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Die unterirdische Stadt

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die unterirdische Stadt.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Das alte Häuschen.

Meine lieben, jungen Freunde! Es ist eine gar seltsame Geschichte, die ich Euch erzählen will. Ich bin jetzt ein weißhaariger Greis, aber die Erinnerung an das, was ich einst in den Tiefen der Erde erlebte, steht noch so deutlich vor mir in bunten, abenteuerlichen Bildern, als wäre alles erst gestern geschehen.

Wie eine winzige Kleinigkeit einem Menschenleben eine ganz andere Richtung zu geben vermag, als man je hätte vorausahnen können, das zeigt am besten mein Daseinsweg, der glatt und gerade so recht behaglich bis zu meinem siebzehnten Lebensjahre dahinlief. Dann aber kam die scharfe Biegung: die Straße führte plötzlich seitwärts hinein in eine dunkle Wildnis, in Nebel, Finsternis und über steinigen Boden.

Ein Knabe balanciert auf dem Geländer einer Brücke mit seitwärts gestreckten Armen. Er hat dies kleine Wagnis schon so und so oft sich geleistet. Sehr gefährlich ist es nicht. Die Brücke liegt nahe über dem Wasserspiegel des Flüßchens. Es kann schlimmsten Falles einen nassen Anzug und dafür tüchtige Schelte kosten. Da – heute soll’s anders kommen … Ein Vorübergehender stößt halb im Scherz den Knaben mit einem Finger nur in die Seite, und … schon purzelt der kleine Wagehals kopfüber hinab in das Wasser, dorthin, wo gerade der Fischer ein Netz ausgespannt hat, in das jener sich nun unter Wasser verwickelt und aus dem er sich erst nach langen Bemühungen und nach viel durchkosteter Todesangst befreien kann … –

Ihr werdet sofort sehen: es handelt sich hier um einen Vergleich.

Ich bin in einer Seestadt als einziges Kind wohlhabender Eltern aufgewachsen. Die Stadt hatte besonders um den Hafen herum zahlreiche enge Gassen und Gäßchen mit wunderlichen, uralten Häusern und Speichern. Da gab es allerlei Schlupfwinkel, allerlei geheimnisvolle Verbindungswege von Gasse zu Gasse; da wohnte das lichtscheue Gesindel, aber auch ehrbare Handwerker, Arbeiter und Kaufleute. Schon von meinem zwölften Lebensjahre an kannte ich kein schöneres Vergnügen als durch diesen Stadtteil zu schlendern, mir die Fassaden der Häuser anzusehen und in dunkle Höfe hineinzulugen, durch winklige Gänge zu schlüpfen und ein wenig auf Entdeckungsreisen auszugehen. – Als meine Eltern dies merkten, warnten sie mich. Das Hafenviertel sei kein Tummelplatz für Kinder.

Ich war sonst ein gehorsames Kind. Nur in diesem einen Punkt blieb ich unfolgsam. Es war, als ob das alte Stadtviertel mich mit tausend Armen immer wieder zu sich hinzog. Vielleicht lag dies daran, daß ich von Jugend an, daheim verhätschelt, verwöhnt und wildem Spielen stets abgeneigt, zur Träumerei neigte. Am liebsten las ich recht geheimnisvolle Geschichten. Und ich las sehr viel. Es schadete mir nichts. Im Gegenteil, ich lernte dadurch spielend so manches, erwarb mir Kenntnisse, die meine Lehrer oft überraschten. – Und dieser Hang zur Träumerei mag schuld daran gewesen sein, daß ich gegen den Willen meiner Eltern immer wieder die engen, poesieumwobenen Gäßchen durchquerte, in denen ich bald besser Bescheid wußte als einer, der dort bereits Jahrzehnte wohnte. –

Meine jungen Freunde: das Hafenviertel war für mich die Brücke des Gleichnisses … – –

Jahre gingen hin. Ich blieb dem alten Stadtviertel treu. – Am Tage vor meinem siebzehnten Geburtstag mußte ich gegen Abend noch zu Bekannten meiner Eltern gehen und eine Bestellung ausrichten. Es war am 28. Oktober 18… und ein recht dunkler, unfreundlicher Abend. Ein heftiger Sturm pfiff um die Hausgiebel herum, ließ welke Blätter, Papierfetzen und anderes einen tollen Wirbeltanz auf den Straßen vollführen. Ich konnte mir den Weg abkürzen, wenn ich einen Teil des Hafenviertels passierte. Und wie gern tat ich’s! Bei Dunkelheit war ich ja noch nie dort gewesen …

Ich bog in das erste der winkligen Gäßchen ein.

Die Glühstrümpfe der wenigen, an den Hauswänden angebrachten Laternen waren hier zumeist löcherig und zerzaust, gaben wenig Licht und ließen die Schatten in den tiefen Torbögen noch dunkler erscheinen.

Ich begegnete nur wenig Leuten. Eilfertig huschten sie an mir vorüber. Aus einer Kellerkneipe drang der Ton eines Grammophons und Gekreisch zu mir herauf. Irgendwo heulte ein Hund mit dem Sturm, der mit allen Orgeltönen auf den krummen Dächern, den Dachrinnen und den Schornsteinen spielte, um die Wette.

Ich ging schneller. Mir war doch nicht so ganz behaglich zu Mut. Aber – ich hatte diese Gasse ja schon so oft durchschritten, ohne daß mir etwas zugestoßen wäre.

Da kam mir eine Rotte betrunkener, lärmender Matrosen entgegen. Sie hatten sich untergefaßt und sperrten den ganzen Weg. Sie brüllten ein englisches Seemannslied, etwas widerwärtig Rohes in Wort und Melodie. Es waren Engländer, also Gesellen, denen man am besten auswich, wenn sie einen über den Durst getrunken hatten.

Ich schlüpfte daher in den Torweg eines alten Speichers hinein. Es lief hier ein Pfad zwischen zwei hohen Mauern dahin, der, wie ich wußte, nur an der linken Seite ein einziges Häuschen stehen hatte und auf einen Nebenarm des Hafens mündete.

Hier war es ganz dunkel. Des einen Häuschens wegen wollte man eine Laterne nicht anbringen.

Das Häuschen interessierte mich schon lange. Es war verwittert und baufällig. Aber man sah ihm doch noch an, daß es einst bessere Tage, vielleicht als Wohnung eines reichen Handelsherrn, gesehen hatte. Jetzt waren die Scheiben erblindet, schillerten grünlich, zeigten dicke Staubschichten, und die mit Eisenzierat benagelte Tür schien nie mehr geöffnet zu werden. Nur ein einziges Lebewesen hauste hier anscheinend: eine große, schwarze Katze, die hin und wieder an einem Fenster des ersten Stockes gesessen und sich gesonnt hatte.

Als ich mich diesem Häuschen näherte, glaubte ich vor mir Schritte zu hören und drückte mich daher dicht an die Mauer, um die Personen vorüberzulassen, die mir verdächtig vorkamen, weil sie sich offenbar bemühten, leise zu gehen.

Dann bemerkte ich auch drei dunkle Schatten, die aber seltsamerweise nun plötzlich in dem Häuschen verschwanden, dessen Tür trotz der rostigen Angeln sich ganz lautlos bewegen mußte. Oder – waren die Angeln doch vielleicht gut geölt, sah das Häuschen nur von außen so aus, als wäre es unbewohnt? –

Jedenfalls konnte ich jetzt weitereilen. Ich tat’s. Da, als ich gerade in Höhe der Haustür mich befand, vernahm ich im Innern des alten Gebäudes einen furchtbaren Schrei.

Mein Fuß stockte. Ich fühlte, wie mir ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

Aber ich bin, wenn auch ein Muttersöhnchen, nie feige gewesen. Außerdem war ich auch für meine Jahre sehr kräftig, wenn auch nur mittelgroß, dazu gewandt und … abenteuerlustig. Der Hang zur Träumerei hatte sich bei mir mit den Jahren in eine starke Neigung für alles Außergewöhnliche, Geheimnisvolle verwandet, vielleicht sogar zu einer gewissen Waghalsigkeit entwickelt.

So hatte ich den ersten Schreck denn auch sehr schnell überwunden. Ich stand und lauschte während meine Augen über die erblindeten Fenster hinschweiften. Nicht eines war erleuchtet … Still, dunkel und unheimlich lag das Häuschen da.

Jetzt gerade trat der Mond zwischen zwei Wolken hervor. Nur einen Moment … Aber – ich hatte doch an einem der oberen Fenster und zwar dem, wo die Katze sich ein paarmal[1] gesonnt hatte, ein Gesicht bemerkt, ein Gesicht mit langem, dunklem Bart und leuchtenden Augen, die auf mich herabzustieren schienen.

