Sie sind hier

Die Abenteuer auf dem „Wingolf“

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Abenteuer auf dem „Wingolf“[1].

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Der verlassene Dampfer.

In dem engen Verschlag im Vorschiff standen vier Betten, je zwei übereinander an den Längswänden. Durch das runde Fenster drang nur wenig Licht herein. Es genügte gerade, daß Fritz Helmer dem in einem der unteren Betten liegenden Kajütjungen aus einem Buche über die Naturschönheiten Norwegens vorlesen konnte.

Helmer machte eine Pause, sah nach der Uhr und klappte das Buch zu. Aufstehend sagte er zu dem kaum fünfzehnjährigen Patienten, der sich bei einem Sturz auf der Schiffstreppe nach dem Speisesaal eine böse Kopfverletzung zugezogen hatte:

„Ich muß jetzt gehen, mein kleiner Freund. Die Tischzeit ist da. – Auf Wiedersehen!“

Er reichte Max Jensen die Hand und fügte hinzu:

„Heute siehst Du bereits viel frischer aus. Auch der Doktor meint, daß Du morgen wirst versuchsweise an Deck können.“

Der Knabe, dessen blondes Haar und etwas breites Gesicht im Verein mit den blauen Augen die friesische Abstammung verriet, auf die ja auch sein Name Jensen hindeutete, behielt des jungen Ingenieurs Hand mit schwachem Druck in der seinen und sagte mit leuchtendem, aufrichtigem Blick:

„Wie soll ich es Ihnen nur danken, Herr Helmer, daß Sie so gut zu mir gewesen sind. Niemand kümmerte sich um mich, nur Sie allein kamen zu mir, steckten mir gute Bissen zu und …“

„Laß nur, Max! All’ das ist wirklich nicht der Rede wert! – Doch, nun lebewohl, mein Junge! Nachmittags komme ich auf ein Stündchen zu Dir!“

Max Jensen blickte dem Ingenieur mit strahlenden Augen nach. Und er flüsterte leise: „Mein Wohltäter …!“

Der Luxusdampfer „Anna Bohlen“ der Hamburg-Amerika-Linie befand sich auf der Nordlandreise. Am 10. Juni hatte er seinen Heimathafen verlassen, war, mit 580 Passagieren an Bord, bei günstigstem Wetter zunächst nach Thornshavn, dem bedeutendsten Küstenort der wildromantischen, zu Dänemark gehörigen Färinger-Inseln (Fär-Öer[2]) gedampft und strebte jetzt mit genau östlichem Kurse der fischduftenden, norwegischen Stadt Bergen zu, von wo aus die Vergnügungsreisenden dem Programm gemäß einen Abstecher in den berühmten, selbst im Hochsommer von gletschervereisten Bergen eingeschlossenen Hardanger-Fjord machen sollten.

Der Kajütjunge Max Jensen war jetzt wieder völlig genesen und hatte seinen Dienst schon seit zwei Tagen aufgenommen, der hauptsächlich darin bestand, die Passagiere auf Deck zu bedienen.

Vor seinem Unfall, der bald nach der Abreise aus Hamburg erfolgt war, hatte Max Jensen sich um Helmer kaum bekümmert, ihn auch nur flüchtig ein paarmal zu Gesicht bekommen. Jetzt dagegen hatte er in seiner tiefen Dankbarkeit nur Augen für den jungen Ingenieur, las ihm jeden Wunsch vom Gesicht ab und suchte so seine Dankesschuld ein wenig abzutragen. Leider bot sich ihm zu solchen Beweisen treuester Anhänglichkeit jedoch nur selten Gelegenheit, da Helmer kaum einmal auf den Promenadendecks erschien, vielmehr zumeist im Maschinenraum als freiwilliger Gehilfe des Oberingenieurs sich aufhielt.

Max Jensen gewann sogar sehr bald den Eindruck, daß Helmer absichtlich den übrigen Reisenden auswich. So nahm er zum Beispiel nicht an der gemeinsamen Tafel teil und ließ sich nie in den Schiffsalons sehen, speiste in seiner Kabine und suchte Plätze an Deck auf, die andere nur selten betraten.

Es war an einem völlig windstillen Tage. Am Abend sollte die „Anna Bohlen“ in Bergen ankommen. – Mittags gegen zwölf Uhr mußte Max Jensen einer Dame aus deren Kabine ein Buch holen. Dabei kam er an dem jetzt völlig leeren Rauchsalon vorüber. Wenigstens glaubte er, dieser für die tabakliebenden Herren vorbehaltene Raum sei jetzt, wo alles bei dem herrlichen Wetter an Deck promenierte, ganz unbenutzt. Die Tür stand weit offen. Schon wollte Max auf seinen Segeltuchschuhen vorüberschlüpfen, als er plötzlich seine Schritte hemmte und angestrengt lauschte.

Ein Name war an sein Ohr gedrungen: Helmer! – Und im Anschluß ein verfängliches Wort: Verhaften!

Zwei Herren standen so hinter der Tür, daß sie den Jungen nicht bemerken konnten. Sie sprachen sehr eifrig miteinander, zumeist nur flüsternd, aber Max Jensen konnte doch jedes Wort verstehen.

Nachher brachte er sehr eilig der Dame ihren Roman und machte sich dann auf die Suche nach Helmer. Er mußte ihm sofort mitteilen, was er erlauscht hatte, sofort!

In überstürzter Hast berichtete Max ihm nun, was von dem einen der beiden Herren, offenbar einem Polizeibeamten, dem anderen, den jener auf der „Anna Bohlen“ erst kennengelernt hatte, anvertraut worden war. Zum Schluß fügte Max dann hinzu: „Ja, und in Bergen will er Sie verhaften, Herr Helmer! Sie sind ihm dadurch aufgefallen, daß Sie sich von den übrigen Passagieren so sehr absondern. Aber – niemals glaube ich, daß Sie das getan haben können, weswegen jener Beamte Sie verfolgt. Niemals!“

Helmer nickte schmerzlich mit dem Kopf und seufzte leise.

„Und doch ist der Schein gegen mich, mein Junge. Ich kann Dir das alles nicht so in Kürze erklären. Ich bin tatsächlich ein Flüchtling. Jener Kriminalkommissar hat ganz recht. Aber – unschuldig bin ich, das versichere ich Dir bei dem Andenken meiner lieben Eltern! – Werde ich in Bergen wirklich verhaftet, so gehe ich einem traurigen Schicksal entgegen. Man wird mich nach Deutschland ausliefern, wo ich fraglos auf Grund von Tatsachen, die gegen mich sprechen, verurteilt werde.“

„Mein Gott, Herr Helmer, das wäre ja schrecklich! Können wir denn … – Ah, hören Sie, unser Schiff gibt dem Dampfer da drüben Signale mit der Sirene. Was hat das zu bedeuten? Und – die „Anna Bohlen“ fährt plötzlich auch langsamer! – Mir ist jener Dampfer schon vorhin etwas merkwürdig vorgekommen. Ich bin nun doch schon ein halbes Jahr Kajütjunge, und da lernt man doch etwas vom Seemannsberuf, wenn man auch nur ein halber Kellner ist. Der Dampfer muß eine kaputte Schraube haben. Er treibt nämlich nur, seine Schrauben stehen still. – Da, sehen Sie nur, Herr Helmer, wie er auf der schwachen Dünung wie ein Trunkener hin und her torkelt! Wir nähern uns ihm immer mehr. Unserem Kapitän muß der alte Kasten dort auch wohl so ein wenig seltsam erschienen sein! Er will feststellen, was es mit dem Schiff auf sich hat. –Wahrhaftig – das Deck ist ganz leer. Von hier oben sieht man’s genau. Und wie klein die schmutzige Dampfschute neben unserer „Anna Bohlen“ wirkt! – Wie – will unser Kapitän etwa ein Boot hinüberschicken? Es scheint so! Dort auf dem Vorderdeck wird eben eins ausgeschwungen, – noch ein zweites, ein drittes! Also wollen sicherlich einige Passagiere sich das Wrack, das verlassene Wrack, ansehen, denn die Besatzung ist ja offenbar nicht mehr an Bord.“

Helmer packte plötzlich des Kajütjungen Arm und drückte ihn derb.

