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Die Krokodilinsel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Krokodilinsel[1].

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

In der Blockhütte.

„Also da wären wir denn ja, meine Herren! Bitte es sich bequem zu machen. Wenn wir den Sonnenuntergang genügend bewundert haben, gehen wir nach dem nächsten Hotel und lassen uns Zimmer anweisen.“

Der, der so sprach, war ein jüngerer, sehniger Herr in graukariertem Anzug, mit hagerem Gericht, um das Bartstoppeln üppig wucherten, und ein Paar scharfen, dunklen Augen.

„Ist Ihnen wirklich nach Scherzen zumute?!“ meinte der Chemiker Lüder, indem er dem Boote nachschaute, das die drei gefangenen Deutschen soeben auf der Insel, die mitten in einem großen See gelegen war, abgesetzt hatte. „Mir ist gar nicht recht wohl in dem Gedanken, daß wir hier vielleicht verhungern und verdursten können“, fügte er hinzu.

Worauf der dritte, ein kräftiger Knabe von vielleicht fünfzehn Jahren, meinte: „Na na, Herr Lüder, so schlimm wird’s doch nicht werden! Ich finde es ganz hübsch hier. Der See sieht so freundlich aus, und die Palmen drüben am Seeufer beweisen uns, daß man uns irgendwo nach einem tropischen Lande verschleppt hat.“

Der Bankbeamte Fritz Oertel, derselbe, der vorhin die Bemerkung von dem Hotel gemacht hatte, sagte jetzt in ganz anderem Tone:

„Genug der Worte! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ehe es dunkel ist, müssen wir einen Platz gefunden haben, wo wir die Nacht über bleiben können. – Vorwärts, schaun wir uns unsere Insel genauer an.“

Das sandige Ufer ging bald in einen dichten Grasteppich über. Sträucher allerlei Art wuchsen in Gruppen aus dem frischen Grün hervor, bildeten bald weite Strecken undurchdringlichen Unterholzes, bald kleine Buschinseln, so daß die drei Gefährten nirgends einen freien Ausblick über die Insel gewinnen konnten, zumal diese recht eben war und nur hier und da der Boden sich zu kleinen Hügeln wölbte.

Bereits nach etwa sechs Minuten standen die drei wieder am Ufer.

„Na – groß ist unser Reich nicht gerade!“ meinte Oertel. „Freilich – in einem Binnensee wie diesem konnten wir auch nicht gut eine Insel von Meilenlänge erwarten. – Ich schlage vor, wir umkreisen jetzt einmal das Eiland, indem wir oben auf der Uferhöhe entlanggehen. Vielleicht finden wir auf diese Weise ein Plätzchen, das uns für ein Nachtlager geeignet erscheint.“

So marschierten die Gefährten denn weiter nach Westen zu. Die Sonne war jetzt vollständig verschwunden, und nur der westliche Horizont flammte in den prachtvollsten Farbentönen von Violett bis zartestem Rosa.

„Merkwürdig“, meinte Oertel nach einer Weile, „wirklich merkwürdig, wieviel ausgetretene Pfade vom Ufersande in das Gebüsch hineinlaufen.“ Er bückte sich, da hier gerade feuchter, lehmiger Boden eigenartige Tierfährten besonders deutlich angenommen hatte. „Komische Spuren!“ fuhr er fort. „Habe so etwas noch nie gesehen, trotzdem ich doch Europa und halb Asien recht gut kenne, und dies nicht nur auf gebahnten Straßen! – Na – wir werden ja schon erfahren, um welche Art von Geschöpfen es sich handelt.“

Wieder ging’s weiter. – Dann war es Max Jensen, der Kajütjunge, der plötzlich rief:

„Hierher – ein Haus – ein Haus!“ Er war ein Stück vorausgeeilt und hatte auch einen kleinen Abstecher ins Innere der Insel gemacht. Wäre er nicht so unternehmungslustig gewesen, hätten die Gefährten diese erste Nacht wohl im Freien zubringen müssen.

Nun, das, was der Knabe mit „Haus“ bezeichnet hatte, verdiente diesen Namen ganz und gar nicht.

Es war eine elende Blockhütte aus unbehauenen Baumstämmen, mit flachem Dach aus demselben Material und einer aus den plumpen, rostigen Angeln gefallenen Tür, die schräg an der Wand lehnte. Die Ritzen zwischen den Stämmen waren einst mit Gras verstopft gewesen. Jetzt klafften sie als breite Spalten. Genau so war’s mit dem Dache bestellt.

Die Hütte stand auf einer kleinen Lichtung. Das Buschwerk ringsum war von großen Dornen und anderen stachligen Ranken so durchschlungen, daß es geradezu eine Mauer bildete. Nur eine Lücke gab es nach dem Ufer hin, das vielleicht hundert Meter entfernt sein mochte, aber infolge dazwischen liegender Gebüschstreifen nicht sichtbar war, zumal der Zugang nur etwa zwei Meter Breite hatte.

Beim Anblick des Blockhauses hatte Fritz Oertel gutgelaunt gerufen: „Sagt’ ich’s nicht?! Da ist ja schon das Hotel. – Was wollen wir mehr. Los denn – halten wir unseren Einzug.“

Und er schritt auf die Türöffnung zu und … flog im nächsten Augenblick zur Seite lang ins Gras!

Aus der Hütte war eine menschliche Gestalt wie ein losgeschnellter Pfeil hervorgeschossen und lief nun, nachdem Oertel den Weg hatte freigeben müssen, der Lücke in dem Buschwalle mit Riesensätzen zu.

„Ein Neger – ein Neger!“ brüllte Max Jensen. „Der Schwarze sieht zum Totlachen aus!“

Das stimmte. So eilig der Mann es auch hatte, Fersengeld zu geben, – sein seltsames Kostüm war doch zu erkennen gewesen. Er trug nämlich zu ein Paar nur bis zum Knie reichenden, blau und rot gestreiften Leinenhosen einen einstmals rot gewesenen, jetzt aber rotgelb schimmernden Frack auf dem bloßen Leibe, auf dem Kopf aber einen großen Damenstrohhut, an dem noch Teile einer Garnitur künstlicher Blumen vorhanden waren. Die Füße waren nackt, und, da auch die Frackärmel viel zu kurz waren, ragten auch ein Paar muskulöse Unterarme und wahre Riesenfäuste daraus hervor.

Oertel rieb sich die Rippen und stand langsam auf.

„Solch ein Lümmel!“ brummte er. „Es war fraglos der Hausknecht dieses Hotels. Das Rausschmeißen versteht er.“

Der Chemiker Lüder und der Junge mußten lachen, ob sie wollten oder nicht, besonders da Oertel hinzufügte: „Bitte – ich überlasse jetzt gern einem anderen den Vortritt. Womöglich ist noch ein zweiter Hausknecht da.“

So betrat denn Lüder als erster die Hütte. Ihr Inneres bildete einen einzigen Raum von etwa sechs Meter Breite und zehn Meter Länge. In die Seitenwände waren zwei schmale Fensteröffnungen eingeschnitten, die jedoch durch Dornenbündel halb verstopft waren. Einen Fußboden gab es nicht. Die blanke Erde ersetzte ihn.

Das Blockhaus war leer. Nur in einer Ecke stand ein primitiver Herd aus Steinen; daneben befand sich eine Lagerstätte aus Laub und Gras. Auf dem Herde, in dem noch ein schwaches Feuer glimmte, brozelte in einem verbeulten Emailletopf irgendein Gericht, das – geradezu fürchterlich stank.

Oertel, der den Besichtigungsgang durch das „Hotel“ mitgemacht hatte, nahm den Topf schleunigst vom Feuer und trug ihn vor die Tür.

„Weiß der Henker, was der Hausknecht sich da zusammengekocht hat!“ meinte er zu den beiden Gefährten. „Anscheinend ist’s Suppe aus Gummiresten, Wagenschmiere und Petroleum!“

Dann wurde er aber schnell wieder ernst. „Los, meine Herren Mitrobinsons, facht das Feuer an, sammelt Gras für Betten und verstopft dort die Ritzen, damit der Nachtwind uns nicht um die Gebeine weht. Ich will währenddessen versuchen, die Tür in Ordnung zu bringen, damit wir uns einschließen können.“

Inzwischen hatte die Dämmerung draußen schon sehr zugenommen, so daß die drei sich bei ihrer Arbeit recht beeilen mußten.

Oertel gelang es, die Tür von innen durch abgebrochene Büsche so fest abzustützen, daß man vor fremden Eindringlingen sicher war.

Das Lager des Negers wurde dann fortgeschafft, das frisch gesammelte Laub und Gras neben dem Herd aufgeschüttet, in dem jetzt ein durch trockene Zweige genährtes Feuer lustig prasselte. Der Rauch zog leicht durch die zahllosen Ritzen ab und belästigte die drei Robinsons nicht weiter, die nun lang auf ihren Lagerstätten sich ausstreckten und sich über die nicht ganz alltägliche Art von Gefangenschaft unterhielten, auch darüber Vermutungen aufstellten, wer wohl der Neger gewesen sein könne.