Der Mond verschwand, kehrte aber sehr bald wieder.

Das Gesicht war nicht mehr da …

Oder – hatte ich mich geirrt?! War das Fenster doch stets so leer gewesen wie jetzt wieder …?!

Ich ging leise auf die Haustür zu. Drei Stufen führten hinauf. Ich drückte auf den schweren, eisernen, geschweiften Türdrücker.

Spielend leicht und ganz geräuschlos bewegte er sich abwärts. Das Schloß mußte gut geölt sein. Und ebenso leicht öffnete sich die Tür nach innen.

Doch im Flur herrschte tiefste Dunkelheit. Kein Laut war zu hören. Nur der Sturm pfiff oben um den Giebel, und eine lose Dachpfanne klapperte hin und wieder, als hämmere jemand mit einem Hammer darauf.

Zu gern wäre ich in das Haus eingedrungen. Aber das wagte ich doch nicht.

Während ich noch unschlüssig in der offenen Haustür stand, war es mir, als hörte ich vor mir das leise Knarren von Dielen.

Ob jemand auf mich zuschlich? – Plötzlich kroch mir doch die Angst zum Herzen. Ich tat einen Sprung nach rückwärts, nur um schnell wieder aus der Nähe des Hauses fortzukommen.

Nein – ich tat den Sprung nicht. Ich wollte ihn tun …

Ich fühlte, wie mir etwas auf die Schultern glitt, fühlte eine Schlinge um meinen Hals, – ein gewaltiger Ruck nach vorwärts – – und ich flog in die Haustür hinein … – –

Fürchterliche Schmerzen am Halse weckten mich aus der Bewußtlosigkeit auf. Wie lange diese gedauert haben konnte, ahnte ich nicht.

Langsam wurde ich mir über meine Lage klar. – Ich war gefesselt und hatte einen Knebel im Munde. Um mich herum tiefste Finsternis. Als ich mich in eine andere Lage brachte, stieß ich überall gegen ein Hindernis, gegen Bretter. Ich lag in einem Kasten …

Dann merkte ich, daß dieser Kasten durch unregelmäßige Stöße hin und her geschüttelt wurde, auch nach vorn und hinten dann und wann auf und ab wiegte.

Ich war immer schon ein grüblerischer Kopf gewesen. Stets hatte ich mich bemüht, durch scharfes Nachdenken mir rätselhafte oder unbekannte Erscheinungen zu ergründen. Ich hatte sozusagen jedem fallenden Wassertropfen nachgespürt, und gerade durch diese stete Achtsamkeit auf das, was sich um mich herum ereignete, war ich schließlich so weit gelangt, richtige Schlüsse von Wirkung auf Ursache zu ziehen, – zu kombinieren, wie man mit einem Fremdwort sagt.

So auch jetzt. – Ich stellte auf diese Weise fest, daß ich in einem länglichen, viereckigen Kasten aus unbehobelten Brettern lag, der auf einem zweirädrigen Karren vorwärtsgeschoben wurde und zwar zuerst über recht holpriges Pflaster, dann über einen Bohlenbelag.

Je mehr sich meine Erinnerung klärte, desto besorgter wurde ich aber auch um meine Sicherheit, ja um mein Leben. Bald zweifelte ich nicht länger daran, daß an alledem, was ich jetzt durchzumachen hatte, einzig und allein das alte Häuschen und meine Abenteuerlust schuld waren. Ich hatte Kenntnis von irgendeinem Verbrechen erhalten, wenn auch nur höchst ungenau, und sollte nun stumm gemacht werden. Vielleicht ließ man mich am Leben, – gewiß! Aber – es waren ja noch andere Möglichkeiten vorhanden, einem Menschen den Mund für immer für die Außenwelt zu verschließen …! Man brauchte ihn nur gefangen zu halten, irgendwohin zu entführen, – dann war er so gut wie tot!

Während diese Gedanken blitzartig durch mein Hirn schossen, während mir kalter Schweiß auf die Stirn trat, merkte ich, daß der Kasten angehoben wurde, daß Leute in der Nähe sich flüsternd besprachen, daß ein Tau scharrend um mein enges Gefängnis sich schlang und dieses plötzlich hochschwebte, wobei gleichzeitig das Kreischen einer Dampfwinde zu hören war: ich wurde an Bord eines Schiffes gebracht, – – darüber konnte ich nicht länger im Ungewissen sein …!

 

2. Kapitel.

Unterwegs.

Angst und Schmerzen raubten mir wieder die Besinnung.

Als ich dann abermals zu mir kam, stand ein alter, graubärtiger Seemann über mich gebeugt da, mit einer brennenden Laterne in der einen und einem Napf in der anderen Hand.

Ich lag noch in der Kiste. Aber gefesselt war ich nicht mehr. Um den Hals hatte ich einen feuchten Verband, und auf der Stirn etwas, das angenehm kühlte, – eine mit kaltem Wasser gefüllte Schweinsblase.

Ich war sehr schwach. Als der Alte mir den Napf reichte – es war Milchkaffee darin, vermochte ich nur mit ganz kleinen Schlucken zu trinken. Ich erholte mich aber rasch. Und bald saß ich dann aufrecht in der Kiste und konnte feststellen, daß ich mich im Laderaum eines Dampfers befand, mitten unter einer Menge anderer Frachtstücke, die man so verstaut hatte, daß zwischen ihnen ein schmaler Gang bis zu mir hinlief.

Der alte Graubart sprach mich auf englisch an.

„Wie geht’s Dir, Boy?“

Ich nickte nur, denn die Worte blieben mir in der Kehle stecken.

„Wenn Du gehorsam bist, soll’s Dir an nichts fehlen“, fuhr der Alte fort. „Aber – nimm Dich vor „ihm“ in acht“, fügte er leise hinzu. „Er bringt es fertig, Dich einfach über Bord zu werfen, falls die Sache schief zu gehen droht.“

Ich würgte mühsam hervor: „Welche Sache?“

Mein Graubart schüttelte verwundert den Kopf.

„Bist Du so kurz von Gedanken?! Weißt Du nicht, was vorgefallen ist?! – Nun – die Sache ist’s, die …! Man soll sich nicht um anderer Leute Angelegenheiten kümmern, Boy! Dann brauchtest Du jetzt nicht zu fürchten, daß …“ Er hüstelte krächzend und beendete den Satz nicht, sagte vielmehr kurz: „Da – trink’ aus, und dann versuch’ zu schlafen! Hier liegen ein paar Decken! Aber wag’ Dich nicht aus Deiner Kiste heraus, jedenfalls nicht weiter als dort bis zu dem Haufen Ballastsand. Nach ’ner Stunde bring ich Dir das Mittagessen.“ –

Fünf Tage waren wir nach meiner Berechnung nun schon unterwegs. Inzwischen hatte ich auch „ihn“ kennengelernt. Während ich den Alten, der jetzt stets recht schweigsam und mürrisch war, für einen Nordländer, entweder Schweden oder Norweger hielt, war „er“ zweifellos ein Brite. Schon sein Äußeres verriet dies, mehr aber noch seine schlechte Charakterveranlagung, von der ich später noch recht traurige Beweise erhielt.

Den Namen dieses dürren Engländers, der mit seinem glattrasierten, einem lederüberzogenen Totenkopf ähnlichen Gesicht geradezu abschreckend wirkte, erfuhr ich nur durch einen Zufall und auch erst zu einer Zeit, wo ich allen Grund hatte, ihn als meinen Todfeind zu betrachten.

Eines Abends war’s – der Alte hatte mir gerade mein Abendessen gebracht als der hagere Brite urplötzlich vor uns stand. Er mußte sich lautlos herbeigeschlichen haben, denn wir hatten vorher nicht das geringste Geräusch gehört.

Höhnend fragte er mich, wie es mir als Kistenreisender gefalle.

„Sehr gut“, erwiderte ich keck. „Es ist mal etwas anderes.“

Wie es in Wahrheit in meinem Innern aussah, wie ich mich nach den Meinen sehnte und wie bitter ich meine Abenteuerlust mit nächtlichen, heimlichen Tränen bereute, sollte er niemals merken.

Ob meiner Antwort schaute er mich mit einem so bitterbösen und dabei so kalten, grausamen Blick an, daß es mir eisig über den Rücken lief.

Dann ging er wieder davon. Und der Alte war seitdem auffallend verschlossen und ernst. Mir schien es, als ob der Engländer Befehl gegeben hatte, mich strenger zu behandeln.