„Max – hör’ mich an!“ sagte er hastig. „Du hast mir gegenüber oft von Deiner großen Anhänglichkeit für mich gesprochen. Jetzt kannst Du Deine Dankbarkeit beweisen. Lauf’ schnell in meine Kabine und packe folgendes“ – er nannte eine Anzahl von kleinen Gegenständen – „in die Tasche meines photographischen Apparates ein. Diesen selbst nimm heraus und verbirg ihn, vielleicht im Bett. – Vorwärts, Junge, – vorwärts, sonst wird es zu spät. Ich muß mit nach dem wracken Dampfer hinüber – ich muß!“

Max Jensen kam gerade noch zur rechten Zeit, um Helmer die Tasche zureichen zu können, der sie umhängte, indem er zu den anderen Passagieren, die gleichfalls den verlassenen Dampfer besichtigen wollten, scherzend sagte: „Vielleicht kann ich dort ein paar interessante Aufnahmen machen.“

Der Frachtdampfer, wirklich schon ein alter, unmoderner Kasten, zeigte zu beiden Seiten des Bugs in verwaschenen Buchstaben den Namen „Wingolf“. Er war tatsächlich von der Besatzung verlassen worden. Keine Seele war an Bord. Nur in der Kajüte des Kapitäns fand man eine Katze, die zum Skelett abgemagert war und in den letzten Zügen zu liegen schien. Im Laderaum waren eine Menge Kisten aufgestapelt, die die Aufschrift „Klippfische“ trugen, also gedörrte Seefische enthielten. Einer der Schiffsoffiziere der „Anna Bohlen“, der mit herübergekommen war, erklärte den Passagieren, die hier vielleicht irgendwelche schauerlichen Bilder vorzufinden gehofft hatten, daß der Dampfer zwar den deutschen Namen „Wingolf“ führe, aber zuletzt unter französischer Flagge gefahren sei. Dann drängte er sehr bald die Neugierigen zur Rückkehr nach der „Anna Bohlen“, indem er bemerkte, man würde in Bergen die norwegischen Behörden auf das Wrack aufmerksam machen, damit ein schneller Lotsendampfer den „Wingolf“ nach Bergen einschleppe.

Gleich darauf stießen die vier Boote[3] wieder ab, und eine Viertelstunde später begannen die Schrauben des deutschen Luxusschiffes wieder die Wasser des Atlantik aufzuwühlen, und abermals eine halbe Stunde später verschwand die „Anna Bohlen“ am östlichen Horizont.

 

2. Kapitel.

Helmer hatte sich in einem Verschlage des Vorschiffes des „Wingolf“ versteckt und die Boote ruhig abfahren lassen. Bis zuletzt war er noch von der Angst gequält worden, daß sein Fehlen bemerkt werden könnte. Aber nichts geschah – nichts! Als er sich dann nach zwanzig Minuten an Deck wagte, war die „Anna Bohlen“ bereits weit, weit weg und alle Gefahr, daß man ihn zurückholen könnte, vorüber.

Jetzt erst nahm er die Kameratasche, die ihm an einem Riemen um die Schulter hing, ab und trug sie in die Kajüte des Kapitäns, die im Mittelaufbau des Decks unter der Kommandobrücke lag und deren Tür nach dem Heck zeigte.

Wirklich – man hatte die arme Katze vergessen! Dort quälte sie sich noch unter dem runden, festgeschraubten Tisch dem Tode entgegen …! – Bedauernswertes Tier, dachte der tierliebende Helmer, Du sollst nicht elend verrecken. Ich will sehen, ob ich nicht in der Kombüse (Küche) etwas Genießbares für Dich finde!

So begann er seinen Aufenthalt auf dem „Wingolf“ gleich mit einer Tat, die so recht seinem guten Herzen entsprach. Hinter der im Vorschiff gelegenen Kombüse gab es einen Vorratsraum, in dem er eine Menge Lebensmittel in Konservenform entdeckte, darunter auch kondensierte Milch in Blechdosen. Bald hatte er eine davon geöffnet, den Inhalt verdünnt und in eine Schale gegossen.

Während er dann über die schwankenden Deckplanken nach der Kajüte ging, hörte er plötzlich hinter sich ein deutliches Pst! Pst! und ein kurzes Auflachen.

Er erschrak so, daß er wie ein Blitz herumfuhr und die Schale fallen ließ. Hatte er doch bestimmt geglaubt, sich ganz allein an Bord des Wrackes zu befinden.

Dann aber hatte er den erspäht, der ihm einen solchen Schreck eingejagt hatte. Er meinte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als er aus der dachartig überbauten Vorderluke, die in das Logis (Matrosenwohnraum) hinabführte, niemand anders als … Max Jensen heraustreten sah.

„Junge – was willst Du denn hier? Wie kommst Du hierher?“ rief er voll freudigen Staunens und eilte auf den Knaben zu.

„Ach, Herr Helmer, schelten Sie nur nicht zu sehr!“ bat er. „Ich habe mich nämlich nur Ihretwegen in das letzte der Boote gedrängt und mich dann hier gleich verkrümelt, damit Sie mich nicht sehen und etwa zurückschicken sollten. Ich wußte ja, daß Sie den Entschluß gefaßt hatten, die „Anna Bohlen“ zu verlassen. Ich bin nicht so dumm, – nein, – als ich Ihnen die Sachen in der Kameratasche bringen mußte, ging mir ein Licht auf: Sie wollten eben dem Kommissar entgehen! Na – und ich durfte Sie doch nicht allein hier auf dem Wrack lassen! Das wäre ja im höchsten Grade undankbar gewesen!“

Helmer drückte Max kräftig die Hand. Er war gerührt über soviel opferfreudige Anhänglichkeit.

„Junge – leichtsinnig war dieser Streich, aber er beweist, was ich von Dir zu halten habe. Daß Du ein braver Bursche bist, wußte ich schon längst! – Jetzt, wo Du vorläufig mein Schicksal mit mir teilen willst, wollen wir jedenfalls treue Kameraden sein!“

Noch ein fester Händedruck, und dann begannen die beiden Gefährten ihr abenteuerliches Leben auf dem treibenden Dampfer damit, daß sie erst einmal die Katze labten, die sich auch dank der Bemühungen der jetzigen Herren des „Wingolf“ schnell erholte und bald wieder ganz zu Kräften kam. Man spricht ja nicht zu Unrecht von zähen Katzennaturen.

Dann wurden erst einmal die unter der Brücke im Deckaufbau gelegenen drei Räume, zu denen auch die Kapitänskajüte gehörte, gründlich besichtigt. Helmer sollte versuchen festzustellen, weshalb die Besatzung das Schiff, das bis auf die Maschinen, wie sich später zeigte, völlig unversehrt war, verlassen haben könnte. Diese Frage war jedoch schwer zu beantworten. Es blieb völlig unaufgeklärt, aus welchem Beweggrunde die Leute den „Wingolf“, der doch noch völlig seetüchtig und gut verproviantiert war, preisgegeben hatten. An Bord fehlten auch sämtliche Papiere, und nur die am Flaggenstock hängende, vom Winde zerfetzte Flagge der französischen Handelsmarine deutete darauf hin, welcher Nationalität der „Wingolf“ zuzurechnen war.

Die drei Räume unter der Brücke, von denen einer wohl dem Steuermann und dem Maschinisten gehört hatte, während der neben der Kapitänskajüte von einer weiblichen Person und Kindern bewohnt gewesen zu sein schien, hatten, wie Helmer sich ausdrückte, etwas geradezu Ungewöhnliches an sich. Nirgends fand sich ein Bild oder sonstiger Schmuck an den Wänden, nirgends auch nur eine Kleinigkeit, die über die Bewohner ein wenig Aufschluß hätten geben können.

„Es sieht so aus“, sagte Helmer, „als ob unsere Vorgänger hier absichtlich jeden Sinn für Behaglichkeit unterdrückt und wie in ärmlichen, kahlen Mönchszellen gehaust haben, nur um jeden Hinweis auf ihre Person, ihre Neigungen und Sinnesart zu vermeiden. Die Schubladen der Schränke sind bis auf wenige Wäschestücke leer, und nur der Kinderschuh und das zerbrochene Spielzeug sowie dieses Bilderbuch deuten auf kleine trappelnde Füßchen hin, die hier mal umhergesprungen sind. – Komm’, mein Junge, jetzt wollen wir uns mal an Deck genauer umsehen und auch im Logis.“

Aber auch hier entdeckten die Gefährten nichts, was die Frage klärte, warum der „Wingolf“ verlassen worden war. Die Boote – es mußten vier vorhanden gewesen sein, waren bis auf eine einzige, nur für drei Mann berechnete Jolle verschwunden.

Inzwischen war es vier Uhr nachmittags geworden, und Max Jensen erinnerte jetzt daran, daß Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhalte. Helmer nickte lachend.

„Gut, gehen wir in die Kombüse. Du hast ja vorhin behauptet, daß Du etwas vom Kochen verstehst. Also zeige Deine Künste.“

Helmer setzte sich auf einen Schemel und schaute dem Kajütjungen zu, der eifrig mit Töpfen, Schüsseln und vielversprechenden Konservenbüchsen herumhantierte und dazu so vergnügt pfiff und plauderte, als befinde er sich überall anderswo als auf diesem halben Wrack, das doch fraglos von einem gewissen geheimnisvollen Schimmer umgeben war.