„Vielleicht ein Schicksalsgenosse von uns“, meinte Oertel. „Eben auch ein Häftling jener maskierten Leute, die uns von dem halbwracken Dampfer „Wingolf“ heruntergeholt haben.“ (Beachte den vorigen Band „Die Abenteuer auf dem „Wingolf““.)

„Wo mögen wir überhaupt sein, Herr Oertel?“ fragte jetzt der muntere Max Jensen. „Wir sind doch auf so geheimnisvolle Weise hierher gebracht worden, daß wir die Auswahl zwischen den drei Erdteilen haben, die den Atlantik begrenzen.“

Oertel zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, ob dies hier Afrika oder Südamerika ist. – Ist mir zur Zeit auch noch ganz gleichgültig. Ich weiß aber jedenfalls, daß ich scheußlichen Hunger habe. Lassen wir uns also die Speisekarte bringen. – He – Bedienung …!“ Der Bankbeamte war mit seiner guten Laune schwer durch irgendetwas unterzukriegen. Aber das, was sozusagen als Antwort auf sein scherzhaftes „Bedienung!“ erfolgte, ließ selbst ihn entsetzt hochspringen und zurückfahren.

Dicht vor ihn war vom Dach eine gut zwei Meter lange Schlange gefallen, ein grünbraunes Reptil mit einem weißen Fleck auf dem platten Schädel.

Die Schlange hatte sich sofort kampfbereit aufgerichtet und … Oertel regelrecht angespien.

Dieser wischte sich mit seinem längst nicht mehr sauberen Taschentuch die linke Wange jetzt gründlich ab und sagte zu den Gefährten:

„Der Erdteil hat soeben seine Visitenkarte abgegeben. Das Reptil dort, das sich eben unter Ihrem Lager zu verkriechen sucht, Lüder, kommt nur in Afrika vor. Es ist eine sogenannte Spuckschlange. Giftzähne besitzt sie nicht, dafür speit sie aber einen giftigen Saft bis zu drei Meter weit, der auf der menschlichen Haut Entzündungen hervorruft, das Augenlicht aber unfehlbar zerstört. Man behauptet daher auch, daß die Spuckschlange sich ihrer Spritzwaffe dazu bedient, ihre Beute, zumeist Mäuse und Ratten, zu blenden. Ich habe noch Glück gehabt. Die größere Menge des Giftsaftes traf mich nicht, nur ein paar Tropfen streiften meine Backe.“

Max Jensen hatte jetzt aus dem Brennholzvorrat schnell einen stärkeren Ast hervorgesucht, mit dem er dem Reptil durch ein paar kräftige Schläge den Schädel zerschlug.

Oertel aber hatte Lüder auf die Stelle des Daches hingewiesen, die über seinem Graslager sich befand. Dort klaffte zwischen den Baumstämmen eine sehr breite Ritze.

„Sie haben doch vorhin diese Ritze verstopft“, meinte er. „Nun aber ist ein Stück der Spalte wieder freigelegt worden. Ich wette, der Neger ist zurückgekehrt, hat das Dach leise erklettert und – die Schlange herabfallen lassen. Der Bursche ist also gefährlich und gerade keine angenehme Zugabe für unser Eiland.“

Dann schritt er auf die Tür zu, entfernte die Stützen, schob die aus dünneren Stämmen zusammengenagelte, schwere Tür bei Seite und trat ins Freie.

Lüder und der Knabe waren ihm sofort gefolgt.

Draußen war es gerade hell genug, jetzt eine Gestalt zu erkennen, die blitzschnell durch die Lücke in dem Buschwall hinausschlüpfte.

„Ich habe also recht gehabt“, meinte Oertel gelassen. „Der Schwarze ist der Schlangen-Werfer. – Na warte, Freundchen, den Streich will ich Dir schon heimzahlen!“

Dann kehrten die Gefährten in die Hütte zurück. Abwechselnd wachten sie, damit der Neger sein Attentat nicht etwa wiederholen könne.

 

2. Kapitel.

Rechtzeitig gewarnt.

Kaum war es hell geworden, als die drei Deutschen auch bereits aufstanden, um auf Lebensmittelsuche zu gehen. Der Hunger quälte sie jetzt schon derart, daß sie mit irgend etwas Genießbarem gern fürlieb nehmen wollten.

Oertel warnte jedoch, nichts zu überstürzen. Indem er auf die Stelle vor der Hütte zeigte, wo er am Abend vorher den Kochtopf mit der gräßlichen Brühe hingestellt hatte, sagte er:

„Der Napf ist weg. Der Neger hat ihn sich geholt. Und vor diesem Schwarzen müssen wir uns in acht nehmen. Ohne Waffen dürfen wir die Insel nicht durchstreifen. Da wir nun von den Maskierten vollständig ausgeplündert sind – nur mein Taschentuch haben sie mir gelassen, so können wir uns nur Keulen dadurch herstellen, daß wir starke Aststücke im Feuer von den Zweigen befreien und härten.“

Diese primitiven Hiebwaffen waren denn auch sehr bald fertig. Vorsichtig wurde nun der Marsch nach dem Inselstrande angetreten. Inzwischen war auch die Sonnte höher gestiegen, und es wurde schnell drückend heiß.

Im Ufersande fand man zahlreiche ganz frische Tierfährten von derselben Form, die Oertel schon am Tage vorher zu deuten versucht hatte. Jetzt machte er plötzlich halt und deutete auf eine Sandbank, die etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt war. Dort lagen eine Menge dunkler Gegenstände halb im Wasser. Sie sahen wie angetriebene Baumstämme aus, und Max Jensen meinte denn auch, er wolle hinüberschwimmen und einen davon holen, damit man ihn als Türstütze benutzen könne.

Oertel aber sagte darauf sehr ernst: „Die Schwimmtour würde Dir schlecht bekommen, mein Junge. Die Dinger da auf der Sandbank sind … Krokodile! Ich zähle ein rundes Dutzend, und ein paar ganz riesige Exemplare sind darunter. – Nun wird mir auch klar, weswegen die Maskierten uns hier uns selbst überlassen haben. Sie wissen eben ganz genau, daß der See von zahlreichen Krokodilen bevölkert ist, die schon dafür sorgen, daß niemand die Insel zu verlassen wagt. Ohne Boot ist dies eben ausgeschlossen! Und ein solches können wir uns nicht einmal bauen, – falls wir Werkzeuge hätten! – da auf dem Eiland nur Strauchwerk, nicht ein einziger Baum wächst.“

In recht gedrückter Stimmung setzten die Gefährten nun ihren Weg fort. Hier am Ufer gab es nirgends etwas Eßbares. Und die Krokodilspuren im Sand und die ausgetretenen Pfade landeinwärts zeigten den Hungrigen, daß die gefährlichen Bewohner des Sees nachts auch die Insel besuchten.

So gelangten die drei auch schließlich an das ihnen noch unbekannte Ostufer des Eilandes. Hier streckte dieses eine Halbinsel weit in den See hinaus, und hier fand man auch einen kleinen Bach, der die Halbinsel der Länge nach durchfloß.

Der Wasserlauf hatte klares Wasser und bildete, wie die Gefährten dann feststellten, hier und da kleine Teiche, in denen es zahlreiche Fische gab.

Jetzt kam Lüder auf einen guten Gedanken. Der Bach mußte oberhalb eines ziemlich großen Teiches leicht abzudämmen, der Abfluß aber durch ein Gitter von Zweigen ebenso einfach abzusperren sein. Auf diese Weise würden die Fische bald auf dem Trockenen liegen!

Mit Eifer ging man sofort ans Werk. Der Gedanke, in kurzem den Hunger mit in der glühenden Herdasche gebackenen Fischen stillen zu können, trieb die drei Leidensgenossen zu äußerster Regsamkeit an.

Nach einer Stunde waren sie so in Besitz einer solchen Menge von Fischen gelangt, daß sie nur einen Teil in schnell geflochtenen Reisigbehältern mitnahmen, dann den Damm wieder öffneten und so dem Rest der nach Luft schnappenden Fische Leben und Freiheit wiedergaben.

Auf dem Rückweg nach der Blockhütte regte Lüder an, man solle gleich von der lehmigen Erde, die stellenweise am Ufer vorkam, eine möglichst große Masse ebenfalls mitnehmen. Wozu er sie benutzen wollte, sagte er erst später.

Als die Gefährten heimgekehrt waren – denn die Hütte war ja jetzt ihr zu Hause –, sahen sie, daß der Neger inzwischen den Herd zerstört und das Feuer ausgelöscht hatte.

Oertel schwor dem Schwarzen abermals Rache.

