereignisreichen Nacht Stillschweigen zu bewahren – eigentlich etwas Selbstverständliches, denn allen Beteiligten war daran gelegen, daß die Dinge der Öffentlichkeit vorenthalten blieben.

Harald hatte dem Fürsten geraten, die Juwelen sofort auf die Jacht Hudson zu schaffen – für alle Fälle!

„Das internationale Gaunertum, das ja auch hier in der Weltstadt Bombay reichlich vertreten ist, bekommt stets überraschend schnell Kenntnis von derartigen lohnenden Objekten,“ hatte er seinen Vorschlag begründet. „Eine Jacht wie die des Gatten Ihrer Kusine ist der sicherste Tresor für solche Pretiosen …“

„Zumal,“ warf Frau Wera Orlington ein, „an Bord der Hudson sich ein kleiner ganz moderner Panzerschrank mit Kombinationsschloß befindet. – Sergius, wir täten gut, die Juwelen sofort dorthin zu bringen.“

So fuhren wir denn zu sechs Personen zum Hafen hinab, wo die elegante Jacht am Kai lag. Die Familienkleinodien waren in einen mittelgroßen Lederkoffer eingeschlossen, den der Fürst während der Fahrt auf dem Schoße hielt.

Außer Frau Orlington, uns beiden und dem Fürsten waren noch die Brüder der Millionärin dabei. Orlington selbst befand sich im Innern auf der Tigerjagd.

Wir begaben uns vom Auto aus in die Heckräume der Hudson, in Orlingtons große Kabine, die als Arbeitszimmer eingerichtet war. Hier stand der Tresor in vornehmer Schrankform.

Frau Wera stellte die acht Buchstaben des Kombinationsschlosses auf das Wort „Kingland“ ein und öffnete den Panzerschrank.

Inzwischen hatte Sergius Tschergin den Koffer aufgeschlossen und den groben, schäbigen Sack, im dem die Kleinodien noch ruhten, herausgenommen …

Plötzlich stieß er einen merkwürdig heiseren Schrei aus …

Wir alle schnellten herum …

Er stand tief gebeugt über den auf einem Sessel liegenden Sack da und hatte mit der Rechten … einen gewöhnlichen Feldstein hervorgeholt …

Sein schmales Gesicht war erblaßt … Seine entsetzten Augen starrten Harald an …

„Nur … noch … Steine …“ stammelte er … „Herr Harst – – alles gestohlen … alles …!! Wie ist das nur möglich?! Wir haben doch weder den Sack noch den Koffer auch nur eine Sekunde aus den Augen gelassen! Gegen zehn Uhr kamen wir im Hotel Esplanade an … Da waren die Kleinodien vorhanden … Ich zeigte sie Ihnen … Wir saßen dann in Weras Salon und frühstückten … Vor Ihren Augen tat ich den Sack in diesen Koffer, verschloß ihn und stellte ihn neben den Frühstückstisch … Wir blieben im Salon, bis wir den Koffer ins Auto trugen … Und doch: jetzt nur Steine – nichts wie Steine …!“

Er war völlig niedergeschmettert … Die Kleinodien hätten ihm wieder ein unabhängiges, standesgemäßes Leben ermöglicht … Nun war er wieder bettelarm, der russische Fürst, den wir wegen seiner liebenswürdigen Umgangsformen so sehr in unser Herz geschlossen hatten.

Harald beruhigte ihn …

„Was ich tun kann, wird geschehen …“ meinte er. „Die Hauptsache: wir dürfen uns nichts anmerken lassen … Wir alle müssen so tun, als ob dieser in der Tat äußerst rätselhafte Diebstahl noch nicht entdeckt sei … Haben Sie Vertrauen zu mir, Fürst … Schraut und ich werden Ihnen Ihr Eigentum zurück verschaffen … – Nehmen wir Platz … Ich möchte Sie einiges fragen … Auch Sie, Frau Orlington. Von Ihren Antworten hängt sehr viel ab … Lassen Sie sich Zeit, überlegen Sie sich diese Antworten … – Fürst Tschergin hat die Sachlage bereits kurz und treffend gekennzeichnet. Die Juwelen sind nicht einen Moment ohne Aufsicht geblieben, das ist richtig. Niemand außer uns sechs und Urtschoff hat die Pretiosen im Salon gesehen. Während des Frühstücks bediente uns Ihr Kammerdiener, Frau Orlington. Nur er ging im Salon aus und ein. Aber auch in seiner Gegenwart waren wir vorsichtig und erwähnten die Kleinodien in keiner Weise. – Frau Orlington, ist der Diener zuverlässig?“

„Durchaus, Herr Harst. Mein Mann hat ihn bereits drei Jahre in seinem Dienst. Der Diener ist von Geburt Grieche, aber schon seit zehn Jahren in Amerika. Ein stiller, pflichttreuer Mensch … Nein, Theophilos Krakotis müssen wir ausscheiden …“

Harald nickte …

„Möglich, Frau Orlington … Ein Mann, der drei Jahre ehrlich war, kann immerhin einer Versuchung unterliegen, kann am Schlüsselloch beobachtet haben, daß der Sack Juwelen enthielt, kann der Versuchung unterliegen … – Und Sie, Fürst Tschergin – Sie waren doch ein volles Jahr Oberkellner im Hotel Esplanade … Sie kennen das Personal … Glauben Sie, daß unter den Kellnern fragwürdige Elemente sich befinden?“

„Nein, bestimmt nicht, Herr Harst … Ein Luxushotel wie das Esplanade ist in der Wahl selbst der Küchenbediensteten außerordentlich vorsichtig. Wir haben jeden, der neu eingestellt wurde, auf Herz und Nieren geprüft … jeden! Der Hoteldirektor und ich waren zusammen mit den beiden Hoteldetektiven beständig auf der Lauer, ob wir irgendwo auch nur die geringste Unregelmäßigkeit bemerkten. Das Hotel wurde erst vor zwei Jahren eröffnet. Obwohl dort nun ausschließlich vielfache Millionäre absteigen, ist noch nie ein Diebstahlsversuch gewagt worden. Unser Betrieb ist mustergültig. Es gibt auf der Welt kein Hotel, das derartige Sicherheitsmaßnahmen für seine Gäste getroffen hat. Die Türschlösser der Doppeltüren sind erstklassige Kunstschlösser. Um die Schlösser herum sind die Innentüren unsichtbar gepanzert. Die Außentüren haben Stahlblecheinlagen. Die Fenster besitzen sämtlich geschweifte Ziergitter … Kurz: das Esplanade ist fast ein Gefängnis – – einbruchssicher, ausbruchsicher …!“

Frau Orlington brachte Zigaretten …

„Herr Harst, bitte … Ich kenne Ihre Leidenschaft …“

Harald dankte …

„Verzeihen Sie, in so schwierigen Fällen rauche ich zur Anregung nur meine Mirakulum … Sie gestatten …“

„Gewiß … gewiß …“

Seine Augen hingen an dem neuen Lederkoffer und dem schäbigen Leinwandsack, der jetzt nur Steine enthielt …

„Wann haben Sie den Koffer gekauft, Fürst Tschergin?“ fragte er sinnend …

„Vor vierzehn Tagen … Hier in der Bakalar-Street, bei dem persischen Händler Selmin – das größte Lederwarengeschäft in Bombay …“

„Persönlich?“

„Ja, natürlich …“

„Und der Koffer wurde Ihnen zugeschickt?“

„Nein … Ein Kellner holte ihn ab …“

„Weshalb? Ein Kellner?!“

„Nun ja – der eleganteste unserer Kellner, Joe Billwaker … Er ist sehr gefällig und hatte sich zur selben Zeit bei Selmin eine Brieftasche erstanden …“

Harald schaute den Fürsten an …

„Sie können es sich wohl selbst sagen, Fürst, daß der Koffer und der Sack unmöglich dieselben sind, die im Salon Ihrer Frau Kusine neben dem Frühstückstisch hinter dem kleinen kostbaren Wandschirm standen … Unmöglich dieselben! Der Koffer ist eben vertauscht worden, muß vertauscht worden sein …“

Frau Orlington rief: „Das ist ja aber doch ausgeschlossen, Herr Harst …! Im Salon waren nur wir sechs und Urtschoff anwesend, dann noch der Diener Theophilos, den wir James nennen, weil die meisten Diener so genannt werden … James kann doch nicht mit einem Koffer hereingekommen sein und den Tausch unter unseren Augen vorgenommen haben!“

„Über das „Wie“? dieses Diebstahls läßt sich bis jetzt nur das eine bestimmt sagen, Frau Orlington: es ist weder derselbe Koffer noch derselbe Leinensack. – Hatte Ihr Koffer, Fürst, besondere Kennzeichen?“

„Nein … Ich hatte ihn noch nicht benutzt …“

Harald nahm die zweite Mirakulum …

„Ich wiederhole,“ sagte er, „wir müssen so tun, als sei nichts geschehen … Sie kehren ins Esplanade zurück … Wir verabschieden uns auf dem Kai draußen und begeben uns in unser Fremdenheim. Mittags ein Uhr reisen wir zum Schein ab … Und Sie kümmern sich bitte um nichts – um gar nichts. Sie sollen den Eindruck erwecken, als ob Sie die Juwelen in guter Hut glauben … Sie haben auch keinen Grund zur Beunruhigung … Und wenn ich ein ganzes Jahr dem Diebe durch alle Weltteile nachjagen sollte: ich werde ihm die Beute abnehmen!“

Und er reichte Tschergin die Hand, fügte hinzu:

„Ein anderes Gesicht also, Fürst …! Nur wenn wir die Gauner in Sicherheit wiegen, werden wir raschen Erfolg haben …! Ich hoffe …“

Es hatte geklopft …

Frau Orlington eilte zur Tür …

Öffnete nur handbreit …

Eine rauhe Stimme von draußen …

„Einer der Hoteldetektive aus dem Esplanade möchte Sie sprechen, Frau Orlington …“

Harst klappte schnell den Koffer zu und schob ihn unter den Diwan …

„Der Detektiv mag eintreten …!“ rief er …

Der kleine Herr mit dem verkniffenen Gesicht trat ein – schwitzend, keuchend …

„Frau Orlington …“ – er schnappte nach Luft … „Frau Orlington, vor zehn Minuten ist Ihr Diener James in Ihrem Salon ermordet aufgefunden worden …“

Sein Blick schweifte zu Harald hinüber …

„Unser … unser Hotel ist ruiniert, wenn … wenn die Sache an die Öffentlichkeit kommt … Herr Harst, der Hoteldirektor läßt Sie inständig bitten, sich des Falles annehmen zu wollen … Dann brauchen wir die Polizei nicht zu benachrichtigen … Ihr Name …“

„Wer hat den Mord entdeckt?“ fragte Harald …

„Der Kellner Billwaker …“

Totenstille …

Zum zweiten Male fiel hier dieser Name …

Totenstille …

Der Hoteldetektiv blickte uns der Reihe nach fragend an …

Dann sagte er – noch immer ganz verstört:

„Bisher wissen nur der Hoteldirektor, Billwaker, mein Kollege und ich davon, Herr Harst … Verlangen Sie, was Sie wollen – nur helfen Sie uns …! Es ist jetzt Reisezeit, und wenn der Mord in die Öffentlichkeit dringt …“

Harald stand auf …

„Gut – in fünf Minuten sind Schraut und ich dort … bestimmt … Schweigen Sie, bewahren Sie die Ruhe … – Haben Sie den Salon verschlossen?“

„Ja … auch die Nebengemächer Frau Orlingtons …“

„Dann fahren Sie voraus … Die Herrschaften bleiben hier an Bord … Schraut und ich kommen durch den Hotelpark. Erwarten Sie uns an einem Seiteneingang …“

 

2. Kapitel.

Der Hotelflur im ersten Stock des Hauptflügels war leer …

Sechs Herren traten rasch durch die Doppeltür in den Salon ein …

Dort links stand noch der Frühstückstisch …

Aber – von einem Toten nirgends eine Spur – nirgends …

Detektiv Roussell, der Hoteldirektor, der andere Detektiv und Billwaker riefen wie aus einem Munde:

„Verschwunden …!!“

Roussell – vollkommen verwirrt, fügte hinzu:

„Dort – dort lag die Leiche – – dort!“

Er deutete auf die Stelle vor dem kostbaren Wandschirm …

„Und die Todesursache?“ fragte Harald kühl …

„Ein Messerstich ins Herz … Das Messer steckte noch in der Wunde … Die weiße Leinenjacke war blutdurchtränkt, das Gesicht fahl und verzerrt, die Augen entsetzlich verdreht …“

„Haben Sie nach dem Pulsschlag gefühlt …?“

„Ja … Es war nichts mehr zu spüren …“

Harald wandte sich an den Kellner Joe Billwaker …

Der war hier für mich die interessanteste Person …

Nun – – offen gestanden: Billwaker machte einen tadellosen Eindruck …

Ein junger schlanker Mensch von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, regelmäßige, energische Züge, klare offene Augen, sehr bescheiden und doch in keiner Weise kriecherisch …

„Wie entdeckten Sie den Mord?“ fragte Harst ganz freundlich …

„Ich bin hier im ersten Stock Etagenkellner, Mr. Harst … James begegnete mir, nachdem Frau Orlington sich mit ihren Gästen entfernt hatte, im Flur und bat mich, ihm beim Abräumen des Frühstückstisches zu helfen … Ich erklärte, ich würde sofort kommen. Ich hatte nur noch für einen anderen Gast ein Glas Eislimonade zu holen. Das dauerte keine vier Minuten. Ich betrat hier den Salon durch die Flurtür und sah James dort in seinem Blute liegen, lief sofort zu Mr. Roussell … – Mehr kann ich nicht angeben …“

Ich beobachtete ihn heimlich …

Nein – er machte auch nicht im geringsten den Eindruck, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte. Er war nur gerade so weit durch diese Untat erregt, wie es auch die Detektive und der Hoteldirektor waren.

Harald nickte ihm denn auch zu und meinte:

„Sie waren dann wohl mit Ausnahme des Mörders der letzte, der den Diener James lebend gesehen hat … – Bemerkten Sie vielleicht im Flur irgend jemand, der irgendwie Ihren Verdacht erregte?“

„Nein – niemand, Mr. Harst … Jedenfalls kein fremdes Gesicht …“

„Begegneten Sie einem Hotelgast oder Hotelangestellten draußen im Korridor, als Sie sich hierher begaben, um James zu helfen?“

Billwaker dachte nach …

„Nur Frau Major Lambrock aus dem Hochparterre, Mr. Harst … Frau Lambrock hat unten die Zimmer Nr. 2 und 3 …“

„Eine Witwe,“ warf der Hoteldirektor ein … „Witwe des amerikanischen Majors Lambrock, seit acht Tagen nebst Gesellschafterin hier abgestiegen …“

Harald wandte sich der Stelle zu, wo der tote James gelegen hatte …

„Wenn die Türen verschlossen waren,“ meinte er, „kann doch die Leiche nicht gut weggeschafft worden sein … Suchen wir mal in den beiden Nebenräumen.“

Links lag das Schlafzimmer Frau Orlingtons, rechts das ihres Gatten.