Aus Langeweile unternahm ich trotz der Dunkelheit um mich her, die Tag und Nacht dieselbe war, kleine Streifzüge durch den Laderaum. Zum Glück gab es hier nur wenig Ratten. Ich vermutete daher, daß der Dampfer aus Eisen gebaut sei. Und ein Beklopfen der Bordwände bestätigte diese Annahme auch. Eiserne Schiffe haben unter der Rattenplage weniger zu leiden als hölzerne.

Am sechsten Tage (nach meiner Berechnung) mußten wir uns in einem Hafen befinden. Ich hörte die Schiffsmaschinen nicht mehr arbeiten, dafür aber das Schrillen vieler Dampfpfeifen. Der Dampfer lag auch bald völlig still. Dann kam der Alte, legte den Deckel auf meine Kiste, sperrte mich also ein und häufte Säcke und anderes darüber. Vorher warnte er mich, ich solle mich ja mäuschenstill verhalten.

Kein Wunder, daß ich allerlei Fluchtpläne erwog. Meine Kiste war nicht zugenagelt, und ein Versuch zeigte, daß ich den Deckel bei einiger Kraftanstrengung ganz gut lüften konnte. Ich will aber gleich bemerken: ich konnte meine Absicht nicht ausführen. Nur etwas gelang mir, während eine Menge Matrosen, darunter auch viele Farbige, bei Laternenlicht den Laderaum mit neuen Frachtstücken füllten: ich stahl eine kleine Laterne und ein paar Schwefelhölzchen, die einer der Leute wohl aus der Tasche verloren haben mochte.

In der folgenden Nacht, als der Dampfer längst wieder auf hoher See war, unternahm ich nun zum erstenmal bei Laternenschein eine Entdeckungsreise durch den Laderaum. So fand ich auch nach der Mitte des Schiffes zu einen verschlossenen Verschlag, in den ich, wieder meiner Neigung zu besonderen Abenteuern folgend, dadurch eindrang, daß ich mit einer Eisenstange, die zum Anheben der Kisten diente, die Schloßkrampe herauszog. Nachher befestigte ich sie wieder so, daß man nur bei genauem Hinsehen merken konnte, was sich hier an dem Türverschluß geändert hatte.

Zu meiner Überraschung wurde in dem Verschlage lediglich allerlei wertloses Gerümpel aufbewahrt. Immerhin brachte ich davon aber doch so manches beiseite, was mir später noch sehr nützlich werden sollte: ein Küchenmesser mit Holzgriff und einer zur Hälfte abgebrochenen Klinge; einen abgebrochenen Bohrer, vier lange eiserne Nägel, ein kleines, schartiges Handbeil und einen rostigen Hammer.

Die Sachen verbarg ich unter dem Stroh meiner Lagerstatt in der Kiste. Klopfenden Herzens wartete ich jetzt stets auf die Besuche des alten Graubarts. Ich fürchtete, daß er einmal zufällig hinter mein Geheimnis kommen könnte. Aber es geschah nichts.

Am zehnten Tage gab es einen sehr heftigen Sturm. Der Dampfer wurde von den Wogen schwer herumgeworfen, und im Laderaum kam ein Teil der nicht sorgfältig genug verstauten Kisten ins Rutschen und drohte mein Gefängnis mehr als einmal einzudrücken. Alles ging jedoch glücklich vorüber – wenigstens für mich.

Schlecht war mein alter Wächter dagegen weggekommen. Als er mir abends, nachdem der Sturm nachgelassen hatte, das Essen brachte, trug er den linken Arm in der Binde, und ich sah, daß der Unterarm geschient war.

Er brummte etwas von „auf Deck ausgeglitten“, antwortete aber auf meine teilnehmenden Fragen nicht weiter, sondern ließ mich sofort wieder allein. Er war offenbar nicht nur schlechter Laune, sondern auch in recht gedrückter Stimmung.

Zu meinem Erstaunen kehrte er dann nach einer Stunde wieder zurück, stellte seine Laterne nebenbei auf einen Ballen und setzte sich daneben. Sein Gesicht war düster wie der Himmel vor einem Gewitter. Hin und wieder lief auch ein schmerzliches Zucken darüber hin. Er hatte offenbar unter dem Armbruch bei seinen Jahren sehr zu leiden.

Eine ganze Weile schwieg er. Dann sagte er, und zu meiner Freude in deutscher Sprache, wenn auch recht fehlerhaft:

„Um Mitternacht sind wir am Ziel, Junge! Dann wird sich’s entscheiden, ob ich mit meinem Verdacht recht habe.“

„Mit welchem Verdacht?“ fragte ich neugierig.

„Daß auch der alte Holger Swendsen verschwinden soll – eben weil er Mitwisser ist.“

„Verschwinden?! – Was heißt das?!“

„Wirst’s schon merken, mein Junge, – leider, leider! Nämlich – der Holger Swendsen bin ich selbst. Und ich weiß „ihm“ eben zu viel von seinen dunklen Geschäften, viel zu viel! Jetzt habe ich mir noch den Arm gebrochen und bin eigentlich nur noch Krüppel – als solcher überflüssig, nur im Wege …“

Plötzlich hob er warnend die gesunde Hand.

„Still – die Treppe knarrt …! Ich habe Ohren wie ein Luchs. Noch das beste an mir …“ Er löschte die Laterne aus und huschte davon. Er verkroch sich fraglos zwischen ein paar Frachtstücken.

Es war der lange, dürre Engländer, der dann zu mir kam und mir kaltblütig mitteilte, er würde mir noch in dieser Nacht einen anderen Aufenthaltsort anweisen.

Höhnisch und grausam klangen seine Worte.

Ich mußte es mir darauf gefallen lassen, daß er meine Kiste zunagelte. Dann hörte ich ihn wieder fortgehen, nachdem er mir noch zugerufen hatte: „Gibst Du nur einen einzigen Laut von Dir, so werfe ich Dich in die See – vielleicht aus Versehen …!“ Ich wußte, daß er keinen Scherz kannte, daß er seine Drohung wahr machen würde.

Sehr bald klopfte nun auch wieder Swendsen an meinen Holzkäfig und flüsterte halblaut: „Leb wohl, Junge, – sollten wir uns nicht mehr wiedersehen, dann – alles Gute, und behalte mich in gutem Andenken! Ich hätte gern mehr für Dich getan! Aber ich durfte nicht.“

Wir sollten uns wirklich wiedersehen, und zwar unter recht merkwürdigen Umständen. – –

Eine Stunde später wieder stoppten die Maschinen, und gleich darauf wurde neben anderen Frachtstücken auch meine Kiste hochgewunden und hart auf Deck niedergesetzt, um nach einer Weile unter lautem Kreischen der Dampfwinde in ein schaukelndes Boot verladen zu werden.

Die Ruderfahrt dauerte etwa eine Viertelstunde. Nun trugen mehrere Leute, die sich hin und wieder auf englisch etwas zuriefen, die Kiste einen recht steilen Bergpfad aufwärts, ruhten sich häufig aus, schimpften über die Länge des Weges, wurden aber von dem Engländer, dessen Stimme unverkennbar war, scharf zurechtgewiesen. Dann vernahm ich auch Holger Swendsens tiefen Baß.

„Wozu muß ich eigentlich diese Kletterei mitmachen?!“ knurrte er.

Anscheinend erhielt er keine Antwort.

Gleich darauf wurde die Kiste an einem Tau irgendwohin hinabgelassen. Dann kletterte ein Mann an demselben Tau zu mir hinab, und nach etlichen Minuten hörte ich abermals Swendsens Stimme, jetzt aber ganz hell vor Wut:

„Schuft, elender Schuft!“ rief er auf englisch. „So also belohnst Du langjährige treue Dienste! – Oh – laß mich nur freikommen – dann – dann …!“

Von oben noch ein brüllendes Gelächter, darauf tiefe Stille.

Eine Weile nichts …

„Junge – bist Du wirklich auch hier?“ – Wieder Swendsen! Ich jubelte auf.

„Ja, Alter, wo sind wir denn?!“

„An einem verwünschten Ort – in einem neuen Gefängnis für uns beide, einem Schacht eines uralten Bergwerks.“

Ich suchte schnell nach einem Zündholz, steckte die kleine Laterne an, holte das Beil unter dem Stroh hervor und hämmerte den Deckel los.

Swendsen saß auf dem Felsboden des Schachtes und starrte mich erstaunt an, als ich nun aus meinem Behälter auftauchte.

„Junge, wo hast Du die Sachen her?“ fragte er. Aber ich merkte, er freute sich über das Beil und die Laterne.

Ich klärte ihn kurz auf. Dann sah ich mich in dem Felsloche genauer um. Neben der Kiste lag ein Sack. Er enthielt nichts als steinharten Schiffszwieback. Vielleicht so viel, daß wir beide davon eine Woche leben konnten. Immerhin also etwas …

Ein niedriger Gang lief schräg von der Sohle des Schachtes in die Tiefen der Erde hinein.

