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An Algiers Küsten

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

An Algiers Küsten.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Im Schatten des löcherigen Spitzzeltes saßen drei Männer, die Gesichter von der Sonne gebräunt, aber trotzdem in den Zügen den Ausdruck verzweifelten Leides und harter Entbehrungen.

Der eine der Männer sagte soeben leise:

„Wir Deutschen werden erst dann eine große Nation sein, wenn der Ärmste und der Reichste im Volk es sich abgewöhnt hat, alles Fremde als etwas Besonderes anzustaunen und sich für das, was jenseits der deutschen Grenzen geschieht, weit schneller zu begeistern als für Erscheinungen, die im eigenen Vaterlande sich ihm viel besser, würdiger und ernster zeigen. Ob dieser Weltkrieg dieses Erbübel mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, bezweifle ich. Wir sehen ja schon hier in diesem Zivilgefangenenlager, daß es selbst unter denen, die mit uns unter dieser unerhörten Behandlung durch die verd… französische Brut leiden, genug Idioten gibt, die für die Franzosen noch Entschuldigungen finden …!“

Der, der diese Sätze mit verbissenem Ingrimm über die zuckenden Lippen brachte, war ein noch junger Mann, ein deutscher Ingenieur namens Heinrich Stillfried, der vom Kriegsausbruch in Rouen überrascht worden war und nun nach qualvollen Demütigungen in anderen Internierten-Lagern mit nach Algier geschickt war, wo das „edle Frankreich“ in der Gluthitze der Sanddünen unweit der Stadt Konstantine eine neue Zeltstadt für einige sechshundert Deutsche – Männer, Frauen und Kinder, eingerichtet hatte.

Dieses Lager von Belkara (das war ein Dorf in nächster Nähe) setzte allem, was französische Roheit, Gemeinheit und Willkür sich bisher in diesem Kriege geleistet hatte, die Krone auf. Es schien, als hätte die Regierung in Paris die hierher Verschickten zu langsamem, qualvollem Tode verurteilt gehabt. Die Lagereinrichtungen spotteten jeder Beschreibung, das Essen war ungenießbar und unzureichend und die Behandlung derart, als seien all diese Menschen Mörder und Räuber und nicht harmlose Zivilgefangene.

Die Sonne versank hinter den hellen Sandbergen im Westen. Vom Mittelländischen Meere her kam eine schwache, kühlende Brise herüber.

Stillfried trank die erquickende Luft in tiefen Zügen.

Seine beiden Gefährten, beides Kaufleute an der Grenze des Greisenalters, hatten auf seine von fast fanatischem Haß durchzitterten Sätze nichts erwidert, nur traurig genickt. – Wozu sich noch aufregen?! – Man änderte ja doch nichts! – Die beiden waren schon völlig stumpf geworden in diesen zwei Jahren, während deren die Franzosen sie so behandelten, wie es den Boches zukam – nach französischer Auffassung, also der der ersten Kulturnation!

Zwei französische Offiziere, die zum Lagerkommando gehörten, gingen vorüber, blieben plötzlich stehen, und der eine winkte dem Ingenieur lässig zu.

Stillfried tat, als bemerke er nichts.

Ein scharfer Befehl desselben Offiziers zwang ihn dann aber doch aufzusehen. Mühsam, den linken Fuß nachschleppen lassend, humpelte er an seinem Stock auf die Franzosen zu.

Zunächst regnete es Grobheiten auf ihn herab, weil er nicht sofort aufgesprungen war. Dann fragte der Adjutant des Lagerkommandanten mit hinterlistig zugekniffenen Augen:

„Haben Sie heute morgen nicht einen meiner Soldaten vor die Brust gestoßen?“

„Nein! Ich habe ihn nur weggedrängt, als er zu der Witwe meines unlängst hier in dieser Hölle verschmachteten Landsmannes Körner frech wurde“, erwiderte Stillfried festen Tones.

„Ah, – hören Sie, Kapitän, – der Bursche ist ein Aufwiegler! Wir werden ihn morgen vor das Standgericht stellen! Er hat den Soldaten so schwer verletzt, daß der Mann krank daniederliegt.“

„Das ist unmöglich, Herr Leutnant Bompard“, fuhr Stillfried auf. „Dann verstellt der Mann sich! Ich habe ihn nur beiseite geschoben, nichts weiter.“

Der junge, verlebt aussehende Offizier grinste höhnisch.

„Es sind Zeugen da! Wir werden ja sehen – – morgen vor dem Standgericht!“ sagte er in einem Ton, der nichts Gutes ahnen ließ.

„Allerdings sind Zeugen vorhanden“, ereiferte sich der Ingenieur. „Mindestens dreißig meiner Landsleute haben die Szene beobachtet.“

„He – Ihre Landsleute – – Zeugen …?! Was sollen die … die Boches als Zeugen vor einem französischen Gericht …?! Meine Leute werden aussagen – das genügt!“ Damit wandte er sich weg und ging mit dem Kameraden weiter.

Stillfried hinkte zu den Gefährten zurück, ließ sich wieder in den Sand fallen.

„Ich fürchte, ich werde das Schicksal des Herrn Glaubitz teilen, den diese Hunde letztens widerrechtlich erschossen haben – auch auf ein paar Meineide von französischen Soldaten hin“, sagte er dumpf. „Morgen soll Standgericht sein über mich! – Dieser Bompard ist ein Teufel! Und so was trägt Offiziersuniform …!“

Die beiden Kaufleute musterten ihn mit bestürzten Blicken. – „Armer Landsmann!“ sagte der eine.

Stillfried lachte hart auf. „Denken Sie, ich werde mich so ohne weiteres niederknallen lassen …?! Noch ist nicht aller Tage Abend! Der Adjutant meint mich sicher zu haben, weil ich lahm bin …! Heute will ich’s Ihnen anvertrauen: Ich bin ebenso gesund wie Sie! Meinem Bein fehlt nichts! Ich habe die Knieschwellung vor jeder Untersuchung künstlich hervorgerufen. Die französischen Militärärzte sind ja mehr wie beschränkt!“

Dann stand er auf und begab sich nach kurzem Gruß nach seinem Zelt, das er zusammen mit zwei deutschen Knaben, denen die „gute“ Behandlung in französischen Internierten-Lagern die Eltern geraubt hatte, bewohnte.

Es waren Brüder, Robert und Norbert Vischke, der erstere fünfzehn, der andere vierzehn Jahre alt, beide sehr groß für ihr Alter und jetzt noch abschreckend mager infolge des „Saufraßes“, wie Robert sich stets etwas kräftig ausdrückte, wenn von der Beköstigung gesprochen wurde. Beide liebten Stillfried, der sich ihrer wie ein Vater angenommen hatte, fast abgöttisch, bewunderten seine überlegene Intelligenz und staunten seine anderen Fähigkeiten, die nicht gerade alltäglicher Art waren, wie etwas Unbegreifliches an.