„Mit dem heimtückischen Burschen werden wir noch viel Ärger haben!“ meinte er. „Ich wünschte, die Krokodile fräßen ihn! Ich bin sonst nicht gerade blutdürstig, aber dieser Rotbefrackte ist ein ebenso frecher wie listiger Nigger!“

Zum Glück gelang es Max Jensen dann noch, ein paar glühende Aststückchen aus den Herdtrümmern hervorzuholen und damit ein offenes Feuer anzufachen, so daß man sich bald an den Fischen sättigen konnte.

Nachdem die knurrenden Mägen beruhigt waren, blickten die Gefährten schon wieder vertrauensvoller in die Zukunft, besonders da ihnen der Chemiker während der Mahlzeit allerlei Vorschläge machte, wie man sich sowohl ein paar eiserne Handwerkszeuge als auch bessere Waffen wie die Keulen herstellen könne, ferner auch einen brauchbaren Herd und vielleicht auch allerlei Geschirr – Kochtöpfe, Eß- und Trinknäpfe.

„Wie – und das alles aus den eisernen Türgelenken, den Nägeln der Tür und aus Lehm?!“ meinte Max Jensen verwundert. „Wir haben doch nichts – nichts, keine Schmiedehandwerkzeuge, keinen Amboß, keine …“

„… aber wir haben einen Chemiker unter uns, mein Junge!“ führte Fritz Oertel den Satz zu Ende. „Das darfst Du nicht vergessen. Und es ist ja gerade sozusagen die Kunst der Chemiker, aus dem Nichts heraus etwas zu schaffen.“

Und der Bankbeamte behielt recht. Steine dienten als Amboß und Hämmer; es entstanden die ersten Messerklingen, entstanden zwei Handbeile, Lanzenspitzen, sogar Pfeilspitzen. Aus Lehm wurden Ziegel gebrannt zu einem ordentlichen Herde, aus blaugrauem Ton, den es an den Teichen auf der Halbinsel gab, schuf der erfinderische Lüder allerlei Gefäße. In drei Tagen besaßen die Robinsons daher schon alles, was an Geräten zu einem bescheidenen Leben gehört, hatten sie die Ritzen der Blockhütte mit Lehm verschmiert, der in der Sonne schnell trocknete. Die Tür war in Holzgelenken beweglich gemacht und hatte innen und außen einen festen Verschluß. Sogar über Schußwaffen verfügten die Gefährten jetzt, und zwar über Bogen und Pfeile, auch über sauber gearbeitete Wurfspeere.

Jedenfalls kamen sich die Robinsons mit einem Male unendlich reich vor. Und wenn ihre Freude über das Gelingen dieser Werkzeuge und Waffen etwas getrübt wurde, so war es nur durch den Gedanken, daß die Maskierten eines Tages erscheinen und ihnen all diese Sachen wieder abnehmen könnten.

Diese Besorgnis brachte Fritz Oertel dann auf die Idee, sowohl als Sicherung gegen den Neger, den man inzwischen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, als auch gegen die Leute, die damals den Dampfer „Wingolf“ überfallen hatten, vor dem schmalen Eingang der Lichtung einen Verhau aus Dornen und Ästen so anzulegen, daß nur ein schmales Schlupfloch blieb und daß der Verhau wie ein natürlicher Teil des Buschwerks aussah. Das Schlupfloch wurde dann gleichfalls auf sehr sinnreiche Art und Weise verdeckt und mit einer Tür aus geflochtenen Dornenzweigen und Ästen verschlossen.

In diesen drei Tagen, die eifrigster Arbeit gewidmet waren, hatten die Gefährten nicht die Zeit gefunden, ihre Insel gründlicher zu besichtigen. Dies sollte am Vormittag des vierten Tages geschehen. Gleich nach Sonnenaufgang wurde aufgebrochen, nachdem man einen aus einer Bohnensuppe mit Fischstücken bestehenden kräftigen Imbiß eingenommen hatte. Max Jensen hatte nämlich in der Nähe der Lichtung ein Schotengewächs entdeckt, dessen Bohnen recht gut genießbar waren. Außerdem hatte der Küchenzettel noch durch verschiedene Früchte eine angenehme Bereicherung erfahren.

Kreuz und quer wurde das Eiland nun durchstreift. Hierbei stellte man fest, daß dessen größte Breite bei ziemlich langgestreckter Gestalt etwa achthundert, die größte Längsausdehnung, die Halbinsel eingerechnet, vielleicht tausend Meter betrug. Ferner entdeckte man auch durch einen Zufall den neuen Schlupfwinkel des Negers in einer kleinen Lichtung, wo der Rotbefrackte sich eine kegelförmige Hütte aus Zweigen errichtet hatte. Der Bewohner war jedoch nicht daheim, sehr zu Fritz Oertels Bedauern, der den Vorfall mit der Spuckschlange noch lange nicht vergessen hatte. Im übrigen bot die Insel aber keinerlei Besonderheiten mehr. Nur fanden die Gefährten noch manche genießbaren Früchte und viele Stellen, an denen die Schotenpflanze sehr üppig wucherte. Nachdem man dann noch eine Anzahl Fische in einem der Teiche wieder gefangen hatte, ging es am Strande entlang nach Süden zu heimwärts. Unterwegs erlegte Max Jensen dann auch mit seinem Bogen das erste Tier, einen taubenartigen Vogel, der auf dem Eiland recht zahlreich vorkam und ein Erdnister war, sein Nest aber mitten in das dichteste Dickicht auf der Erde baute, wo man an die Eier nicht herankonnte.

Wenige Minuten nach diesem Jagderfolg des Kajütjungen ereignete sich etwas sehr Seltsames, aber auch sehr Wichtiges.

Plötzlich wurden die drei Gefährten nämlich aus einem Gebüsch angerufen – in einem fürchterlichen Englisch, das sofort auf den Neger als den verborgenen Warner hindeutete, – denn eine Warnung sollte es sein:

„He, Massas, – he! Boot sein gelandet worden auf Westseite mit acht weiße Teufel – vorsichtig zu sein, Massas, sagt schwarzer Nero!“

Fritz Oertel faßte sich zuerst so weit, um zurückrufen zu können:

„Hallo, Nero, – was für weiße Teufel denn?“

Es erfolgte jedoch keine Antwort. Nur ein Rauschen in den Büschen zeigte, daß der Neger sich davonmachte.

Die Gefährten hielten schnell Kriegsrat ab.

„Es kann eine List des Schwarzen sein“, meinte Oertel. „Daß wir hier gefangen gehalten werden, ist ihm sicher längst klar geworden. Mit den weißen Teufeln will er auf unsere maskierten „Freunde“ hindeuten. Er hofft, daß wir vor diesen unsere Waffen nicht werden zeigen wollen, daß wir sie verbergen werden und er sie uns dann rauben kann.“

„Für das Hirn eines Negers erscheint mir die List zu gut ausgeklügelt“, sagte Lüder. „Vielleicht tun wir Nero auch unrecht, und es sind wirklich Leuten in einem Boot hier gelandet. Ich schlage vor, Max zieht als Kundschafter aus. Er schleicht ja wie ein Indianer und ist schnell wie ein Wiesel.“

Der Kajütjunge war sofort einverstanden, übergab Lüder seinen Wurfspeer, den Bogen und den aus Ruten geflochtenen Köcher und glitt weiter der Westseite zu, während die beiden Zurückbleibenden sich in einem nahen Dickicht verbargen, nachdem sie hinter sich ihre Spuren sorgfältig ausgelöscht hatten.

Bereits nach zehn Minuten erschien Max wieder, stieß einen vorher vereinbarten Pfiff aus und kroch dann zu den Gefährten in das Dickicht.

„Nero hat die Wahrheit gesagt“, berichtete er. „Es sind wirklich acht Mann in einem großen Boot dicht bei unserer Wohnung gelandet. Alle sind bewaffnet mit Revolvern und Karabinern. Drei bewachen am Strande das Boot, und die übrigen haben sich Zutritt zu unserer Lichtung verschafft, den geheimen Eingang geöffnet und sitzen jetzt vor der Blockhütte. Sie müssen wohl geahnt haben, daß wir uns dort häuslich niederlassen würden. Offenbar warten sie auf uns. Und auch die beiden elegant gekleideten Herren sind wieder darunter, unsere alten Bekannten von der Motorjacht her. Sie tragen sämtlich Seidenmasken – wie immer.“

Oertel schob seine Waffen unter die Büsche und erhob sich.

„Verbergt ebenfalls die Eurigen“, sagte er kurz. „Wir müssen mit den Leuten sprechen. Fraglos wollen sie irgend etwas von uns.“ Seine zielbewußte, ruhige Art duldete keinen Widerspruch.