Dann aber sagte Helmer plötzlich: „Hast Du auch schon darüber nachgedacht, was nun eigentlich aus uns werden soll? – Wir befinden uns in keiner ganz angenehmen Lage. Ich habe mich ja nur von der „Anna Bohlen“ heimlich entfernt, um der Polizei in Bergen zu entgehen, die mich heute abend sonst verhaftet hätte. Um das, was später werden sollte, habe ich mich nicht gekümmert. Jetzt aber müssen wir unbedingt uns überlegen, wie wir unsere nächste Zukunft gestalten können. Hierbei ist folgendes zu berücksichtigen. Der Kapitän der „Anna Bohlen“ wird natürlich in Bergen von dem Zusammentreffen mit dem „Wingolf“ Meldung erstatten. Ein schneller norwegischer Dampfer wird also nach unserem Schiffe suchen – gleichzeitig aber auch nach uns beiden, da unser Fehlen auf der „Anna Bohlen“ sicherlich inzwischen bemerkt worden ist. Wir treiben jetzt mit einer unserer bekanntesten Meeresströmungen, dem aus der Florida-Straße hervortretenden Golf-Strome, nach Norden zu. Hiermit wird der norwegische Dampfer, der uns nach Bergen einschleppen soll, rechnen und uns daher weiter nördlich suchen, als der Punkt der Begegnung mit der „Anna Bohlen“ liegt. Wollen wir diesem Dampfer also bestimmt entgehen, so müssen wir wenn möglich zusehen, ob wir den „Wingolf“ nicht mit Hilfe seiner Notsegel bei dem zur Zeit günstigen Winde nach Süden steuern können. Dort sind wir sicher. Treffen wir dann mit einem anderen Schiffe zusammen, das nicht gerade nach Bergen unterwegs ist, so läßt sich schon ein Märchen erfinden, das unsere Anwesenheit auf dem „Wingolf“ erklärt. Wir werden anderswo an Land gesetzt und ich habe meinen Zweck erreicht. Während Du also hier weiter, wie ich merke, wirklich mit Geschick den Koch spielst, werde ich die Notsegel an Deck schaffen und alles vorbereiten. damit wir wenigstens so viel davon anbringen können, um den „Wingolf“ langsam nach Süden zu steuern.“

„Hören Sie, Herr Helmer, Sie reden ja wie ein alter Maat und sind doch eine Landratte!“ meinte Max Jensen verwundert.

Der Ingenieur lächelte ein wenig. „Ich erkläre Dir das später, wenn wir einmal mehr Zeit haben!“ sagte er. „Auch dies hängt mit der unglückseligen Geschichte zusammen, die mich zum Flüchtling gemacht hat. – Nenne mich auch nicht weiter Helmer, auch nicht Herr Ingenieur. Ich heiße in Wahrheit Gerhard Lüder und bin Chemiker. Doch darüber ein andermal genaueres.“ – –

Eine Stunde darauf finden wir die Gefährten eifrig damit beschäftigt, ein paar Segel an den beiden niedrigen Masten des „Wingolf“ zu hissen, was ihnen erst nach großen Anstrengungen gelang. Eigentlich hätte ja nun abwechselnd einer von ihnen, nachdem sie den wracken Dampfer gewendet hatten und dieser allmählich in Fahrt kam, auf der Brücke das Steuerrad bedienen müssen. Da sie jedoch keinen genauen Kurs einzuhalten brauchten, banden sie das Steuerrad in der zweckmäßigsten Stellung fest und prüften nur hin und wieder nach dem Kompaß die Fahrtrichtung, brachten den „Wingolf“ auf den richtigen Kurs, falls das Schiff eben bei dieser Art des Steuerns abgedrängt war, und erreichten so, daß sie ihre Bewegungsfreiheit behielten.

Der Wind hatte inzwischen merklich aufgefrischt, kam von Nordost und gab dem „Wingolf“ immerhin eine Geschwindigkeit, die Lüder auf drei bis vier Knoten schätzte.

Die Gefährten hatten sich jetzt die Kajüte des Kapitäns als Wohn- und Schlafraum hergerichtet. Bei dieser Arbeit waren auch die wenigen Bücher, die hier auf einem Wandbrett standen, von dem jungen Chemiker nochmals durchblättert worden. Es fiel ihm auf, daß sie sämtlich in spanischer Sprache geschrieben waren. Und auch das Kinderbilderbuch hatte einen spanischen Text in kurzen Versen gehabt! Dies war doch recht merkwürdig für ein Schiff, das die französische Handelsflagge führte! Gewiß – der Kapitän konnte ja ein Spanier gewesen sein! Aber so recht annehmbar wollte Lüder diese Erklärung doch nicht erscheinen. Zum mindesten hätte der Mann doch der französischen Sprache mächtig sein und ein paar französische Werke über Seemannskunde besitzen müssen! – –

Gegen sieben Uhr abends, als Max Jensen wieder in der Kombüse mit den Töpfen klapperte und der liebliche Duft in Fett gedünsteten Konservenfleisches aus dem Kücheneingang hervordrang, nahm Lüder eine Laterne und stieg in den Laderaum hinab. Hier hatten die Gefährten sich noch nicht genauer umgesehen, und der Chemiker hoffte auch, aus den Frachtstücken etwas über den „Wingolf“, den Hafen, aus dem er abgefahren, und wohin er bestimmt gewesen war, zu erfahren.

Die Ladung bestand ausschließlich aus Holzkisten von verschiedener Größe, und diese Kisten schienen sämtlich gedörrte Fische zu enthalten. Dann aber stellte der Chemiker fest, daß es auch hier in dem düsteren, übelriechenden Raume etwas wie ein Geheimnis gab, das den „Wingolf“ immer mehr als ein recht rätselhaftes Schiff erscheinen ließ.

Nur die äußeren Kisten der hohen Stapel trugen nämlich in schwarzer Farbe und englischer Sprache die Aufschrift: „Klippfische“. Alle dahinter befindlichen hatten keinerlei Signatur.

Der nächste Gedanke des Chemikers war: Vermutlich enthalten mindestens die Kisten ohne Aufschrift etwas anderes!

Und sofort prüfte er diese Vermutung auch nach, öffnete mit einem Brecheisen den Deckel einer kleineren Kiste und … fand darin, eingehüllt in Wachsleinwand, fünfzig ganz neue Revolver, die den Stempel einer amerikanischen Waffenfabrik trugen!

„Nette Klippfische!“ dachte Lüder. „Wollen sehen, ob etwa die Kiste eines anderen Stapels auch so „harte“ Lebensmittel enthält!“

Tatsächlich: er entdeckte nun zwanzig Hinterladerkarabiner eines schon etwas veralteten Systems. Es waren bereits gebrauchte Schußwaffen, aber sämtlich noch gut im Stande.

Da erschien nun auch Max Jensen im Laderaum und rief Lüder zu, daß das Essen fertig sei.

„Komm’ mal her, mein Junge“, sagte der Chemiker ernst. „Schau’ Dir hier diese seltsamen Dörrfische an!“ Und er zeigte auf die Karabiner.

„Hm – das sieht ja gerade so aus, als ob die Waffen irgendwohin geschmuggelt werden sollten“, meinte Max nachdenklich. „Finden Sie das nicht auch, Herr Lüder?“

Der Chemiker nickte.

„Der Dampfer hat fraglos recht gefährliche Geheimnisse zu bewahren. Geheimnisvoll ist schon das Preisgeben dieses Schiffes durch die Besatzung, nicht minder geheimnisvoll das Fehlen aller Sachen, die auf unsere Vorgänger irgendwie näher hindeuten könnten, und am rätselhaftesten diese wertvolle Ladung. Wer läßt wohl ein noch seetüchtiges Schiff im Stich, das eine solche Menge teurer Kisten in seinem Bauche birgt?! – Doch – wir wollen jetzt an unser Abendessen denken. Morgen können wir auch mal ein paar von den ganz großen Kisten öffnen, die sogar Eisenbänder haben.“ –

Nachdem auch die zweite Mahlzeit den Gefährten ebenso gut gemundet hatte, stiegen sie auf die Brücke hinauf, setzten sich auf ein Paar Klappstühle und warteten auf den Sonnenuntergang, der bei dem heutigen klaren Himmel besonders farbenprächtig werden mußte. Lüder hatte ein Fernrohr, das er in dem Schreibtische des Kapitäns gefunden hatte, mitgebracht. Es war ein schon älteres Instrument und offenbar seit langem nicht benutzt. Er mußte erst die Linsen säubern, ehe er damit den Horizont nach Schiffen absuchen konnte. Nur im Südosten war jedoch ein Segel sichtbar. Im übrigen lag die weite Wasserfläche ganz einsam da.