„Wir dürfen hier nicht bleiben“, meinte der Alte dann. „Es könnte Bolwer gereuen, uns am Leben gelassen zu haben. Wir müssen uns nach einem Versteck umsehen. Schlage die Kiste auseinander. Jedes Brett kann uns nützlich sein. Ich will tragen helfen, was ich vermag.“

So drangen wir gleich darauf in den Felsengang ein. Es war dies eine künstlich erweiterte Spalte, die bald breiter, bald schmaler, sich beinahe terrassenartig abwärts zog. Bald stießen wir auf zahlreiche Seitengänge, auf Haufen von Steinen, lose Felsbrocken. Immer weiter ging’s, immer tiefer. Es war das reine Labyrinth. Die Luft wurde wärmer, aber auch feuchter. Von den grauschwarzen Felsen tropfte das Wasser. Und hier und da standen Pfützen, die sich an breiteren Stellen unseres Weges zu kleinen Teichen vereinigt hatten. Das Wasser war lau, aber gut trinkbar.

Swendsen erzählte mir während dieser Wanderung, wo wir uns befanden, wie der Dampfer hieß, der uns hierher gebracht, und noch manches andere.

Der Engländer Bolwer war das Haupt einer internationalen Schmugglerbande, die in allen größeren Hafenstädten Mitglieder besaß. In meiner Vaterstadt hatte jenes alte Häuschen den Schmugglern als Lagerraum für die wertvollsten Waren gedient, zugleich auch als Versammlungsort. Was an jenem Abend dort geschehen, darüber konnte der Alte auch nur Vermutungen aufstellen. Er nahm aber mit ziemlicher Bestimmtheit an, daß dort tatsächlich irgendein Mensch ermordet worden war, vielleicht jemand, der den Schmugglern heimlich nachgespürt hatte. Jedenfalls ging daraus, daß man mich als unbequemen Mitwisser so gründlich unschädlich gemacht hatte, zur Genüge hervor, welch schweres Verbrechen in dem einsamen Hause verübt sein mußte. Der Dampfer, der als harmloses Frachtschiff fuhr, war mit allen möglichen Verstecken ausgerüstet und führte stets Millionenwerte an kostbarstem Schmugglergut mit sich. Er hieß „Otranto“ und war mit englischen Schiffspapieren ausgestattet. Bolwer war nicht der Kapitän. In Wahrheit befehligte er aber doch alles. – Zu meiner größten Überraschung hörte ich jetzt auch, daß wir uns an der Südküste Spaniens östlich der kleinen Hafenstadt Motril befanden und zwar wahrscheinlich im Innern des Festlandes selbst, während der Dampfer zwischen einer Menge winziger, zerklüfteter Eilande vor Anker gegangen war, einem alten Anlegeplatz der Schmuggler, von wo aus stets ein Teil der Fracht mit Hilfe eingeweihter Spanier landeinwärts geschafft wurde. – Das Bergwerk sollte einst von den Mauren angelegt worden sein und nur noch diesen einen Zugang haben. Die Bewohner der Umgegend mieden den Schacht jedoch ängstlich, da hier in den Tiefen böse Geister hausen sollten. Weshalb Bolwer für den alten Swendsen dieses Bergwerk gleichfalls als Gefängnis bestimmt hatte, war nicht ganz klar ersichtlich. Es schien aber wohl die richtigste Annahme zu sein, daß er fürchtete, der Alte könnte an dem Armbruch zu Grunde gehen und vielleicht noch in letzter Stunde, von Reue gepackt, etwas von den Geheimnissen der Schmuggler verraten.

„Nie hätte ich dies getan, nie!“ beteuerte der Alte. „Ich habe vor mehr als zehn Jahren durch einen Eid Stillschweigen gelobt, und diesen Eid hätte ich auch gehalten! Jetzt aber, wo Bolwer so mit mir umgesprungen ist, fühle ich mich frei! Und wehe ihm, wenn …“

Er brach mitten im Satz ab. Meine Laterne, die zuletzt schon recht trübe gebrannt hatte, war verlöscht. Das Öl war verbraucht …

Aber ich wußte Rat. Ein Stück Kistenholz mußte eine Fackel ersetzen, und bei deren Schein betraten wir gleich darauf, wirklich geführt von einer gütigen Vorsehung, eine riesige Halle – eine natürliche Grotte von geradezu verwirrender Ausdehnung. Und hier, wo vielleicht seit Jahrhunderten zum ersten Male wieder die Stimme eines Menschen ein Echo weckte, fanden wir einen vorläufigen Unterschlupf.

 

3. Kapitel.

Die unterirdische Stadt.

Während wir noch die Grotte in ihren einzelnen Teilen näher in Augenschein nahmen, sank Swendsen, jetzt mein Leidensgefährte, bewußtlos um. Ich stellte fest, daß der gebrochene Arm schwer entzündet war und daß der Alte Höllenqualen von Schmerzen erduldet haben mußte.

Vier Tage pflegte und wartete ich ihn wie ein kleines Kind, machte Umschläge um die Bruchstelle und fütterte ihn mit aufgeweichtem Zwieback.

Die Grotte war nicht leer. Überall traf ich auf die Spuren früherer menschlicher Tätigkeit, auf Reste von hölzernen Balken und Geräten, auf Stellen, wo sich einst die Lagerstätten der schwarzen Sklaven befunden haben mußten, die die Mauren hier für sich hatten arbeiten lassen, dieselben Mauren, die einst in dem nahen Granada ihre Residenz gehabt hatten, die von hier aus die Kultur Europas bedrohten, bis Karl Martell sie zum ersten Male in blutiger Schlacht schlug und sie später gänzlich wieder aus Spanien zurück nach Nordafrika gedrängt wurden.

Gerade die Reste des Holzes, die sich in dieser trockenen Grotte gut gehalten hatten, waren für uns überaus wertvoll. Sie gestatteten mir, dauernd ein Feuer zu unterhalten, das wenigstens die nächste Umgebung unseres Lagerplatzes notdürftig beleuchtete.

Diesen hatten wir, oder besser ich allein, an der nördlichen Wand ausgesucht, wo eine Reihe natürlicher Felssäulen etwas wie eine kleinere Grotte abteilten. In diese Säulen waren allerlei Figuren und Zeichnungen eingemeißelt, sämtlich kunstlos und roh, aber doch gut erkennbar als erhabene Darstellungen aus dem Leben der schwarzen Bergwerksarbeiter.

Um die Zeit hinzubringen, studierte ich diese Skulpturen ganz eingehend. Dabei entdeckte ich an einer der Säulen einen eingemeißelten Pfeil, der schräg nach oben auf eine bestimmte Stelle seitwärts von unserer Grotte hinzeigte. Dieser Pfeil wäre von mir vielleicht gar nicht beachtet worden, wenn ich nicht an einer zweiten Säule einen ähnlichen Pfeil bemerkt hätte, der genau auf denselben Fleck hinwies.

Das machte mich stutzig.

Swendsen schlief gerade fest, und ich hatte genügend Zeit, die Sache weiter nachzuprüfen.

Die Grottenwand war an jener Stelle, auf die die beiden Pfeile deuteten, sehr steil, hing sogar etwas über, sprang dann aber wieder zurück und bildete dann erst in gefälligem Bogen die Decke der Riesenhöhle. Das Gestein zeigte gerade hier überaus zahlreiche Risse, Spalten und Vorsprünge. Als ich es bei Fackellicht ganz scharf musterte, machte ich eine neue Entdeckung. Hier und da gab es auch hier kleine Pfeile, die bald nach der einen, bald nach der anderen Richtung wiesen, in sich aber, in Abständen von etwa einem halben Meter angebracht, eine fortlaufende Schlangenlinie nach oben zu bildeten.

Plötzlich schoß mir der Gedanke durch den Kopf: ob diese kleinen Pfeile nicht Merkzeichen eines Kletterweges sind, der auf jenen Teil der Grottenwand führt, der soweit zurückspringt, daß man ihn hier von unten nicht übersehen kann? – Und – ob die terrassenartige Einkerbung vielleicht nicht irgendein Geheimnis birgt? – –

Ich will mich kurz fassen: Es war ein Weg! Es gab dort Stufen und Handgriffe, die das Erklettern der steilen Naturmauer sogar so sehr erleichterten, daß auch ein ungeschickter Mensch hätte hinaufgelangen können!

Und was ich oben fand? – Nichts, das mir im ersten Augenblick überaus wichtig erschien! – Nur ein nach aufwärts zu verlaufener Felsengang! Davon gab es hier in den Tiefen der Erde wahrlich genug.