Als die drei Gefährten, ganz harmlos tuend und sich laut unterhaltend, dem Eingang zu der Lichtung sich näherten, rief ein hinter einem Strauche versteckter Posten sie an. Der Mann sprach englisch, aber sehr schlecht. Man merkte, daß es nicht seine Muttersprache war. Er führte die Deutschen dann in die Lichtung hinein bis zu der Blockhütte, vor der die beiden besser gekleideten Männer abseits von den übrigen im Grase lagen.

„Setzt Euch!“ befahl der eine. „Wie ich sehe“, fuhr er mit einer Handbewegung nach der Hütte fort, „habt Ihr Euch hier schon ganz wohnlich eingerichtet. Das ist verständig von Euch, denn fort könnt Ihr von hier nicht. Der See ist voller Krokodile, was Euch nicht unbekannt sein dürfte.“

Er zog jetzt ein Zeitungsblatt hervor und reichte es Fritz Oertel.

„Lies diesen Artikel!“ gebot er. In seiner Stimme lag etwas Herrisches, Stolzes. Er mußte das Befehlen gewöhnt sein.

 

3. Kapitel.

Ein neuer Gefährte.

Oertel sah sich die Zeitung näher an.

Es war die Abendnummer einer in Madrid erscheinenden deutschen Zeitung „Der Vaterlandsbote“ vom 2. Juli dieses Jahres.

Der Artikel trug die Überschrift „Das Geheimnis des Dampfers „Wingolf““ und lautete:

„Am 19. Juni d. J. traf der Vergnügungsdampfer „Anna Bohlen“ auf der Fahrt nach Bergen in Norwegen halbwegs zwischen den Fär-Öer und dieser Hafenstadt mit einem verlassenen Dampfer „Wingolf“ zusammen, der die französische Flagge führte und den eine Anzahl der Passagiere der „Anna Bohlen“ dann besichtigte. Später stellte sich heraus, daß drei dieser Neugierigen nicht wieder auf den Nordlanddampfer zurückgekehrt, sondern auf dem „Wingolf“ zurückgeblieben waren. Es handelte sich um einen wegen Mordes verfolgten Chemiker Lüder, einen Bankbeamten Oertel und einen der Kajütjungen der „Anna Bohlen“ namens Max Jensen. Daß diese drei unter einer Decke steckten und absichtlich auf dem „Wingolf“ sich verborgen hatten, bis die „Anna Bohlen“ davonfuhr, unterliegt wohl keinem Zweifel. Von Bergen aus wurde dann ein norwegisches Torpedoboot auf die Suche nach dem verlassenen Dampfer geschickt, fand ihn aber nicht. Wahrscheinlich ist er in einem Sturm, der ein paar Tage später den Atlantik heimsuchte, untergegangen. – Wenn schon die seltsame Flucht der drei Leute von der „Anna Bohlen“ höchst abenteuerlich anmutet, so muß der Dampfer „Wingolf“ selbst mit Recht als ein noch abenteuerlicheres und geheimnisvolleres Schiff bezeichnet werden. Es war nämlich bis auf die Maschine noch völlig seetüchtig, mußte bereits längere Zeit ohne Besatzung mit dem Golfstrom nach Norden zu getrieben sein und enthielt in seinen Kabinen nichts, was irgendwie über Heimathafen und Fahrtziel Aufschluß gegeben hätte. Augenblicklich sind die norwegischen Behörden eifrig dabei, Nachforschungen darüber anzustellen, wem der „Wingolf“ zuletzt gehört hat. Irgendwie wird man doch wohl Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen. Jedenfalls bittet das Hafenamt in Bergen jeden, der über den „Wingolf“ sachdienliche Angaben machen kann, alles Nötige telegraphisch dorthin mitzuteilen. Die Auslagen werden ersetzt. Bemerkt sei noch, daß der Laderaum des verlassenen Dampfers mit Kisten gefüllt war, die die Aufschrift „Klippfische“ trugen.“ –

Oertel reichte jetzt dem Maskierten die Zeitung zurück und sagte:

„Der Bericht stimmt in einem Punkte nicht. Nicht Lüder ist der gesuchte Mörder, sondern ich! – Allerdings – ein Mörder bin ich auch nicht. Es war nichts als ein unglücklicher Zufall.“

Der Unbekannte nickte und zeigte auf eine zweite Notiz:

„Sie sind ein aufrichtiger Mensch!“ Vorhin hatte er Oertel noch sehr hochfahrend geduzt. „Hier steht: „Es hat sich jetzt auf Grund neuer Ermittlungen der Kriminalpolizei ergeben, daß nicht der Chemiker Lüder, sondern ein Bankbeamter Fritz Oertel als Mörder des Wucherers Haller in Betracht kommt. Die Möglichkeit ist auch nicht ausgeschlossen, daß überhaupt kein Mord vorliegt. Leider wird ja auch Oertel hierüber nie Aufschluß geben können, da er sicherlich mit dem geheimnisvollen Dampfer „Wingolf“ jetzt auf dem Grunde des Atlantik ruht.““

Lüder rief jetzt – kein Wunder! – mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung: „Gott sei Dank; so ist meine Schuldlosigkeit also doch noch offenbar geworden!“

Der Maskierte schob die Zeitung wieder in die Tasche.

„Meine Herren“, sagte er sehr höflich, „wir wissen jetzt endlich, wen wir vor uns haben. Unter diesen Umständen werden wir leichter zu einer friedlichen Einigung gelangen. Bevor ich Ihnen meine Vorschläge unterbreite, will ich kurz einen Rückblick auf unsere gegenseitigen, nicht ganz alltäglichen Beziehungen werfen. – Sie beide und der Schiffsjunge trafen als neue Besatzung des „Wingolf“ mit einer Motorjacht zusammen, deren Leute zu Ihnen an Bord wollten, was Sie mit Waffengewalt verhinderten. Später gelangten diese Leute – –“

„– – das heißt Sie und Ihre maskierten Genossen“, schaltete Oertel ein.

„– – diese Leute trotzdem an Bord, bemächtigten sich des Dampfers und brachten Sie als Gefangene auf diese Insel.“

„– – die zu Afrika gehört“, ergänzte Oertel wieder.

„Das dürfte eine bloße Vermutung von Ihnen sein“, meinte achselzuckend der Fremde.

Schon wollte Oertel die Spuckschlange und den Neger erwähnen, als Lüder ihm hastig zuraunte: „Nichts von dem Schlangenwerfer!“ – Auch Max Jensen verstand die Worte und hütete sich daher gleichfalls, auf den Schwarzen die Maskierten irgendwie aufmerksam zu machen.

Mißtrauisch fragte der Unbekannte jetzt: „Was sagten Sie da eben zu Ihrem Gefährten? Ich will es wissen!“

Und Lüder erwiderte gleichmütig: „Ich sagte: „Nur nicht die werfende (das heißt, die speiende) Schlange!“ und meinte damit, daß nur dieses von uns hier auf der Insel entdeckte Reptil keine bloße Vermutung ist. Diese Spuckschlange kommt nämlich nur in Afrika vor.“

Der Fremde schwieg eine Weile, anscheinend verlegen um eine passende Antwort. Dann begann er wieder: „Da wir es bei Ihnen beiden mit gebildeten Leuten zu tun haben, möchten wir Ihnen Ihre Lage erleichtern. Wenn Sie beide uns, zugleich für den Knaben da, ehrenwörtlich versprechen, nur mit unserer Erlaubnis diese Insel zu verlassen, so werden wir Ihnen allerlei Dinge liefern, damit Sie hier mehr als Kulturmenschen hausen können.“

Oertel sann einen Augenblick nach und fragte dann: „Wie lange soll denn unsere Gefangenschaft dauern?“

„Das hängt von Umständen ab. Vielleicht ein Jahr, vielleicht auch etwas länger oder kürzer. Vor Ihrer Freilassung müßten Sie uns dann selbstverständlich Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nie etwas von uns, den Maskierten, erwähnen wollen.“

„So – also ein Jahr, auch länger!“ meinte Oertel. „Nun, ich für meine Person gebe mein Ehrenwort nicht. Es ist völlig ungesetzlich von Ihnen, wie Sie uns behandeln, und es wird mein Bestreben sein, hinter Ihr doch offenbar recht lichtscheues Treiben zu kommen.“

Auch Lüder gab sofort eine ähnliche Erklärung ab.

Da stieß der Fremde ein ärgerliches Lachen aus.

„Nun gut – wie Sie wollen!“ sagte er und stand auf. „Leben Sie meinetwegen hier weiter wie die Wilden. Aber vergessen Sie nicht, daß diese Insel drüben von den Seeufern aus ständig bewacht und daß jeder Fluchtversuch mit dem Tode bestraft wird!“

Die Maskierten entfernten sich, und bald darauf meldete Max Jensen, der ihnen nachgeschlichen war, daß das Boot die Insel verlassen habe und dem Südufer des Sees zurudere.

Inzwischen war es Mittag geworden. Lüder sollte nun die Waffen aus dem Versteck zurückholen, während Oertel und der Knabe das Essen zubereiten wollten.