Gegen zehn Uhr dachten die Gefährten dann ans Schlafengehen. Nachdem die Positionslaternen angezündet waren, damit der „Wingolf“ nicht etwa überrannt wurde, schickte Lüder den Jungen zu Bett. Er selbst wollte bis zwei Uhr morgens wachen. Dann sollte Max ihn ablösen. Es schien dem Chemiker nämlich doch nicht ratsam zu sein, den „Wingolf“ während der Nacht sich allein zu überlassen. Max fand diese Vorsicht recht überflüssig, aber Lüder beharrte dabei, daß einer munter bleiben müsse.

Lüder schritt erst an Deck auf und ab, um sich Bewegung zu machen. Dann setzte er sich auf die Brücke und hing trüben Gedanken nach. Das Schaukeln des Schiffes machte ihn bald müde. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht einzuschlafen. Und doch – einmal übermannte ihn der Schlummer. Sein Kopf sank vornüber …

Dann schreckte er zusammen, blickte wild um sich … Noch halb im Schlaf glaubte er eine Gestalt zu erblicken, die über das Deck nach der Ladeluke des Vorschiffes huschte.

Jetzt war er ganz wach … – Ohne Zweifel! Es war ein Mensch, ein erwachsener Mann …! – Er rief: „Hallo – wer da?!“

Die Gestalt verschwand ganz plötzlich.

„Zum Donner – was bedeutet das?!“ brummte der Chemiker und hastete die Treppe der Brücke abwärts. Er mußte feststellen, ob er sich nicht doch getäuscht hatte.

 

3. Kapitel.

Nachdem Lüder wohl eine halbe Stunde vergebens gesucht hatte, wobei er auch den Laderaum durchstöberte, kehrte er wieder auf die Brücke zurück. Für alle Fälle hatte er sich aber einen Revolver und einen Karabiner mitgebracht. Die dazu passenden Patronen hatte er erst gefunden, als er die siebente Kiste öffnete.

Er überlegte nun, ob er nicht doch, was die Gestalt des Mannes anbetraf, das Opfer einer Sinnestäuschung geworden war. Vielleicht hatte er den Schatten des Vordermastes (inzwischen war der Mond längst aufgegangen) für ein menschliches Wesen in seiner halben Schlaftrunkenheit gehalten, obgleich ihm diese Lösung selbst nicht recht einleuchtete. Er war doch völlig wach gewesen, als er die Gestalt anrief …!!

Jedenfalls blieb er in allerlei Zweifeln befangen und war nicht wenig beunruhigt in dem Gedanken, auf dem „Wingolf“ könnten womöglich noch mehrere Leute sich versteckt halten.

Nun sah er nach der Uhr. – Gleich zwei! Die Helle der Nacht nahm zu. Man merkte, daß der Morgen nahte.

Er weckte Max Jensen, erzählte ihm sein etwas unsicheres Abenteuer und riet ihm, ja recht gut auf alles acht zu gehen, was auf Deck geschah.

„Am besten ist, Du bleibst auf der Brücke, kleiner Freund. Nimm den Revolver mit. Die Waffe wird Dir ein Gefühl der Ruhe geben.“ So sprach er und legte sich, jetzt wirklich hundemüde, zum Schlafe nieder.

Max Jensen, ein kräftiger, breitschultriger Junge, fand das Auftauchen der Gestalt so recht nach seinem Geschmack und hatte nur den Wunsch, daß sie sich auch ihm zeigen möchte. Er wollte schon mit diesem „Gespenst“ fertig werden! Im schlimmsten Falle drohte er eben mit dem Revolver …! Und vor einer Bleikugel sollen selbst „Gespenster“ Respekt haben.

Er saß so, daß er das Vorschiff überblicken konnte. Von dort war ja die Gestalt gekommen und dort war sie auch verschwunden.

Plötzlich glaubte er hinter sich ein Geräusch zu hören, sprang auf und sah sich argwöhnisch um.

Nein – er hatte sich geirrt. Es mußten die Segel gewesen sein, die jetzt, weit gebauscht, noch stärker an den Tauen zerrten.

Wieder ein Geräusch, – so als ob etwas gegen den dicken Schornstein des Dampfers polterte.

Nochmals nahm Max Jensen den Revolver aus der Tasche und schaute sich um. Er war nun doch ängstlich geworden.

Hier stimmte irgendetwas nicht! Argwöhnisch musterte er jeden Gegenstand, auch auf dem Hinterdeck, trat neben den Schornstein, der mitten durch die Brücke ging, beugte sich über das Geländer und suchte in den Gang hinabzusehen, der an der Steuerbordseite durch den Deckaufbau hindurchlief.

Nichts – nichts! – Er schalt sich einen Angsthasen! Lächerlich, daß er sich durch den bloßen Gedanken, es könnte etwas geschehen, einschüchtern ließ!

Er steckte den Revolver wieder in die Außentasche seiner zweireihigen blauen Jacke und begann zu pfeifen, – einen Marsch, so recht flott.

Dann – er zuckte entsetzt zusammen – strich urplötzlich etwas über seinen Kopf hin – eine Schlinge, die mit einem Ruck um seinen Hals zugezogen wurde. Und gleichzeitig hörte er eine halblaute, barsche Stimme:

„Rühre Dich nicht – kein Glied, oder ich erdrossele Dich!“

Max Jensen war kein feiger Junge. Aber dieser Überfall hatte ihn so erschreckt, daß er mit leise schlotterndem Körper nun wirklich wie eine Statue dastand. Die Schlinge am Halse blieb straff gespannt und machte ihm auch das Atmen schwer.

Da griff auch schon von rückwärts eine Hand in seine Tasche, holte den Revolver heraus und schnürte ihm auch die Arme hinten sehr fest zusammen.

Dann erst trat der Fremde vor ihn hin.

Wäre die Lage für Max Jensen nicht so verzweifelt ernst gewesen, so hätte er beim Anblick dieses Mannes, dessen hellgrauer, eleganter Anzug völlig mit Ruß bedeckt war, wohl laut aufgelacht. Aber so wie die Dinge hier standen, verging ihm das Lachen.

Der Fremde trug eine blaue Sportmütze, und sein Gesicht war mit einer Maske bedeckt, die er sich aus einem Stück blauer Leinwand zurechtgeschnitten hatte. Es war ein kleiner, aber sehniger Mensch, dessen Hände, mager und lang, schon allein ungewöhnliche Kraft verrieten.

„So, mein Junge“, sagte er wieder in deutscher Sprache, „Dich hätte ich also! Gibst Du auch nur den geringsten Laut von Dir, so werfe ich Dich über das Geländer der Brücke, und dann kannst Du mal kosten, wie das Hängen schmeckt! – Da, schau nach dem Schornstein empor! Dort habe ich den Strick der Schlinge festgebunden! Du weißt nun also, was die Glocke geschlagen hat.“

Dann nahm er eine bereitgehaltene Decke und band sie dem Jungen lose über den Kopf, so daß Max nun nicht mehr sehen konnte, was um ihn her vorging.

Nach einer Weile schlich der Fremde, der keine Schuhe anhatte, auf das Deck hinab.

Die Tür zur Kapitänskajüte stand halb offen. Ebenso lautlos betrat der Maskierte den kleinen Raum, horchte auf Lüders tiefe Atemzüge und stellte sich nun mit gespanntem Revolver dicht an das Kojenbett.

„Aufstehn!“ rief er, und stieß den Schlafenden mit dem Revolverlauf in die Rippen.

Lüder fuhr empor und … blickte in die drohend auf ihn gerichtete Mündung der Schußwaffe.

„Bei der geringsten Widersetzlichkeit knallt’s“, sagte der Fremde eindringlichen Tones. „Gehen Sie dort in jene Ecke, nehmen die Schnur des Vorhangs dort ab, machen Sie eine Schlinge, stecken Sie die Hände hinein und werfen Sie das andere Ende mir nach hinten zu. – Vorwärts! Ich verstehe keinen Spaß! Sie sind ein ganz gemeiner Mörder, Herr Ingenieur Helmer, und mit solchen Gesellen weiß ich umzugehen.“

„Wer sind Sie?“ fragte der Chemiker, der auf dem Bettrand saß und den Fremden mehr erstaunt als erschrocken musterte. „Etwa der Kriminalkommissar, der an Bord der „Anna-Bohlen“ sich befand?“

„Allerdings, der bin ich!“ erwiderte der andere mit auffallendem Eifer.

„So?! Wozu haben Sie sich denn dann den Lappen vor das Gesicht gebunden?“

„Fragen habe ich zu stellen, nicht Sie! – Vorwärts – in die Ecke! Und die Schnur losgemacht!“

Lüder schüttelte den Kopf.

„Mann, führen Sie hier etwa eine Komödie …“

Weiter kam er nicht.

Ein Schuß knallte, und dicht an seinem Ohr zischte die Kugel vorüber.

„Das war nur eine Warnung!“ lachte der Fremde höhnisch. „Die nächste Kugel bläst Ihnen ein Loch in den Schädel!“

Der Chemiker war bleich geworden. Wirklich, mit diesem Kerle war nicht zu spaßen!