Da ich gerade ein harziges Stück Brett als Fackel in der Hand hatte, das noch eine gute halbe Stunde vorhalten mußte, drang ich neugierig in den dunklen Tunnel ein. Nach etwa dreißig Meter gab es eine Treppe, in das Gestein eingehauen, – eine breite, sauber gearbeitete Treppe mit genau 38 Stufen. Oben verlief der Gang dann wieder vielleicht hundert Meter horizontal; hierauf folgte abermals eine Treppe, jetzt sogar mit ausgemeißeltem Geländer. Die Geländerpfeiler trugen Kugeln in Form von Negerköpfen. Die Arbeit überraschte durch ihre saubere Ausführung. Die Gesichtszüge und die besonderen Merkzeichen der schwarzen Rasse waren stark idealisiert.

Meine Neugier wuchs. Es kam mir vor, als näherte ich mich mit jedem Schritt mehr und mehr der Stätte einer uralten Kulturepoche, als warteten meiner noch ganz besondere Dinge. Die Wände des Ganges waren hier nämlich auch bereits mit groben Mosaikmustern verziert, und gleich hinter dieser zweiten Treppe war auch der Boden des Ganges mit regelmäßig behauenden Steinplatten belegt, deren Fugen durch eine mörtelähnliche Masse ausgefüllt waren.

Hastiger schritt ich vorwärts. Ich hatte jetzt die feste Überzeugung, daß das alte Bergwerk noch recht interessante Geheimnisse enthalten müßte.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Noch eine dritte Treppe, und dann noch zwanzig Meter …

Ich stand wie erstarrt … Meine Augen mußten sich erst an das geheimnisvolle Zwielicht vor mir gewöhnen …

Ganz regungslos blieb ich … Dann rieb ich mir die Augen. Ich glaubte zu träumen. All das war ja so unwirklich, so seltsam, – – so, als ob ich mich im Märchenland befände.

Ich stand auf einem Felsaltan, der mit einem Steingeländer versehen war … Unter mir lief eine Treppe mit unzähligen Stufen in die dunkle Tiefe hinab. Und vor mir lagerte eine ganz eigenartige Dämmerung, schwaches Tageslicht, das aber doch genügte, um alles ringsum zu erkennen, wenn sich erst die Augen auf diese Beleuchtung eingestellt hatten.

Unter und vor mir dehnte sich eine Höhle von ganz unwahrscheinlichen Abmessungen aus. – Unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß dieser enorme Hohlraum, diese unterirdische Welt im kleinen, sich in den Massen des Küstengebirges Südspaniens, der Provinz Granada, befand. Die Abgrenzungen dieser Grotte vermochte ich nur in nächster Nähe, von meinem Standort aus ein paar hundert Meter nach rechts und links, festzustellen. Ferner sah ich, daß das Licht durch zahllose schmälere und breitere Spalten von oben durch die Felsdecke einfiel. Dies setzte mich am meisten in Erstaunen. Ich sagte mir, daß diese Decke doch gar nicht so sehr stark sein könne, vielleicht nur ein bis zwei Meter, wenigstens stellenweise. – Die Spalten lagen am dichtesten über der Mitte des Riesenraumes, so etwa, als wäre hier wie in eine Saaldecke eine künstliche Beleuchtungsquelle eingefügt.

Und dann – dann entfuhr meinen Lippen wirklich ein leises, ungläubiges …: „Eine Stadt – eine Stadt!“

Meine Augen hatten jetzt erst das Zwielicht ganz zu beherrschen gelernt. Ich sah kleine, zierliche Häuser, sah ein paar größere Gebäude, schaute schräg unter mir auf einen freien Platz, – schaute auf verkümmerte, seltsame Bäume, auf eine Fläche, die mit fahlen, hohen Gräsern bedeckt war …

Abermals rieb ich mir die Augen, kniff mich in den Arm …

Das konnte ja nur ein Traum sein …

Aber das in dem Dämmerlicht so gespenstisch wirkende Bild der stillen Stadt blieb … Alles war Wirklichkeit …

Meine Fackel war längst erloschen – längst … Sie war meiner Hand entsunken …

Ich beugte mich über das Geländer des Altans …

Täuschte ich mich …?! Bewegte sich dort nicht ein Tier neben dem hohen Gebäude …?! – Ja – es war ein Tier. Aber welcher Art es angehörte, das zu bestimmen war bei der großen Entfernung unmöglich.

Ich staunte, schaute, bewunderte …

Wie ein Panorama lag die stille, unterirdische Stadt dort vor mir in der Tiefe. Wie ein Bühnenbild war’s, wie ein glänzend gemalter Hintergrund für ein phantastisches Theaterstück …

Endlich riß ich mich los von dem Zauber dieses geheimnisvollen Anblicks. Ich mußte zurück zu meinem armen Gefährten. Ich war überzeugt, daß ich hier eine gute Stunde gestanden hatte.

Holger Swendsen war wirklich schon in ernster Sorge um mich. Als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte, schüttelte er nur den Kopf:

„Junge, Du bist übergeschnappt!“

Ich verteidigte mich nicht, zerschnitt eine der starken großen Decken, die früher meine Kistenlagerstätte weicher gemacht hatte, in drei dünne Streifen, aus denen ich ein Tau flocht. Und mit Hilfe dieses Taus gelang es mir, nicht nur meinen alten Freund, sondern auch unsere Habseligkeiten nach oben auf die Terrasse zu befördern.

Gerade als ich dann infolge einer ungeschickten Bewegung die in eine Gesteinspalte eingeklemmte Fackel herabgeworfen hatte, packte Holger Swendsen plötzlich meinen Arm und flüsterte mir zu …:

„Dort – dort – der helle Lichtkegel – – Acetylenlaternen – – zwei – drei –! Es ist Bolwer – er sucht nach uns! Verhalten wir uns ganz still!“

Eine volle Stunde durchstöberte der lange Engländer mit seinen drei Begleitern die Höhle. Er fand unseren Lagerplatz hinter den Säulen. Ich hörte ihn sagen: „Oh sie sind hier gewesen!“ – Er suchte und suchte. Daß wir über ihm wie im ersten Range eines Theaters kauerten, daß wir alles hörten und sahen, was sie trieben, ahnte er nicht – konnte er nicht ahnen …

Dann verschwanden die Verfolger wieder. Wie sollten sie sich wohl auch so leicht hier zu uns nach oben finden?! Dazu mußte man erst die beiden Pfeile entdecken und dann noch sich zusammenreimen, was sie bedeuteten!

Im Dunklen tappten wir jetzt – aus Vorsicht! – in den Gang hinein, steckten erst hier unsere Fackeln an. Dann ging ich nochmals zurück und holte unsere zwei Bündel, unseren Besitz, all die Kleinigkeiten, die uns doch so wertvoll gewesen waren.

Und nun hasteten wir vorwärts. Swendsen war sogar immer ein paar Schritte voraus. Es ging ihm heute schon wieder recht gut. Er war zäh und widerstandsfähig trotz seiner sechzig Jahre und trotz des wilden Lebens, das er geführt hatte …

Dann standen wir nebeneinander auf dem Altan. Der Alte war sprachlos. Ich schaute ihn triumphierend von der Seite an. Ich sah seine weit aufgerissenen Augen, seine Lippen, die sich in unhörbarem Selbstgespräch bewegten. Ich lächelte … Genau so war es mir auch ergangen – – genau so!

Dann sagte Holger Swendsen leise:

„Es ist, als wäre ich in einer Kirche. Dieses Bild da vor uns packt einen wie Orgelklang …“

Er hatte noch nie von Religion oder dergleichen gesprochen. So wirkte das, was er sah, – – so!

Wir schulterten unsere Ballen wieder. Dann ging ich voran die endlose Treppe abwärts, die links von dem Altan in die Wand eingemeißelt war.

Welche Arbeit …! Wieviel Schweiß mußte das gekostet haben! Zweihundertachtzehn Stufen waren’s!

Ich hatte Fackel und Beil in der Rechten. Auch das Beil. Denn es gab ja Tiere hier in der stillen Stadt. Konnte man wissen, ob sie nicht trachten würden, uns, die Störenfriede, zu beseitigen, zu vertreiben?!

Jetzt standen wir auf dem Boden der ungeheuren Höhle. Vor uns lief ein Weg, eingefaßt von Mauern, auf die Stadt zu. Wir traten ganz leise auf, blieben dicht beieinander, blieben stumm, machten uns nur durch Zeichen auf dies und jenes aufmerksam.