Als Lüder sich dann gerade auf den Weg machen wollte, deutete der Kajütjunge plötzlich nach dem Eingang der Lichtung und rief:

„Dort – der Neger, und er hat alle unsere Waffen bei sich!“

Aber Nero in seinem roten Frack trug in der rechten Hand noch etwas anderes: einen grünen Zweig als Zeichen seiner friedlichen Gesinnung!

Jetzt legte er die Waffen auf den Boden und kam, den Zweig schwenkend, langsam näher.

Oertel ging ihm entgegen. Die Unterhaltung wickelte sich in englischer Sprache ab, wobei der Schwarze mit seinem Kauderwelsch bei den drei Deutschen manchen Heiterkeitserfolg erzielte. An seiner aufrichtigen Denkungsart war, nachdem er ja vorhin die drei Gefährten vor den Maskierten gewarnt hatte, nicht mehr zu zweifeln.

Er erzählte folgendes über seine eigenen Schicksale: Jahrelang hatte er als Sklave bei einem Tuareg-Stamme gelebt, der seine Weideplätze an der Südwestgrenze Marokkos hatte. Dann war er vor acht Monaten zusammen mit zwei anderen Negern entflohen und nach endlosen Mühsalen, die seinen Begleitern den Tod brachten, an das Meer gelangt, wo er plötzlich in einem weiten, unbewohnten Küstenstrich auf eine am Ufer einer großen Lagune gelegene Niederlassung von Europäern stieß. Diese hatten ihn jedoch höchst unfreundlich aufgenommen, und er hatte bald den Eindruck gewonnen, daß sie von ihm Verrat fürchteten und daß die kleine Ansiedlung für die Außenwelt ein Geheimnis bleiben sollte. Man hatte ihm zwar tagsüber mit allerlei Arbeiten beschäftigt, ihn nachts aber regelmäßig eingesperrt, so daß er wiederum nichts Besseres als ein Sklave war. Sechs Monate hatte er es in der Ansiedlung ausgehalten, etwas englisch gelernt und von den Weißen den Namen Nero erhalten. Dann, als ihn einer der Leute einmal fürchterlich gemißhandelt hatte, war er entflohen, hartnäckig verfolgt worden und schließlich bei Nacht auf einem Baumstamm nach der Insel hinübergerudert, wo er nun bereits drei Wochen hauste. –

Durch geduldiges Befragen stellte Oertel dann noch folgendes fest: Die Lagune, an der die Niederlassung lag, zog sich vom Meere aus meilenweit in das Land hinein und stand mit diesem Süßwassersee in Verbindung. Die Ansiedelung hatte außer zwei Wohnhäusern drei große Lagerschuppen, eine Anlegebrücke für die Motorjacht und verfügte außerdem über zwei kleine Schraubendampfer. Der Verkehr nach See hin war sehr lebhaft. Zumeist kamen Kisten an, die in den Schuppen aufgestapelt wurden. Was sie enthielten, wußte Nero nicht. Die Bewohner der Ansiedlung, alles nur Männer, wechselten bis auf drei sehr oft. Die beiden vornehmen Herren waren immer nur kurze Zeit dort und kamen stets auf der Motorjacht an. Die Leute hatten sich vor Nero stets ohne Masken gezeigt und waren bis auf einen, von dem der Neger die englischen Brocken gelernt hatte, alle schwarzhaarig gewesen. Der blonde Mann war sehr lang und mager und ganz ohne Bart. Auch er verließ die Ansiedlung oft für acht bis vierzehn Tage. – Einmal waren die Leute – etwa vor anderthalb Monaten – sehr erregt gewesen, und Nero hatte oft den Namen „Wingolf“ nennen hören. Damals war gerade die Motorjacht in der Lagune gewesen, und sie hatte diese dann sehr eilig verlassen, nachdem von der Funkspruchstation der Ansiedlung (herauszubekommen, was Nero mit dem hohen Mast mit den vielen Eisentauen meinte, war nicht leicht gewesen!) verschiedene Depeschen aufgefangen worden waren. –

Mehr vermochte Nero nicht anzugeben.

Nun – auch dies genügte, um das Geheimnis des „Wingolf“, der doch fraglos mit der Niederlassung an der Lagune etwas zu tun hatte, noch undurchdringlicher zu machen.

„Unsere erste Annahme“, meinte Oertel nachher bei einer Besprechung mit Lüder, „werden wir fallen lassen müssen. Die Leute sind keine Schmuggler. Wären es solche, so würden nicht lediglich Holzkisten eintreffen, sondern auch Warenballen, Fässer und anderes. Die Holzkisten haben wir ja noch vom „Wingolf“ her in gutem Gedächtnis. Klippfische lautete die Aufschrift, und Waffen und Munition enthielten sie in Wirklichkeit. – Ich werde aus der ganzen Sache nicht klug! Na – jedenfalls ist aber das eine jetzt erwiesen: wir befinden uns hier unweit der Westküste von Marokko, und da drüben“ – er deutete nach Südwesten – „liegt die Lagune, hausen unsere Feinde!“ –

Nero wurde jetzt als neues Mitglied des Insel-Gefängnisses aufgenommen, wie Oertel sich ausdrückte, und lebte sich schnell ein. Gefragt, weshalb er damals das Attentat mit der Spuckschlange ausgeführt hätte, erwiderte er, er habe die drei Deutschen für Leute der Ansiedlung gehalten, die gekommen seien, ihn gefangen zu nehmen. Erst später sei ihm klar geworden, daß die drei Weißen sich in ähnlicher Lage wie er selbst befänden.

Nero erwies sich als ein ganz brauchbarer Gefährte. Er besaß eine schnelle Auffassungsgabe und dabei die Kräfte eines Bären. Freilich – faul war er wie die Sünde, und Max, mit dem er sich rasch anfreundete, hatte immer wieder zu schelten und zu ermahnen. –

Unsere Robinsons brachten dann die nächste Woche damit zu, allerlei neue Arbeiten zu verrichten, um sich das Leben noch behaglicher zu gestalten. Aus Vorsicht richteten sie aber am Tage einen regelmäßigen Wachtdienst am Inselstrande ein, um nicht von den Maskierten überrascht zu werden, ebenso wie sie auch in der Blockhütte ein unterirdisches Versteck anlegten, in dem Nero bei drohender Gefahr mit den Werkzeugen und Waffen verschwinden konnte.

Nachdem die Gefährten dann alles hergestellt hatten, was sie mit den primitiven Werkzeugen schaffen konnten, begannen sie von Tag zu Tag sich eingehender mit Fluchtgedanken zu beschäftigen. Diese Pläne scheiterten aber sämtlich an der Unmöglichkeit, ein Fahrzeug zu bauen, das sie sicher zum Seeufer hinübertrug.

Wie zahlreich die Krokodile in dem See vorhanden waren, davon hatten die Robinsons sich inzwischen zur Genüge überzeugt. Um eine Abwechselung zu haben, waren sie nachts, wenn die Bestien an Land kamen, so und so oft schon auf Jagd gegangen, wobei sie bisher über ein Duzend der nach Moschus[2] duftenden Riesenpanzereidechsen erlegt hatten.

Die Jagd war einfach genug, wenn auch nicht ganz ungefährlich. Gegen Mitternacht brach man, versehen mit brennenden Fackeln und Wurfspeeren, auf. Traf man auf ein auf der Landpromenade begriffenes Krokodil, so war dies durch den Fackelschein zumeist so geblendet, daß es Nero nie schwer wurde, der Bestie von der Seite einen Speer in die weichen Bauchteile zu jagen. Freilich – das verwundete Tier holte dann sofort mit dem langem Panzerschwanz zu einem furchtbaren Schlage aus, und Nero mußte manchmal einen ordentlichen Luftsprung machen, um nicht getroffen zu werden. Versuchte das Krokodil dann den Rückweg nach dem Wasser anzutreten, so wurde ihm durch die brennenden Fackeln der Weg versperrt, bis der Neger einen zweiten Speer anbringen konnte, der zumeist genügte, um die Bestie verenden zu lassen.

Die Beute war recht gut zu verwerten. Einmal dadurch, daß man aus den Rückenstücken das Fett ausschmolz, welches ein vorzügliches Brennmaterial für die von Lüder konstruierten Lampen ergab. Dann war das Fleisch des Schwanzes genießbar als das einzige eines Krokodils, das nicht nach Moschus schmeckte. Die Panzerhaut wieder ließ sich zu allerlei Sachen verarbeiten, während die Därme, die Lüder ähnlich wie Schafdärme präparierte, vorzügliche Bogensaiten und unzerreißbaren Bindfaden abgaben. Sogar die Knochen waren nicht nutzlos. Nero schnitzte daraus mancherlei kleine Geräte nach den Angaben seiner weißen Gefährten, und er zeigte hierbei eine außerordentliche Geschicklichkeit.