Er gehorchte jetzt, wenn auch widerwillig. Nachdem er sich die Schlinge selbst um die Handgelenke gelegt hatte, mußte er die Arme vorstrecken, so daß der Maskierte, .jetzt den Revolver in der Linken haltend, ihm mit der freien Hand die Arme eng umschnüren konnte.

„Nun auf Deck!“ befahl der Fremde, der ein ebenso gewalttätiger wie schlauer Mensch zu sein schien. „Setzen Sie sich dorthin!“ Er zeigte auf die Stelle, wo ein kleiner Bootsanker mit einer Kette lag.

Die Kette schlang er Lüder dann um den rechten Fuß, so daß dieser beim Gehen sehr behindert war, da er den Anker mitschleppen mußte, wenn er sich weiter entfernen wollte.

Dann verschwand der Maskierte in der hinteren Ladeluke.

Lüder sah oben auf der Brücke seinen kleinen Gefährten mit dem Strick um den Hals und der Decke über den Kopf regungslos stehen. Also war auch Max in die Gewalt dieses Menschen geraten, der durch seine Maßnahmen bewies, wie gut er sich seinen Angriffsplan vorher überlegt hatte.

Der Chemiker zerrte mit aller Macht an seinen Banden. Aber das half ihm wenig. Und dann kam auch schon der Maskierte zurück, hatte eine zweite Kette, ein schweres Eisenstück und ein paar Vorlegeschlösser in den Händen.

Lüder mußte es sich gefallen lassen, daß der Mann mit Hilfe von zwei Schlössern ihm nun beide Fußgelenke mit den Kettengliedern eng umspannte und zwar so, daß er nur ganz kurze Schritte machen konnte, wobei er noch den Anker mitzuziehen hatte.

Dann wurde Max Jensen auf Deck geführt und in ähnlicher Weise an das Stück Eisen angeschlossen.

Lachend sagte nun der Fremde zu den beiden, die jetzt nebeneinander auf den Deckplanken saßen:

„Ich bin kein Freund von vielen Worten. – Ihr habt mir bedingungslos zu gehorchen. Wer sich von Euch irgendwie verdächtig macht, bekommt eine Kugel!“

Dann nahm er Max die Armfesseln ab. Die Decken hatte er schon vorher entfernt.

„Du gehst jetzt nach der Kombüse und bereitest uns ein gutes Frühstück“, befahl er. „Wenn Ihr gehorcht, passiert Euch nichts. Also seid hübsch vernünftig.“

Max Jensen schlurfte über das Deck, indem er das Eisenstück mitschleppte.

In der Küche angelangt, schüttelte er den Kopf und brummte:

„Ein tolles Abenteuer! Der Kerl mit der Larve ist ein ganz gerissener! – Na, warten wir ab, wie die Geschichte weitergeht.“

Auch Lüder wurden nun durch den Fremden die Hände freigemacht.

„Gehen Sie auf die Brücke und steuern Sie genau nordwestlich Kurs“, sagte er kurz. „Sie müssen Ihren Anker in die Arme nehmen und tragen, anders kommen Sie nicht die Brücke hoch. Und – machen Sie keine Dummheiten, Herr Mörder, – verstanden?! Sonst …!!“

Was sollte Lüder tun?! – Auch er gehorchte. Und während er dann am Steuerrad stand, zergrübelte er sich umsonst darüber den Kopf, wo er die Stimme dieses Menschen schon einmal gehört hatte. – Er kannte die Stimme ohne Zweifel! Aber – wer in aller Welt war dieser Mann, und wie kam er auf das verlassene Schiff? Hatte er zu der Besatzung des „Wingolf“ gehört? – Vermutlich ja!

Plötzlich durchzuckte Lüders Hirn eine Erinnerung – nicht an den Menschen selbst, sondern an dessen graukarierten Anzug! Diesen Anzug hatte er fraglos auf der „Anna Bohlen“ gesehen. Ja – so war’s! Der Stoff war ihm aufgefallen, weil die meisten Herren unter den 580 Passagieren des Nordlanddampfers blaue Anzüge getragen hatten. – Hm – sollte der Mann also vielleicht die „Anna Bohlen“ auf dieselbe Weise verlassen haben wie er und Max Jensen?! Das würde die Sache nur noch rätselhafter gestalten.

Der Fremde vernagelte jetzt die Eingänge zum Laderaum, nachdem er sich noch einen Revolver und Patronen geholt hatte. Dann nahm er Max die Fußfesseln ab – die Schlüssel zu den Schlössern trug er bei sich, und schickte ihn in die hinter der Kombüse gelegene Rumpelkammer, damit er weitere Segel heraufhole.

Der Knabe mußte nun, so gefährlich es auch für ihn war, auf die Masten hinauf und so gut es ging ein paar Segel setzen. Dies nahm fast zwei Stunden in Anspruch. Lüder schwebte mehr als einmal in Todesangst, daß Max abstürzen könnte. Aber der Junge kam glücklich wieder an Deck und wurde von dem Maskierten mit einem kurzen: „Hast Deine Sache gut gemacht!“ belobt.

Der „Wingolf“ machte jetzt ganz leidlich Fahrt, schaukelte aber sehr, da die Wellen zusehends höher wurden.

Der Fremde gesellte sich zu Lüder, während Max in der Kombüse das Geschirr reinigte und Vorbereitungen für das Mittagessen traf.

„Ich verstehe nichts von der Führung eines Schiffes“, sagte der Maskierte. „Sie müssen hier also nach dem Rechten sehen!“ Er lehnte sich an das Geländer der Brücke, den Revolver stets in der Hand, und musterte den Horizont.

„Hoffentlich findet uns der norwegische Dampfer nicht“, fuhr er fort. „Sonst müßte ich Pirat werden, das heißt, das Schiff mit Waffengewalt mir vom Leibe halten. – Was meinen Sie, – wird man uns sehr sorgfältig suchen?“

„Ohne Frage“, erwiderte der Chemiker. „Aber finden dürfte man uns kaum. Wir sind jetzt auf dem Kurse nach Island, und der Norweger wird viel weiter nordöstlich umher kreuzen.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu:

„Was beabsichtigen Sie eigentlich? Wo wollen Sie hin?“

„Das weiß ich noch nicht. Vorläufig liegt mir nur daran, möglichst weit von Bergen wegzukommen. Ich betrachte den „Wingolf“ mit seiner wertvollen Waffenladung als meine Prise, und ich möchte diese Ladung irgendwie und -wo zu Gelde machen.“

Der Fremde war jetzt wesentlich freundlicher als vorhin. Er schlug Lüder gegenüber einen fast gemütlichen Plauderton an.

„Sagen Sie“, fragte er, „was halten Sie von diesem Dampfer? Ich habe festgestellt, daß die Maschine wahrscheinlich infolge Überanstrengung Schaden gelitten hat. Ein paar Wellen sind total verbogen, nachdem die Lager sich heiß gelaufen hatten.“

Sie besprachen dann das seltsame Rätsel des verlassenen Schiffes nach jeder Richtung hin, fanden aber keine Lösung. Jedenfalls war jetzt aber klar, daß Lüder sich nicht getäuscht hatte. Der Fremde hatte sich von der „Anna Bohlen“ genau auf dieselbe Weise fortgeschlichen wie der Chemiker und der Kajütjunge. Wenn er dies auch nicht geradezu sagte, so konnte man es doch aus allem mit größter Bestimmtheit annehmen.

„Wer sind Sie?“ fragte Lüder dann, nachdem das Rätsel, weshalb der „Wingolf“ preisgegeben war, nicht weiter zu erörtern sich verlohnte. „Und warum stellen Sie sich so feindlich zu mir und dem Knaben? Ihr ganzes Verhalten ist nur ein neues Rätsel.“

„Das soll es auch bleiben!“

„Ihre Stimme glaubte ich zu kennen“, erklärte der Chemiker sinnend. „Ich muß sie des öfteren gehört haben. Sie selbst können kein ungebildeter Mensch sein. Ist denn nicht möglich, daß Sie uns nicht wie Gefangene behandeln?“

„Diesen Punkt wollte ich gerade erledigen. Wenn Sie mir für sich und den Jungen ehrenwörtlich versichern, mir gehorchen zu wollen und nichts gegen mich zu unternehmen, so sollen Sie sich frei bewegen können.“

Lüder mußte lächeln. Aber dieses Lächeln war bitter und gereizt.

„Vorhin nannten Sie mich einen Mörder“, sagte er. „Und jetzt wollen Sie meinem Ehrenwort vertrauen?“

„Ich wollte Sie nur einschüchtern. Ich weiß, daß Sie den alten Haller nicht erschossen haben, auch daß Sie auf der „Anna Bohlen“ unter falschem Namen nach Norwegen zu entkommen suchten und daß sich mit uns an Bord des Nordlanddampfers ein Kommissar befand.“

Lüder war starr vor Staunen.