Die Brüder hatten bei seinem Eintritt hastig ein einer Strickleiter ähnliches Ding, an dem sie gerade gearbeitet hatten, blitzschnell unter die eine Schlafmatratze geschoben. Als sie ihn jedoch erkannten, holten sie sie wieder hervor und flochten die nächste der Holzsprossen fest, während Rob (sie nannten sich nur Rob und Norb) durch den offenen Eingang gleichzeitig die Lagergasse beobachtete.

Der junge Ingenieur setzte sich.

„Jungens“, begann er leise, „die Stunde der Entscheidung ist da! Seit Wochen haben wir die Flucht vorbereitet. Jetzt muß ich fort – muß, oder ich bin morgen ausgelöscht!“ Er berichtete von seinem Zusammentreffen mit Leutnant Bompard und fügte hinzu: „Da wir nun leider keine Zeit mehr haben, eine gemeinsame Flucht bis ins einzelne einer besonders günstigen Gelegenheit anzupassen, kann ich die Verantwortung nicht tragen, Euch mitzunehmen, denn die Aussichten auf ein Gelingen sind bei der Hast, mit der ich zu handeln gezwungen bin, äußerst gering. Ich werde Euch also zurücklassen müssen, meine jungen Freunde, so leid mir dies auch tut.“

Kaum hatte Stillfried den Satz beendet, als Rob ganz empört hervorstieß: „Zurücklassen wollen Sie uns, Herr Stillfried …?! – Das kann ja nur – nur ein Scherz sein! Oder – halten Sie uns für so feige, daß wir …“

„Ruhe, Rob, Ruhe!“ unterbrach der Ingenieur ihn herzlich. „Von Feigheit ist hier keine Rede! Ich darf aber auf keinen Fall Euch mit hineinziehen in das, was vielleicht mein Verderben wird!“ Jetzt war es Norb, der ihn nicht weitersprechen ließ.

So ging der Wortstreit, das energische Verfechten zweier verschiedener Auffassungen, noch eine Weile fort. Schließlich siegten die Knaben aber doch. – –

Die Soldaten, die das mit einem doppelten Stacheldrahtzaun umgebene Lager nach Eintritt der Dunkelheit auf die Anwesenheit sämtlicher Internierter nachgesehen und in jedes Zelt hineingeschaut hatten, waren kaum nach dem Wachgebäude am Lagereingang zurückgekehrt, als die drei Gefährten aufbrachen und, zwischen den Zelten stellenweise auf allen Vieren hinkriechend, auch wirklich unbemerkt bis an den inneren Zaun gelangten. Der Ingenieur war stets ein paar Schritte voraus. Er hatte sich längst schon dafür entschieden, wo man mit Hilfe der heimlich angefertigten Strickleiter die Drahtumzäunung am besten übersteigen konnte.

Der Mond ging erst in einer Stunde auf. Bis dahin mußten sie aber auch bestimmt im Freien sein, da nachher der Dünensand das Licht des Nachtgestirns so verstärkt zurückwarf, daß man es in dieser hellen Dämmerung niemals hätte wagen dürfen, die Zäune zu überklettern, um die außen und innen mehrere Posten patrouillierten. Freilich – diese Bewachung der Zivilgefangenen wurde hier äußerst lässig gehandhabt, da kaum anzunehmen war, daß einer der Deutschen es wagen würde, aufs Geratewohl in die Wüste hineinzufliehen, die ihm mit ihren tausend Gefahren bald verderblich werden mußte, ganz abgehen von der Möglichkeit, eine energische Verfolgung jedes Flüchtlings sofort beginnen zu können, wozu Leutnant Bompard sich einige besonders abgerichtete Hunde hielt.

Die Dunkelheit vor Aufgang des Mondes war so groß, daß die drei Deutschen eine Entdeckung nur zu fürchten brauchten, wenn sie ein Posten gerade beim Überklettern der Zäune erwischte … Und dies ließ sich bei einiger Vorsicht leicht vermeiden.

Tatsächlich kamen sie denn auch glücklich über die stachligen Hindernisse hinweg und eilten nun unter Führung Stillfrieds dem Eingeborenendorfe Belkara zu, das keine zwei Kilometer nach Westen zu entfernt lag.

 

2. Kapitel.

In Belkara war vor einer Stunde eine Karawane eingetroffen, die, von Wargla aus dem Innern Algeriens kommend, nach der Hafenstadt Biserta unterwegs war und hier einige Stunden zu rasten gedachte.

In dem Palmenwäldchen, in dem auch das Unterkunftshaus für alle Reisenden lag, waren die Kamele und Maultiere abgeladen und mit zusammengebundenen Vorderbeinen dann zum Grasen in die hier steppenartige, grasbestandene Wüste geführt worden. Die Leute der Karawane, vier Kaufleute aus Tunis und einige zwanzig schwarze Kameltreiber, hatten sich in dem Palmenhain um verschiedene Feuer gelagert, während die Warenballen und Kisten abseits im Schatten der Bäume zu einem Haufen aufgestapelt waren. –

Stillfried, dessen linkes Bein jetzt keinerlei Unterstützung durch einen Stock mehr bedurfte, war als Kundschafter vorausgeschlichen. Zuerst hatte er die Absicht gehabt, irgendwo im Dorfe Belkara drei Reitkamele zwangsweise zu entleihen, gab nun aber diesen Plan sofort auf, als er die Anwesenheit der Karawane gewahr wurde und sein spähender Blick die Transportkisten entdeckt hatte.

Diese waren in Lederhäute zum Schutz gegen den Regen eingehüllt, wie er bald feststellte, und die Deckel darauf nur durch Lederriemen befestigt. Da er vorhin schon unter den Dorfbewohnern, die zum Besuch der Leute der Karawane in den Palmenhain gekommen waren, eine Beduinin bemerkt hatte, die häufig als Verkäuferin von Früchten im Lager der Internierten erschienen war und mit der er sich etwas angefreundet hatte, schien ihm die Vorsehung geradezu einen Wink zu erteilen, den neuen Fluchtplan auszuführen.

Das Beduinenmädchen, erfüllt von geheimem Haß gegen die weißen Herren Algeriens, war, nachdem er sie glücklich durch Zeichen auf sich aufmerksam gemacht hatte, sofort bereit, den abenteuerlichen Plan zu unterstützen. Ohne ihre Hilfe wäre die Fortsetzung der Flucht auf diese Weise ganz unmöglich gewesen. Denn sie war es, die geschickt und unauffällig um die geleerten Kisten, deren Inhalt, handgewebte Stoffe in Rollen, abseits unter Büsche versteckt wurde, wieder die Riemen und Häute befestigte, eine Arbeit, die immerhin erst beendet war, als die Karawane gegen Mitternacht wieder aufbrach.