So spielte sich das Dasein der vier Robinsons ab, als Fritz Oertel eines Tages – man saß gerade bei der Mittagsmahlzeit – die denkwürdigen Worte ausstieß:

„Wir sind bisher richtige Schafsköpfe gewesen!“

 

4. Kapitel.

Das Floß.

Lüder erwiderte auf diese Schmeichelei nur:

„Sie haben wohl den Sonnenstich bekommen, wie?!“

Worauf Oertel wieder lachend erklärte:

„Bekommen habe ich was – einen Gedanken – großartig! – – Hört mich an. Aus dem Holze, das hier auf der Insel wächst, können wir kein Fahrzeug herstellen. Daran sind all unsere Fluchtpläne gescheitert! Aber daran, daß wir ja die Baumstämme der Blockhütte haben, hat niemand bisher gedacht, obwohl wir sie täglich vor Augen hatten. Wir müssen mit geistiger Blindheit geschlagen gewesen sein! – Meine Idee ist nun folgende. Wir werden die Blockhütte kleiner machen und das so gewonnene Holz nach der anderen Seite der Insel in ein Dickicht am Strande bringen, wo wir unsere Bootswerft einrichten – ganz in der Verborgenheit, damit die Maskierten nicht hinter unsere Schliche kommen. Zu dem Zweck, daß unseren Feinden die Verkleinerung der Hütte nicht auffällt, bauen wir an einem Ende so etwas wie eine Laube an, die das Auge über die Größenverhältnisse täuschen wird. – Wie wir das Boot dann zu Stande bringen, ist eine spätere Sorge.“

Lüder und Max Jensen sprangen ganz begeistert auf, riefen vor Freude Hurra.

Nero grinste anerkennend und meinte:

„Massa Oertel – das sein Plan gut wie Krokodilschwanzfleisch!“

Der Zufall wollte es, daß am Nachmittag ein Boot von der Lagune kam, um nach den Gefangenen zu sehen. Nero, die Waffen und die Handbeile verschwanden rechtzeitig im unterirdischen Versteck, und das Boot fuhr wieder ab, nachdem einer der Leute Oertel gefragt hatte, ob er sich die Sache mit dem Ehrenwort jetzt vielleicht anders überlegt hätte, worauf der Bankbeamte festen Tones erwiderte, er und seine Gefährten würden stets bei ihrem Entschluß beharren.

Da man nun eine Weile vor den Maskierten sicher war, ging man auch sofort mit größtem Eifer an die Vorbereitungen für den Bootsbau heran.

Die zu der Blockhütte benutzten Stämme waren etwa ein Meter tief in die Erde eingegraben, bestanden aus Palmenholz und hatten sich recht gut gehalten. Sie lieferten Stammstücke von etwa vier Meter Länge. Als sie glücklich auf den Werftplatz geschafft waren und auch die Laube bereits den Umbau sehr gut verdeckte, meinte Nero eines Abends, während Lüder ernstlich den Gedanken erwog, aus dem noch vorhandenen Eisen eine Säge zum Zerschneiden der Stammstücke herzustellen:

„Ein Floß schneller zu bauen sein, Massa Lüder. Floß gut sein gegen Krokodile.“

„Famos!“ rief Oertel sofort. „Nero – reich’ mir Deine schwarze Pfote. Du bist ein Genie!“

„Was Genie sein?“ fragte der Rotbefrackte mißtrauisch.

„Das Gegenteil von Schafskopf!“ lachte Oertel. Und der Neger strahlte jetzt vor Freude.

Gleich am nächsten Abend wurden, nachdem am Tage ein paar Ruder hergestellt worden waren, die Stämme ins flache Wasser getragen und durch zähe Ranken fest miteinander verbunden, eine Arbeit, die bei Dunkelheit erledigt werden mußte, um zu verhüten, daß man dabei etwa vom Seeufer aus beobachtet wurde.

Dann traten Nero und Oertel sofort ihre erste Kundschafterfahrt nach der Lagune an. Bereits hundert Meter von der Insel entfernt hatte das Floß ein Gefolge von einigen zehn Krokodilen, von denen einige immer wieder versuchten, die Baumstämme zu erklettern. Aber Nero wußte schon, wie er sie los wurde. Die Panzerhaut des Kopfes war nicht zu durchstoßen, aber – die Augen blieben leicht verwundbare Stellen, und, so grausam es auch sein mochte, – der Neger blendete während der Fahrt nicht weniger als neun Bestien, die, des Augenlichtes beraubt, stets sofort wieder ins Wasser zurückplumpsten.

Das Floß wurde dann am Südufer des Sees festgelegt, worauf die beiden Kundschafter den Weg nach der Lagune zu Lande fortsetzten. Es ging zunächst durch Wald, dann über einen steinigen Höhenrücken, wieder durch Wald, und nun lag die Lagune vor ihnen.

Inzwischen war der Mond aufgegangen, und Oertel unterschied rechter Hand am diesseitigen Nordufer die Baulichkeiten der Ansiedlung, auch auf dem Wasser ein paar größere Fahrzeuge.

Nero warnte, man solle sich den Gebäuden ja nicht noch mehr nähern, da nachts stets ein Posten ausgestellt werde, der dauernd auf und ab ginge.

Trotzdem kroch Oertel allein auf allen Vieren noch ein Stück weiter, indem er als Waffe für alle Fälle nur das Handbeil mitnahm.

Dann erspähte er auch die Wache. Der Mann patrouillierte, ein Gewehr im Arm, vor den Häusern langsam auf und ab. Er nahm seinen Dienst nur recht lässig wahr, und so glückte es Oertel denn auch, ungesehen bis an die Tür des hintersten Schuppens zu gelangen, der schon halb im Walde stand.

Die Tür war nicht verschlossen. Das hatte Oertel nur feststellen wollen. Nun kehrte er durch den Wald zu Nero zurück und überredete ihn, sie sollten versuchen, sofort eine der Kisten zu stehlen und nach dem Floß zu schaffen.

Der Neger wollte sich zuerst an dem Wagnis nicht beteiligen, gab dann aber schließlich doch nach und folgte seinem weißen Gefährten, der keck in den Schuppen eindrang, wo er Nero zunächst als Wache an der Tür zurückließ.

Nur durch Tasten vermochte er den Inhalt dieses langgestreckten Lagerraumes zu ermitteln. Es gab hier fraglos an die hunderte Kisten aller Größen, so daß das Fehlen einer einzigen kaum sofort bemerkt werden konnte.

Oertel wählte dann eine nicht zu schwere aus, die dicht am Eingang stand und die ihrer Länge nach Karabiner enthalten konnte.

Das Wagnis gelang. Als eine kleine Wolke für Minuten den Mond verdeckte, schleppten die beiden die Kiste in den Wald und dann in längeren Ruhepausen soweit von der Ansiedlung weg, daß man den Deckel, ohne das Klopfen und Hämmern als gefährliches Geräusch fürchten zu müssen, öffnen konnte.

Inzwischen hatte sich Oertel nämlich überlegt, daß dieses Vorgehen richtiger war, als die Kiste mit nach der Insel zu nehmen.

Der Inhalt des geraubten Gutes bestand tatsächlich aus fünfzehn Karabinern und dreißig Patronenpaketen zu je zwanzig Stück.

Oertel frohlockte. – Eine halbe Stunde später stand die Kiste wieder in dem Schuppen, allerdings um vier Karabiner und zweihundert Patronen erleichtert. – –

Als die beiden Kundschafter dann bei Morgengrauen die Insel wieder erreicht hatten, wurden sie von den ängstlich ihrer harrenden Gefährten jubelnd begrüßt. Schnell wurde das Floß wieder auseinandergenommen, und dann ging’s nach der Blockhütte, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Karabiner und Patronen wanderten in das unterirdische Versteck.

In der nächsten Nacht wiederholte sich dasselbe Spiel. Jetzt hatte Oertel es auf Revolver abgesehen. Die erste Kiste, die untersucht wurde, enthielt jedoch Kavalleriesäbel, die zweite Geschützverschlüsse, und erst die dritte die ersehnten Revolver und auch dazugehörige Patronen.

Nun hatten die vier Gefangenen alles, was sie brauchten, um nötigenfalls mit Waffengewalt ihre Freiheit zu erkämpfen.

Am Tage nach dieser zweiten Kundschafterfahrt traf abermals ein Boot gegen Mittag auf der Insel ein. Die Deutschen fürchteten schon, daß die zwangsweise Entleihung der Waffen entdeckt worden sei. Aber es handelte sich um eine der üblichen Revisionen der Gefangenen. Das Boot fuhr wieder ab, ohne daß die Maskierten sich lange aufgehalten hatten.

Oertel lachte hinter ihnen drein.

„Ihr werdet schöne Augen machen, wenn wir Euch eins Eurer größeren Boote entführen!“ meinte er.