Wir fanden nichts …

Auch eine nochmalige äußerst genaue Besichtigung des Salons blieb ergebnislos. Harst rutschte auf den Knien den Teppich entlang, benutzte sein Vergrößerungsglas, prüfte die Türschlösser – alles umsonst!

Und gerade durch die sorgfältige Durchsuchung war auch der Diebstahl des Koffers noch geheimnisvoller geworden … –

Harald sagte zu dem Hoteldirektor, daß man uns beide jetzt hier allein lassen möge … Wir würden ihn nachher im Büro aufsuchen …

Die anderen entfernten sich. Harst schloß hinter ihnen ab …

Ich stand vor dem Wandschirm und bewunderte die kostbare Stickerei … Auf schwarzer Seide war da in den vier Teilen des Schirmes eine ganze Szenenreihe aus der indischen Göttersage eingestickt …

Harald ließ den Schlüssel der Innentür stecken und drehte sich langsam um … Unsere Blicke trafen sich …

Und – er senkte den Kopf, zwinkerte mir zu …

Ich wurde aufmerksam …

Dann sagte er ganz laut:

„Ein böser Fall, mein Alter … Der Hoteldirektor verläßt sich auf uns … Wenn wir uns nun blamieren?!“

Und er warf sich in einen Sessel und starrte vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, daß er Komödie spielte, daß er bestimmt annahm, wir würden beobachtet und belauscht …

Und weiter fühlte ich unklar, daß er diesen beiden Rätseln doch schon auf der Spur war …

Ich richtete mich nach seinem Verhalten …

„In der Tat, Harald – ein böser Fall … Raubmord liegt nicht vor … Roussell erwähnte, daß James die Brieftasche, Uhr und …“

Harst hob die Schultern …

„Ein Denkfehler, Max Schraut …! James’ Leiche ist weg … Mithin auch der Inhalt seiner Taschen … Er war gleichzeitig Orlingtons Reisemarschall, muß bedeutende Summen bei sich gehabt haben …“

„Hm – allerdings … –“ Ich war etwas kleinlaut geworden. Man macht doch stets noch Gehirnschnitzer, und dann meist ganz grobe.

Harst hatte die Augen geschlossen. Er lehnte im Sessel und machte ganz den Eindruck, als ob er schliefe …

Auch ich setzte mich auf einen der Brokatstühle neben den Wandschirm …

Unklar erwachte in mir da die Vorstellung, daß dieser Wandschirm bei dem Diebstahl sowohl als auch bei diesem Morde eine besondere Rolle gespielt haben müsse … Es gibt eben Augenblickseinfälle, über die man kaum selbst, was ihre Entstehung betrifft, irgendwie Rechenschaft ablegen könnte …

Wie ein Magnet zog der kostbare Wandschirm meine Augen abermals auf sich …

Da – von Haralds Sessel her:

„Nicht doch …!!“

Genau verstand ich’s … Er hatte mich gewarnt, hatte mich abgelenkt …

Und fügte hinzu:

„Richtstock – ja, der Fall Richtstock damals in Berlin erinnert stark an diese mysteriöse Geschichte …“

Es hat nie einen „Fall Richtstock“ gegeben … Nur in Haralds Phantasie war dieser soeben entstanden, um das warnende „Nicht doch!“ zu bemänteln …

„Allerdings,“ erwiderte ich, und der Wandschirm war für mich Luft. „Allerdings – große Ähnlichkeit …“

„Ja – dort verschwand diese Leiche des Fräulein Richtstock aus der Mansardenstube … Und selbst wir konnten nicht ermitteln, wo sie geblieben … Noch heutigen Tages harrt der Fall der Aufklärung … Vielleicht wird es hier ebenso … Wer kann’s wissen …“

Aha – nun begriff ich …! Es stimmte schon: wir wurden belauscht! Natürlich von dem Mörder – natürlich! Und dieser sollte durch den „bisher unaufgeklärten Fall Richtstock“ noch mehr in Sicherheit gewiegt werden!!

Aber – was war’s mit dem Wandschirm?! Was gab es dort zu sehen? Es mußte an dem Wandschirm ohne Zweifel etwas Wichtiges zu bemerken sein …!

Harald erhob sich …

„Alles Grübeln hilft hier nichts, mein Alter … Wir müssen ganz systematisch vorgehen … Es ist ja ganz klar, daß jemand Nachschlüssel zu diesen Zimmern besitzt und daß der tote James nur in die Zimmer gegenüber gebracht worden sein kann. Also fragen wir den Direktor, wer dort wohnt …“

Natürlich war auch das … Schwindel … Harald stand so, daß er den Wandschirm genau besichtigen konnte. Das Licht der beiden Fenster fiel unverhüllt auf die künstlerische, dicke Stickerei …

Dann geschah etwas Unerwartetes …

Harst, der mich noch soeben von dem Wandschirm gleichsam ferngehalten, bückte sich, rief …

„Hallo – hier – dies scheinen ein paar blutige Fingerabdrücke zu sein … – hier auf der Rahmenleiste … Doch – dafür haben wir jetzt keine Zeit … Wir wollen … oder besser, ich will den Direktor wegen der Zimmer gegenüber befragen gehen … Du kannst derweil zusehen, ob es wirklich Fingerabdrücke sind … Auf Wiederschaun, mein Alter … auf Wiederschaun …“

Nun – ich bin mit Harald bereits lange genug zusammen gewesen, um zu wissen, daß … ich die sogenannten Fingerabdrücke auch als solche erkennen sollte …

Harald verließ den Salon …

Ich war allein … Kniete vor dem Wandschirm … Und – sah allerdings Blut an der Leiste – drei merkwürdig dicke Spritzer – etwas verlaufen, alle gleich groß …

Das – waren keine Spritzer … Nein, das waren Tropfen von einer überraschenden Größe … – Wie konnten die hier an die Unterleiste des Rahmens des Wandschirmes gelangt sein?! Wie nur?! Aus der Wunde des Ermordeten?! Unmöglich! Nicht einmal der Teppich war beschmutzt worden …! Und so dicke Tropfen – nur gerade drei?! Ausgeschlossen! Dafür war ich Detektiv. Niemals rührten die Tropfen direkt von der Wunde her!

Ich setzte mich wieder …

Ich vergaß keinen Augenblick, daß ich belauscht, beobachtet wurde …

Ich spielte die Komödie weiter … genau wie Harst …

Und – der erschien sehr bald – sehr eilig – in Begleitung Roussells, des Hotelkollegen …

„Mein Alter, Roussell wird hier bleiben … Komm nur … – Wir wollen die Herrschaften von gegenüber verhören …“

Roussell nahm meinen Platz ein … Wir gingen hinaus … Harald klopfte gegenüber an. Der Hoteldirektor öffnete … Auch ein Salon … Zwei Herren und eine Dame standen in der Mitte des eleganten Raumes. Der Direktor stellte uns vor:

„Lord und Lady Carnavoor, Mr. Jenning, Privatsekretär – – Mr. Harst und Mr. Schraut, die deutschen Detektive …“

Die noch junge Lady schaute uns neugierig an … Seine Lordschaft war ganz kühle Ablehnung. Der Sekretär machte ein durchaus indifferentes Gesicht …

„Was – soll das?“ fragte Carnavoor von oben herab.

Harald hatte sich außerordentlich höflich verbeugt …

„Mylord, es hat sich hier im Hotel eine kleine Unregelmäßigkeit ereignet …“ (Ein Mord – – sehr bescheiden war diese Bezeichnung „kleine Unregelmäßigkeit“ …!!) „Drüben in den Zimmern der Frau Orlington, die Mylord wohl schon bemerkt haben …“

„Bedaure – nein!“

„… in diesen Zimmern ist – offenbar ein gegen Frau Wera Orlington, geborene Gräfin Oligow[1], gerichteter Schabernack verübt worden …“

„Das ist doch uns sehr gleichgültig, Mr. Harst …“

„Immerhin könnten Mylord dazu beitragen, den Täter zu ermitteln … Haben Sie vielleicht – oder Ihre Frau Gemahlin oder Mr. Jenning, in der Zeit zwischen zwölf und ein Uhr auf dem Korridor draußen etwas Besonderes bemerkt?“

„Ich jedenfalls nicht, Mr. Harst …“

Auch Mylady schüttelte den Kopf …

Nur Jenning, ein älterer Herr mit dem typischen Äußeren des verknöcherten Büromenschen, erklärte zögernd:

„Ich weiß nicht, ob meine Bekundung für Sie irgendwie von Wert ist, Mr. Harst … Es mag zwölf Uhr gewesen sein, als ich den Flur entlang kam … Ich sah, daß jemand die äußere Tür des Salons der Frau Orlington öffnete … Ein Männerkopf wurde einen Augenblick sichtbar und verschwand sofort wieder, die Tür aber wurde rasch und leise zugezogen. Leider bin ich kurzsichtig … Ich könnte Ihnen daher diesen Mann kaum beschreiben … Das heißt: das Gesicht war bärtig – ein schwarzer Spitzbart – das dürfte stimmen … Und außerdem … – der Mann trug eine Brille wie ich, Mr. Harst. – Immerhin war das Verhalten dieses Mannes so merkwürdig gewesen, als ob er mir nicht begegnen wollte, und daher habe ich im Flur eine Weile mich aufgehalten, nachdem ich die Außentür von Mylords Zimmer zum Schein geöffnet und geschlossen hatte. Da geschah dann auch genau dasselbe, Mr. Harst: der Mann wollte den Korridor betreten, prallte jedoch zurück und riß die Tür abermals zu, wobei ihm etwas aus der Hand fiel – dies hier, ein seltsam geformter Schlüssel, wie Sie sehen …“

Er gab Harald den kleinen Schlüssel …

„Ich hob ihn auf und hätte ihn längst im Hotelbüro abgeliefert, wenn Mylord nicht für mich so sehr dringende Arbeit gehabt hätte …“

Worauf Carnavoor erklärte:

„Sehr verständig von Ihnen, Jenning, daß Sie mich mit diesem nichtssagenden Zeug verschont haben … – Noch etwas, Mr. Harst?“

„Nein, Mylord … Ich möchte Sie nur bitten, daß Mr. Jennings wichtige Beobachtungen unbedingt geheim bleiben – unbedingt. Und ich will diese Forderung dadurch begründen, daß das, was ich als Schabernack bezeichnete, in Wahrheit das spurlose Verschwinden des Kammerdieners der Frau Orlington ist …“

Der hochmütige Lord machte plötzlich ein anderes Gesicht …

„Oh – dann … dann … – natürlich, Mr. Harst … Unter den Umständen werden wir selbstverständlich schweigen …“

Harald verbeugte sich …

Wir gingen. Der Hoteldirektor entschuldigte sich noch der Störung wegen … Das war seine Pflicht …

 

3. Kapitel.

Wir drei begaben uns in das Privatbüro des Direktors.

„Mr. Doobler,“ sagte Harald, nachdem wir hier an einem Seitentische Platz genommen hatten. „Mr. Doobler, lassen Sie jetzt Roussell herbeirufen – durch den anderen Detektiv … Ich möchte die Probe aufs Exempel machen …“

Der Direktor schaute Harst dieser letzten Bemerkung wegen fragend an, nahm dann aber doch wortlos den Telephonhörer und verständigte sich mit dem zweiten Hoteldetektiv.

Wenige Minuten später erschienen die beiden Kollegen.

„Setzen Sie sich bitte,“ meinte Harst. „Wir sind hier wohl vor Lauschern sicher … Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, was Ihnen den Mord von James in neuem Lichte zeigen dürfte …“

Nun erst erwähnte er den Diebstahl der Familienkleinodien des Fürsten, den rätselhaften Austausch der beiden Koffer und fügte hinzu:

„So gewiß also der Diebstahl unter den Augen der im Salon Frau Orlingtons Versammelten stattgefunden hat, ebenso gewiß ist es, daß James … nicht ermordet worden ist …“

Die Gesichter von uns vier, denen Harald dies Unglaubliche kaltblütig verzapfte, waren ebenso gewiß unendlich einfältig …

Harst ließ sich dadurch nicht stören …

„Mr. Doobler, ich sprach vorhin von einer Probe aufs Exempel …“ wandte er sich an den Direktor … „Nach einer halben Stunde kann ich Ihnen genau sagen, wie der Koffer vertauscht wurde und wie der „tote“ James die verschlossenen Gemächer verlassen hat … An der unteren Rahmenleiste des Wandschirmes im Salon sah ich drei dicke Blutstropfen … Ich habe Schraut recht laut auf Fingerabdrücke an diesem Rahmen aufmerksam gemacht … Wir sind dabei wahrscheinlich belauscht worden. Und um diese nicht vorhandenen Fingerabdrücke zu entfernen, wird der Kofferdieb, der mit James unter einer Decke steckt, den Salon wieder betreten …“

Der Kollege Roussell lächelte jetzt …

„Aber Mr. Harst – entschuldigen Sie schon – – ich habe doch den Toten …“

„Irrtum, Mr. Roussell … Es war ein Messer, das da scheinbar im Herzen James’ steckte, wie Sie es in jedem besseren Zauberkasten für Kinder vorfinden – mit einer Klinge, die im Messerheft verschwindet …“

„Bitte – der Puls schlug nicht …“

„Bitte – eine Täuschung, Mr. Roussell … Er schlug … Sie waren erregt, als Sie dem „Ermordeten“ den Puls fühlten … In der Erregung ist man den seltsamsten Täuschungen unterworfen … Das können Sie mir schon glauben …“

Der Hoteldirektor meinte schüchtern:

„Mr. Harst, ich möchte Roussell beipflichten … Die Gesichtsfarbe und die Augen …“

„Schminke und Trick, Mr. Doobler …“

„Und das Blut …“

„… Farbe, Mr. Doobler, genau wie auf dem Rahmen des Wandschirms … Die drei Tropfen sind aus dem Farbentopf übergelaufen oder von dem Pinsel herabgefallen, mit dem die weiße Dienerjacke des famosen James rot gefärbt wurde … – Überlegen Sie doch einmal die Zusammenhänge, meine Herren … Nur James kann durch das Schlüsselloch beobachtet haben, wie Tschergin uns die Kleinodien zeigte … Nur er … Und er mußte künstlich sterben, weil er eben der einzige war, der im Salon ein- und ausgegangen war, also der einzige, auf den ein Verdacht fallen konnte. Er „starb“, und die „Leiche“ verschwand … Alles tadellos fein ausgeklügelt … Daß den schlauen Herrschaften ein Fehler mit unterlief, ist eben Pech. Der Fehler waren … die drei Tropfen Farbe …“