Zuerst auf eine breite Öffnung in der linken Mauer. Dahinter lag … ja – es konnte nur ein Friedhof sein – ein christlicher Friedhof! Steinkreuze erhoben sich vor großen Grabtafeln, im Hintergrunde stand eine kleine Kapelle, daneben ein paar jener seltsamen Bäume, die so merkwürdig braunes Laub hatten. Auch Sträucher standen zwischen den Gräbern, kümmerlich wie die Bäume, lechzend nach Sonnenlicht und Regen wie diese …

Wir schritten weiter. Das erste Haus. Ganz aus Stein. Altertümlich, ein schlichter Baustil, ähnlich dem der altgriechischen Behausungen. So waren die meisten Häuser. Nur die Dächer zeigten einige Abwechselung. Aber sämtlich waren sie wie Puppenhäuschen. Wir betraten ein paar. Türen gab es nicht. Nur Tür- und Fensteröffnungen. Jedes hatte nur drei Räume. Die Einrichtungsgegenstände waren sämtlich nach demselben Muster gefertigt. Niedrige Ruhebetten, bespannte Holzrahmen. Viel Felle, gegerbt und ungegerbt, waren zu den Möbeln an Stelle von Stoffbezügen verwendet worden.

Dann hatten wir, nachdem wir an ein paar engeren Seitenstraßen vorübergekommen waren, den Marktplatz erreicht. Hier standen sich zwei größere Gebäude gegenüber: eine Kirche und – wahrscheinlich das Rathaus.

Die Totenstille ringsum wirkte so beängstigend, daß wir nur zu flüstern wagten. Wieder war es mir, als ob ich nur träumte. Und Holger Swendsen murmelte auch einmal vor sich hin:

„Das kann nur Teufelsspuk sein! Plötzlich wird die ganze Herrlichkeit verschwinden!“

Aber – sie blieb …

Wir betraten die Kirche. Im Innern wäre es nun wohl sehr dunkel gewesen, wenn nicht überall in die Wände große Platten einer merkwürdigen Steinart eingelassen gewesen wären, die ein fahl-gelbliches Licht ausströmten.

Der Alte hatte nur den Kopf über diese eigenartige Beleuchtungsmethode geschüttelt. Ich glaubte aber für die lichtspendenden Steinplatten eine Erklärung gefunden zu haben. Es konnten nur künstlich hergestellte, also gegossene Steinplatten sein mit einer Beimengung von Radium auf der Oberschicht. – Diesen Gedanken hatte mir mein Wecker daheim eingegeben, der ein leuchtendes Zifferblatt besaß.

Die Kirche zeigte alle die verschiedenen Gegenstände, die auf christliche Religionsübungen längst entschwundener Zeiten hindeuteten. Die Sitzreihen waren aus Stein; der Altar aber funkelte wie lauteres Gold. Darüber hing am Kreuz der Erlöser! Und diese Christusfigur, zusammengesetzt aus lauter klaren Brillanten, wirkte so überwältigend, so überirdisch mit ihrem Blitzen und Flimmern, daß auch Holger Swendsens Hände sich unwillkürlich zum Gebet vereinigten …

 

4. Kapitel.

Einsames Leben.

Wir standen nebeneinander in stummer Andacht.

Unwillkürlich tauchten vor meinem geistigen Auge Bilder aus Spaniens ältester Vergangenheit auf, die meine Phantasie sich ausmalte auf Grund dessen, was ich aus dem Geschichtsunterricht hierüber wußte …

Hamilkar Barkas, der Vater des großen Hannibal, – dieser selbst, der von Spanien aus seinen wagemutigen Angriff auf das römische Reich unternommen hatte …

Schon diese beiden Männer waren Gestalten, die einem halben Träumer wie ich es war die Seele ganz erfüllen konnten.

Da – ich fuhr entsetzt herum … Ich hatte einen kräftigen Stoß in den Rücken erhalten …

Aber – wie sehr mußte ich mich dann zusammennehmen, um nicht an diesem heiligen Orte laut herauszuplatzen mit einem frohen Gelächter.

Auch Holger Swendsen hatte sich umgeschaut.

„Ein Ziegenbock“, rief er, – „– ein Ziegenbock …!“

Ja, es war ein schwarz und weiß gefleckter, stattlicher Ziegenbock … Und hinter ihm im Eingang des Kirchleins – drängte sich eine ganze Menge von Geißen und Lämmern.

Das war wirklich ein herzerfreuender Anblick! Nun brauchten wir nicht mehr in Sorge zu sein der Lebensmittelfrage wegen, nun sollte es bald noch anderes geben als nur aufgeweichten Schiffszwieback …!

Wir verließen die Kirche und wanderten weiter nach Osten zu durch die kleine, stille Stadt. Wir hatten jetzt ein recht munteres Gefolge: die ganze Ziegenschar zog hinterdrein!

Holger Swendsen machte mich in seiner bedächtigen Weise darauf aufmerksam, als wir gerade durch eine Seitengasse auf einen weiten, freien Platz traten, den man auf der Oberwelt zutreffend mit Wiese bezeichnet hätte. Hier war diese Benennung insofern nicht ganz angebracht, als man sich unter Wiese etwas Frisches, Grünes vorstellt, – saftige Gräser mit bunten Blumen dazwischen.

Aber dieser Grasteppich hier, mochte er auch noch so hoch sein, sah aus als bestehe er aus künstlichen Pflanzen. Er hatte etwas Unnatürliches an sich, etwas Krankhaftes. Kein Wunder auch: Wie sollten wohl bei dieser Beleuchtung die Gräser gedeihen! Seltsam genug, daß sie überhaupt noch hochsprossen!

Es gab hier ja aller Orten so viel Merkwürdiges, daß wir eigentlich ständig neuen Rätselfragen uns gegenübersahen. – Wer hatte diese unterirdische Stadt erbaut? – Vielleicht schwarze Bergarbeiter, die zum Christentum übergetreten waren? Sklaven der Araber, die hier einst geherrscht hatten? – Niemand, nichts gab uns Antwort darauf, weder jetzt noch später. Nirgends fanden wir irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen – nirgends! Und die Skulpturen an den Hauswänden, die Schriftzeichen auf den Kreuzen des Friedhofes verrieten auch nichts, ließen eben nur die bereits erwähnte Vermutung zu. – – Das war eins der Rätsel. Dann ein zweites, um nur etwas herauszugreifen: wie hatte sich die Ziegenherde hier in der Riesenhöhle so lange ohne menschliche Wartung erhalten können?! – Und – wann war wohl der letzte Einwohner dieser Stadt in ein besseres Jenseits eingegangen …? Wie lange war diese seltsame menschliche Niederlassung bereits eine „tote“ Stadt …?!

Wir gingen durch das hohe, fahle Gras, durch die ebenso fahle Dämmerung dieser unterirdischen Welt und besprachen all diese Fragen. Das heißt: eigentlich sprach nur ich ganz allein! Holger Swendsen war doch geistig schon zu schwerfällig, um für derlei verzwickte Dinge Interesse zu haben. Zumeist beschränkte er sich auf ein „Hm ja“ – „nein, so was!“ oder „– nicht möglich!“

Nachdem wir die Wiese hinter uns hatten, stellten wir fest, daß die Höhle sich mit ihrem Hauptteil erst hier nach Osten zu erstreckte. Wir hatten eine richtige, abwechselungsreiche Landschaft vor uns: Hügel, Wiesen, kleine Waldstücke, Gebüschstreifen, die matt schimmernde Oberfläche eines Sees, ja sogar ein paar Bäche nahmen wir wahr.

Die Abgrenzungen dieses enormen Hohlraumes waren aber auch von hier aus nicht zu erkennen. Schuld daran war der Umstand, daß die lichtspendenden Spalten der Höhlendecke gerade nur über der Stadt lagen und daher die weitere Umgebung bald in tiefste Dunkelheit überging.

Wir machten jetzt kehrt. Der Hunger meldete sich. Unser Ziegen-Gefolge war auf der Wiese zurückgeblieben. Wir holten uns aus dem nächsten Hause ein paar Tongefäße – sie waren gebrannt, glasiert und reich verziert –, und Swendsen, in praktischen Dingen mir doch weit über, melkte ein paar Geißen und schlachtete auch ein Lamm.

Dann suchten wir uns eins der Häuser als Wohnung aus. Swendsen erklärte, wir müßten dasjenige nehmen, das dort drüben einsam etwas außerhalb der Stadt unter Bäumen liege. – Es sah wirklich wie ein Landhaus aus, hatte ein Stallgebäude und eine Steinlaube und wich auch im Baustil von den übrigen ab.

Als wir das Innere betraten, fanden wir es weit besser ausgestattet. Es war zweifellos von einem Manne bewohnt gewesen, der hier in hohem Ansehen gestanden hatte. Vier Gemächer und im Anbau eine Küche nebst zwei Kammern waren vorhanden.