Nero hatte die Gefährten nämlich darauf hingewiesen, daß es wohl am leichtesten sein würde, sich eines großen, gedeckten Segelbootes zu bemächtigen, das seinen Liegeplatz etwas abseits von den übrigen Fahrzeugen habe, weil es seltener benutzt würde. Auf dieses kutterähnliche Fahrzeug hatte es Oertel denn auch abgesehen. Sein Plan ging dahin, mit diesem Boot die nächste marokkanische Hafenstadt, – als solche hatte Nero öfters den Ort Mogador erwähnen hören, zu erreichen. Zunächst aber wollte er sich den Kutter erst einmal ansehen, denn auf gut Glück durfte man sich einem unbekannten Boote nicht anvertrauen. Auf dieser Floßfahrt sollte Lüder ihn begleiten, da der Chemiker von Seefahrzeugen weit mehr verstand als er.

Diese nächtliche Rekognoszierung bis in die Lagune hinein mußte jedoch an einem Tage stattfinden, wenn der Himmel bedeckt war, da sonst die Gefahr, von der Wache der Niederlassung entdeckt zu werden, allzu groß schien.

Eine hierzu günstige Gelegenheit bot sich jedoch erst vier Tage nach der Beschaffung der Revolver. Die Fahrt verlief denn auch in der tiefen Dunkelheit eines bewölkten Nachthimmels ohne Schwierigkeiten oder unangenehme Zwischenfälle. Den Kutter nur nach der Beschreibung Neros zu finden, war nicht ganz leicht. Das Fahrzeug, wahrscheinlich ein früheres Fischerboot, war ziemlich plump, maß neun Meter und war mit einer Kajüte versehen, in der sich der notwendige Proviant für drei bis vier Mann für eine Woche sowie ein großes Trinkwasserfaß befanden[3]. Der Kutter war also jeder Zeit zu sofortiger Abfahrt bereit und hatte wahrscheinlich die Bestimmung, den Bewohnern der Niederlassung eine Flucht bei plötzlicher Gefahr zu ermöglichen, falls eben die beiden kleinen Dampfer oder die Motorjacht gerade nicht anwesend waren.

 

5. Kapitel.

Die Lösung des Rätsels.

Da das Wetter auch für die nächste Nacht eine ebenso tiefe Dunkelheit voraussehen ließ, beschlossen die Gefährten, die Flucht zu wagen, falls nicht noch bis zum Abend besonders ungünstige Umstände eintreten sollten.

Nichts geschah jedoch, und gegen zehn Uhr wurde dann das Floß zur Abfahrt fertig gemacht.

Der Abschied von der Blockhütte, die jetzt recht behaglich eingerichtet war, fiel den drei Deutschen doch nicht ganz leicht. Sie hatten die Insel inzwischen fast wie eine zweite Heimat lieben gelernt, und das Bewußtsein, einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen – denn ob die Flucht glücken würde, blieb ja noch fraglich – vergrößerte nur noch diesen halben Trennungsschmerz.

Dann wurde das Floß bestiegen und von den vier Rudern langsam nach dem Kanal getrieben, der den See und die Lagune verband.

Auch in dieser Nacht fehlte es nicht an Krokodilen, die den Menschen auf dem plumpen Fahrzeug durchaus zu Leibe gehen wollten. Neros Speer fand reichlich Arbeit, und mehrere der Bestien mußten ihre Angriffslust mit dem Augenlicht bezahlen.

Gegen Mitternacht näherte man sich dem Kutter. Schon vor ein paar Minuten hatte Nero mit seinen schärferen Sinnen das dumpfe Grollen eines Gewitters zu hören geglaubt. Und er hatte sich nicht getäuscht. Abermals ein fernes Rollen wie der Schall von unzähligen Geschützen. Gleichzeitig flammte auch der ganze westliche Horizont in blendendem Lichte auf.

Fritz Oertel murmelte etwas vor sich hin. Es war wohl eine Verwünschung, die dem Wettergott galt, der ausgerechnet jetzt ein Gewitter schickte. Und was dies in den Tropen bedeutet, kann nur ermessen, wer ein solches Naturereignis in den sonndurchhitzten Ebenen Marokkos miterlebt hat.

Eiliger ruderten die Gefährten. Bevor die nächste elektrische Entladung kam, war das Floß bereits in Deckung hinter dem mitten in der Lagune verankerten Kutter.

Dann wieder das Aufzucken des blendenden Lichtes, dem ein dröhnender Donnerschlag vorausgegangen war.

Die Messer fuhren durch die zähen Ranken, die die Baumstämme zusammengehalten hatten. Das Floß löste sich in seine Bestandteile auf. Ein Balken wurde hierhin, der andere dorthin mit dem Fuß fortgestoßen.

Nun gab es kein Zurück mehr. Die Flüchtlinge befanden sich auf dem Kutter, und … Gott mußte weiterhelfen.

Abermals ein ganzes Bündel Blitze und für einen Moment Tageshelle. Deutlich waren am Ufer die Baulichkeiten, daneben auf einem hohen Hügel die Funkenstation, weiter im Hintergrunde der Lagune auch einer der Dampfer zu erkennen. Sogar den Posten bemerkte man, der dicht an der Anlegebrücke stand, keine dreihundert Meter entfernt.

Das geisterhafte Bild verschwand wieder. Doppelt tief erschien die Dunkelheit. In wilder Hast wurden die beiden kleinen Anker gehoben.

Jetzt gerade rauschte und knisterte es in den höchsten Palmen. Der Sturm nahte. Ein Heulen ging durch die Luft, ein Getöse, ein Gemisch von allerlei Lauten. Und Lüder dachte: Kein Wunder, daß das Volk daheim das Märchen vom wilden Jäger erfunden hat …!

Ein Segel durfte man nicht entfalten, auch keine Ruder benutzen. Das wäre vom Ufer zu sehen gewesen, wenn eine elektrische Entladung erfolgte. Dabei drückte der Wind den Kutter jetzt langsam auf die Gebäude zu.

Nero und Oertel warfen die Kleider ab, plumpsten ins Wasser, jeder mit einem Tau über der Brust, und spannten sich vor das schwere Boot, um es schwimmend mitfortzuziehen – dem offenen Meere zu.

Es war eine furchtbare Arbeit, zumal nun noch ein Wolkenbruch herniederprasselte, als ob Eimer ausgeschüttet wurden.

Lüder wartete den nächsten Blitz ab. Ja – der Regenvorhang hatte doch sein gutes! Er entzog den Kutter jedem mißtrauischen Blick.

Mit Max Jensens Hilfe setzte er ein Vordersegel. Das genügte. Oertel und der Neger kletterten wieder an Bord. Das Boot kam in Fahrt, gehorchte willig dem Steuer. Das Großsegel wurde gehißt. Der Kutter legte sich weit über, schoß vorwärts – ins Ungewisse hinein. Nero hatte darauf aufmerksam gemacht, daß die Lagune sehr bald eine scharfe Biegung hätte. Da hieß es acht geben, daß man nicht auf Grund geriet.

Gerade zur rechten Zeit eine Flut von Blitzen, ein Nachlassen des Regens und – ein scharfes Herumwerfen des Steuers. Sonst wäre der Kutter auf den Strand gelaufen.

Nun war die größte Gefahr vorüber. – So schien es.

Das Gewitter stand über der Lagune. Blitze fuhren in die Palmen, trockene Zypressen lohten wie Riesenfackeln auf. Mit einem Schlage war der Regen vorüber. Das Getöse des Widerhalls der elektrischen Entladungen war ohrenbetäubend, mußte auch die stärksten Nerven bis zum Reißen spannen.

Dann … dann … – Oertel stieß einen halb unterdrückten Schrei aus – – in der Ferne durch das gerade herrschende Dunkel die Positionslaternen eines Schiffes, das dem Kutter entgegenkam.

Die Segel flogen herab. Durch die Angst zur höchsten Kraftentfaltung getriebene Arme zerrten daran. Das Boot schoß auf das Ufer zu. Wenn nicht anders, muß man die Flucht zu Lande fortsetzen.

Minuten fiebernder Spannung folgen. Blitze zerrissen das Dunkel, zeigten die Motorjacht, die knatternd der Ansiedlung zustrebte.

Der Kutter wurde nicht bemerkt. Die Jacht verschwand um die Biegung.

Wieder die Segel gesetzt, wieder vorwärts. Der Sturm ließ nach, das Gewitter verschwand … Vom Meere her immer deutlicher Brandungsgeräusch. Man merkte schon den Salzhauch der See. Dann die ersten Dünungswellen, die das Meer in die Lagune trieb. Die Einfahrt war kaum hundert Meter breit. Und da vorn an den Außenriffen lag es wie ein weißer, gespenstisch leuchtender Streifen, dort tobte, brüllte gurgelte es, ein infernalisches Konzert wie von hungrigen Raubtieren: die Brandung!