Mit klingenden Halfterglöckchen und unter dem Geschrei der Treiber ging’s hinaus in die stille, mondbeschienene Wüste, immer den Spuren im Sande nach, die hier die Straße vorstellten. Gegen Morgen änderte sich das Landschaftsbild. Der Boden wurde felsig, tiefe, steinige Täler ausgetrockneter Flüsse zeigten sich, die Hügel türmten sich höher, kahle Felsmassen traten hier und da zutage, während anderseits auch die Zahl der menschlichen Ansiedlungen wuchs. Kleine Dörfer, französische Militärposten waren stets in der Nähe trinkbaren Wassers, Quellen, Teiche, bescheidene Flüßchen, zu finden; auch der Baumbestand und beackerte Felder wurden zahlreicher. Man näherte sich immer mehr dem fruchtbareren Küstenstrich.

Erst gegen elf Uhr, als die größte Tageshitze begann, machte die Karawane abermals in einem Dorfe halt. Die Lasten der Tiere wurden, da sich im Westen ein Gewitter zusammenballte, in einem offenen Schuppen untergestellt. Gerade während des ersten stärkeren Donnerschlages gelang es Stillfried, mit einem langen Messer, das ihm die junge Beduinin zugesteckt hatte, die Riemen durch eine Spalte der Kiste mit der Klinge hindurchlangend, zu durchschneiden. Bald hatte er sein Versteck verlassen und befreite nun, als gerade ein wolkenbruchartiger Regen herniederprasselte, auch die beiden Brüder. Sofort schlugen die drei nun die Richtung nach dem nahen Höhenzuge, den östlichen Ausläufern des kleinen Atlas-Gebirges ein, plünderten unterwegs ein paar Dattelbäume, stillten den schlimmsten Hunger so und fanden dann in einem Dornendickicht in einer Schlucht einen Schlupfwinkel, wo sie sofort infolge übergroßer Mattigkeit auf dem harten Boden einschliefen. Die Reise in den Kisten wäre für sie auf längere Zeit unmöglich gewesen. Schon die auf diese Weise zurückgelegten elf Stunden hatten sie derart durchgerüttelt, daß sie dann in ihrem Dornendickicht vier Tage brauchten, ehe sie wieder so weit bei Kräften waren, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Während dieser Zeit nährten sie sich von Früchten, die sie auf den Feldern und Bäumen eines eine Stunde entfernten Dorfes „wegfanden“, um nicht den häßlichen Ausdruck stehlen zu gebrauchen.

Der Ingenieur hielt es für ausgeschlossen, daß die zu ihrer Verfolgung ausgeschickten Soldaten ihnen auf die Spur kommen könnten. Er beruhigte die Knaben auch hinsichtlich der drei leeren Kisten des Karawanengepäcks. Man würde eben annehmen, daß Diebe während des Gewitters die Kisten ausgeräumt hätten. „Wir haben unsere Fährte“, erklärte Stillfried mit Überzeugung, „fraglos so gut verwischt, daß niemand uns gerade hier in der dichter besiedelten Gegend unweit eines Karawanenweges suchen wird. Trotzdem können wir hier nicht bleiben. Wir müssen versuchen, einen zuverlässigen Eingeborenen zu finden, der uns mit Kleidungsstücken versieht, so daß wir nicht so leicht durch unsere europäischen, bereits zu Strolchkostümen gewordenen Anzüge überall auffallen. Sichere Rettung gibt es für uns nur dadurch, daß wir uns dann wieder nach Passieren der tunesischen Grenze dem Innern des Landes zuwenden und uns dort einem den Franzosen feindlichen Beduinenstamm anschließen, der uns nach Libyen weiterhilft, wo türkische Truppen die Italiener bekämpfen.“

Von den ungeheuren Schwierigkeiten dieses Planes machte sich der Ingenieur sehr wohl ein richtiges Bild. Aber er vertraute seiner Umsicht und Tatkraft, nicht minder auch der Ausdauer und Verschlagenheit seiner kleinen Gefährten, die schon wiederholt Beweise einer frischfröhlichen Unternehmungslust gegeben hatten.

Am Abend des vierten Tages setzten die drei dann also ihren Marsch fort, zunächst noch nach Norden zu, da sie in einem Küstenort am leichtesten jemand zu finden hofften, der es heimlich mit den Deutschen hielt, die hier in Algerien als ehrliche, strebsame Kaufleute unter der eingeborenen Bevölkerung sehr beliebt waren.

Unter Strapazen, die nur der eiserne Wille, sich die Freiheit zu erringen, überwand, langten sie nach einer Woche westlich des Hafenstädtchens Bona in der Nähe eines[1] unweit der Meeresküste gelegenen Dorfes an, in dem ein jüdischer Händler aus Bona eine Zweigniederlassung unterhielt. Dies kundschaftete Rob aus, der gleich in der ersten Nacht sich in den Hof des Hauses des Händlers Ben Schorach schlich und beobachtete, wie dieser mit seinem Angestellten über die letzten Dattelsendungen abrechnete. Aber erst in der dritten Nacht gelang es Stillfried dann, den Händler allein zu sprechen. Dieser war nicht abgeneigt, den drei Deutschen zu helfen, erklärte aber sofort, daß sie ihren Plan, sich später wieder ins Innere zu wenden, aufgeben müßten. Zunächst versah er sie mit Kleidern, – alten getragenen Sachen, wie sie die Küstenbewohner benutzten. Dann verschaffte er ihnen auch einige andere Dinge, damit sie in ihrem neuen Versteck, einer ausgedehnten Felshöhle südlich des Dorfes, nicht ganz wie die Tiere zu hausen brauchten. Schließlich machte er nach langem Überlegen dem Ingenieur den Vorschlag, den Gedanken an eine Fortsetzung der Flucht ganz aufzugeben und das Ende des Krieges auf einer der kleinen, unbewohnten Inseln abzuwarten, die einige Meilen westlich des Dorfes dem Meeresstrande in einer im übrigen ganz menschenleeren Gegend vorgelagert waren. Stillfried meinte hierauf, er wolle sich die Sache bis zum nächsten Abend überlegen. Vier Stunden später jedoch erschien der Händler in dem nur ihm noch bekannten Versteck der Deutschen und teilte ihnen atemlos mit, daß ihre Anwesenheit in der Höhle verraten sein müsse. Sie sollten daher sofort weiterziehen, da eine französische Patrouille jeden Augenblick eintreffen könne. Er übergab dem Ingenieur noch ein Bündel und sprengte dann nach kurzem Abschied gegen Bona zu in die Nacht hinaus, wahrscheinlich erfüllt von ernstesten Besorgnissen, daß seine den Deutschen geleisteten Dienste ihn selbst ebenfalls in Gefahr bringen könnten.