Oha – jetzt machten die Hotelkollegen und der Direktor andere Gesichter – ganz andere … Und ich desgleichen. Jetzt wurden uns die Zusammenhänge klar …

Harald lächelte nachsichtig und rauchte die dritte Mirakulum …

Fuhr nach einer Weile fort: „Natürlich ist der Kellner Joe Billwaker mit von der Partie … Er mag sich mit James angefreundet gehabt haben …“

„Und dann noch – – der Mann mit dem schwarzen Spitzbart!“ platzte der Direktor heraus …

„Gewiß – der paßt mir am schlechtesten in die ganze Geschichte hinein,“ nickte Harald und zog den kleinen vernickelten Schlüssel aus der Westentasche. „Kennen Sie diesen Schlüssel vielleicht, Mr. Roussell?“

Die beiden Kollegen besichtigten ihn, warfen dann aber dem Direktor einen eigentümlichen Blick zu …

Roussell meinte zögernd: „Das … das ist der Schlüssel zu dem Wandtresor, der sich in dem Schlafzimmer neben dem Salon befindet, im rechten Schlafzimmer, wo Mr. Orlington schläft … Hier ist die eingestanzte Nummer …“

Doobler rief entsetzt: „Herrgott, das habe ich übersehen … – Wahrhaftig – – der Tresorschlüssel!“

Er sprang auf und lief zu einem Schrank an der Wand, öffnete ihn und zog eine flache große Schublade heraus. Darin lagen fünfzig ähnliche Tresorschlüssel – sauber geordnet, manche doppelt vorhanden, die meisten nur einzeln …

„Hier ist der Duplikatschlüssel,“ erklärte der Direktor. „Mithin ist dieser Schlüssel, den der Schwarzbärtige fallen ließ, derjenige, den ich Mr. Orlington ausgehändigt habe … – Um alles in der Welt: wie kommt der Schlüssel in die Hand eines Fremden?! Das verstehe ein anderer!“

Harald hatte sichtlich gespannt zugehört …

„Der Fall liegt doch weit komplizierter als ich glaubte,“ murmelte er mehr für sich … „Der Schlüssel paßt noch weniger in meine bisherige Theorie hinein als der Mann mit dem dunklen Spitzbart …“

Roussell erlaubte sich die Bemerkung:

„Wenn James sich verkleidet hätte, Mr. Harst?! Wenn er …“

Aber Harald schüttelte den Kopf …

„James hätte sich gehütet, noch die Zeit dazu zu verschwenden, sich als „tote Leiche“, die allen Grund zum Verduften hat, einen falschen Bart vorzukleben …! Nein, meine Herren, dieser Spitzbärtige kann nur …“

Er stockte plötzlich …

Irgend ein besonderer Gedanke war ihm gekommen …

Er schaute mich versonnen an, bewegte die Lippen, kniff die Augen zu und sprang auf …

„Mr. Roussell, bitte – nach oben in den Salon … Tun Sie so, als ob Sie auf dem noch immer nicht abgeräumten Frühstückstisch etwas suchen … Und schielen Sie vorsichtig nach der unteren Leiste des Mittelstücks des Wandschirmes … Sind auf dem schwarz polierten Holz keinerlei Flecke, keine roten Tropfen mehr zu bemerken, so telephonieren Sie hier nach unten ins Büro: „Alles in Ordnung!“ – Und dann bleiben Sie im Salon und tun abermals so, als ob Sie noch etwas suchten … – Sie haben mich doch richtig verstanden?“

„Gewiß, Mr. Harst …“

Und er eilte davon …

Wir warteten … Doobler ging erregt auf und ab …

Blieb stehen …

„Mr. Harst, und wenn die roten Tropfen nun verschwunden sind – was dann?!“

„Dann, Mr. Doobler, muß es eine Verbindung zwischen den Räumen Frau Orlingtons und den entsprechenden im Hochparterre geben … – eine direkte Verbindung, Mr. Doobler …! – Übrigens: haben Sie noch die Baupläne des Hotels, die Grundrisse und so weiter?“

„Natürlich, Mr. Harst … Wollen Sie dieselben sehen?“

„Bitte …“

Doobler holte einen hohen Pappzylinder und entnahm ihm die sauberen Zeichnungen.

Harald hatte diese kaum einige Minuten studiert, als er auch schon rief: „Da haben wir’s ja!“

Im gleichen Augenblick schlug die Telephonglocke an …

Der andere Kollege nahm den Hörer …

Wir schauten ihn gespannt an …

„Alles in Ordnung!!“ – seine Stimme klang ganz schrill, als er diese Meldung Roussells wiederholte …

„Also doch!“ meinte der Direktor schwer atmend. „Und Ihre Entdeckung, Mr. Harst?“ …

„Sehr einfach – die Erklärung für alles, Mr. Doobler … Bitte – schauen Sie her … Hier auf dieser Zeichnung erkennen Sie, daß man ursprünglich einen Speisenaufzug aus den im Keller gelegenen Küchen nach den Salons der sogenannten „Prachtgemächer“ geplant hatte … Der Schacht dazu wurde auch eingebaut und befindet sich in der Ecke, wo oben der Wandschirm steht … Mithin zieht sich dieser Schacht, der freilich keinerlei Zugang haben sollte, auch an dem Salon der Frau Major Lambrock vorüber, die im Hochparterre dieselben Gemächer wie Frau Orlington innehat. – Begreifen Sie nun, Mr. Doobler …?!“

„Allerdings …“

„So wollen wir denn dieser Frau Major einen Besuch abstatten – sofort … Kommen Sie … Beeilen wir uns … Ich fürchte, der Vogel wird ausgeflogen sein …“

Vom Büro hatten wir nur wenige Schritte den Flur entlangzugehen …

Doobler klopfte an, nachdem er die äußere Tür des Salons geöffnet hatte …

Niemand meldete sich …

Er klopfte stärker …

Dann stieß er die Innentür auf … Sie war unverschlossen …

Leer der Salon …

Hier fast dieselbe Einrichtung wie oben bei Frau Orlington …

Rechts und links die beiden Schlafzimmer – wie oben …

Harst nach rechts … schaut hinein …

„Leer!“

Ich nach links … Aber diese Tür ist verschlossen, … Kein Schlüssel im Schloß – auch von der Innenseite nicht …

Doobler rennt davon … „Ich hole den Duplikatschlüssel …!“

Ist in drei Minuten wieder zur Stelle … Inzwischen hat Harald die Wandtäfelung in der linken Ecke der Flurwand besichtigt …

Doobler schließt auf …

Wir vier hinein …

Auf dem Bett eine angekleidete Dame – auf dem Diwan ebenso: Frau Major Lambrock und ihre Gesellschafterin – beide in tiefer Betäubung …

Wir stehen starr …

Harald schüttelt den Kopf … Wir … fahren herum … Hinter uns eine Stimme …

Joe Billwaker, der elegante bescheidene Kellner …

Ganz bescheiden wie immer …

„Entschuldigen die Herren – ich fand draußen die Salontür offen … Ich wollte nur zusehen, ob hier nicht etwas geschehen sei …“

Er stiert auf die beiden Frauen … Sein Gesicht verrät Schreck und Entsetzen … Seine Lippen zittern …

„Mein Gott, was … was bedeutet das …?!“

Harald tritt dicht vor ihn hin …

„Billwaker, ich denke, Sie geben diese Komödie nunmehr auf …! Glauben Sie nicht auch, daß es besser wäre, Sie würden ein Geständnis ablegen?! Ich habe in der Wandtäfelung hier unten die Geheimtür zu dem Aufzugsschacht schon entdeckt … Oben bei Frau Orlington werde ich dieselbe Tür finden … Ihr Spiel war schlau, Billwaker … Wo ist der Koffer, wo ist … James mit dem Koffer geblieben?!“

Der schlanke Kellner hebt die Arme zu einer verzweifelten Geste …

„Mr. Harst, Sie … Sie tun mir unrecht … bitter unrecht!! Verhaften Sie mich meinetwegen! Ich bin schuldlos – absolut schuldlos … Ich weiß nichts von einem Koffer … jedenfalls nichts, was …“

„Billwaker, haben Sie nicht seinerzeit für den Oberkellner, der sich nun als ein Fürst Tschergin entpuppt hat, den neuen Koffer hierher gebracht?!“

Joe Billwaker wird bleich …

„Ja … Aber …“

„Und – haben Sie vielleicht heute bei dem Perser genau denselben Koffer gekauft?“

Joe Billwaker wird noch bleicher … stammelt:

„James … James bat mich, ihm telephonisch einen solchen Lederkoffer zu bestellen, Mr. Harst …“

„Wann war das?“

„Als die Herrschaften bei Frau Orlington beim Frühstück saßen …“

„Ah – – und wann kam der Koffer?“

„Sofort – nach zehn Minuten … Der Perser schickte ihn durch einen besonderen Boten … an mich, und James holte ihn aus meinem Zimmer … – sofort …“

„Nun – die Dinge sind nun wohl geklärt,“ wandte sich Harald an den Hoteldirektor. „Rufen Sie die Polizei herbei … Joe Billwaker zieht es vor, sich einsperren zu lassen, anstatt der Wahrheit die Ehre zu geben … Wir haben jetzt kein Interesse mehr daran, den Diebstahl der Kleinodien geheim zu halten …“

Billwaker richtete sich plötzlich stolz auf …

„Mr. Harst, es wird Ihnen eines Tags leidtun, daß Sie einen ehrenwerten Menschen derart bloßgestellt haben … Der Tag wird bestimmt kommen, wo Sie einsehen müssen, sich diesmal geirrt zu haben! Sie wissen recht gut: wer auch nur in Untersuchungshaft gesessen hat, wird den Makel nie mehr los! Ich bin ruiniert für mein ganzes Leben …!“

Seine Gestalt sank wieder in sich zusammen … Etwas unendlich Hilfloses zeigte sich in seiner ganzen Haltung …

Er … tat mir aufrichtig leid – schon jetzt … Und hatte so eindrucksvoll zu Harald gesagt, daß … es diesem leidtun würde – – einst!!

Aber – wir alle kannten Joe Billwaker nicht … Wir alle nicht …

Denn urplötzlich sprang er zurück – durch die offene Schlafzimmertür in den Salon … Die Tür schlug zu … Der außen steckende Schlüssel wurde umgedreht … Doobler warf sich mit voller Wucht gegen die Füllung … Diese flog heraus …

Und doch: Billwaker war entkommen!

War in den Park geeilt, dessen Rückseite an die Buschwildnis der Abhänge der Malabar Hills stieß …

Wir hatten das Nachsehen … Er hatte selbst Harald überlistet …

 

4. Kapitel.

Die Polizei erschien … Inspektor Sheffield mit zwei Beamten – in aller Stille. Jedes Aufsehen sollte vermieden werden. Ein Arzt bemühte sich um die beiden betäubten Damen … Polizeistreifen durchsuchten die Stadt … Ganz Bombay wurde gleichsam abgesperrt … –

Die beiden Geheimtüren in der Wandtäfelung der beiden übereinander liegenden Salons wurden genau geprüft. Sie waren fraglos schon vor längerer Zeit hergestellt worden. Von wem – das ist nie recht ermittelt worden und für den Fall Billwaker auch belanglos. – Billwaker mußte sie gefunden haben … Und er und James hatten dann den feinen Plan in aller Eile entworfen. Der Kofferaustausch war ganz geräuschlos erfolgt – und wir hatten drei Schritt daneben am Frühstückstisch gesessen … –

Harald zeigte sich jetzt, wo Sheffield die Sache in die Hand genommen hatte, merkwürdig teilnahmlos. Nur als Frau Major Lambrock zu sich kam und dann zu Protokoll gab, daß James ihr anstelle des zuständigen Kellners Eislimonade gebracht habe, nach deren Genuß sie und ihre Gesellschafterin bewußtlos umgesunken seien, sagte Harst nachher zu Sheffield:

„Inspektor, so ganz klar ist diese Geschichte doch noch nicht …!“

Und unser Freund Sheffield, den wir[2] genau wie seine anderen hiesigen Kollegen seit Jahren kannten, meinte verwundert:

„Lieber Harst, ich glaube, Sie suchen hier Schwierigkeiten, die nicht vorhanden sind …“

Und Harst – außerordentlich ernst:

„Ich suche nur die Wahrheit, Sheffield! Und ich überlege mir folgendes: Wenn James und Billwaker unter einer Decke gesteckt hätten …“

„Himmel – zweifeln Sie daran?!“

„Jetzt ja … – Also – wenn sie Verbündete gewesen wären, dann hätte doch Billwaker fraglos nicht erwähnt, daß ihm Frau Major Lambrock im oberen Flur begegnet wäre – eine Begegnung, die übrigens irrtümlich von ihm auf eine spätere Stunde verlegt worden ist …! – Wie hätte Billwaker uns wohl auf Frau Lambrock aufmerksam gemacht, wenn er mit im Komplott gewesen wäre! Wie hätte er dies tun dürfen, da er doch befürchten mußte, daß dann die beiden betäubten Damen allzu früh aufgefunden würden! – Nein, Sheffield, bei alledem stimmt etwas nicht …! Durchaus nicht! Da ist irgendwo ein grober Fehler im Exempel – irgendwo …! Bedenken Sie auch: Billwaker hat seinen Dienst ruhig weiter versehen … James steckte hier im Salon der Frau Lambrock, steckte auf der Leiter im Schacht … Er kann der Spitzbärtige niemals gewesen sein, der aus Frau Orlingtons Salontür kam und den Tresorschlüssel verlor … James hätte sich nie zu dieser Tür herausgewagt … Wer also war der Spitzbärtige?!“

Sheffield runzelte unzufrieden die Stirn …

„Harst, Sie verderben all das, was Sie soeben noch zurechtgezimmert haben …“

„Ja – einen schiefen Bau – das stimmt! Schief!! Ich muß ihn gerade richten … Billwaker entfloh, weil er sich nicht einsperren lassen wollte … Billwaker wird sich melden … Passen Sie auf, Sheffield – ich behalte recht …!“

Und dann gingen wir beide in unser nicht allzu weit entferntes Fremdenheim … Zwei Uhr nachmittags war es jetzt. Bombay schwamm in einer unerträglichen Hitzewelle … Die Straßen leer … Überall Sprengwagen … Was half’s?! So gut wie nichts …

Und in unserem Pensionat, wo wir am Tage zuvor als Ehepaar Doktor Woringer abgestiegen waren, große Aufregung … Das Ehepaar verschwunden – Das Ehepaar erschien jetzt als … Freundespaar! Wir lüfteten die Maske … Wir wurden angestaunt … Hatten doch nur einen Wunsch – zu schlafen!! Zu schlafen!