Zwischen Brandung und Strand ein ziemlich ruhiger Wasserstreifen, – eine Besonderheit der Nordwestküste Afrikas, wo meilenweit starke Außenriffe vorgelagert sind, die hinter sich stilles Wasser schaffen.

Lüder, der das Steuer führte, lenkte den Kutter nach Norden in diese Fahrrinne ein. Es war ein Wagnis. Überall konnten verborgene Felsen lauern. Aber – es mußte sein. Hier war man am sichersten.

Gewiß – fraglos gab es ja eine Passage durch die Brandung hindurch, einen geheimen Weg, den aber nur der Eingeweihte finden konnte. Diesen Weg jetzt zu suchen war unmöglich. – –

Eine halbe Stunde verging. Nur am östlichen Horizont glitt zuweilen noch ein heller Schein entlang, – die letzten Zeichen des Gewitters. Aber der Himmel hing trotzdem noch voller schwarzer Wolken. Nur der weiße Brandungsstreifen gab einen unsicheren Wegweiser ab.

Der Kutter machte gute Fahrt. Trotz seiner plumpen Formen war er ein Segler, besser wie manche scharfgebaute Jacht. Prall gefüllt waren die Segel, die Taue straff gespannt, daß der Wind wie auf den Saiten einer Harfe spielte.

Nero hockte in der Vertiefung am Steuer auf der Bank, ein Bild des Unglücks. Er war seekrank; wimmerte, stöhnte, klagte immer wieder, daß er sterben müsse. Unaufhörlich opferte er dem Meeresgott …

Dann hinter dem Kutter ein weißer Lichtstrahl, – wie eine gleißende Hand, die in das Dunkel hineintastet …

Max Jensen sah’s zuerst.

„Die Motorjacht – ein Scheinwerfer“, rief er. Und Lüders und Oertels Köpfe flogen herum …

Oertel stierte wie gebannt nach Süden. Der Scheinwerfer war verschwunden.

„Noch haben sie uns nicht gefunden. Aber, ich fürchte, sie halten gleichen Kurs mit uns zwischen Brandung und Strand.“

Eine Viertelstunde später … – Die Jacht war bedeutend aufgerückt, vielleicht noch achthundert Meter entfernt.

„Holt die Karabiner“, sagte Oertel ruhig. „Los, Nero, nimm Dich zusammen! Es gilt das Leben!“

Noch dreihundert Meter. – Oertel saß auf der Steuerbank, hatte den Karabiner auf den erhöhten Rand des Decks aufgelegt, zielte … Ein Feuerstrahl brach aus der Mündung hervor. – „Den nächsten!“ rief er kurz, – zielte, schoß, – zielte, schoß …

Zweihundert Meter noch. Die blendende Lichtfülle des Scheinwerfers lag auf dem flüchtenden Kutter. Ein Singen in der Luft über den Köpfen der Kutterleute.

„Sie schießen auch“, knurrte Oertel. „Wollen doch sehen, ob ich umsonst die Schützenschnur bekommen habe.“

Schuß auf Schuß … Dann Max Jensen …: „Die Jacht bleibt zurück!“

„Aha!“ lachte Oertel ingrimmig – und feuert weiter, bis von der Jacht nicht einmal mehr die Positionslichter zu erkennen waren. – –

Der Morgen graute. Der Wind frischte noch mehr auf. Allmählich traten die Konturen des Landes deutlicher hervor. Eine weite Bucht öffnete sich: der Hafen von Mogador, ein armseliges Nest, verwahrlost, trübselig.

Lüder ließ Anker werfen. Vom Lande her näherte sich ein langes Ruderboot – und von See her – – die Motorjacht.

„Wahrhaftig, sie ist’s!“ meinte Lüder. „Aber sie schleicht wie eine lahmgeschossene Ente. Vielleicht haben die Kugeln dem Motor ein wenig geschadet.“

Und Oertel fügte kalt hinzu: „Haltet die Karabiner bereit. Die Maskierten werden zwar nicht wagen, uns hier anzugreifen, aber – sicher ist sicher!“

Die Jacht kam ein paar Minuten früher als das Ruderboot bei dem Kutter an, legte sich längsseit. An Deck standen die beiden Herren – ohne Masken, stolze vornehme Gesichter, dunkle Bärte, Augen, die in verbissener Wut glühten.

„Morgen, meine Herren!“ sagte Oertel freundlich. „Sie sind zu spät aufgestanden!“

Der eine der Herren sprang gewandt an Deck des Kutters.

„Schweigen Sie über Ihre Erlebnisse, und Sie erhalten jeder zehntausend Mark“, raunte er Oertel zu. „Dort das Ruderboot ist die Hafenpolizei! Ich beschwöre Sie – schweigen Sie! Wir sind keine Schmuggler, keine Verbrecher – mein Ehrenwort, das eines Edelmannes! Wir dienen einer großen Sache!“

Das Boot war heran. Im Stern stand ein gelbgesichtiger langer Bursche in einer Art Uniform.

„Ihre Schiffspapiere!“ brüllte er Lüder an, der ihn gelassen musterte.

„Wir kommen nachher an Land“, sagte Lüder, faßte in die Tasche und reichte dem schmutzigen Burschen seinen Revolver. „Ich schenke ihn Ihnen zum Andenken!“ Und der Herr von der Jacht drückte dem Kerl gleichfalls etwas in die Hand. Es funkelte wie Gold. „Verteilen Sie’s unter Ihre Leute!“ – Das Boot verschwand.

Der Fremde atmete sichtlich erleichtert auf. „Ich danke Ihnen im Namen meines Vaterlandes“, sagte er feierlich zu Lüder. „Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß …“

Oertel unterbrach ihn. „Ja, wir geben es. Ich weiß jetzt Bescheid. Wir werden Sie nicht verraten.“ Er trat ganz dicht an den Herrn heran und flüsterte ihm ein einzelnes Wort zu. –

Der Fremde blieb noch eine Weile auf dem Kutter. Dann verabschiedete er sich, reichte jedem der vier Flüchtlinge die Hand, selbst Nero, dem Neger.

Das Beiboot der Jacht brachte die Gefährten nach der Stadt, stieß sofort wieder ab. Und Jacht und Kutter verließen alsbald den Hafen. – –

Am nächsten Morgen fuhren die vier mit dem Tourdampfer erst nach Rabat und Tanger, dann weiter nach Spanien.

Unterwegs gab Oertel dem Chemiker Aufschluß über das Geheimnis des „Wingolf“, so, wie der Fremde es ihm anvertraut hatte. Das eine Wort, das zwischen beiden die Verständigung herbeiführte, hieß: Karlisten! –

Unter der Regierung Ferdinands 7. von Spanien war das Land durch unglückliche Kriege und Mißwirtschaft an den Rand des Verderbens gebracht worden. Da bildete sich 1824 eine neue Partei im Lande, die den Bruder des Königs, Don Karlos, auf den Thron bringen wollte. Diese Karlisten arbeiten noch heute eifrigst daran, den Nachkommen dieses Don Karlos die Krone zu erkämpfen. Zahlreiche Aufstände sind seit 1824 ausgebrochen, niemals jedoch war den Karlisten ein Erfolg beschieden. In den letzten Jahren hatten sie sich nun in jener Lagune einen versteckten Waffenstapelplatz angelegt. Der „Wingolf“ war nach dorthin unterwegs gewesen, als ein spanisches Kanonenboot ihn anhielt. Der Dampfer flüchtete. Die Verfolgung zog sich tagelang bin. Dann versagte die Maschine des „Wingolf“ nördlich von Schottland in einer dichten Nebelbank, unter deren Schutz die Besatzung das Schiff verließ und die Küste Schottlands erreichte. Der „Wingolf“ trieb verlassen weiter. Die inzwischen benachrichtigte Motorjacht suchte ihn, indem sie dem Zuge des Golfstromes folgte. Und aus Furcht, daß von den Deutschen die wahre Ladung des Dampfers verraten werden könnte, wurden die drei Gefährten zu Gefangenen gemacht.

„So – das ist die Geschichte, lieber Lüder“, meinte Oertel. „Nun – wir haben jedenfalls recht interessante Wochen hinter uns. Und eine Erklärung, wo wir so lange gewesen sind, habe ich auch schon bereit. Ich werde sie Ihnen und Max und Nero nachher ordentlich einbleuen!“ –

Unsere Erzählung ist damit zu Ende. Vielleicht wäre noch zu bemerken, daß Lüder den wackeren Nero in seine Dienste nahm, daß Oertels Schuldlosigkeit an dem Tode des Wucherers einwandfrei festgestellt wurde und daß Max Jensen daheim wie ein Held gefeiert wurde, obwohl er doch nur die Hälfte von dem erzählen durfte, was er wirklich erlebt hatte.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Krokodiliusel“.
  2. In der Vorlage steht: „Moschuß“.
  3. In der Vorlage steht: „vorhanden“.