Stillfried besann sich nicht lange und befahl den Aufbruch. In der hellen Sommernacht – befand man sich doch Mitte Juni 1917 – wandten die Gefährten sich eilends durch zerklüftete Täler nach Westen und kamen, mit aller Vorsicht sich bewegend, gegen Morgen bei einer verlassenen Hütte inmitten kahler Dünen an, wo sie etwas auszuruhen gedachten. Nachdem sie drei Stunden geschlafen hatten, ging es angesichts der Küste weiter, bis sie dann tatsächlich einige kahle Felsinselchen bemerkten, die dicht beieinander und etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt lagen, umgeben von einer Brandung, deren weiße Schaummassen weithin zu erkennen waren.

Mehr aber noch als diese Eilande, die ihnen der Händler Ben Schorach als Zufluchtsort empfohlen hatte, fesselte die drei Gefährten ein Gegenstand, der weit näher nach dem Strande zu leicht sich wiegend auf den Wellen trieb.

„Ah – seltsam!“ meinte der Ingenieur. „Schaut mal dorthin, Jungens! Das ist ein gekenterter großer Seedampfer, den die in den Schiffsraum noch eingeschlossene Luft schwimmend erhält! Wie der Rücken eines ungeheuren Walfisches sieht der Schiffsboden aus. – Merkwürdig in der Tat! Es kommt nicht oft vor, daß Dampfer kentern …!“

Was wußte Stillfried vom U-Bootkrieg …?! Nichts – nichts?! Was wußte er überhaupt vom deutschen Vaterlande?! – Die Franzosen hatten den Zivilgefangenen nie eine wahre Mitteilung über den Verlauf des Riesenkampfes gemacht. Und das wenige, was Ben Schorach in aller Eile berichtet hatte, stammte ja auch aus französischen Quellen, stellte die Zentralmächte als besiegt und um Frieden winselnd dar, den ihnen der Feind auch demnächst … „nach dem Einzug in Berlin“ … großmütig gewähren würde.

Wäre der Ingenieur besser über den Krieg und die dabei verwendeten Mittel zur Schwächung des Gegners unterrichtet gewesen, so hätte er seinen Begleitern wohl sofort, auf den gekenterten Dampfer deutend, erklärt: „U-Bootarbeit!“

So jedoch regte sich jetzt eher ein Gefühl des Bedauern s in ihm. Schade um das Werk der Technik dort draußen in See, das dem Untergang geweiht war …!

Aus diesen flüchtig sein Hirn durchkreuzenden Gedanken führte ihn ein Ausruf Robs in die ernste Wirklichkeit zurück, – ein kurzer Ruf, in dem aber doch jubelnde Freude war:

„Ein Boot – ein Boot!“

 

3. Kapitel.

Tatsächlich: kieloben trieb ein Boot, eine Jolle, hob und senkte sich mit den Wellen, näherte sich langsam der Küstenbrandung, wo es unfehlbar zerschellen mußte.

Der Ingenieur besann sich nicht lange. Hier tat Eile not. Das Boot mußten sie haben! – Im Nu hatte er sich seiner Oberkleider entledigt und warf sich in die See. Er war ein vorzüglicher Schwimmer, und es gelang ihm auch, die Brandung nach hartem Kampf zu überwinden. Bald hatte er auch die Jolle gepackt. Sie auszuschöpfen war unmöglich. Aber er konnte sie wenigstens nach einer offenen Stelle des Brandungsstreifens hinlenken, wo er sie unversehrt hindurch und an den Strand brachte.

Ein leeres Boot zum Übersetzen nach den Inseln besaßen die drei Flüchtlinge nun. Damit war ihnen jedoch wenig geholfen. Es fehlten die Ruder, ohne die die Jolle ihnen so wenig half wie ein Felsstück. Aber Stillfried hatte bereits vor Antritt seiner waghalsigen Schwimmtour auch hieran gedacht. Wo ein gekenterter Dampfer dem Lande zutrieb, mußten auch von Deck losgerissene oder weggespülte Gegenstände aller Art auf dem Wasser schwimmen oder irgendwo in der Nähe bereits ans Ufer geworfen sein. Daher suchte er jetzt auch den Strand nach Westen zu ab, während die Brüder sich nach Osten wandten.

Rob war es, der das erste Ruder entdeckte. Norb fand gleich darauf zwischen Felsklippen festgeklemmt ein zweites und einen Holzkasten, der fettige Putzwolle enthielt. Sofort machten sie kehrt und liefen, sich mit den drei Gegenständen schleppend, hinter ihrem Beschützer und Freunde her. Auch dieser hatte Glück gehabt und ein Ruder sowie einen großen Kistendeckel sowie zwei Stücke eines Holzgeländers erbeutet.

Ohne Säumen wurde jetzt die Jolle flott gemacht, da man nicht wissen konnte, ob nicht die französische Patrouille womöglich mit Hilfe von Spürhunden die Verfolgung fortsetzte und jeden Augenblick auftauchen konnte.

Sehr günstig war es für die drei Deutschen, daß gerade jetzt eine heftige Regenbö, vom Meere herkommend, einen so kräftigen Guß herabschickte, daß alle Spuren der Flüchtlinge fortgewaschen wurden. Freilich, pudelnaß mußten sie die Fahrt nach den Inseln antreten, eine Fahrt ins Ungewisse … Und doch waren sie froh, dort drüben dann vorläufig in Sicherheit zu sein.

Ohne Unfall langten sie unter Wind bei den Inseln an, lenkten in den nächsten der Kanäle, die sich zwischen den Eilanden hinzogen, ein und befanden sich bald in völlig ruhigem klaren Wasser, das ihnen bis auf den felsigen Grund zu sehen gestattete, und in aller Ruhe suchte Stillfried daher sich eine der kleinen Inseln aus, deren Bodengestaltung ihm am meisten darauf hinzudeuten schien, daß sie ein Versteck in Gestalt einer Höhle oder tiefen Schlucht bieten könnte.

Dieses Eiland war das nördlichste der Gruppe, zugleich auch das größte, von sichelförmiger Gestalt und mit wildzerklüfteten Felsmassen bedeckt, die an der Ostspitze sich zu einem Hügel von vielleicht zwölf Meter Höhe auftürmten. An dieser Stelle entdeckte Stillfried nun in der jäh abfallenden Uferwand eine kaum zwei Meter breite Spalte, in die die Jolle nun hineingedrückt und tiefer mit Hilfe der Hände gezogen wurde, bis sich nach etwa zehn Metern das Gestein über diesem engen Kanal dachartig schloß und gleichzeitig sich vor den Bootsinsassen ein kleines Bassin auftat, das lediglich von oben durch einige Risse in der Felswölbung etwas Licht erhielt, gerade genug, um sich notdürftig hier zurechtfinden zu können.