In dem zweiten Zimmer machten wir dann eine Entdeckung, die uns doch etwas an die Nerven ging.

Auf einem Ruhebett lag dort der Körper eines Mannes, zur Mumie zusammengeschrumpft. Es war ein Greis mit kurzem weißem Bart von jenem Schnitt, wie man ihn auf alten römischen Bildwerken findet. Er war ganz in weich gegerbtes Leder gekleidet und trug um die Stirn ein breites Lederband, auf dem vorn in Brillanten ein Kreuz aufgenäht war. Also wieder das Zeichen des Christentums. Ob die Mumie einst eine schwarze, braune oder gar weiße Haut gehabt hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Jetzt war diese Haut schmutzig grau und lag in unzähligen Fältchen.

Swendsen meinte, vielleicht hätten wir hier den letzten Bewohner der unterirdischen Stadt vor uns.

Er mochte recht haben. Wer wollte das entscheiden?!

Wir trugen die Mumie fort in das nächste Haus und legten sie dort sorgfältig nieder. – Mir hatte der Tote, wenn er auch bereits vor hunderten von Jahren gestorben sein mochte, beinahe die Freude an dem Landsitz verdorben. Aber ich mochte mich nicht vor Swendsen blamieren, der mich wegen dieser Schwäche sicher ausgelacht hätte.

Er ging denn auch sofort daran, eine Mahlzeit zuzubereiten, wobei ich ihm helfen mußte. Inzwischen war es doch schon so spät geworden, daß wir damit rechnen mußten, bald im Finstern zu sitzen, wenn wir eben Fackeln und Herdfeuer nicht mitrechneten. Der Abend kam, und wenn die Dunkelheit erst draußen die Erde deckte, konnten auch die Deckenspalten kein Licht mehr spenden.

Meine Taschenuhr, die ich stets sorgfältig aufgezogen hatte, zeigte drei Uhr, – drei Uhr nachmittags; und wir befanden uns im November. Mithin mußte die natürliche Lichtquelle sehr bald versagen.

Ich suchte im Hause nach Lampen oder dergleichen. Nirgends entdeckte ich derartiges. Das war doch sehr merkwürdig.

Als ich Swendsen dies sagte, lachte er still vor sich hin.

„Wenn nun die Stadt und jedes Haus ähnlich für die dunklen Tagesstunden beleuchtet würde wie das Innere der Kirche – he?!“ meinte er pfiffig.

Und – er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

Je dunkler es in der Höhle wurde, desto klarer traten überall in und außen an den Häusern die leuchtenden Steinplatten hervor. So kam es, daß selbst nachts die Stadt und jedes Gebäude in ein magisches Licht gehüllt war, daß es hier keine Finsternis gab und Lampen und dergleichen sich erübrigten.

Nachdem wir gegessen und getrunken hatten, nahm ich mir einen altertümlichen Spaten aus einer der Kammern und begann dicht am Hause unter einem Baume die Erde aufzuwühlen.

Holger Swendsen stand kopfschüttelnd dabei und fragte:

„Wozu mühst Du Dich so ab?“

„Weil ich feststellen will, ob die fruchtbare Erdschicht sehr tief reicht. Ich habe nämlich eine besondere Vermutung, wie der Baum- und Pflanzenwuchs hier in die Höhle gekommen ist. Es handelt sich meines Erachtens nicht um Anpflanzungen der Bewohner der toten Stadt, sondern vielmehr um die Folgen eines gewaltigen Naturereignisses – nämlich um ein Erdbeben, bei dem diese Höhle entstanden ist, indem ein fruchtbares Tal von den umgebenden Bergen sozusagen überwölbt wurde. Und bei dieser Riesenkatastrophe ist eben in dem Tal alles mit in der Höhle verschwunden, was dort gedieh.“

„Hör’ mal, Junge, – die Sache läßt sich hören“, meinte Swendsen eifrig. „Ich habe in Kalifornien, in Japan und auf Java Erdbeben miterlebt, die auch recht tolle Dinge anrichteten. – Du glaubst also, diese Stadt hat damals in jenem Tale gestanden und ist dann mit versunken?“

„Nein – das nicht! Bestimmt nicht! Diese Niederlassung wurde erst nach dem Erdbeben gegründet. Sehen Sie sich die Häuser an, Holger! Die Leuchtplatten sind nicht nachträglich eingefügt, sondern gleich mit eingebaut. Mithin wurde bei der Errichtung der Gebäude gleich mit der Dunkelheit gerechnet, die hier ein Leben unmöglich gemacht hätte ohne dieses seltsame Hilfsmittel der Leuchtplatten.“

Ich fand mit dem Spaten keinen Grund in dem weichen Erdreich. Mithin war es ziemlich sicher, daß meine Annahme von einer Erdbebenkatastrophe und einem fruchtbaren Tale, das jetzt wie mit einer Riesenglocke aus Fels überdeckt war, zutraf.

Holger meinte jetzt, wir sollten uns die Stadt doch einmal von dem Altan aus ansehen. Sie müßte doch bei dieser Beleuchtung ein wunderbares Bild darbieten.

So durchschritten wir denn wieder die einsamen Straßen, traten jetzt aber schon ganz fest auf. Wir fühlten uns schon als Eigentümer der unterirdischen Siedlung, als die Erben der einstigen Bewohner.

 

5. Kapitel.

Das Kreuz aus Brillanten.

Die endlose Treppe wurde Swendsen doch recht sauer, trotzdem wir so und so oft Ruhepausen machten.

Endlich standen wir auf dem Altan. Wir hatten es absichtlich unterlassen, vorher einen Blick auf die Stadt zu werfen. Jetzt wandten wir uns um, jetzt lag das Panorama der Höhle vor uns.

In stummer Ergriffenheit verhielten wir uns minutenlang völlig reglos.

Unwillkürlich schoß mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn man dies seltsame Bild Touristen zugänglich machen würde, – aus aller Herren Ländern würden dann sicherlich die Schaulustigen zusammenströmen!

Es konnte ja auf dem ganzen Erdenrund nichts mehr geben, was diesem zauberisch schönen Panorama auch nur im entferntesten glich! – Davon war ich ganz fest überzeugt – ganz fest!

Swendsen murmelte etwas vor sich hin. Ich glaubte zu verstehen: „Ein Zauberland …!“

Ehe ich ihm aber noch begeistert beipflichten konnte, geschah etwas anderes, – etwas, woran wir beide auch nicht im entferntesten gedacht hatten.

Plötzlich eine Stimme hinter uns – die höhnische Stimme des langen Engländers, unseres Todfeindes:

„Ah – also hier sehen wir uns wieder!“

Wir fuhren herum.

Bolwer und hinter ihm zwei Matrosen standen in dem Felsgang, der nach dem alten Bergwerk hinführte.

Und Bolwer lachte jetzt auf, so recht spöttisch und triumphierend.

„Eine feine Überraschung, nicht wahr? – He – was ist denn das für ein heller Schimmer da vorn …?“

Er trat vor, hatte nun erst das Bild der toten Stadt vor sich.

Ich beobachtete sein Gesicht. Ungläubiges Staunen malte sich auf seinen Mienen. Dann rief er:

„Träume ich – träume ich?! Das kann ja nicht Wirklichkeit sein …!“

„Und doch ist’s so, Mister“, sagte ich ernst. „Das Schicksal hat es Ihnen vergönnt, eines der größten Wunder der Welt zu schauen – eine unterirdische Stadt …! Wir haben sie nur zufällig entdeckt, und auch wir haben wie Sie jetzt geglaubt, in ein Zauberland versetzt worden zu sein.“

Selbst dieser hartgesottene Verbrecher, dem Menschenleben doch offenbar nichts galten, gar nichts, brauchte einige Zeit dazu, ehe er sich so weit gefaßt hatte, um seine wahre Natur wieder hervorzukehren.

„Sollte mich wundern“, meinte er jetzt, „wenn’s hier nicht Kostbarkeiten gäbe, die das Mitnehmen wert sind. – Holla, Boy, wie steht’s damit“, wandte er sich an mich. „Heraus mit der Sprache – heraus damit!“

Ich dachte sofort an das Kreuz in der Stirnbinde der Mumie und den Christus in der Kirche.

„Wir haben nichts gefunden außer wertlosem Glasschmuck“, erwiderte ich, um eine zu grobe Lüge zu umgehen.

„Glas – wo? – Führe mich hin! – Wer weiß, vielleicht ist’s doch was anderes!“ rief er voller Habgier. „Was verstehst Du von Steinen und dergleichen!“

Nun – ich verstand gerade genug davon, um zu wissen, daß es kein Glastand war, aus dem zum Beispiel der Körper des Gekreuzigten zusammengesetzt war.