Legten uns nieder …

Aber – einschlafen, ein Kunststück! Mehr als ein Kunststück …! – Ich lag mit offenen Augen da, vergegenwärtigte mir immer wieder die Szene, die der Sekretär Lord Carnavoors uns geschildert hatte: der Spitzbärtige, der sich heimlich aus dem Salon der Frau Orlington entfernen wollte …!

Wer – war dieser Mann?! Wer wohl …?!

Ich schaute zu Haralds Bett hinüber … Auch er war wach … Er langte gerade nach einer Zigarette … zündete sie an, nickte mir zu …

Sagte: „Der Tresorschlüssel – – der Tresorschlüssel! Mir will’s nicht aus dem Kopf, daß wir verabsäumt haben, den Tresor mit dem Duplikatschlüssel in Gegenwart Frau Orlingtons zu öffnen …“

Und – mit einem Satz war er auf dem Bettrand, nahm vom Nachttischchen den Hörer des Fernsprechers, ließ sich mit dem Hotel Esplanade verbinden und fragte:

„Hallo – hier Harst, Mr. Doobler … Ist Frau Orlington schon im Hotel? – So – schon dort?! – Bitte – langsamer … Ich verstehe nicht … Es sind so viel Geräusche in der Leitung … – Wie?! – Ah – Sie haben den Tresor geöffnet – – alle Juwelen Frau Orlingtons gestohlen …?! Frau Orlington verzweifelt …?! – Trösten Sie sie … Ich wollte ein paar Stunden ausruhen … Unter diesen Umständen bin ich in einer halben Stunde im Hotel … – Schluß … Wiedersehen …“

Und – gleich darauf standen wir beide im Badezimmer unter der Dusche …

Erfrischt kleideten wir uns an, rasierten uns, wurden nun vollends Harst und Schraut …

In aller Hast aßen wir noch eine Kleinigkeit. Dann im Auto zum Hotel … Dann fanden wir in Frau Orlingtons Salon alle versammelt, die zu ihr gehörten: ihre Brüder, den Fürsten Tschergin und noch einen Herrn, Orlingtons Leibarzt, Doktor Macson …

Frau Wera sah verweint aus … Fürst Tschergin schaute uns recht unfreundlich an …

„Herr Harst, so sehr leicht scheint es doch nicht zu sein, meine Familienjuwelen zurückzuschaffen!“ meinte er. „Nun sind auch noch Weras Pretiosen gestohlen worden … Orlington wird ein nettes Gesicht machen, wenn er von seiner Tigerjagd heimkehrt! Er hätte besser hier bleiben sollen … Hier gibt es anderes Wild zu jagen …“

Harald war in keiner Weise verletzt …

„Was ich verspreche, halte ich auch, Fürst Tschergin … – Ich möchte Frau Orlington ohne Zeugen sprechen … – Gnädige Frau … nur ein paar Minuten … Vielleicht treten wir auf den Balkon hinaus …“

Und ich – ich war ausgeschaltet … Selten genug geschah das … Selten genug … Ich war wie die anderen, nur Zuschauer …

Wir sahen die beiden auf dem Balkon stehen …

Sahen, daß Frau Wera plötzlich wie verwirrt den Kopf senkte … daß sie errötete …

Harald sprach offenbar sehr eindringlich … Sie hob den Kopf wieder … Nickte …

Dann reichte sie ihm die Hand …

Und sie kehrten unbefangen in den Salon zurück …

Harst wandte sich an Tschergin …

„Fürst, ich hoffe, Ihnen morgen mittag zwölf Uhr endgültigen Bescheid geben zu können …“

„Ah – heißt das, Sie werden mir die Kleinodien …“

„… vielleicht überreichen können … Auch Frau Orlingtons Juwelen werden dann sicher zur Stelle sein …“

Tschergin entschuldigte sich jetzt bei Harald …

„Herr Harst, ich war vorhin etwas gereizt – überreizt … daher unhöflich …“

„Verständlich, Fürst … Kein Wort mehr davon … Glauben Sie mir, Joe Billwakers Verbrechen wird eine überraschende Aufklärung finden … Und der Diener James – doch nein – – morgen hoffentlich!“

Wir verabschiedeten uns …

Unten im Vorraum stand Doobler …

„Mr. Harst, hier – dieser Brief ist für Sie soeben abgegeben worden … Ein kleiner zerlumpter Bengel brachte ihn …“

Harald warf einen Blick auf die Adresse …

„Danke, Mr. Doobler … – Wir haben es eilig … Wollen in die Polizeidirektion … Lassen Sie doch ein Auto holen …“

Er schnitt den Umschlag auf …

Der Briefbogen enthielt nichts als eine grobe Bleistiftskizze …

Darunter nur zwei Worte:

Eilt sehr!

„Der Flughafen von Bombay, mein Alter …“ erklärte Harald … „Und hier – ein Eindecker eingezeichnet, darunter zwei Buchstaben:

O. J.

Was mag das bedeuten?!“

Doobler erschien wieder …

„Das Auto ist vorgefahren, Mr. Harst …“

Wir … hinein …

„Flughafen!“ flüstert Harst dem indischen Fahrer zu … „Und – Galopp!! Eiltempo!“

Der Mann raste mit uns davon …

Keine zehn Minister später lagen auch die letzten Vorstädte hinter uns …

Drüben in der Luft vier Flugzeuge, gemächlich kreisend …

Und das Auto hält …

Am Eingang ein kurzer Aufenthalt … Harst fragt den Pförtner, ob man jeder Zeit einen Passagierflug unternehmen könne … Ob vielleicht zwei Herren vor nicht langer Zeit den Eingang passiert hätten …

Der Pförtner bejaht …

Ob einer mit schwarzem Spitzbart dabei gewesen? forscht Harst weiter.

Auch das wird bejaht.

Und wie der Begleiter ausgesehen habe?

„Ein älterer Sahib schon – grauer Bart, und gehinkt habe er,“ erklärt der Pförtner …

Wir dann weiter … Biegen um ein paar Flugzeugschuppen herum … Vor uns das freie Feld mit der niedergetretenen Grasnarbe …

Mehrere Flugzeuge startbereit … Menschengruppen … Piloten im Dreß …

Ein weißer Eindecker rollt an … Die Bedienungsleute springen zurück … Wir sind bei ihnen …

Harald ohne Hast: „Zwei Herren stiegen mit auf, nicht wahr?“

Da drängt sich ein Inder an uns heran, modern gekleidet, flüstert:

„Mr. Harst – Kriminalpolizei …“

Harald nickt … „Ich erkenne Sie wieder, Abdullah … – Wer waren die Herren? Haben Sie Ausweise verlangt?“

„Gewiß, Mr. Harst … Es waren zwei Kaufleute aus Chotar …“

„Chotar?“

„Ja … zwei Engländer …“

„Abdullah, hatten sie Gepäck mit?“

„Nur einen Koffer …“

„Lederkoffer – ja … gelbbraun, sehr zerkratzt, ein alter Koffer …“

„Hm – sehr zerkratzt … Waren die Kratzer vielleicht sehr auffallend – sehr frisch?“

Der Geheimpolizist stutzt …

„Oh … oh … ich hätte … ja, die Schrammen und Kratzer waren sehr neu … Wo habe ich nur meine Augen gehabt …?!“

Harst – jetzt sehr hastig:

„Lassen Sie sofort einen anderen Eindecker für uns reservieren, Abdullah … Wir müssen hinterdrein …“

Die beiden Flieger kommen, stellen sich vor …

„Mr. Harst, der Eindecker dort oben,“ sagte der eine, „ist ein ganz neuer Typ … Eine Verfolgung ist aussichtslos … Wenn die beiden Passagiere, die ja flüchtige Verbrecher sein sollen, den Piloten zwingen, sie irgendwohin zu bringen, dann …“

„Trotzdem!!“ erklärte Harald. „Aber es hat ja keine Eile … – Abdullah, Schraut und ich genügen …“

Wir begleiteten den einen Flugzeugführer zu seiner Maschine …

Zehn Minuten darauf stiegen wir empor …

Der andere Eindecker ist längst verschwunden …

 

5. Kapitel.

Fahrt ins Blaue, dachte ich … Denn daß James und der andere niemals nach Chotar unterwegs waren, sondern in der Tat den Flugzeugführer zwingen würden, anderswo zu landen, bedurfte ja keinerlei Erörterung, denn erstens – handelte es sich nicht um Kaufleute „aus Chotar“, und zweitens war dieses am Rande endloser Dschungel gelegene Städtchen der Ausgangspunkt der Jagdexpedition Thomas Orlingtons, des Milliardärs … James würde sich schwer hüten, seinem Herrn dort in die Arme zu laufen – – schwer hüten würde er sich!

Unser Pilot war ein Mischling, ein Eurasier, ein Mann, dessen Äußeres kaum mehr verriet, daß er indisches Blut in den Adern hatte … – Nachdem wir uns etwa tausend Meter nach Norden zu empor geschraubt hatten, eine Richtung, die die Flüchtlinge eingeschlagen hatten, wandte der Eurasier sich an Harald … „Wohin, Mr. Harst?“

„Chotar …!“ erwiderte der lakonisch …

Ich war reichlich erstaunt … Mein Blick verriet dies … – Harald gähnte. In der Gondel war gerade so viel Platz, daß wir beide uns hätten niederlegen können … Und wirklich, Harst richtete sich ein Lager her, meinte: „Ich würde Dir raten, dasselbe zu tun, mein Alter … In Chotar wird sich noch manches ereignen, zumal zur Zeit drei Eindecker dorthin unterwegs sind …“

„Drei?!“

„Ja – wenn Du einmal zurückschauen willst …“

Und da sah auch ich denn den dritten Flieger …

„Etwa … Joe Billwaker?!“

„Wer sonst, mein Alter …“ Er gähnte und streckte sich lang hin … „Billwaker wird uns noch viel zu raten aufgeben … Und der Spitzbärtige …“ – er blinzelte mir zu – „der Spitzbärtige ist ebenso interessant …“

Meine Gedanken waren bei Frau Wera Orlington …

„Was besprachst Du mit der Milliardärsgattin auf dem Balkon, Harald?“

„Aha – Du erkennst den Zusammenhang mit Chotar!“ nickte er …

„Leider nein …!“

„Dann – – ist Dir vorläufig nicht zu helfen … Gute Nacht, Max Schraut …“

Wir waren hundemüde … Wir schliefen ein …

Und als wir gegen sieben Uhr erwachten, lag unter uns ein anderes Landschaftsbild – unendlicher Dschungel – indische Wildnis …

Der Pilot rief uns zu …

„Der Eindecker ist soeben niedergegangen, Mr. Harst – dort auf der Lichtung halb rechts …“

„Dann – gleichfalls abwärts … Platz genug ist dort auch für uns zum Landen …“

Harald beugte sich dann zum Kabinenfenster hinaus … Aber von dem dritten Flieger war nichts mehr zu erspähen.

Wir landeten …

Die Dschungelwiese mit ihrem teilweise manneshohen Gras bremste unseren auslaufenden Eindecker sehr schnell …

Wir beide aus der Gondel … Im Trab auf das andere Flugzeug zu … Es stand dicht am Waldrande …

„Vorsicht!“ rief Harald im Laufen … „Vorsicht …!!“ – Er hatte die Clement zur Hand genommen … Ich tat ein gleiches …

Dann waren wir dicht vor dem Eindecker … Keine Menschenseele mehr – leer die Gondel …

Aber hinter dem Flugzeug, wo die unberührte Wildnis begann, sahen wir Spuren, die in das Dickicht liefen – ganz frische Spuren …

„James, Thomas Orlington und der bestochene Pilot,“ sagte Harst leise …

Es war eine seiner bekannten Geistesraketen …

Ich glaubte nicht recht verstanden zu haben …

„Orlington?!“ fragte ich verblüfft.

„Ja – der Spitzbärtige … Natürlich steckt Thomas Orlington als treibende Kraft hinter alledem … Er ist in Chotar gewesen, ist sofort zurückgekehrt, hat mit James den Koffer vertauscht und auch den Tresor ausgeräumt … Ich kam recht spät auf diese Lösung …“

Ich war zu verdutzt, um irgend etwas sagen zu können … Ein Milliardär als Dieb?! Das war mir denn doch etwas zu kühn …!!

Harald schaute die Spuren an … Meinte wieder: „Wenn wir ihnen folgen, weiß ich genau, was geschieht. Wir werden überrumpelt werden … Aber – es schadet nichts … Unser Pilot mag hier warten … Ich werde ihm Bescheid sagen …“

Er eilte zu unserem Eindecker hinüber … Kehrte sehr bald zurück …

„Mein Alter – jetzt doppelte Vorsicht … Ich gehe vier Schritt voraus … Du beobachtest nach rückwärts … Die Pistolen halten wir bereit … – Vorwärts also …“

Wir drangen in das Dickicht ein. Die noch ganz frische Fährte lief stets durch lichtere Stellen … So mochten wir etwa zehn Minuten gewandert sein, als von links eine einzelne Spur sich mit der der drei Männer vereinigte …

„Ein Inder – Sandalen!“ meinte Harald nur …

Jetzt hatten wir vier Mann vor uns … –

Ich darf mit Recht behaupten, daß ich dieses Eindringen in den Dschungel zu dieser Abendstunde für groben Unfug hielt … für ganz groben Unfug …! Wenn uns die Nacht hier überraschte, fraßen uns entweder die Moskitos oder die Tiger auf … Beides nicht angenehm … Die Chotar-Dschungel sind die tigerreichste Gegend Indiens …

Und doch: Harald schien keinerlei Bedenken zu hegen, was mich sehr in Erstaunen setzte – sehr sogar …!

Jetzt vor uns ein förmlicher Dornenwall … Nur ein schmaler Durchschlupf … Wir drängten uns leise hinein … Lauschen – lauschen … Nichts – – Stille …

Weiter …

Der schmale, dornenumhegte Pfad wird breiter … Ein freier Fleck von etwa vier Meter im Quadrat …

Hier – endet die Fährte …

Urplötzlich …

Hinter uns ein Rauschen und Knacken … Über uns ähnliche Geräusche …

Aus den Kronen der Bäume fällt … ein Eisengitter herab … Fällt auf ein im Gestrüpp verstecktes anderes Gitter, das die kleine Lichtung unsichtbar zum Käfig macht …

Ich begreife im Moment …

Wir sind … in eine Tigerfalle hineingetappt …

Früher stellte man diese aus Pfählen her … Jetzt läßt man durch Jagdelefanten die Teile der Gitter in die Wildnis schleppen … Das ist bequemer …

Und wie wir noch diese Gitterwände hinter den zurückgebogenen Zweigen mustern, ertönt dicht vor uns das heisere Wutgebrüll eines Tigers …

Wir … haben einen … frisch gefangenen Tiger als Nachbar – – in der zweiten Abteilung des tückischen Käfigs …

Wir sehen die Bestie … Sind von ihr nur durch eine Reihe von Eisenstäben getrennt …

So wurden wir überrumpelt …

So …!! – So hatte Milliardär Orlington für unsere Unterkunft im Dschungel gesorgt …!!