Dieser winzige geschützte Hafen hatte aber noch, wie sich bald herausstellte, eine weitere Eigentümlichkeit. Gerade gegenüber dem Eingang gab es einen zweiten ähnlichen, nur bedeutend längeren, vollständig überwölbten Kanal, der in vielfachen Windungen sich bis nach der Nordseite des Eilandes erstreckte, wo er, verdeckt durch Klippen und Risse, in die See mündete.

Nachdem man diesen Engpaß in tiefer Dunkelheit durchfahren hatte, befestigten die Gefährten die Jolle an einem Felsen mit Hilfe des Bootstaues und erstiegen die steinige Küste, um sich auch oben auf der Insel einmal umzusehen. Das Ufer senkte sich nach der anderen Seite nach dem Fuße des Hügels zu steil abwärts, und es entstand so um diesen herum ein ringförmiges Tal, in dem sich außer Moosen und Flechten auch einige Gräser und niedriges Gestrüpp angesiedelt hatten.

Wenn es auch nur ein sehr bescheidener Pflanzenwuchs war, so waren die Flüchtlinge doch dem Schöpfer für dieses wenige Grün von tiefstem Herzen dankbar. Inzwischen war auch längst die Regenbö landeinwärts gezogen, und die Sonnenstrahlen und der wieder in durchsichtigstem Blau freundlich lächelnde Himmel gaben den drei Gefährten neuen Mut und frische Tatkraft.

Der Ingenieur erklomm dann allein den Hügel, um von oben Umschau zu halten, während Rob und Norb die Bretter des Kistendeckels zum Teil in kleinere Stücke zerschlagen und in die Sonne zum Trocknen legen mußten, um sie später als Fackeln verwenden zu können.

Stillfried hatte von der Spitze des Hügels einen bequemen Gesamtblick über die acht Inselchen, von denen nur drei etwa 500 Quadratmeter Größe haben mochten. Die Eilande waren ganz willkürlich in Gestalt einer Birne, deren stumpfes Ende nach dem Festlande zeigte, gruppiert, so daß diejenige Insel, auf der die Gefährten sich jetzt befanden, sozusagen den gekrümmten Stiel des ganzen bildete. Von hier aus war auch zu erkennen, daß nur dieses eine Inselchen einen geringen Pflanzenwuchs besaß. Die Flüchtlinge hatten also durch einen glücklichen Zufall gerade in jenen Kanal im Südosten die Jolle hineingelenkt, um nun hier auf dem günstigsten Boden weitum ihr Robinsondasein beginnen zu können.

Mittlerweile war es 10 Uhr vormittags geworden. Stillfried, der sich wieder zu den Knaben gesellt hatte, wußte diesen zu melden, daß er an der Küste mehrere sich lebhaft hin und her bewegende Punkte kurz vor dem Abstieg von dem Hügel bemerkt hätte, die er nur für Menschen, also für ihre Verfolger halten könne.

„Jedenfalls müssen wir in den nächsten Tagen noch sehr vorsichtig sein“, meinte er, „da ich es nicht für ausgeschlossen halte, daß die Franzosen irgendwie auf den Gedanken kommen, wir könnten uns hier herüber gerettet haben. Wahrscheinlich wird es ja nicht eintreten, daß man uns hier sucht. Aber Vorsicht ist besser als ein übergroßes Sicherheitsgefühl …! – Wir wollen daher auch jetzt zunächst den überwölbten Kanal und das Bassin nochmals, aber bei Fackellicht, genauer uns ansehen. Es müßte doch sehr merkwürdig sein, wenn wir dort nicht irgendein passendes Versteck für uns finden sollten.“ –

Der Lichtschein rötlich flackernder, qualmender Holzscheite beleuchtete die grünbemoosten Wände des gekrümmten Kanals, in dem die drei sich langsam vorwärtsarbeiteten. Hin und wieder traten die Felsen zurück und bildeten breitere Ausbuchtungen, und in einer dieser Erweiterungen dicht vor dem Bassin bemerkten Robs gute Augen in einer Höhe von anderthalb Meter über dem Wasserspiegel eine breite Felsspalte, die sich tief in das Gestein hineinzuziehen schien. Und Rob war es dann auch, der in die dunkle Öffnung, die sich nach oben zu allmählich verengerte, geschickt sich hineinschwang und gleich darauf rief:

„Oh, Herr Stillfried, da haben wir mal eine merkwürdige Grotte entdeckt! Sie ist gar nicht dunkel, steigt in breiten Stufen nach Westen zu an und mündet in Gestalt einer zackigen Öffnung, in der ich gerade stehen kann, nach dem Innern des Eilandes zu hoch über dem Erdboden in einem steilen Felsen, der mit zu dem Hügel gehört, den Sie vorhin erklommen haben!“

Diese Schilderung der Örtlichkeit bewog den Ingenieur, die Höhle selbst einmal in Augenschein zu nehmen. Sie wäre nun zum ständigen Aufenthalt kaum zu gebrauchen gewesen, wenn sie sich nicht in ihrem oberen, ebenen Teile nach einer Seite hin vor dem Felsenloche, das ins Freie führte, schlauchartig erweitert hätte. Nur infolge dieser Eigentümlichkeit bot sie, da sonst an allen Stellen eine scharfe Zugluft wie in einem Kamin herrschte, genügend Schutz und Platz, um sich hier wohnlich einzurichten.

Als Stillfried den Brüdern seinen Entschluß mitteilte, diese Grotte als Behausung herzurichten, waren sie ganz begeistert von dem Gedanken. Unverzüglich gingen die drei denn auch ans Werk, ihre geringe Habe, zu der auch der Kasten mit der Putzwolle und die Reste des großen Kistendeckels gehörten, in das neue Versteck zu schaffen.

Gegen Abend hatte die Höhle denn auch schon ein wesentlich anderes Aussehen bekommen. Drei Lagerstätten waren in dem tiefsten Winkel hergerichtet; an der einen Wand dicht an dem Felsloche stand ein aus Steinen errichteter Herd, während aus den Brettern und Teilen des Kastens drei Schemel und ein Tisch zusammengeschlagen worden waren.

Sehr zu statten kam den Gefährten das Bündel, das ihnen der Händler Ben Schorach zuletzt noch ausgehändigt hatte und in dem sich außer einem Revolver, einem kleinen Handbeil und verrosteten Nägeln aller Größen noch zwei Messer und einige verbeulte Blechnäpfe befunden hatten, ferner eine Anzahl starke Angelhaken und geteerte, dünne Stricke, schließlich auch zwei Brote und einige Tafeln von Preßdatteln. Kurz: Ben Schorach hatte hier eine Auswahl getroffen, die den Deutschen das Leben auf den Inseln erleichtern sollte und die ihnen auch durch die kräftigen Angelhaken den Weg wies, wie man sich hier einen Teil der nötigen Lebensmittel verschaffen könnte.