„Herr, – in aller Welt, wer …“

„Lassen Sie die Fragen! Wollen Sie Ihr Ehrenwort geben?“

Der junge Chemiker zauderte.

„Ich muß wohl erst Max Jensens Entschluß hören“, meinte er. „Wer weiß, wie der kleine Bursche sich zu Ihrem Angebot stellt.“

„Er ist einverstanden. – Rufen Sie ihm nur zu …“

Max war gerade in der Tür der Kombüse erschienen. Er antwortete, indem er seine Mütze schwenkte:

„Natürlich bin ich dafür, Herr Lüder!“

Gleich darauf waren den beiden Gefangenen die Fußketten abgenommen.

 

4. Kapitel.

Der Fremde behielt die Maske nach wie vor vor dem Gesicht. Warum? – Das begriff Lüder nicht.

Beim Mittagessen beratschlagten die beiden Männer, welchen Hafen man am besten anlaufen könnte.

„Wir haben das gleiche Interesse“, meinte der Fremde, „uns vor den Behörden zu verbergen. Sie, weil sie von der Polizei gesucht werden, ich, weil ich den „Wingolf“ zu meinem Vorteil verwerten will. – Was denken Sie davon, wenn wir nach Reykjavik, dem Haupthafen Islands, steuerten und dort …“

Da kam Max Jensen ganz aufgeregt in die Kajüte gestürzt.

„Ein Schiff – ein Schiff!“ schrie er. „Eine Jacht – sie fährt sehr schnell.“

„Verd…!“ fluchte der Maskierte. „Aber – so leichten Kaufs sollen die Herren Norweger mir meine Prise nicht abnehmen, so wahr ich – na sagen wir Nemo heiße.“

Nemo – niemand! Ein sehr bezeichnender Name für den geheimnisvollen Menschen …!

„Los – hinab in den Laderaum!“ befahl er den beiden. „Und holt schleunigst Karabiner und Patronen herauf.“

Max Jensen hatte recht gehabt. Es war eine schlanke, kleine Jacht, die von Westen sich sehr schnell näherte. Sie mußte Benzinmotoren besitzen, da nur zwei Masten, kein Schornstein zu sehen waren. Segel hatte sie nicht gesetzt.

Jetzt kamen Lüder und Max mit je sechs Karabinern und mehreren Patronenpäckchen an Deck zurück.

Der Fremde rief ihnen von der Brücke aus zu, sie sollten die Waffen laden und auf die Deckplanken legen.

Dann kam Lüder ebenfalls auf die Brücke. Er brachte das Fernrohr mit, stellte es ein und musterte die Jacht, die kaum fünfhundert Meter entfernt war.

„Ein elegantes Schifflein, Herr Nemo. Es führt keine Flagge“, berichtete er. „Jedenfalls ist es kein Verfolger aus Bergen. Ganz ausgeschlossen.“

„Das erscheint mir durchaus nicht so sicher.“

„Was gedenken Sie zu tun“, fragte Lüder eifrig. „Ich rate Ihnen dringend ab, etwa Gebrauch von den Waffen zu machen.“

Nemo lachte kurz auf.

„Kennen Sie die internationalen Seerechtsbestimmungen?“ meinte er.

„So etwas.“

„Darf ich den „Wingolf“ als verlassenes Schiff als mein Eigentum betrachten?“

„Mit gewissen Einschränkungen – ja!“

„Das genügt mir. Sollten die Leute jener Jacht versuchen, gegen meinen Willen an Bord zu kommen so erinnere ich Sie an Ihr Ehrenwort! Ich werde auf die Leute schießen lassen!“

Lüder schwieg. In der Stimme dieses unheimlichen Menschen lag eine solche Energie, daß bei ihm kaum etwas mit Bitten und Vorstellungen zu erreichen war.

Die Jacht beschrieb einen Bogen und kam längsseit, fuhr so langsam, daß sie mit dem „Wingolf“ auf einer Höhe blieb. An Deck standen zwei gutgekleidete Herren und drei Seeleute. Ihr Aussehen verriet die Südländer. Jedenfalls waren es niemals Norweger.

Einer der Herren nahm ein Sprachrohr an den Mund und rief den Dampfer an.

„Schiff ahoi! – Wir wollen zu Euch an Bord, haben etwas zu fragen.“

„Englisch“, flüsterte Lüder dem Maskierten zu. „Aber Engländer sind die Leute nie im Leben.“

Nemo befahl Lüder, er solle antworten und gab ihm genau die Worte an.

„Welche Jacht? Welche Nationalität?“

Die Herren drüben steckten erst die Köpfe zusammen, ehe der mit dem Sprachrohr antwortete:

„Englische Jacht „Andalusia“. – Dürfen wir an Bord?“

„Nein!“

„Weshalb nicht?“

„Weil Ihr soeben gelogen habt. Ihr seid nicht Engländer. Entweder Portugiesen, Spanier oder Italiener.“

Drüben wieder eine Beratung. Dann …

„Der Dampfer ist unser Eigentum. Wir suchen ihn. Also laßt uns an Bord.“

„Wir glauben Euch nicht. Wenn Ihr den „Wingolf“ Euer Eigentum nennt, werdet Ihr auch wissen, was er geladen hat.“

„Klippfische.“

„Schöne Klippfische! Sind aus Stahl und können schießen!“

„Wieviel Mann seid Ihr auf dem „Wingolf“?“

„Tausend!“

Wieder drüben Beratung. Währenddessen klagte Nemo zu Lüder:

„Werden Sie aus der Gesellschaft drüben klug? Den „Wingolf“ kennen sie, das ist sicher. Beweis: sie antworteten „Klippfische“ …! Und auf unsere Andeutung wegen der schießenden Klippfische sagten sie gar nichts. Also wissen sie von den Waffen, haben eben gehofft, wir hätten die Kisten nicht geöffnet.“

Die Jacht rückte dem Dampfer noch näher.

„Wenn Ihr uns nicht an Bord laßt“, brüllte der Herr mit dem Sprachrohr, „so schießen wir Euch in Grund!“ Dabei zeigte er auf ein kleines Geschütz, das die Matrosen gerade an Deck schleppten.

„Zum Donner, Lüder, die Sache wird ernst“, meinte Nemo zu dem Chemiker. „Was nun?“ fügte er hinzu. „Ich denke, wir warten ab. Vielleicht drohen sie auch nur mit ihrem Kanonchen.“

„Es ist ein Revolvergeschütz, Nemo!“ sagte Lüder mit Betonung. „Aber ich habe ja nur zu gehorchen. Die Verantwortung tragen Sie allein!“

„Gewiß!“

Dann plötzlich Max Jensens Stimme. Der Junge hatte hinter der Reling gehockt und durch einen kleinen Ausschnitt hindurchgelugt.

„Runter von der Brücke! Sie haben Gewehre!“

Tatsächlich reichte ein Matrose soeben jedem der beiden Herren eine Büchse.

Mit langen Sätzen flüchteten Nemo und Lüder an Deck und duckten sich hinter der Reling zusammen.

Nemo ließ sich dann von dem Kajütjungen einen Karabiner geben, zielte durch einen Ausschnitt und … feuerte. Aber er hatte hoch über die Köpfe der Leute drüben gehalten.

Auch auf der Jacht verschwand alles hinter der schützenden, aber sehr niedrigen Reling. Dann beschleunigte das elegante Schifflein seine Fahrt, jagte weiter und weiter und war bald unter dem Horizont verschwunden.

„Das begreife ein anderer!“ meinte Nemo. „Was heißt denn das nun wieder?! So schnell geben sie ihre Sache verloren?!“

„Oder sie holen Hilfe – irgendein Kriegsschiff, dem wir uns nicht widersetzen dürfen“, erwiderte Lüder.

Der Maskierte sann nach.

„Wir werden den Kurs ändern! Steuern Sie genau westwärts, Herr Lüder!“ bestimmte er. Er nannte den Chemiker jetzt stets „Herr“ Lüder, und sein Ton war höflich, wenn auch stets der eines Menschen, der hier zu kommandieren hatte. – –

Die Nacht verging, der neue Tag brach an. Nichts hatte sich ereignet. Die Jacht blieb aus.

„Die Herren Südländer können uns lange suchen!“ frohlockte Nemo, der neben Lüder auf der Brücke saß und frühstückte.

Aber der Chemiker deutete nur stumm auf eine dicke Wolkenwand, die von Südost heraufzog. Und Max Jensen, der gerade den Kaffee in einer großen Blechkanne gebracht hatte, sagte bedeutsam:

„Das Gewölk dort ist schlimmer als die Jacht und ein Kriegsschiff.“

Eine Stunde darauf war die ganze Hälfte des Himmels von der schwarzen, drohenden Wand bedeckt.

Lüder ließ nun schnell alle Segel bis auf zwei Sturmsegel bergen. Und kaum fünf Minuten später fiel das Unwetter über den „Wingolf“ her.