 

 

Der Tigergraben.

 

1. Kapitel.

Harald bleibt unheimlich ruhig … Ich bin blaß geworden … Ich schwitze … Der Tiger rast … Die Nähe der Menschen hat seine Wut aufs Höchste angestachelt. Er springt gegen das Gitter … Er brüllt in kurzen Pausen …

Harald zieht mich nach der anderen Seite der Lichtung hinüber …

Die Bestie wird still …

Dann … ruft Harst – mehrmals dasselbe – mit voller Lungenkraft:

„Mr. Orlington, ich habe nicht die Absicht, Sie bloßzustellen! Sie brauchen auch von seiten Ihrer Gattin nichts zu fürchten …“

Mir erscheinen diese Sätze außerordentlich merkwürdig.

Niemand meldet sich … Nur unser Nachbar … Der tobt von neuem …

Harst meint unzufrieden:

„Orlington sollte den Scherz nicht übertreiben …!!“

„Scherz?! Ich danke …!!“

„Allerdings, wenn wir die Nacht hier zubringen müssen, wird es eine Tragödie, mein Alter … – Halten wir uns also mit Worten nicht lange auf … Handeln wir! Das Gitter oben muß sich anheben lassen … Dann klettern wir hinaus …“

Aber – die Gitterdecke ist mit fingerdicken Stahltrossen, die schräg nach außen in das Dickicht laufen, befestigt …

Harald, der emporgeklettert ist, kommt wieder herab …

„Nichts zu machen …! Wir sind gefangen … Wir könnten ja die Stahltrossen zerschießen … Dann hätten wir nicht mehr eine einzige Patrone zur Verfügung … Auch wäre der Erfolg zweifelhaft … – Offen gesagt mein Alter: Orlington wird mir jetzt denn doch etwas rätselhaft … Wenn der Mann in seiner Eifersucht als Jungverheirateter auf derartige verrückte Streiche verfällt – nun gut, in gewissem Grade ist das entschuldbar! Aber wenn er diese Streiche tatsächlich zu Verbrechen aufbauscht – und uns hier einzusperren ist ein Verbrechen! dann – – hört sich doch verschiedenes auf …!“

Ich … staune … staune …

Eifersucht?! – Und ich frage verwundert:

„Orlington ist auf seine Frau eifersüchtig, und deshalb hat er …“

„Ja – deshalb …! – Ich bin zu einem Entschluß gelangt … Wir opfern unsere Patronen … Wir müssen sechs Stahltrossen zerschießen … Gib mir Deine Clement mit … Jede Trosse ist durch das Deckengitter durchgezogen … Vielleicht genügen für jede Stelle zwei Kugeln …“

Er klettert wieder empor …

Der erste Schuß …

Der Tiger rast …

Und – dann eine Stimme aus dem Dickicht:

„Sahib Harst, ich habe Befehl, zu schießen … Ihr müßt hier drei Tage bleiben …“

Ein Inder …! Man merkt es seinem Englisch an …

Harald brüllt – und jetzt ist er wütend:

„Ich werde schießen, Du Lump!! Auf Dich …!“

Und – er drückt nochmals ab … auf die Stahltrosse …

Da – prasselt eine lange Stange durch die Zweige, trifft seinen rechten Arm …

Die Pistole fliegt ihm aus der Hand …

Er … flucht … – sehr selten, daß ihm eine Verwünschung über die Lippen kommt …

Er springt herab …

Die Clement ist nach außen ins Gestrüpp geflogen …

Er steht vor mir – bleich, finster …

„Orlington, das wird ein böser Handel!“ sagt er gepreßt …

Wieder da das Rauschen der Zweige …

Und aus dem grünen Vorhang taucht zwischen den Gitterstäben die Stange auf … Ein langes flaches Paket hängt daran …

Harst nimmt es …

Die Stange wird zurückgezogen …

Erscheint mit einem zweiten Paket …

Dann – nichts mehr …

Aber die beiden Gaben genügen. Wir haben sie geöffnet …

Ausgepackt:

Wollene Decken, aufblasbare Kissen, ein Kocher für Hartspiritus, Aluminiumgeschirr, Konserven, Tee, zwei Thermosflaschen, Trinkwasser, Zündhölzer, Moskitonetze – und anderes!

Kurz, all das, was man zum Lagern in der Wildnis braucht. Nichts ist vergessen worden – gar nichts … –

Unsere Laune bessert sich. Harald meint:

„Nun schaut die Geschichte schon anders aus, mein Alter … Orlington ist ein sorgsamer Mann … – Gut denn, machen wir es uns bequem …“

Wir zünden ein Feuer an … Wir stellen den Kocher auf. Ich öffne die Konserven …

In der Tat: wir haben es nicht schlecht!

Es wird dunkel … Wir soupieren, während der Tiger nebenan offenbar gleichfalls versorgt ist … Wir hören Knochen knacken, hören ihn schmatzen …

Und da … lächelt Harald …

Nickt mir zu … flüstert:

„Die Bestie tut mir ja leid, aber sie muß daran glauben … Es hilft nichts …!“

Und er deutete seitwärts, wo die grünen Knollen des überaus giftigen indischen Stechapfels hingen …

„Der Tigerkäfig nebenan hat natürlich eine Tür, mein Alter,“ flüsterte er weiter … „Und das Schloß werden wir schon öffnen … Wir legen uns nachher nieder und lassen das Feuer erlöschen … Schlafen scheinbar … Es muß gehen … Wir müssen freikommen … Es wäre ja noch besser, wenn wir beide nicht trotz der Wächter da draußen entschlüpfen könnten!“

Armer Tiger …! Gestern war er vielleicht noch Herr der Wildnis gewesen … Dann heimtückisch in die Gitterwände gelockt worden, dann – – vergiftet …!

Das widerstrebte mir …

Und ehrlich erwiderte ich mit gedämpfter Stimme:

„Harald, geht’s denn nicht ohne Gift?! Das arme Vieh …!“

„Mir tut’s ebenfalls leid … Aber – es gibt keinen anderen Ausweg …“

Er nahm eine Zigarette … Ich stellte das Geschirr weg. Das Teewasser kochte … –

Man denke sich unsere Lage: fünf Schritt entfernt ein Tiger … auch im Käfig! Rundum Dornen … Büsche – Bäume … In der Nähe die Wächter … Und – in noch weiterem Umkreis Wildnis, Dschungel … Eine halbe Stunde nach Süden zu die Lichtung mit den beiden Eindeckern[3]

Und – urplötzlich dachte ich an unseren Flugzeugführer …

Fragte Harald:

„Was hast Du mit ihm vereinbart?“

„Mit wem?“

„Mit dem Eurasier …“

„Ach so … – Nun, wenn wir bis Mitternacht nicht zurück sind, soll er nach Chotar fliegen und die dortige Polizei verständigen …“

„Nun also …! Dann brauchen wir doch den Tiger …“

„Harmloses Gemüt!“ unterbrach er mich … „Orlington hat den Eurasier doch längst ausgeschaltet … Orlingtons Milliarden sind für uns die gefährlichsten Waffen, besonders hier in Indien, wo die Hauptmasse der Bevölkerung so überaus arm ist … All diese armen Teufel sind der Bestechung zugänglich … Wenn einem Flugzeugführer tausend Pfund geboten werden – für Orlington eine Kleinigkeit! –, kommen die ehernsten Grundsätze ins Wanken, mein Alter …“

Ich nickte. Harald hatte recht: von unserem Piloten hatten wir keine Hilfe zu erwarten …!

Ich zündete mir eine Zigarre an. Auch dafür hatte Orlington gesorgt …

Die Zeit verstrich …

Der Tiger hielt sich ruhig – verdaute … Aber nun erwachte der Dschungel ringsum …

Und draußen hatten unsere unsichtbaren Hüter gleichfalls Feuer angezündet … Lichtschein blinkte durch die Büsche …

Vier Feuer gewahrten wir so … Es mußten doch weit mehr Wächter sein, als wir glaubten … –

Zehn Uhr …

Die Moskitos kamen … In ganzen Wolken … Flink stellten wir aus Zweigen die für die Netze nötigen Bügel her, krochen dann unter die durchsichtigen Schutzhüllen …

Unser Feuer brannte niedriger … immer dunkler …

Glühte nur noch …

Der Tiger nebenan gähnte … Sein Gebiß klappte …

Nette Nachbarschaft …!!

Harald sprach über alles Mögliche …

Dann lauschten wir wieder eine Weile auf die Stimmen der Wildnis …

Eine Schlange kroch zwischen unseren Lagerstätten hindurch … Schnellte vorwärts …

Ein Quieken – sie hatte eine Maus erwischt, erdrückte die Beute …

Es war eine kleine Kobra … Sie verschwand …

Ich flüsterte Harald zu:

„Ohne Licht dürfte …“

„Still …!!“

Ich horchte …

Ja – – da waren dicht am Gitter Geräusche …

Ganz leise …

Wieder verstummend – wieder erwachend …

Dann – ein Raunen – eine Stimme:

„Hier Joe Billwaker …! Hören Sie mich?“

„Ja …!“

Stille …

Minutenlang …

Wir hielten den Atem an …

Dann:

„Ich habe sechs der Stahltrossen von den Pfählen gelöst … Sie brauchen nur die Südecke des Käfigs emporzuheben … Dann können Sie unten durchschlüpfen … Dort ist eine freie Stelle in den Dornen …“

Stille …

Minutenlang …

Wieder die raunende Stimme:

„Warten Sie aber noch, bis Sie den Ruf der großen Sumpfkröte fünfmal vernehmen …“

Stille …

Wir warteten …

 

2. Kapitel.

Joe Billwaker …!!

Wer hätte das gedacht!! Gerade er unser Befreier …!! Ausgerechnet der Mann, den Harald erst beschuldigt hatte …!!

Wir warteten …

Irgendwo, nicht allzu weit entfernt, jaulte ein Tiger …

Unser Nachbar antwortete natürlich …

Die feuchtheiße Dschungelluft trieb mir den Schweiß aus allen Poren … Hinzu kam noch die Aufregung … Wenn nur Billwaker von den Wächtern nicht bemerkt wurde! Das wäre nicht auszudenken gewesen! Dann saßen wir noch übler in der Patsche, denn dann würden die Wächter doppelt scharf aufpassen …

Wir warteten …

Die lieben Moskitos summten außerhalb des Netzes wie ein Bienenschwarm und lauerten offenbar nur darauf, daß wir die schützende Hülle verließen … Wozu der liebe Herrgott diese Bestien geschaffen hat, ist auch noch niemandem so recht klar geworden …

Plötzlich … Der Krötenruf …

Ah – tadellos nachgeahmt – tadellos … Dieses dumpfe Buh – buh – buh, das wie aus dem Erdinnern heraufzudringen scheint, klang so echt wie nur möglich …

Aber – was bedeutete das?! Die Kröte hatte nur dreimal gerufen …!! Vielleicht war’s gar eine wirkliche gewesen …

Doch nein – es war nur gleichsam das Präludium …

Jetzt – – fünfmal …!!

Das galt uns …

Harst flüsterte …: „Schneide das Netz entzwei und wickele es Dir ums Gesicht …“

Nun – das hätte ich auch ohnedies getan …

Und dann hinaus – in die Käfigecke … Dann packten wir beide die untere Querstange des Gitters, das vielleicht ein halb Meter im Boden steckte …

Ein Ruck – noch einer …

Jetzt hoben wir’s empor …

Harald hielt es hoch … Ich kroch darunter hinweg, packte es von der anderen Seite … Die Eisenstange schnitt in die Handflächen ein …

Gott sei Dank – Harald war neben mir … Wir ließen die Käfigecke langsam herab …

Dann in das Schlupfloch des Dornenwalles hinein … Harald voran …

Finsternis ringsum …

Harst nimmt meine Hand … Undeutlich sehe ich, daß ihn jemand führt …

Wir kriechen … Ich merke, hier ist ein förmlicher Bogengang in das Dickicht geschnitten … Dann schwacher Lichtschein – eine Waldblöße … Der Mond grinst durch die Bäume …

Joe Billwaker flüstert:

„Ich werde Sie nach Orlingtons Lagerplatz geleiten … Sie sind doch bereits im Bilde, Mr. Harst?“

„Gewiß, Billwaker … – Wo ist der Koffer?“

„Den hat Orlington versteckt … Er traut den Indern nicht, die er gemietet hat … Sind alles Kerle wie die Straßenräuber … Tigerjäger, Mr. Harst … verwegenes Volk …“

Er geht voran … Er trägt einen blonden Bart, einen grüngrauen Leinenanzug, Sportmütze, Mückenschleier …

Schweigend wandern wir einer hinter dem andern …

Schweigend …

Durch Baum und Busch …

Die Gegend wird bald hügelig … Felspartien treten auf …

Billwaker hat in der Rechten eine lange Cold-Repetierpistole … Eine jener[4] Pistolen, die in sicherer Hand einen Karabiner ersetzen …

Ich beobachte diesen Kellner …

Ein Kellner, der sich hier in der Wildnis wie ein erfahrener Jäger bewegt … Überraschend sicher ist sein ganzes Auftreten … Ein Kellner – – man staunt …

Und – wie genau er sich in dieser pfadlosen Dickung zurechtfindet – – erstaunlich!!

Freilich, Harald hat ja schon gesagt, daß Joe Billwaker uns noch allerlei Rätsel aufgeben wird! Das stimmt – das stimmt! Ich bin jetzt schon überzeugt, daß dieser Mann früher etwas anderes gewesen sein muß …

Wieder eine größere Lichtung … Jenseits der Bäume drüben ein langgestreckter Felsenhügel … Und dort oben glühen drei rote flimmernde Pünktchen – Lagerfeuer, fraglos!