Bei Dunkelwerden wurde dann auf dem Herde aus inzwischen gleichfalls eingesammeltem Knüppelholz ein Feuer angezündet, über dem bald in dem größten Blechnapf ein Gericht eßbare, krebsartige Tiere kochte, die die Robinsons am Strande aufgelesen hatten.

Im köstlichen Gefühl vorläufigen Geborgenseins aßen die Gefährten mit größtem Appetit ihre bescheidene Suppe, indem sie sich der Holzlöffel bedienten, die der geschickte Rob aus einem besonders dicken Brett in kurzer Zeit geschnitzt hatte.

Noch während der Mahlzeit hörten sie dann, wie draußen ein Orkan fast von Minute zu Minute mehr und mehr anschwoll, hörten die Musik des Sturmes, das Heulen der Windstöße um die zackigen Felsen und das wütende Toben und Brüllen der Brandung.

„Ein böses Wetter!“ sagte Stillfried ernst. „Es wird manch wackerem Schiffe den Untergang bringen. – Was meint Ihr, Jungens, – ob wir nicht mal nach dem Nordstrand hinübergehen? Jetzt in der Dunkelheit muß die Brandung mit ihren weißen Schaummassen einen wunderbaren Anblick bieten!“

Die Knaben waren natürlich sofort bereit, und auf dem bereits mehrfach am Nachmittag erprobten Wege – mit Hilfe der Leine der Jolle das Felsloch an der steilen Außenwand hinab! – verließen die drei Flüchtlinge dann ihren Schlupfwinkel und erklommen das steile Ufer, bis sich vor ihnen, von dem inzwischen aufgegangenen Heer der Sterne matt beleuchtet, das großartige Schauspiel des orkangepeitschten Meeres auftat.

 

4. Kapitel.

Die Flüchtlinge standen und schauten. Der Wind zerrte an ihren armseligen Lumpen, die von den Strapazen der letzten Tage mehr mitgenommen waren als die Menschen selbst, die sie getragen hatten.

Das Schauen war eine Lust, denn das Bild vor ihnen wechselte stets und blieb doch eigentlich dasselbe: Es war das Meer in seiner ganzen Wildheit, nicht das länderverbindende, schifftragende, friedliche, im Sonnenglast flimmernde endlose Wasser, sondern eine den Menschen feindliche Naturgewalt, etwas dämonisches, eine Reihe beweglicher Berge aus dunklem Glas, die dahergeglitten kamen, näher und näher, keiner dem andern völlig gleichend, die plötzlich an den Spitzen weiß aufleuchteten und dann ebenso plötzlich mit dumpfem Donnern zerbarsten.

Und zwischen diesen wandernden Bergen in den dunkeln, sich verschiebenden Tälern gewahrte Norb dann ein Boot, ein langgestrecktes, gedecktes Fahrzeug. Es gehörten schon gute Augen dazu, um es als ein Motorboot zu erkennen. Aber die drei Gefährten besaßen diese scharfen Augen, sahen, wie es gegen die Wogen ankämpfte, hochschwebte, sank, wie Massen schwarz- und weißgestreiften, flüssigen Glases darüber hinwegschwemmten, sahen, wie winzige Menschen auf dem Deck zuweilen entlangtappten, wie das arme Fahrzeug rollte, stampfte und sich aufbäumte, bis – – Rob einen Schrei ausstieß …:

„Gekentert, Herr Stillfried, – gekentert!“

In den Tiefen der Wellenreihen rangen Menschen[2] mit dem gierigen Meere um das Leben. Immer dichter an die weiße Mauer der Brandung trugen die vorwärtsjagenden Wogen die todgeweihten Schwimmer. Immer weniger wurden es: Erst waren es sechs, bald nur drei, schließlich nur noch einer, dessen dunkles Haar und helleres Gesicht aus den Wassern ragte wie ein willenlos treibender, großer Puppenkopf. Dann kam ein Riesenberg angebraust, höher als alle andern bisher, riß den Unglücklichen mit fort und … warf ihn hinweg über die Riffe und Klippen gerade in eine kleine Einbuchtung der Küste, wo das Wasser ruhig schien im Vergleich zu dem Wüten da draußen.

Stillfried sprang mit einemmal abwärts von Stein zu Stein, von Vorsprung zu Vorsprung, riß unten am Strande die zerfetzten Kleider ab und stürzte sich in die See, um wenigstens den einen noch lebend zu retten, der da keine dreißig Meter entfernt nur noch zeitweise über der Oberfläche erschien.

Glücklich bekam er ihn von hinten am Rock zwischen den Schultern zu packen, glücklich zerrte er nachher den Bewußtlosen ans Ufer, auf Trockene.

Die Nacht war jetzt ganz hell geworden.

Stillfried beugte sich über den Mann, der eine Uniform trug. Auch die Knaben hatten sich eingefunden, und Rob war es, der das erstaunte Zusammenzucken des Ingenieurs mit den Worten begleitete:

„Der Leutnant, – wahrhaftig, der Lageradjutant von Belkara.“

Und Stillfried fügte dann hinzu, ganz feierlich:

„Sie verfolgten uns in dem Motorboot, wollten die Inseln hier absuchen! – Schicksalsfügung, meine Freunde! Der Finger Gottes weist auf den, der uns übles tat!“ –

Leutnant Bompard erwachte erst, als er in der Höhle auf einem Mooslager ruhte. Mühsam hob er den Kopf. Der flackernde Schein des Herdfeuers hätte nicht genügt, ihn den Ingenieur in dem verwilderten Bart und der Beduinentracht erkennen zu lassen. Aber die braunen Gesichter der Knaben blieben ihm nicht fremd. Ein Ausdruck der Angst und Unruhe zeigte sich in seinen Mienen. Er richtete sich mit einem Ruck auf, schaute den deutschen Ingenieur scharf an. Ein schneller Blick in die Runde belehrte ihn weiter, daß er in der Gewalt seiner Feinde war. Da sagte Stillfried auch schon:

„Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, Leutnant Bompard, daß Sie diese Höhle nicht gegen meinen Willen verlassen werden, sollen Sie sich frei bewegen dürfen. Wenn nicht, so erfordert es unsere Sicherheit, daß wir Sie als Gefangenen behandeln und unsere Maßnahmen danach treffen!“

Bompard lachte kurz auf. „Ich bewundere Ihre Frechheit“, meinte er in anmaßendem, drohendem Ton. „Sie wissen ganz genau, daß Sie in kurzem wieder in unserer Gewalt sein werden. Dann dürfte es Ihr Schuldkonto recht unangenehm belasten, wenn Sie mich hier irgendwie fühlen lassen, daß ich einer Ihrer hartnäckigsten Verfolger gewesen bin und dies nur auf Grund meiner Dienststellung.“

Der Ingenieur blieb völlig gleichmütig. „Ganz wie Sie wollen“, erwiderte er. „Jedenfalls befinden Sie sich vorläufig in unserer Gewalt! Vergessen Sie das nicht!“

Der Franzose war doch noch zu schwach, um das Gespräch fortsetzen zu können. Er schwieg. Aber seinem Gesichtsausdruck merkte man es an, was hinter seiner Stirn vorging und welcher Art die Gedanken waren, die ihn bewegten.