Drei Tage dauerte es. Und drei Tage taten die drei auf dem verlassenen Dampfer kein Auge zu, jeden Moment gewärtig, daß der „Wingolf“ von den haushohen Wogen verschlungen werden würde.

Am Morgen des vierten Tages flaute der Sturm urplötzlich ab. Und nachmittags hatte sich das Meer bereits so weit beruhigt, daß jede Gefahr vorüber war.

Wo man sich jetzt befand: niemand von den dreien wußte es. Den Schiffsort nach der Sonne zu bestimmen, verstand selbst Lüder nicht. Nur mußte man mit dem pfeilschnell vor dem Orkan dahinjagenden Dampfer sehr weit nach Süden gelangt sein, da es, als die Sonne zu scheinen begann, drückend heiß wurde.

Abends herrschte dann völlige Windstille. Der „Wingolf“ taumelte auf der hohen Dünung wie ein Schwertrunkener umher. Aber die Hauptsache: die drei vollständig erschöpften Deutschen konnten sich endlich schlafen legen, nachdem sie noch schnell eine warme Mahlzeit eingenommen hatten.

Der Sturm und die gemeinsame Lebensgefahr, in der sie tagelang geschwebt hatten, hatte das Verhältnis zwischen Nemo und Lüder und dem Knaben noch freundschaftlicher gestaltet. Trotzdem legte er die Maske nicht ab, schlief auch wieder allein in der Kabine des Steuermanns.

Bevor die drei sich zur Ruhe begaben, suchte Lüder mit dem Fernrohr den Horizont ab, ob vielleicht irgendwo Land zu entdecken sei. Aber er konnte nichts dergleichen erspähen. Nur im Süden glaubte er ein Schiff zu bemerken, war sich seiner Sache jedoch nicht ganz sicher.

 

5. Kapitel.

An Bord des „Wingolf“ schlief alles – selbst Pussi, die Katze, der Liebling des Knaben. Pussi lag wie immer zu Füßen in Max Jensens Bett. Gegen Mitternacht wurde sie plötzlich unruhig. Vielleicht witterte sie mit ihren feineren Sinnen die Leute, die soeben von einer schlanken Jacht aus den Dampfer erklettert hatten und nun auf Deck vor den Türen der beiden Räume auf das Zeichen Ihres Herrn zum Angriff lauerten.

Die Türen der beiden Kajüten waren der Hitze wegen weit offen geblieben. Fest schliefen die drei – fest und ahnungslos. Nur Pussi hatte sich aufgerichtet, tat jetzt einen Satz und verkroch sich hinter einem Schrank.

Dann warfen sich je drei Mann auf einen der Schläfer. Ein kurzes Ringen, und die Leute der Jacht waren Herren des „Wingolf“. Gefesselt lagen Nemo, Lüder und der Knabe auf ihren Betten. Jedem waren auch noch die Augen verbunden worden.

So hörten sie nur ihre Gegner sich hin und her bewegen, mit einander flüstern. Nach einer Weile wurden sie hochgehoben und fortgetragen. Dann nahm man ihnen die Tücher ab, und sie schauten blinzelnd in den rötlichen Schein einer Laterne.

Sie befanden sich im Mannschaftslogis des Dampfers, saßen mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt dicht nebeneinander; Nemo zum erstenmal ohne Maske.

Kein Wunder, daß der Chemiker seinen Nachbar jetzt voller Neugier musterte. Langsam kam ihm die Erinnerung. Das war ja jener Herr, dem er bei dem Rentier Haller begegnet war! Derselbe, der ihn auf der Straße dann gelegentlich angesprochen und gefragt hatte, ob er auch von Haller sich Geld geliehen habe. Wie hieß er doch –? Oertel – richtig, Oertel, und er war ja wohl Bankbeamter … – Zu weiterem Nachdenken ließ man Lüder jedoch keine Zeit.

Zwei Leute standen vor den drei Deutschen. Der eine hielt die Laterne. Der andere hatte etwas wie einen zusammengerollten Bogen Papier in der Hand. Und beide – das war das seltsame! – hatten seidene schwarze Masken vor den Gesichtern!

Dann begann der mit der Papierrolle zu sprechen, – englisch, – kurz, befehlend:

„Ihr werdet mir angeben, wer Ihr seid. Besonders von Dir“ – er wandte sich an Nemo – „will ich wissen, weshalb Du eine Maske getragen hast.“

Nemo bewies jetzt wiederum, wie stark seine Nerven waren.

„Dieselbe Frage richte ich an Dich“, erwiderte er, den Mann ebenfalls duzend. „Warum verbirgst Du denn Deine Gaunervisage?“

Da stieß der mit der Laterne mit dem Fuß nach Nemo und brüllte:

„Hund, weißt Du, wen Du vor Dir …“

Schnell hatte ihm der andere die Hand auf den Mund gelegt.

Und dieser andere suchte Nemo nun weiter auszuforschen. Doch der schwieg beharrlich und seinem Beispiele folgten auch Lüder und der Knabe.

„Gut – dann müßt Ihr Euer Schicksal hinnehmen“, sagte der Maskierte schneidend. „Ich hätte Euch geschont. Ich habe hier ein Schriftstück aufgesetzt, in dem Ihr durch Unterschrift und somit durch einen Eid bei dem Andenken Eurer Eltern beteuern solltet, niemals und niemandem, wer es auch sei, von Eurem Abenteuer auf dem „Wingolf“ etwas zu erzählen. Dann – eben wenn Ihr unterzeichnet hättet, würde ich Euch freigelassen haben. Unter diesen Umständen aber bleibt Ihr Gefangene bis an Euer Lebensende.“ Und nach einer Pause fragte er abermals: „Wollt Ihr mir sagen, wer Ihr seid, und auch sonst wahrheitsgetreu mir Auskunft über das geben, was mich interessiert?“

„Nein! Ich für meine Person nicht“, erwiderte Nemo schnell.

Und Lüder und der Knabe sagten wie aus einem Munde: „Wir auch nicht.“ –

Dann nahm man ihnen die Fesseln ab. Sie durften sich im Logis frei bewegen. Aber vor dem Ausgang saß einer der Leute mit den Seidenmasken, hielt in jeder Hand einen Revolver und beobachtete die drei Gefangenen. So blieb es tagelang. Nur nachts zog sich der Posten an Deck zurück. Aber an ein Entschlüpfen war nicht zu denken. Wohin auch?!

Gleich am ersten Tage hatte Nemo sich endlich den beiden anderen, die nun noch fester durch das gemeinsame Schicksal mit ihm vereinigt waren, rückhaltlos anvertraut.

„Sie haben recht, Herr Lüder“, hatte er begonnen. „Ich bin jener Oertel – Fritz Oertel, und auch der … Mörder Hallers, wenn man hier von Mord sprechen kann. – Ich werde flüstern, damit der Posten mich nicht versteht.

Ich brauchte einmal sehr nötig Geld. Ein Freund empfahl mir den Wucherer Haller. Damit begann mein Unglück. Meine Wechselschuld schwoll, da ich das Darlehen nicht zur Zeit zurückzahlen konnte, in zwei Jahren auf das Doppelte an. Haller drohte, mich bei meiner Bank anzuzeigen, da diese verschuldete Angestellte sofort entließ. Ich bat, flehte, er solle meine Existenz nicht vernichten. Da machte er mir einmal den versteckten Vorschlag, ich solle ihm über Börsengeschäfte, die Geheimnis der Bank waren, nähere Angaben machen. Dann würde er meine Wechsel zerreißen. Andernfalls aber würde die Anzeige sofort erfolgen. In meiner Not gab ich ihm auch Auskunft, aber nicht vollständig. Er war nicht zufrieden und drangsalierte mich weiter. Eines Abends war ich wieder bei ihm. In meiner Wut drang ich mit den Fäusten auf ihn ein. Da zog er einen Revolver. Wir rangen miteinander. Plötzlich ging ein Schuß aus der Waffe los, und die Kugel traf Haller in die Stirn. Entsetzt eilte ich davon, sprang durch ein Fenster in den Vorgarten und kam ungesehen davon. Ihr Unglück, Herr Lüder, wollte es, daß Sie Haller ebenfalls gerade aufsuchen wollten. Als sie den Vorgarten betraten, kam vom Hause her Hallers Wirtschafterin hergestürmt und schrie wie eine Wahnsinnige: „Mord – Mord! Hilfe – Hilfe!!“ Sie drückten sich in das Gebüsch, um sich von dem Weibe nicht sehen zu lassen. Die Frau hatte Sie trotzdem erspäht und erkannt. Deshalb lenkte sich nachher der Verdacht auf Sie. Sie flohen rechtzeitig nach Hamburg. Und ich – tat dasselbe aus Angst vor einer Verhaftung. So begegneten wir uns auf der „Anna Bohlen“. Und an Bord dieses schwimmenden Luxus-Hotels erkannte ich Sie, den nach den Zeitungsnachrichten eifrig gesuchten Mörder Hallers, merkte aber auch, daß der Kommissar ein Auge auf mich hatte. Daher floh ich wie Sie auf den verlassenen Dampfer. Als ich Sie dann dort ebenfalls sah, regte sich alles Schlechte in meinem Herzen. Ich überlegte mir folgendes: Kommt ein Dampfer aus Bergen und findet den „Wingolf“, so will ich dadurch, daß ich den angeblichen Mörder zu meinem Gefangenen gemacht habe, jeden Verdacht von mir selbst ablenken. Ich hätte dann gesagt, daß ich Ihnen ein Geständnis entlockt hätte. – Deshalb trat ich zunächst so feindselig gegen Sie und den Knaben auf. Aber das Gute gewann in mir schnell wieder die Oberhand. Wir wurden Verbündete. Und hätten wir den „Wingolf“ nebst Ladung verkaufen können, würde ich mit Ihnen und dem Jungen den Erlös geteilt haben. Das sollte meine Überraschung für Sie sein.“