Ich mußte gehorchen.

Wir stiegen jetzt zu fünfen die Treppe wieder hinab. Bolwer redete in einem fort. Er war wie berauscht. Die Hoffnung, daß er hier Schätze zusammenrauben könnte, sprach aus allen seinen Sätzen. Für diesen Mann gab es nur ein Streben, einen Gedanken: Kostbarkeiten zu sammeln, reich zu werden, unermeßlich reich …

Für die Häuser hatte er kein Interesse. Nur die Kirche zog ihn an …

Wir hatten sie bald erreicht. Er stürmte hinein. Es war jetzt im Innern fast taghell, nachdem das Tageslicht geschwunden war und die Steinplatten ihre Leuchtkraft voll entfalten konnten.

Über dem Altar strahlte der Christus am Kreuz. Ganze Lichtbüschel in allen Farben schossen aus dem Leibe des Erlösers hervor.

Bolwer stieß einen Jubelruf aus.

„Das soll Glas sein – Glas, Du Narr!“ schrie er mich an. „Edelsteine sind’s. – Millionen hängen dort – Millionen!“

Dann zu den beiden Matrosen: „Rauf auf den Altar! Brecht das ganze Kreuz von der Wand los und reicht es mir herab. – Vorwärts! Was zögert Ihr, zum Teufel!“

Die beiden Seeleute, ältere, verwitterte Burschen, blickten sich scheu um. Alles kam ihnen hier so unheimlich vor. Vielleicht waren sie auch trotz ihrer Zugehörigkeit zu den Schmugglern keine verhärteten, ungläubigen Naturen, vielleicht sogar in ihrer Art fromm!

Sie zögerten. Und Bolwer mußte sie erst hart anfahren, ehe sie brummend auf den Altar kletterten.

Mir erschien dieses Vorhaben so freventlich, daß ich unwillkürlich ein paar Schritte zurückwich.

Das sollte meine Rettung werden! – Holger Swendsen hatte sich gleich neben dem Eingang auf eine Steinbank gesetzt. Er war nach dem Treppensteigen wieder sehr matt geworden.

Jetzt packten die Matrosen das dunkle Holzkreuz an …

Sie rüttelten, zerrten, stießen. Es regte sich nicht.

„Mehr Anstrengung, Boys!“ brüllte Bolwer. „Seid Ihr schwache Weiber?!“

Da faßten sie es mit ihren vier Seemannstatzen am unteren Ende an, zählten: eins – zwei …

Das „drei“ hörte ich auch noch …

Aber augenblicklich folgte ein ohrbetäubendes Krachen, ein Poltern herabstürzender Steine, so daß Holger und ich entsetzt ins Freie flüchteten.

Jetzt wieder Stille. Wir schauten uns an. Wir waren beide leichenblaß.

Dann – ein Wimmern, ein Stöhnen aus dem Innern des Kirchleins, ein leiser Ruf: „Helft – helft …!“

Holger Swendsen schlich zum Eingang. Ich dicht hinter ihm drein.

Und nun sahen wir, was geschehen war. Die Strafe hatte die Frevler ereilt, – sicherlich kein Zufall, – nein! Ohne Frage handelte es sich hier um eine Vorsichtsmaßregel der Erbauer der Kirche, um einen Diebstahl des Kreuzes zu verhindern und die zu vernichten, die sich an dem Christuskörper zu vergreifen wagten.

Von der Decke der Kirche waren sechs zentnerschwere Steinquadern herabgefallen, hatten die beiden Matrosen erschlagen und auch Bolwer getroffen. Er lag mit zermalmter rechter Schulter in den letzten Zügen am Boden.

Wir traten näher. Er hatte noch so viel Kraft, flehend den unverletzten Arm uns entgegenzustrecken.

Eine Viertelstunde später war er tot. Er war als reuiger Sünder gestorben, hatte alle seine Missetaten bekannt, und wir beide hatten mit ihm gebetet und ihn aufgerichtet durch guten Zuspruch, soweit wir es vermochten.

Nachdem wir die drei Leichen sofort auf dem Friedhof bestattet hatten, gingen wir daran, das Gotteshaus aufzuräumen. Während dieser Arbeit erklärte Swendsen, es sei ihm vorhin so vorgekommen, als wenn auch außerhalb der Kirche etwas mit Donnergetöse zusammengebrochen oder abgestürzt wäre.

Doch erst am nächsten Vormittag entdeckten wir, daß der Alte wirklich recht gehabt hatte: die Riesentreppe samt dem Felsenaltan existierte nicht mehr. Nur wirre Steintrümmer lagen noch am Fuße der Felswand.

Wie dies passiert sein konnte, ob etwa eine Verbindung zwischen der Kirche und der Treppe bestanden hatte, um jedem diebischen Gesellen, der nach dem Kreuz trachtete, den Rückweg nach der Oberwelt abzuschneiden, – ich habe dies nie feststellen können!

Uns traf das Geschehnis ja am härtesten: wir waren in die Höhle jetzt eingesperrt, denn an der Felswand irgendwie hochzuklimmen, war unmöglich!

Es dauerte Monate, ehe wir uns an den Gedanken gewöhnten, nie mehr das Licht der Sonne zu erblicken, nie mehr unter Menschen zu gelangen! –

Unser stilles Dasein in der unterirdischen Stadt bot zu wenig Abwechslung dar, um hier näher darauf einzugehen. Tage, Wochen, Monate – drei Jahre schlichen in bleierner Langsamkeit hin. Wir beschäftigten uns mit allerlei, durchforschten die Höhle in ihrer ganzen Ausdehnung, – aber die Sehnsucht nach der Oberwelt zehrte an uns wie eine Krankheit.

Dann fand ich eines Morgens meinen lieben Gefährten tot auf seinem Lager. Ohne Abschied war er von mir gegangen, still hinübergeschlummert.

Ich war allein …

Tagelang saß ich an Holger Swendsens Grab wie betäubt, aß nicht, trank nicht, hoffte, daß auch mich der Tod erlösen würde. Schließlich raffte ich mich aber doch auf … Und damit fing mein Leben an – wenn man es Leben nennen will!, dieses stumpfe Vegetieren …

Ich kam mir vor wie der ruhelose Geist dieser toten Stadt. Nur die Ziegen boten mir etwas Anregung, etwas Freude. Ich kannte sie schließlich alle von Ansehen, hatte jeder einen Namen gegeben. Sie waren zahm wie treue Hunde …

Jahre vergingen wieder – viele Jahre.

Dann ein Tag, – nein, eine Minute, die über mein ganzes Schicksal entschied …

Eines Mittags war’s! Karl, der kräftigste der Böcke der Herde, ein rauflustiger Bursche, rieb zärtlich sein Gehörn an meinem Schenkel. Tagelang war er verschwunden gewesen. Überhaupt hatte ich ja längst bemerkt, daß von der Herde häufig einige Tiere spurlos abhanden gekommen zu sein schienen, sich aber stets wieder einfanden.

Ich kraute Karl den Kopf … Da – ich stutzte, meine Finger stießen auf etwas, das sich zwischen den Hörnern festgeklemmt hatte. Ich bückte mich …

Es war ein frischer, grüner Zweig einer Eiche!

Ein frischer, grüner Zweig! Grün …! Also mußte, so überlegte ich mir, der Ziegenbock einen Weg nach der Oberwelt kennen, – denn nur von dort konnte er den Zweig, den grünen Zweig, mitgebracht haben.

Ich fing nun an, Karl ständig im Auge zu behalten. Acht Tage später sonderte er sich mit zwei Geißen von der Herde ab und führte mich so zu einem schmalen Felsgrat an der Nordseite der Höhle, auf dem man sehr bald in einen breiten Gang und durch diesen … auf eine grüne Hochebene inmitten eines Gebirges gelangte – an die Oberwelt – – in die Freiheit! Aber die Hochebene war rings von Abgründen eingeschlossen, und es war ein tolles Wagnis, als ich dann versuchte, trotzdem an einem der Steilhänge hinabzuklettern … Urplötzlich packte mich ein Schwindel … Ich stürzte ab, sauste in die Tiefe …

… in die Tiefe und erwachte … in meinem Bett! –

– Ihr merkt jetzt wohl, liebe junge Freunde: ich hatte all das nur geträumt, hatte geträumt, daß ich uralt wäre und diese Erinnerungen niederschrieb, – Erinnerungen, die mir nur meine Phantasie vorgegaukelt hat und die – Euch hoffentlich trotzdem ganz gut gefallen haben …!

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Ein kleiner Held.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „einpaarmal“.