Stillfried nahm die Brüder beiseite und teilte ihnen mit, daß es jetzt nötig sei, abwechselnd nachts zu wachen. Vorläufig würde Bompard wohl noch zu angegriffen sein, einen Fluchtversuch zu wagen. Aber Vorsicht sei geboten. Zu leicht konnte der Franzose auf irgendeine Weise die Leute auf dem Festlande darauf aufmerksam machen, daß eine der Inseln jetzt bewohnt sei.

Der Ingenieur fügte hinzu, daß er für den Rest dieser Nacht selbst munter bleiben wollte. Den versäumten Schlaf könne er dann ja am Tage nachholen.

Der Tag brach an. Der Orkan hatte etwas nachgelassen, war aber noch immer so stark, daß an der Nordseite der Insel eine haushohe Brandung stand. – Bompard erwachte gegen zehn Uhr vormittags aus festem Schlummer, der ihn neu gekräftigt hatte. In dem jetzt in der Grotte herrschenden Zwielicht erkannte er bald, daß nur der ältere Knabe noch anwesend war, der neben dem Eingang saß und mit dem Messer an einer großen Kelle herumschnitzelte.

Barschen Tones verlangte Bompard etwas zu essen. Worauf der kleine Deutsche, der in der französischen Gefangenschaft die Sprache der „ersten Kulturnation“ spielend erlernt hatte, erklärte: „Gefangene bitten – und fordern nicht! – Herr Stillfried hat mir Anweisung gegeben, jede Unhöflichkeit Ihrerseits zurückzuweisen.“

Der Franzose begann zu schimpfen, mäßigte sich aber bald, als Rob in nicht mißzuverstehender Weise mit dem Revolver spielte, der neben ihm gelegen hatte.

„Ich werde Euch hängen lassen!“ zischte Bompard. „Ihr werdet es schon noch erleben, daß …“

„Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn!“ erklärte der Junge gutgelaunt. „Im übrigen, Herr Leutnant, – wäre es nicht besser, Sie fügten sich in das Unvermeidliche? Es wird doch hier sonst ein zu unbehagliches Leben für uns vier. Vergessen Sie nicht, daß Herr Stillfried ganz der Mann dazu ist, auch durchzusetzen, was er will.“

Bompard saß wohl zehn Minuten regungslos aufrecht auf seinem Lager und schien zu überlegen. Dann sagte er kurz:

„Bitte, gib mir etwas zu essen.“

Die Muschelsuppe schmeckte ihm nicht sehr. Aber er mußte sich wohl oder übel damit begnügen.

Dann wollte er sich im Freien bewegen. Rob meinte, dies könne geschehen. Nur dürfe Bompard nicht allein hinaus.

Der Franzose kletterte zuerst an der Leine hinab; dicht hinter ihm folgte der Knabe mit dem Revolver. Die steile Wand gehörte zu einem Teil des Felsenhügels an der Westseite der Insel, und in der Talmulde am Fuße des Hügels begann der Leutnant dann auf und ab zu humpeln. Das linke Knie hatte in der Brandung doch einen bösen Stoß abbekommen. Aber Bompard verbiß den Schmerz. Er wollte baldigst wieder die volle Gebrauchsfähigkeit seiner Glieder zurückerlangen.

Inzwischen hatten Stillfried und Norb einen Gang rings um die Insel gemacht, um nach Schiffstrümmern, Muscheln, Krebsen und anderen Dingen zu suchen, die der Orkan aufs Land geworfen haben könnte. Hierbei machten sie nun eine überraschende Entdeckung. Im Osten der Insel zog sich zwischen dieser und dem Nachbareiland ein zunächst recht breiter, dann aber sehr bald enger werdender Kanal hin. In diesen war nun das sinkende Wrack des Dampfers von irgendeiner starken Strömung hineingetrieben worden, wo es sich auf einer Untiefe dann festgelegt hatte und nun kaum ein Meter unter der Oberfläche wie eine riesige, dunkle Masse undeutlich zu erkennen war. Bei dem Entlangschrammen auf dem Grunde waren ganze Teile der Deckaufbauten losgerissen und dann hochgestiegen. So konnten die beiden Deutschen Stücke der Kommandobrücke, des Kombüsendaches und manches andere bergen, das die Strömung ans Ufer geführt hatte, darunter auch zwei schmale Schiffstüren samt den Angeln und den anhängenden Brettern der Holzwand, an denen die Angeln festgeschraubt waren.

Der Ingenieur und Norb schichteten diese Schätze sämtlich auf einem Haufen auf und kehrten dann nach dem Hügel zurück, indem sie abermals den Weg am Nordstrande entlang nahmen. Hier fanden sie nun auch einige mittlerweile von der Brandung an die felsige Küste getriebene Bretter und Planken des Motorbootes, dann auch zwei schrecklich zugerichtete Leichen der Besatzung, bei deren Anblick Norb am liebsten davongelaufen wäre. Aber er schämte sich vor Stillfried und half diesem dann mutig, die Toten zu entkleiden und zwischen den Ufersteinen zu bestatten, wobei der Ingenieur für die Opfer des Orkanes ein Vaterunser betete.

„Die Kleider müssen wir haben“, hatte Stillfried erklärt. „Wir können nicht wissen, mein Junge, wie lange wir hier Robinson zu spielen gezwungen sind. Wir werden sie tüchtig auswaschen. Not kennt kein Gebot!“

Als die beiden sich dann dem Hügel näherten, bemerkten sie den Franzosen und Rob, die friedlich beisammen auf einem Felsen in der Sonne saßen. – Bompard erhob sich höflich und bedankte sich bei Stillfried wortreich für seine Errettung. Doch diesem kam die plötzliche Wandlung in dem Benehmen des Leutnants deshalb nicht ganz aufrichtig vor, weil ein Zuviel darin war. Die Überschwenglichkeit des Franzosen machte auf den mißtrauischen Deutschen ganz den Eindruck, als ob Bompard irgendwelche Hintergedanken dabei hätte, zumal der Leutnant darauf auch bereitwilligst sein Ehrenwort gab, weder einen Fluchtversuch zu unternehmen noch sich einer verräterischen Handlung schuldig zu machen. – Stillfried dachte sich sein Teil dabei und war entschlossen, recht scharf auf den glattzüngigen Burschen aufzupassen. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken.