Lüder reichte ihm die Hand. „Ich verzeihe Ihnen. – Und jetzt will ich’s nur auch gestehen: auch mich hat der Wucherer in seinen Krallen gehabt! Aber ich hatte ihn am Tage vor dem Morde, besser vor dem Unfall, bezahlt.“

Nach einer Weile fragte der Chemiker dann:

„Weshalb haben Sie eigentlich das Angebot des Maskierten abgelehnt? – Ich hätte es angenommen. Aber ich fühlte mich durch mein Ehrenwort noch gebunden und zum Gehorsam Ihnen gegenüber verpflichtet.“

„Weshalb?! – Weil ich das Geheimnis des „Wingolf“ aufklären will! – Haben Sie nicht bemerkt, Herr Lüder, daß der Maskierte derselbe Herr war, der uns von der Jacht aus damals angerufen hat? – Es ist derselbe, Sie können mir das schon glauben! Ich habe die Stimme wiedererkannt. Und, sehen Sie, nun wissen wir auch, warum die Leute der Jacht keinen weiteren Versuch machten, an Bord des Dampfers zu gelangen. Die Jacht ist uns die ganze Zeit trotz des Sturmes auf den Fersen geblieben, wenn man die Redensart auf See gebrauchen darf. Dann hat man uns in dieser windstillen Nacht überfallen. – Sehr schlau von den schwarzhaarigen Burschen! Aber, so wahr ich Fritz Oertel heiße und genug Energie für drei besitze! – ich werde das Geheimnis des „Wingolf“ und der eleganten Jacht aufdecken! Mögen die Leute uns ruhig irgendwo einsperren. Wir werden uns schon befreien! Jedenfalls ist das eine sicher: diese Leute treiben ungesetzmäßige Dinge. Sie werden staatliche Behörden nicht mit dieser Sache behelligen – darauf wette ich, – eben weil sie selbst im trüben fischen.“ – –

Vier Tage lang bekamen die im Logis Eingesperrten das Licht der Sonne nicht zu sehen. Die Verpflegung ging an. Aber die Speisen, die sie erhielten, waren mehr für den Geschmack von Südländern bestimmt. Oertel, der in der Welt schon weit herumgekommen war, behauptete, es wäre spanische Küche. Er hatte auch einmal ein paar Worte aufgeschnappt, die die Wache mit einem anderen Manne wechselte: auch spanisch! – „Ich werde aus dieser ganzen Geschichte nicht klug“, meinte er bei dieser Gelegenheit. „Sie wird immer verworrener. Ein ehemals deutscher Dampfer, der jetzt die französische Flagge führt, vagabundiert mit nur einer Katze als Besatzung im Atlantik umher. Dann spielen wir drei die Herren des Schiffes, bis die Leute der Jacht uns beweisen, daß sie schlauer sind als wir. Diese Leute dürften wohl Spanier sein. Stehen sie nun im Einvernehmen mit der früheren Besatzung? – Ich möchte mit ja antworten. – Die Hauptfrage bleibt: weshalb ist der „Wingolf“ seiner Zeit verlassen worden, obwohl dies doch nicht nötig war? – Jedenfalls nehme ich an, daß der Dampfer, als die „Anna Bohlen“ ihm begegnete, mindestens schon einen Monat ohne einen Mann an Bord umhertrieb, – nicht ganz planlos, da wir im Mai und Juni keine Stürme hatten und der Golfstrom den Vagabunden immer gen Norden mitgenommen hat.“

„Einen Monat?“ meinte Lüder zweifelnd. „Aber die Katze …?! Die hätte dann doch längst tot sein müssen.“

„Wenn sie eben nicht so lange sich von Speiseresten in der Kombüse genährt hätte. Ich habe mich überall sehr genau umgesehen. In der Kabine des Steuermanns hing auch ein Abreißkalender. Bis zum 24. Mai waren die Blätter entfernt. Es ist also vielleicht möglich, daß am 24. Mai sich an Bord des „Wingolf“ irgendetwas ereignete, das die Besatzung zur Flucht in den Booten zwang.“

Dann erschienen eines Abends vier bewaffnete, maskierte Leute im Logis, fesselten die Deutschen, verbanden ihnen die Augen und führten sie an Deck, wo es sehr heiß war.

Oertel gab scharf acht auf alles, was er mit dem Gehör feststellen konnte. In der Nähe tobte eine starke Brandung. Dann trug man die Gefährten in ein Boot. Gleich darauf begann ein Motor zu knattern. Oertel hatte nur auf ein Boot geschlossen, weil das Fahrzeug stärker als der Dampfer geschaukelt hatte, also kleiner sein mußte. Der Motor deutete aber auf die Jacht hin.

Das Schwanken nahm zu, und das Brandungsgeräusch näherte sich schnell, wuchs zu einem unheimlichen Brüllen an. Ein paar Minuten lang wurde die Jacht furchtbar hin und her geschleudert. Dann war sie wohl in stilles Wasser gelangt, da das Schaukeln ganz aufhörte.

Eine halbe Stunde später klang an Oertels Ohr – man hatte die drei auf das Verdeck gelegt – das Rauschen von Bäumen, das Gekreisch von Vögeln und Hundegebell. Dann legte die Jacht irgendwo an einer Holzbrücke an, und gleich darauf brachte man die Gefangenen in ein Ruderboot, das ziemlich schnell mit knarrenden Dollen vorwärtsschoß; etwa drei Viertel Stunde noch, und die Fesseln und Binden wurden den Deutschen abgenommen.

Das plumpe Boot lag am Ufer einer mit Buschwerk bewachsenen Insel, die etwa den Mittelpunkt eines großen, von dichtbewaldeten Ufern umgebenen Sees bildete.

Die im Untergehen begriffene Sonne übergoß das tropische Landschaftsbild mit rötlichem Schein. Palmenhaine drüben am Ufer schimmerten wie bestrahlt von einer ungeheuren Feuersbrunst.

„Ah – wie wunderschön!“ rief Lüder begeistert.

Die rauhe Stimme eines der Maskierten dämpfte schnell seine Freude an diesem köstlichen Naturgemälde.

„Diese Insel ist Euer Gefängnis! Seht zu, wie Ihr Euch hier weiterhelft“, sagte er, wieder auf englisch.

Dann entfernte sich das Boot mit eiligen Ruderschlägen. – –

Unseren lieben Lesern können wir in diesem Bande nicht mehr die weiteren Erlebnisse der drei Gefährten mitteilen. Nur so viel sei gesagt, daß das Geheimnis des „Wingolf“ eine überraschende Lösung fand und daß Fritz Oertel recht behielt mit seiner Behauptung: „Wir werden uns schon befreien!“ Das schien ja gar nicht so schwer, von der Insel das Seeufer zu erreichen – schien! Aber der See hatte sozusagen, wie manche Sache, einen Haken!

Und hiervon und manchem anderen soll im nächsten Bande „Die Krokodilinsel“ erzählt werden.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Gleich zwei Fehler auf der Umschlagseite: 1. Der Hefttitel lautet: „Die Abenteuer auf dem Wingolf“ (ohne Anführungszeichen); 2. In der Bildunterschrift ist ein falscher Name angegeben – statt „Lindner“ muß es richtig „Lüder“ heißen.
  2. „Fär-Öer“ bzw. „Fär-Öer-Gruppe“: Sehr alte Schreibweise aus dem 19. Jahrhundert. Heutiger Name: „Färöer“ oder auch „Färöer-Inseln“ (die „Schafinseln“). Siehe auch Wikipedia: Färöer.
  3. „Böte“ / „Boote“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Die Schreibweise „Böte“ ist nach den Regeln für die deutsche Rechtschreibung von 1902 zwar ebenfalls richtig, wurde aber später abgeschafft. Daher einheitlich geändert auf „Boote“.