Harst ruft unseren Führer leise an …

„Billwaker – einen Moment!“

Der dreht sich um …

„Mr. Harst, Sie wünschen?“

Wir stehen neben einem einzelnen Dschingar-Baum … Auf Deutsch: Baum des Gestanks! Und das stimmt. Die klebrigen lanzettförmigen Blätter „duften“ wie ein Rieselfeld …

„Bevor wir Thomas Orlingtons Lager beschleichen, ein paar Fragen …“ sagt Harald …

„Bitte, Mr. Harst …“

Wir schlagen die Schleier hoch, denn jegliches Getier flieht die Nähe eines Dschingar … Zu Tausenden kleben die kleinen Insekten an seinen Blättern … Der Gestank hat für uns sein Gutes.

Wir setzen uns nebeneinander auf eine Luftwurzel des Baumes. Der Mond bescheint uns …

„Billwaker, wer sind Sie?“ fragt Harald. „Oder besser: wer waren Sie, bevor Sie ins Hotel Esplanade als Kellner kamen? Gewiß – Ihre Papiere als Joe Billwaker sind tadellos in Ordnung … Aber Papiere und Zeugnisse kann man kaufen oder erben …“

„Allerdings, Mr. Harst, das kann man,“ nickt der Rätselhafte, sichert seine Pistole und steckt sie in die Tasche … „Sie gestatten, daß ich rauche … Ich bin sehr empfindlich gegen schlechte Gerüche … Auf meinem elterlichen Schlosse in Schottland ging ich jedem Düngerhaufen aus dem Wege …“

Er schneidet einer Zigarre umständlich die Spitze ab …

„Ich bin der dritte Sohn Lord Hastings, Mr. Harst …“ erklärt er dann. „Also Sir Archibald Hasting, Mr. Harst … Von meiner Familie vor drei Jahren als Vierundzwanzigjähriger verstoßen … Ich hatte heimlich ein armes einfaches Mädchen geheiratet, Tochter eines Hotelportiers aus London …“

Ich bin starr …

Ich habe noch nie einen Mann sein Schicksal mit dieser Gelassenheit erzählen hören …

„Sie kennen ja wohl den Stolz und den Hochmut des schottischen Erbadels, Mr. Harst … Meine Familie zeichnet sich in dieser Beziehung noch besonders aus … Jedenfalls mußte ich mich nach einem Erwerb umsehen. Mein Schwiegervater besorgte mir die Papiere Joe Billwakers, und Jenny und ich gingen nach Bombay …“

„So befindet sich Ihre Gattin noch in Bombay, Sir Hasting?“

„Bitte – nicht Hasting … Ich bin Joe Billwaker … – Ja, meine Frau wohnt in Bombay … Da aber Joe Billwaker unverheiratet war, mußten Jenny und ich sehr vorsichtig sein. Wir haben uns trotzdem täglich gesehen. Jenny hat eine Plättstube in der Goldon-Street unweit des Esplanade …“

„Und – Sie leben glücklich?“

„Sehr glücklich, Mr. Harst … wir haben ein reizendes Kindchen, und das zweite wird nicht mehr lange auf sich warten lassen … Unser Glück wäre vollkommen, wenn wir uns eine Plantage kaufen könnten, denn ich bin leidenschaftlicher Naturfreund und Jäger …“

„Das merkt man … Natürlich auch ein guter Schütze?“

„Ich könnte als Kunstschütze auftreten, Mr. Harst … Ich habe als Zwanzigjähriger in Afrika Löwen erlegt, habe … – aber das interessiert Sie nicht …“

„Wie haben Sie in Bombay gestern nachmittag nach Ihrer Flucht festgestellt, daß Orlington und James den Flugplatz aufsuchen würden?“

„Durch einen Zufall, Mr. Harst …“

„Und – woher wissen Sie oder wußten Sie, daß der Spitzbärtige Orlington war?!“

„Das habe ich erst hier erfahren, Mr. Harst … Sie können sich denken, wie überrascht ich hierüber war … Ein Milliardär ein Dieb – unfaßbar – unverständlich!“

„Genau so geht’s mir, Mr. Billwaker …“ sagte ich freundlich. „Harst allerdings durchschaut die Dinge besser.“

Archibald Hasting blickte Harald von der Seite an …

„Oh – da bin ich wirklich neugierig, Mr. Harst … Neugier ist sonst nicht gerade meine Schwäche …“

„Das nehme ich an … Sie haben eine bewundernswerte Abgeklärtheit …“

„Was im Blute liegt, Mr. Harst … Der schottische Adel ist seit Jahrhunderten durch Inzucht immer mehr degeneriert. Wie gerade ich mit so vernünftigen Ansichten auf die Welt kommen konnte, ist mir schleierhaft – gänzlich schleierhaft …“

Wir mußten lachen … Dieser Archibald war ein Unikum, aber überaus sympathisch …

„Sind Sie eifersüchtig?“ fragte Harald dann ganz unvermittelt …

„Ja – sehr …! Das heißt: ich könnte es sein! Bisher hatte ich keinen Grund dazu …“

„Nehmen Sie dann einmal folgenden Fall an … – Ein Emporkömmling, aber ein intelligenter Mensch von gutem Aussehen heiratet aus Liebe eine geborene Gräfin …“

„Aha: Orlington!“

„Er weiß, daß sie als Mädchen ihren fürstlichen, um zehn Jahre älteren Vetter angeschwärmt hat, den Fürsten Tschergin …“

Und ich jetzt: „Das hat Frau Wera Dir auf dem Balkon eingestanden, Harald …!“

„Ja – das hat sie! Hat aber auch sofort hinzugefügt, daß diese Schwärmerei längst vorüber und daß sie die innige Liebe ihres Mannes ebenso aufrichtig erwidere …“

Archibald Hasting rief nun:

„Mir … wird alles klar … Orlington fürchtete, daß seine Frau sich von ihm jetzt abwenden könnte, nachdem Tschergin durch die Familienkleinodien reich geworden …“

„So ist’s … So muß es sein … Thomas Orlington ist ein Mann der Tat. Er gewann James für seine Pläne … Er hörte von James, daß ich mithelfen würde, die …“

Hasting wurde lebhaft …

„… Und um den wahren Sachverhalt zu verschleiern, räumte Orlington noch den Wandtresor aus …“

„Ja … Und hatte Pech, verlor den Schlüssel … Der Schlüssel war auch für mich der Schlüssel dieses Geheimnisses … – Also Angst, seine Frau zu verlieren, trieb Orlington zu dieser Torheit … Eifersucht machte ihn blind … Eifersucht entschuldigt vieles … Nur Schraut und mich hätte er nicht so rabiat behandeln sollen …“

„Freilich – der Tigerkäfig war eine … Ungeheuerlichkeit, Mr. Harst! Wie denkt Orlington sich wohl den Ausgang der Sache?!“

„Das weiß ich nicht … Er wollte uns drei Tage gefangen halten … was dann geworden wäre – mir unklar! Jedenfalls sollte zunächst einmal Tschergin arm bleiben, damit Frau Wera nicht etwa dächte, sie könnte nun Fürstin Tschergin, geschiedene Orlington, werden … Wie der Milliardär sich jedoch mit Schraut und mir auseinanderzusetzen gedenkt – – eine Preisfrage!“

Wir schwiegen eine Weile …

Um uns her die Dschungellichtung … Drüben am Felsenhügel die glühenden Pünktchen …

Dann wieder Harald: „Ich werde Orlington jetzt in seinem Jagdlager aufsuchen … Ich werde ihm beweisen, daß Frau Wera auch mit dem Herzen sein ist … In Frau Weras Interesse werde ich Nachsicht üben … Schließlich war ja das Käfigabenteuer eine Abwechslung …“

„Auch für mich!“ nickte Sir Archibald … „Immerhin – ich rate zur Vorsicht, Mr. Harst … Ob Orlington an Ihre friedlichen Absichten glauben wird, steht doch sehr dahin – sehr! Orlington hat seine Karre zu tief in den Schlamm geschoben …“

„Aber – er kennt meinen Ruf … Wenn ich ihm wiederhole, was seine Frau mir auf dem Balkon sagte, wird er vernünftig werden …“

„Hm …?!“ machte Sir Hasting zweifelnd. „Ich bin anderer Ansicht … Orlington wird seine Teilnahme an diesem doppelten Diebstahl und an diesem „Morde“ niemals zugeben … Selbst dann nicht, wenn Sie ihm versprechen, die Sache totzuschweigen – selbst dann nicht! Bedenken Sie, Mr. Harst: die Polizei ist doch hinter mir her!! Wie soll ich denn rehabilitiert werden, wenn all das Seltsame in Dunkel gehüllt bleibt …!“

„Dafür lassen Sie nur mich sorgen …! – Brechen wir auf … In der Nähe des Lagerplatzes bleiben Sie und Schraut zurück … Das ist Schutz genug für mich … Sollte Orlington wider Erwarten sich starrköpfig zeigen, sollte er etwa an mir sich nochmals vergreifen wollen, so werde ich ihn durch den Hinweis auf Sie und Schraut schon umstimmen … – Gehen wir also …“

Wir gingen …

Ich mit dem unklaren Gefühl, daß wir erst am Beginn noch böserer Dinge ständen …

 

3. Kapitel.

Ich muß hier etwas nachholen, um nachher nicht den Gang der Ereignisse durch Bemerkungen, die nicht recht in die Schilderung hineinpassen, aufzuhalten … – Thomas Orlington hatte auf seiner Jagdpartie auf jede Begleitung verzichtet. Er hatte von Bombay nur zwei Inder, bejahrte und erfahrene Jäger, mitgenommen, die ihm empfohlen worden waren. Der Kapitän seiner Jacht und der Schiffsingenieur hätten den Jagdausflug sehr gern mitgemacht. Orlington verstand es, sie auf ein andermal zu vertrösten. Nicht einmal der Kammerdiener James, auf den er sehr große Stücke hielt, war anfänglich in die wahren Absichten seines Herrn eingeweiht worden, der so ohne alles Aufsehen und ohne jemand ins Vertrauen ziehen zu müssen sofort wieder das Städtchen Chotar verlassen hatte, nachdem seine Expedition in die Wildnis eingedrungen war. Er selbst war nach Bombay verkleidet zurückgekehrt. Was sich dort dann abgespielt, ist bekannt. –

Wir wußten also auch ohne Sir Archibald Hasting, daß droben im Jagdlager in den Felsenhügeln nur zwei Europäer anwesend waren: Orlington und James! –

Der Anstieg in den Hügeln war durchaus nicht beschwerlich. Das Buschwerk war dünn, und weite Strecken der Felsen standen völlig kahl … – So konnten wir uns denn bis auf hundert Meter den drei Lagerfeuern nähern. Mit Hilfe von Haralds Fernglas sahen wir, daß die Feuer in einer kleinen, nach Süden offenen Schlucht brannten …

Indianerromantik …!!

Das war’s wieder einmal …

Erinnerungen an die Jugendtage, wo man mit brennenden Wangen die Kämpfe der Rothäute verschlungen und dann im deutschen Walde selbst Rothaut gespielt hatte … – Wer als Junge keinen Sinn für diese Romantik besitzt, ist kein rechter Junge …!

Erinnerungen … – wie wir jetzt das Lager mit den braunen Zelten dort vor uns beobachteten … Wie wir hinter einen Felsen geschmiegt dastanden und leise Bemerkungen tauschten, wie auch Sir Archibald nun flüsterte:

„So habe ich einst in Afrika ein Lager räuberischer Beduinen beschlichen … Nachher unser Angriff damals: achtzehn Tote, Mr. Harst! Ich zwei Streifschüsse – ich war so stolz!“ –

Gestalten bewegten sich um die Zelte … Im Hintergrunde der Schlucht vier graue enorme Tierkörper: vier Jagdelefanten!

Dann verschwand Harald. Das Fernglas ließ er uns zurück …

Sir Archibald meinte, wir beide hätten uns doch besser noch näher heranpirschen sollen. – Nun war’s zu spät … Wir mußten bleiben …

Harst war kaum drei Minuten unterwegs, als ein Mann aus der Schlucht hervor an den Rand der vorgelagerten Terrasse trat und einen Feuerbrand im Kreise schwenkte … – eine ganze Weile …

Sir Archibald hatte rasch einen nahen Baum erklettert … Ich sah im Mondenlicht, wie er das Glas nach Süden richtete und starr in die Wildnis hinabschaute …

Dann kam er wieder herab …

„Das Signal wurde beantwortet,“ meinte er erregt. „Meiner Ansicht nach aus der Gegend der Fangkäfige her … Irgend etwas hat das zu bedeuten …“

Abermals beobachteten wir das Lager … Wir mußten ja unbedingt sehen, wenn Harald dort auftauchte …

So verging eine halbe Stunde …

Der Mond verbarg sich hinter dünnen Wolkenschleiern.

Sir Archibald schien beunruhigt …

„Mr. Schraut, da stimmt etwas nicht …! Es ist ausgeschlossen, daß Harst noch nicht …“

Verstummte …

Wir schraken leicht zusammen …

Schraken – zu spät zusammen …

Huschende Gestalten …

Kräftige Arme packten zu … Ein kurzes Ringen … – zwecklose Gegenwehr … – wir lagen im Grase – auf jedem drei Inder …

Im Nu hatte man uns die Hände gefesselt … Im Nu die Augen verbunden …

Man stieß uns vorwärts …

Indianerromantik – eine verwehte Romantik …

Ich konnte mich nur noch auf mein Gehör verlassen. Meine Ohren mußten mir die Augen ersetzen … Aus den Geräuschen kombinierte ich das, was rundum geschah.

Nach kurzem Marsche hob man mich in den Tragkorb eines Elefanten … Band mir nun auch die Füße … Der Elefant erhob sich, ich wurde hin und her geschüttelt, fiel auf einen menschlichen Körper … fiel zur Seite – auf einen anderen … Hörte Sir Archibald fluchen – und Harsts ärgerliche Stimme: „Das war mein bestes Hühnerauge!!“

Also – beieinander waren wir drei – – wenigstens ein Trost …

So begann der nächtliche Elefantenritt … Vielleicht eine Stunde … Vor uns auf dem Halse des Dickhäuters der Mahut, der Lenker … Seine lauten Zurufe waren die einzigen menschlichen Laute … Die Zurufe galten dem zahmen Tiere. Als wir versucht hatten, uns flüsternd zu unterhalten, war ein Wächter drohend dazwischengefahren … Der Mann saß hinter dem Tragkorbe …

Eine Stunde etwa schaukelten wir so vorwärts …

Dann kniete der Elefant nieder … Wir wurden herausgehoben … Man nahm mir die Fußfesseln ab … Man führte mich irgend wohin – eine Steintreppe empor, ausgetretene Stufen, sandig … Bäume rauschten … Ein Sumpfwasser duftete … Dann offenbar eine Halle mit zerbrochenen Fliesen, kühlere Luft … Die Schritte der Leute, die mich an den Armen hielten, und meine eigenen Schritte klangen dumpf und hohl …

Dann machten die Leute halt …

Stille …

Etwas wie schleichendes Tappen ringsum …

Stille …

Ich stand und lauschte …

Das Tappen entfernte sich …

Eine Stimme nun, dieselbe, die uns im Käfig gedroht hatte, derselbe Mann, der Harald mit der Stange die Pistole aus der Hand geschlagen hatte …

Die Stimme …:

„Ihr dürft Euch niedersetzen – nichts anderes! Bewegt Euch nicht! Ihr steht dicht vor dem Abgrund des Dschungelpalastes von Chotar …“

Abermals tappende Schritte …

Dann – nichts mehr … Auch nicht das geringste Geräusch …

Ich mußte sehr genau hinhören, wenn ich neben mir das hastige Atmen eines Menschen vernehmen wollte … Immerhin – ich hörte es … Und flüsterte:

„Harald …!“

„Ja, mein Alter …“

„Also auch Du …!!“

„Auch ich gefangen … Man muß uns ständig beobachtet haben … Man überfiel mich ganz unerwartet … Im Moment war ich wehrlos …“

„Wie Mr. Schraut und ich …“ meldete sich da Sir Archibald …

Und fügte hinzu:

„Haben Sie schon einmal etwas vom[5] Dschungelpalast von Chotar gehört, Mr. Harst?“

„Nein, nichts …“

„Und – was tun wir nun, Mr. Harst?“

„Zunächst setzen wir uns …“

„Ganz meine Meinung … – Hallo, hier ist ja eine Steinbank …“

„Nein – eine Treppenstufe,“ – und Harald hatte recht … auch ich hatte diese Steinstufe gefunden, war froh, als ich erst saß …

Wir rückten näher aneinander … Ganz nahe, wir drei Leidensgefährten …

Eine Weile schwiegen wir …

„Eigentümliche Behandlung …“ meinte Harst dann … „Anscheinend haben sich die Wächter doch sämtlich entfernt … Man hat uns die Füße nicht gefesselt, und die Stricke um meine Handgelenke sind höchst mangelhaft befestigt … Ich werde in wenigen Minuten die Hände frei haben …“

„Ich … habe sie schon frei!“ lachte Sir Archibald unbekümmert …

Und – er riß mir den Zeugfetzen von den Augen …

Ich blickte umher …

Links neben mir Harald … Rechts Sir Archibald, der mir nun rasch die Stricke löste …

Und – vor uns in der Tat ein Abgrund, in den eine verfallene endlose Treppe hinabführte …

Wir selbst saßen in einer zerstörten weiten Halle … Die Morgendämmerung schaute durch zahllose Löcher des gewölbten Daches herein …

Und – keine lebende Seele in der Nähe …

Niemand …

Harst stand auf … Auch ihm hatte Sir Archibald die Fesseln abgenommen …

Starr blickte Harald geradeaus, wo das verfallene Schloß mit der eingestürzten Rückwand seiner mächtigen Halle bis dicht an den Rand des Abgrundes heranreichte …

Starr blickte er …

Jenseits der wohl hundert Meter tiefen Schlucht türmten sich bewaldete felsige Hügel auf …

Ein in der Tat eigenartiges Bild …

Und doch: Haralds Aufmerksamkeit konnte kaum dieser seltsamen Szenerie gelten …

Nein – da mußte etwas anderes sein, das seine Sinne so ganz gefangen nahm … Was aber – was?!

Und Sir Archibald und ich traten einen Schritt vor …

Beugten uns in ebenso starrem Staunen vorwärts …

Jetzt … sahen wir …

Sahen, daß die Schlucht sich bogenförmig nach beiden Seiten um die Schloßruine fortsetzte, daß dort in der Tiefe die Treppe fehlte, daß in diesem natürlichen Wallgraben sich Tierkörper bewegten, gelbbraune, gestreifte Riesenkatzen … Tiger … vier … fünf …

Da – – wußten wir, weshalb man uns so großmütig die Füße freigelassen hatte …

Die Waffen hatte man uns abgenommen … Die Tiger waren unsere Wächter auf dieser Seite …

Und – auf der anderen?!

Harst drehte sich bereits um …

„Prüfen wir auch die Front des Schlosses …“ – er ging voran … dem Eingang zu, der von mächtigen geborstenen Steinsäulen flankiert war …

Wir traten auf eine Terrasse hinaus … In der Mitte die Reste eines ungeheuren Springbrunnens, Marmorfiguren auf dem Rande der Einfassung, grün schillerndes Wasser … Fette Kröten glotzten uns von bemoosten Steinen an … Ein paar Wasserschlangen krochen schleunigst davon …

Wir taten noch acht Schritte vorwärts … Dann … sahen wir, daß dieses Gefängnis ringsum von einem Wallgraben umgeben war – nach Norden zu von der Schlucht, hier nach Süden von einem künstlichen Graben, der mit dem halbkreisförmigen Abgrund in Verbindung stand …

Die Tiger waren uns gleichsam gefolgt … Fünf Prachtexemplare … Und doch – – für uns die gefährlichsten Wächter, die man sich denken konnte … Diese fünf Bestien stierten jetzt zu uns nach oben …

Sir Archibald meinte, indem er den Tigern zuwinkte:

„Wir lassen uns auch durch Euch nicht imponieren …! Alles zu seiner Zeit! Noch dürften die Halunken in der Nähe sein, die uns hier untergebracht haben … Alles zu seiner Zeit …!! Ein paar gut gezielte Felsbrocken, und Ihr seid …“

Daß Sir Archibald trotz seiner unnatürlichen Nerven in diesem Moment entsetzt zurückfuhr, konnte ich ihm wahrlich nicht verdenken …

Denn aus der Tiefe des Wallgrabens, etwa aus der Richtung, wo die fünf Bestien dicht beieinander standen, war ein kaum mehr menschenähnlicher Schrei erklungen …

Noch einer …

Harst war bis dicht an den schroffen Rand der Terrasse herangetreten …

Beugte sich vor …

Sprang zurück, winkte uns, warf sich lang hin …

Wir neben ihm … Köpfe über die Tiefe … Sahen – – zwei Männer an Tauen hängen – – gerade unter uns … so tief, daß die Tiger, wenn sie hätten Anlauf nehmen können, die beiden erreicht haben würden …

Zwei Europäer …

Und der eine nun ärgerlich – drohend:

„Halte das Maul, James! Willst Du die Bestien durch Dein Gebrüll reizen?!“

Bei Gott – – das konnte nur Thomas Orlington sein …!

Sir Archibald rief schon hinab:

„Hallo – – keine Sorge!! Wir hissen Sie empor … Die Schufte haben die Taue hier an der Terrassenbrüstung befestigt …!“

Unsere Empfindungen bei diesem Anblick der beiden Männer, die wir für die Urheber dieses neuen Anschlags gegen uns gehalten hatten, kann sich der Leser unschwer selbst ausmalen …

 

4. Kapitel.

Wir zogen sie empor …

Erst den Diener James … Der arme Teufel war halb irrsinnig von Angst und übergenug schon durch diese Angst für seine „Ermordung“ bestraft worden …

Gelbfahl, japsend, unfähig ein Glied zu rühren – so lag er nun auf der Terrasse …

Dann beförderten wir den Milliardär nach oben. Thomas Orlington war die Ruhe selbst …

Weiß der Himmel – kein Wunder, daß dieser Mann im Kriege Unsummen verdient hatte! Kaltschnäuzig genug war er! Es genierte ihn in keiner Weise, daß wir, die er so unglaublich behandelt hatte, nun seine Retter geworden … Im Gegenteil – er spielte noch vollendet Komödie – – streckte Harst die Hand hin … bedankte sich …

Beneidenswerte Unverfrorenheit …!!

Harald fixierte ihn scharf …

„Und sonst haben Sie nichts zu sagen, Mr. Orlington?!“

„Ich wüßte nicht …“ Er schaute sehr kühl drein … Haralds Ton schien ihm nicht zu behagen …

„Zunächst,“ meinte Harald, „– wissen Sie denn, wer wir sind …?!“

„Gewiß – die braunen Schufte haben’s mir erzählt … trösteten uns, wir würden hier berühmte Gesellschaft vorfinden, die Detektive Harst und Schraut und den Kellner Joe Billwaker …“

„Und – Sie haben uns nicht in die Tigerfalle gelockt, Mr. Orlington?“

„Wie – – ich?! – – Mr. Harst, soll das ein schlechter Scherz sein?! – Ich und James gerieten dort in den Käfig – Sie etwa auch?!“

Wir alle machten äußerst verblüffte Gesichter …

Wir merkten: hier war irgend etwas nicht in Ordnung.

Harald fragte rasch:

„Waren es denn nicht die Mitglieder Ihrer Jagdexpedition, die uns hier …“

„Keine Rede, Mr. Harst …! Das waren Räuber, Banditen, die meine braven Leute überwältigt hatten und …“

„Ja – aber … aber Sie und James sind doch im Eindecker von Bombay …“

„Wir – – Eindecker?! – Ja – was heißt das alles denn nur, Mr. Harst?!“

Harald lächelte plötzlich … Ein kühl-ablehnendes Lächeln …

„Sie lügen, Mr. Orlington! Und mich zu belügen, ist doch nicht so ganz einfach … Ich bin hellsichtig genug, um mir aus alledem den rechten Vers machen zu können … – Auf die zweifelhafte Ehre Ihrer Gesellschaft verzichte ich, bis Sie so vernünftig sind und der Wahrheit die Ehre geben … Komm, mein Alter … Kehren wir in die Halle zurück … Dort sind wir dann wenigstens allein!“

Und er schritt davon … Ich zögernd hinterdrein …

Wir setzten uns wieder auf die oberste Stufe der Treppe, die in den Abgrund hinabging … Wir saßen da und dachten über die letzten Vorgänge nach …

„Wo … liegt die Wahrheit?!“ fragte ich nach einer Weile. „Alles ist so unglaublich verworren … Ich …“

„Durchaus nicht verworren, lieber Alter … Orlington schwindelt zur Hälfte nur … Natürlich ist er in Bombay gewesen, natürlich hat er auch den Koffer und die Juwelen seiner Frau verschwinden lassen, ist im Eindecker mit James entflohen … Aber dann beginnt das Unbegreifliche … Dann scheint er tatsächlich mit James in dieselbe Tigerfalle geraten zu sein wie wir … – Ich gebe zu, mein Alter, ich bin nun selbst vorläufig noch ein wenig verwirrt … Gönne mir ein paar Minuten Ruhe … Ich muß mir die Dinge mal gründlich durch den Kopf gehen lassen …“

Und er erhob sich und stieg vorsichtig die Treppe hinab – sehr vorsichtig, denn die Stufen unten in der Tiefe waren eine beredte Warnung, da sie nur noch einen Trümmerhaufen bildeten, der für die Riesenkatzen nicht zu erklimmen war …

Dann stand er einsam dort inmitten der Schluchtwände …

Regungslos … Mehr Statue als Mensch … –

Zehn Minuten verstrichen …

Ich schaute mich um …

Erhob mich halb …

Auf der Terrasse draußen im ersten Sonnenschein Sir Archibald und Orlington und James … Der englische Lordsohn redete eifrig auf die beiden ein … Wahrscheinlich machte er ihnen klar, daß Lügen Harald gegenüber kurze Beine hätten und daß es eine Torheit sei, wenn wir fünf Gefangene nicht in Eintracht unsere Rettung und Befreiung vorbereiten wollten …

Aber Thomas Orlington blieb offenbar hartnäckig … Seine Körperhaltung drückte kühlste Ablehnung aus …

Sir Archibald machte plötzlich einen ironisch tiefen Bückling und kam dann in die Halle hinein, nickte mir zu …

„Mr. Schraut, der Mann hat einen Vogel – einen ausgewachsenen Vogel …! Er leugnet alles – alles! So ein Idiot!! – Na – mit der Zeit wird sich sein Gehirnkoller wohl legen …! Ich habe ihm nun mitgeteilt, wer ich in Wahrheit bin, und daß seine Ahnen den meinen wahrscheinlich die Stiefel geputzt haben und daß seine Milliarden mir so viel imponieren – – so viel!! – Ein kompletter Idiot!!“

„Was ich nicht unterschreiben möchte, Sir Hasting,“ sagte ich ernst. „Orlington ist doch schließlich ein kaufmännisches Genie, und ein solcher Mann …“

Da trat Harst zu uns … Leider noch immer mit sehr versonnenem Gesicht … Fraglos hatte auch diese Denkarbeit auf der Treppe die Sache nicht gefördert …

Und im selben Moment kam auch James von der anderen Seite herbeigelaufen …

„Mr. Harst …“ – er dienerte tief … „Mr. Harst, mein Herr möchte Sie ein paar Augenblicke sprechen – allein …“

„Bedaure … Schraut muß dabei sein …“ erklärte Harald sehr bestimmt …

„Wenn’s nicht anders geht, Mr. Harst … Bitte … Ich bleibe dann hier bei Sir Hasting …“

„Scheren Sie sich zum Teufel,“ rief Archibald hochmütig …

Und James trat bescheiden zur Seite. Wir gingen auf die Terrasse hinaus. Der schlanke, kräftige Orlington schaute uns unsicher an … Es war jedoch nichts Falsches in diesem Blick, nur Verlegenheit. Mit einem Freimut, der sehr für ihn einnahm, sagte er nun:

„Meine Herren, helfen Sie mir bitte, diese Geschichte wieder einzurenken. Sir Hasting hat mir erzählt, daß Sie, Mr. Harst, die Motive meiner … unsinnigen Streiche erkannt haben … Es stimmt! Ich[6] liebe meine Frau über alles, und nur die Furcht, sie zu verlieren, hatte mir den Gedanken eingegeben, Tschergin in Armut zu belassen … – Eifersucht macht blind … Ich bedauere tief, daß ich …“

„Haben Sie und James wirklich vor uns in der Tigerfalle gesteckt?“ fiel Harald ihm ins Wort …

„Ja …“

„Und weshalb hat man Sie und Ihren Diener in den Wallgraben gehängt?“

„Ich sollte den braunen Schurken das Versteck des Koffers verraten, in dem sich ja auch meiner Frau Juwelen befinden …“

„Das dachte ich mir … – Sie hingen dort schon einige Stunden?“

„Ja – etwa vier Stunden … Immer wieder fragten uns die Halunken, ob wir nicht angeben wollten, wo der Koffer verborgen. Zum Glück hatte James, dieser Angsthase, keine Ahnung, wo ich den Koffer kurz nach der Landung hingetan hatte … Sonst würde er …“

„Und – wo ist der Koffer?“

Orlington lächelte schwach …

„Im Eindecker, Mr. Harst … Ich habe ihn gar nicht in den Dschungel getragen, wie James und der Pilot glaubten … Ich habe ihn in eine leere Kiste unter ein paar Flaggen gelegt …“

„Und der Pilot? War es ein Inder? Wo ist der geblieben?“

„Es war ein Europäer, Mr. Harst … Er wurde mit uns zugleich in den Käfig eingesperrt. Als wir uns dann gefangen gaben, wurde er von uns getrennt …“

„Getrennt!“ Harald fragte es in ganz merkwürdig-gespanntem Tone …

„Ja, wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist … Man verband uns die Augen …“

Harsts Blick schnellte sinnend in weite Fernen … Sein Gesicht wurde mit einem Schlage zu einer Maske höchster geistiger Anspannung …

Dann wandte er sich abermals Orlington zu …

„Wir müssen schleunigst von hier fort … Zurück zu der Lichtung, wo wir landeten …“

Der Milliardär meinte kleinlaut:

„Wir sind eingeschlossen, Mr. Harst – die Tiger …!!“

„Ah bah …! Es gibt ein sehr einfaches Mittel, uns zu befreien … An dem alten Gemäuer wachsen genug zähe Lianen … Wir flechten ein langes Tau … Helfen Sie mir … Auch James und Sir Archibald Hasting können sich nützlich machen …“

Orlington rief die beiden herbei …

„Schraut und ich werden derweil eine passende Stelle am Wallgraben auswählen …“ erklärte Harald. „Komm, mein Alter … Es muß ja drüben in den Büschen eine Schiebebrücke geben, die selbst die Elefanten getragen hat … Also – suchen wir …“

Wir schritten langsam am Rande des Grabens dahin. Unten äugten die Tiger zu uns empor …

Harst flüsterte: „Lieber Alter, wenn ich nur erst hinter den Kern der Sache käme … Hier spielen Dinge mit, die uns noch verborgen geblieben sind … Ich weiß nicht – ich traue diesem Hasting nicht mehr so ganz … Erinnere Dich: er sagte, er habe zufällig erfahren, daß Orlington und James mit einem Flugzeug fliehen wollten – zufällig! Nähere Auskunft hierüber vermied er. Und doch muß man ihn offenbar vom Flugplatz aus telephonisch benachrichtigt haben. Er hatte ja in der Zwischenzeit das Hotel Esplanade nicht verlassen … Und dann: auch diese unsere Gefangenschaft hier! Keine Wächter mehr …! Und nur die Tiger! Auch nur sensationelle Dekoration …! Schließlich: Sir Hastings Armfesseln waren am lockersten! Er schnürte unsere Fesseln auf …!“

So türmte er kleine Beweise gegen Sir Hasting zum offenbaren Verdacht …

Blieb plötzlich stehen, deutete auf den Rand des Wallgrabens …

„Bitte – das Unkraut ist niedergedrückt … Man sieht die Spuren von Balken … Hier hat die Schiebebrücke gelegen …“

Er spähte über den Graben, der hier kaum vier Meter breit war, hinüber – in das Gestrüpp … Und da erkannte auch ich hinter geknickten Zweigen rohe Baumstämme, durch Querhölzer verbunden: die Schiebebrücke! –

Als wir dann eine halbe Stunde später das Pflanzentau, das an einem Ende mit einem langen schmalen Stein beschwert war, über den Wall schleuderten, als es nach mehrfachen Versuchen sich im Wurzelwerk der Büsche verfing, da turnte Harald rasch hinüber … Ebenso rasch hatte er die auf plumpen Rädern bewegliche Brücke, an die er das Tau befestigte, mit unserer Hilfe über den tiefen Graben gezogen, so daß wir vier anderen bequem über die Brücke den jenseitigen Rand erreichen konnten … – Wir waren frei … Und schlugen nun die Richtung nach Süden ein … Sir Archibald ging neben mir … Nach einer Weile fragte er sehr vorsichtig, ob Orlington uns nun verraten habe, wo der Koffer verborgen sei …

In demselben Moment drehte Harst sich um … Er mit seinem feinen Gehör hatte Wort für Wort verstanden …

„Der Koffer, Sir Hasting,“ rief er scheinbar gut gelaunt, „liegt in der Höhlung eines ausgefaulten, abgestorbenen Soka-Baumes … Sie wissen wohl, daß jeder Soka sehr schnell wächst, dann abstirbt, innen hohl wird und schließlich zusammenbricht. Aus seinen Wurzeln sprießt ein neuer Soka hervor … – Hoffentlich finden wir auch die Flugzeuge noch vor … Dann können wir nachmittags in Bombay sein, wo ich die Polizei schon beruhigen werde … Mr. Orlingtons kleine Eifersuchtsentgleisungen sollen rasch vergessen sein …“

Orlington und James warfen sich unsichere Blicke zu … Dann schien dem Milliardär die Wahrheit zu dämmern … Sein Gesicht wurde finster … Aber wortlos schritt er neben seinem Diener weiter …

 

5. Kapitel.

Sir Archibald war mit einem Male glänzender Laune … Er erzählte von seinen Löwenjagden in Afrika … Es unterlag keinem Zweifel, daß er tatsächlich das Innere Afrikas sehr genau kannte. Harald spielte gleichfalls den vollkommen Harmlosen …

Und dann – geschah das, was die Sachlage etwas klärte …

Beim Abstieg von einem Felsenhügel rutschte Sir Hasting aus, sank nach vorwärts und blieb stöhnend liegen …

„Ich habe mir den Fuß verrenkt,“ klagte er, als ob er mühsam unerträgliche Schmerzen verbeißen müßte. „Mr. Harst, tragen Sie mich dort auf jenen Felsen … Ich bin unfähig zu marschieren … Holen Sie mich mit dem Eindecker hier ab … Wenn Sie einen Ast mit einem Taschentuch hier aufstellen, finden Sie mich schon …“

Oh – er war ein glänzender Komödiant! Als Harst den Fuß untersuchte, stöhnte er so echt, daß Orlington mitleidig meinte, es wäre wohl am richtigsten, Sir Hastings Vorschlag anzunehmen …

Und Harald – der war ein noch besserer Komödiant …

So wurde Sir Archibald denn wirklich auf dem Felsblock gebettet, wo kein Raubtier ihm etwas anhaben konnte und wo ihm auch die Büsche Schatten spendeten …

Nach freundlichem Abschied zogen wir vier weiter. An einem langen Ast wehte Haralds Mückenschleier über dem Felsblock …

Wir verließen die felsigen Hügel und drangen in den eigentlichen Dschungel ein … Es wurde heißer und heißer … Und – wir vier unbewaffnet … Wir vier uns vollständig auf Haralds Ortssinn verlassend in dieser undurchdringlichen Wildnis … Schweigend schritten wir dahin … Bis Harald unvermittelt sagte: „Sir Hasting läuft uns jetzt im Eiltempo voraus, um die Beute in Sicherheit zu bringen.“

Orlington blieb stehen … „Wie – Sie meinen, daß er …“

„… ganz gesund ist! Von Verrenkung oder Sehnenzerrung keine Spur, Mr. Orlington … Und wahrscheinlich ist dieser Sir Archibald niemals ein Lordsohn gewesen, sondern nur ein Abenteurer, der im Esplanade auf eine gute Gelegenheit wartete, einen ganz großen Fischzug zu machen … Er hat fraglos Ihre Leute von der Jagdexpedition durch einen Helfershelfer bestechen lassen … Er hat befohlen, daß man Sie und James in den Wallgraben hing … Als Sie nicht verrieten, wo der kostbare Koffer lag, hat er uns beide befreit – aus der Tigerfalle, indem er damit rechnete, daß wir bei Ihnen mehr Glück haben würden, wie es denn auch gekommen ist … Jetzt eilt er auf kürzestem Wege nach jener Lichtung, wird den hohlen Baum suchen …! Viel Glück, Sir Archibald!! Wir kommen noch zur rechten Zeit …! Immer noch! Nur werden wir einen Umweg machen und uns von Süden anpirschen … Sie und James, Mr. Orlington, bleiben zurück … Es kann zu Schießereien kommen … Außerdem – Schraut und ich arbeiten am liebsten allein …!“

Gleich darauf stießen wir auf eine breite Fährte … Sie führte uns … zu dem Tigerkäfig … Aber die Bestie war inzwischen aus der anderen Abteilung entfernt worden. Harald suchte im nahen Gestrüpp und fand auch wirklich seine Clement, die man ihm mit der Stange aus der Hand geschlagen hatte …

Nun – hatten wir doch wenigstens eine Waffe … Nun mußten wir in einer halben Stunde die Lichtung erreichen …

Aber Harst bog nach Osten ab, erklärte mir: „Hasting hat uns ohne Zweifel einen Hinterhalt gelegt … Wir wollen vorsichtig sein …“

Jetzt schritten wir rascher aus … Wir alle ahnten, daß die Entscheidung nahte …

Haralds Ortssinn bewährte sich glänzend …

Wir waren längst wieder nordwärts eingeschwenkt, so daß wir von Süden uns der Lichtung näherten …

Hörten Stimmen …

Harst winkte Orlington und James zurückzubleiben, gab mir die Clement …

„Nur im äußersten Notfall, mein Alter …!“ flüsterte er …

Wir schlichen weiter …

Dann konnten wir die Dschungelblöße übersehen …

Links der Eindecker dicht am Buschrande … Unser Eindecker nicht mehr da …

Und vor dem Flugzeug Sir Archibald – jetzt im Fliegeranzug … Neben ihm eine junge blonde Frau in weißem Leinenkostüm …

Mit bittender Gebärde rief sie jetzt:

„Joe, wenn Du mich lieb hast: wir wollen fliehen …! Fliehen, so lange es noch Zeit ist …! Wenn Harst und die anderen den Indern entgehen, wenn sie nicht abgefaßt werden, dann … sind wir verloren! – Joe sei klug …! Gib das Suchen auf …! Du findest den Koffer doch nicht! Harst hat Dich fraglos absichtlich belogen …“

Sie war noch näher an ihn herangetreten …

So gab sie uns die Aussicht auf die Gondeltür frei …

Und – in der kleinen offenen Tür die Leiche eines Mannes ohne Kopf … Ein entsetzlicher Anblick … Der Hals nur noch blutige Fleischfetzen …

Mir lief der kalte Schweiß über das Gesicht … Und – – Harald da mit vier langen Sätzen vorwärts, ich hinterdrein … Hasting wollte fliehen, stolperte … Ich über ihm … Die Clement hielt ihn in Schach …

Die blonde Frau aber war vor Harst in die Knie gesunken …

Ein trostloses Schluchzen kam über ihre Lippen … Mischte sich in das surrende Geräusch eines Fliegers … Hoch am Himmel ein Eindecker – unser Eindecker – – im Gleitflug jetzt herabschießend …

Und die Frau – jammernd, flehend:

„Mr. Harst, haben Sie Erbarmen … Joe hätte niemals diesen wahnwitzigen Plan entworfen, wenn er nicht so unendlich verbittert gewesen wäre, weil sich der Verdacht gegen ihn gelenkt hatte …! Niemals!! Er ist kein Verbrecher!! Ich bin seine Frau, Mr. Harst, und wir haben bisher ehrlich unser Brot verdient … Er heißt nicht Joe Billwaker … Er ist tatsächlich Lord Hastings dritter Sohn … Haben Sie Erbarmen …! Der Flugzeugführer dort starb durch eigene Schuld … Ein Elefant hat ihn so zugerichtet, den er aus Übermut reizte …“

Harald schaut Sir Archibald an …

„Stehen Sie auf …! Ich halte Sie trotz allem für einen anständigen Menschen … Ich kann es begreifen, daß Sie, der Sie als Kellner zwei Jahre sich tadellos geführt haben, in vorschnellem Entschluß sich fremdes Gut aneignen wollten.“

„Nur um Mittel zur Flucht zu haben!“ rief Frau Jenny Hasting wiederum …

Sir Archibalds offene ehrliche Augen ruhten fest in denen Harsts …

„Ja – ich habe übereilt gehandelt – genau wie Orlington! Seien Sie gerecht, Mr. Harst …! Was einem Milliardär verziehen wird, muß auch mir nachgesehen werden!“

Eine Handbewegung Haralds – ein Kopfnicken … Und das Ehepaar verschwand im weiten Dschungel … –

Der Eindecker landete … Die drei Polizeibeamten aus Chotar kamen zu spät … – –

In Bombay hatte Harst dann mit der Polizei einen bösen Strauß auszufechten. Man wollte Orlington durchaus in Haft nehmen …

Abends sieben Uhr lichtete die Luxusjacht Hudson die Anker und dampfte ins offene Meer hinaus … Wir waren als Gäste an Bord … Und mit der Hudson haben wir dann unser nächstes Abenteuer erlebt – – …: Das Geheimnis des Perlentauchers, bei dem auch Sir Archibald noch eine besondere Rolle spielen sollte …

 

Nächster Band:

Das Geheimnis des Perlentauchers.

 

 

Verlagswerbung:

Abseits vom Alltagswege
von Olaf K. Abelsen:

Ein einzigartiges Bild abseits dem üblichen Leben bietet sich dem Leser. Abenteuerliches Erleben wechselt in packender Folge mit Naturschilderungen von ungeahnter Weite. Menschen, Völker und Länder erstehen, von denen wir bisher nur wenig wußten. Ein neues Leben, ein Miterleben erfaßt den Leser. Selten ist ein Buch erschienen von gleicher Tiefe des Stoffes wie die vorliegenden Bändchen.

Band 1:
Das tote Hirn

Band 2:
Das Geheimnis des Meeres

Band 3:
Mein Freund Coy

Band 4:
Das Paradies der Enterbten

Band 5:
Das Kreuz der Wüste

Band 6:
Die Geisterburg

Band 7:
Chi Api, der Tote

Band 8:
Die Schwurhand der Jossi

Band 9:
Das Herz der Welt

Band 10:
Mein Feind Cordy

Band 11:
Die Oase der Toten

Band 12:
Die Herrin der Unterwelt

Band 13:
Malmotta, das Unbekannte

Band 14:
Die Löwenfarm

Die Bändchen: „Abelsen, Abseits vom Alltagswege“ sind durch jede Zeitschriftenhandlung zu beziehen. Man erhält dieselben auch gegen Voreinsendung von 50 Pfg. für einen Band portofrei vom

Verlag moderner Lektüre
Berlin SO. 16, Michaelkirchstraße 23a.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Olygin“. Im vorhergehenden Heft war der Geburtsname der Gräfin aber noch Oligow. Daher auf „Oligow“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „wie“.
  3. In der Vorlage steht: „Doppeldeckern“.
  4. In der Vorlage steht: „Einer jene“.
  5. In der Vorlage steht: „von“.
  6. In der Vorlage steht: „ich“.