Bompard half denn auch, so gut es der Zustand seines Knies gestattete, den drei Deutschen bei den verschiedenen Arbeiten, die sie vornahmen, um die Grotte noch wohnlicher zu gestalten. An diesem Tage wurde, um die störende Zugluft ganz abzuhalten, in dem Felsen nach dem unterirdischen Kanal hin eine der gefundenen Türen so befestigt, daß sie eng an die Felswände sich anschmiegte, sich aber auch leicht öffnen ließ. Weiter stellten die vier aus den Brettern kastenähnliche Betten, einen Wandschrank und verschiedene andere Einrichtungsgegenstände für die Grotte her, so daß diese nun schon mehr einer menschlichen Behausung glich. Außerdem wurden auch mehrere Angelschnüre fertiggemacht und in dem Sunde südlich der Insel mit Hilfe des Bootes ausgelegt.

Auf diese Weise verging der Tag nur zu schnell. Gegen Abend hatte sich der Sturm völlig gelegt, der Wind war nach Süd herumgegangen und half, die erregten Wogen zu glätten. Inzwischen hatte Stillfried auch Gelegenheit gehabt, jeden der Brüder einzeln zu sprechen und ihnen seine Bedenken hinsichtlich der Aufrichtigkeit des Franzosen und seinen Entschluß über die zu treffenden heimlichen Überwachungsmaßregeln desselben mitgeteilt. Rob, ein sehr heller Junge, gab dem Ingenieur in allen Punkten recht. Als daher die Nacht kam und man sich zur Ruhe legen wollte, wurde die Leine, die allein ein Verlassen der Grotte durch das Felsloch ermöglichte, eingezogen, und Stillfried legte sie unter sein Mooskopfpolster. Ebenso war Bompard die Lagerstatt im äußersten Winkel der Höhle angewiesen worden, so daß er, wenn er hätte hinausgehen wollen, über die Betten der Deutschen hinwegsteigen mußte. Schließlich hatte der Ingenieur auch noch die Tür in dem Felsgange, die ein Schloß besaß, in dem der Schlüssel gesteckt hatte, abgesperrt.

Der Franzose ahnte wohl, wem alle diese Maßnahmen galten, tat aber so, als halte er sie nicht für Äußerungen des Mißtrauens der Deutschen ihm gegenüber. – Die Nacht verging denn auch ohne Störung. Ob der Franzose gemerkt hatte, daß immer einer der drei Flüchtlinge abwechselnd munter war und daß nur seinetwegen das Herdfeuer dauernd unterhalten wurde, ließ sich schwer feststellen.

Der Morgenimbiß bestand am nächsten Tage in einem in der Herdasche gar gebackenen Fisch, der sich an einer Angelschnur gefangen hatte. Während dieser Mahlzeit kam Stillfried auf die wichtige und schwierige Ernährungsfrage zu sprechen. Dauernd nur Muscheln, Krebse und Fische zu essen, war kaum möglich. Wie aber etwas anderes herbeischaffen? – Da war es Bompard, der an das Boot erinnerte und meinte, man sollte nachts nach der Festlandsküste hinüberrudern und zusehen, ob man dort nicht eine Dattelanpflanzung fände, die man gelegentlich plündern könnte.

Obwohl dieser Vorschlag letzten Endes auf Diebstahl hinauslief, so sagte sich Stillfried doch, daß man nur so eine kleine Abwechslung in den eintönigen Küchenzettel bringen könnte. Ein Wagnis waren die Fahrten ja zweifellos. Aber – es gab keinen anderen Ausweg!

Auch dieser Tag verstrich dann wie der vorhergehende unter den verschiedenartigsten Arbeiten, zu denen besonders das Bergen neu angetriebener Schiffstrümmer gehörte, die sämtlich in der Höhle aufgestapelt wurden. Da der Abend völlige Windstille brachte, entschloß sich der Ingenieur dazu, nach Eintritt der Dunkelheit eine Rudertour nach der Küste zu unternehmen, und zwar sollte Rob bei Bompard zurückbleiben, damit dieser nicht ohne Aufsicht war, da er ja seines Knies wegen nicht mitkonnte. Vor dem Franzosen wurde dies damit begründet, daß zwei Mann vollauf für diese erstmalige Rekognoszierung genügten. Was der Leutnant dachte, sagte er nicht. Aber in seinen Augen glomm für einen Moment – und darin hatte sich Stillfried nicht getäuscht – ein böses Flackern auf, das so recht bewies, wie sehr man den Franzosen zu fürchten hatte. –

Gegen zehn Uhr brachen der Ingenieur und Norb auf. Die Nacht war fast zu sternenklar für das Unternehmen. Aber bei der nötigen Vorsicht hoffte Stillfried doch auf einen glücklichen Ausgang.

 

5. Kapitel.

Rob war es so allein mit dem Franzosen keineswegs behaglich zu Mut. Stillfried hatte ihm größte Wachsamkeit eingeschärft und ihm für alle Fälle auch den Revolver dagelassen. Ohne diesen wäre Rob auch kaum dazu zu bewegen gewesen, in dieser Gesellschaft einsam auf der Insel zurückzubleiben, denn auch er traute ja Bompard nichts Gutes zu.

Der Franzose erklärte sehr bald unter häufigem Gähnen, daß er sehr müde sei, legte sich auch bald auf sein Lager und erzählte den Knaben von seinen Erlebnissen an der Front, wobei er so faustdick log, daß Rob sehr deutlich ein paarmal zweifelnd hüstelte, was den Helden unzähliger Schlachten keineswegs störte.

Dann war Bompard eingeschlafen und begann auch sofort laut zu schnarchen, so daß Rob ohne besondere Behutsamkeit frisches Holz auf das Herdfeuer legen und noch eine Schnitzarbeit vornehmen konnte, die ihn bis zur Rückkehr der beiden Gefährten munter halten sollte. –

Inzwischen hatten Stillfried und Norb den Strand erreicht. Klugerweise war von dem Ingenieur eine Stelle zum Landen ausgesucht worden, die in einer schmalen Bucht lag, wo niedriges, bis an das Wasser hinabwucherndes Gestrüpp die Jolle jedem Späherblick verbarg.

Das Ufer der Bucht hatte sandigen Charakter. Nur hier und da ragten einige Felsen aus dem lockeren, unfruchtbaren Boden heraus. Dieser Felsen wegen, hinter denen sich leicht ein Feind verborgen haben konnte, der das Nahen des Bootes beobachtet hatte, blieb der Ingenieur noch geduldig wohl zehn Minuten sitzen, bevor er es wagte, sich auf der Ruderbank aufzurichten. Alles ringsum blieb jedoch friedlich und still. Da huschte Norb als erster zwischen die Felder. Ihm folgte ebenso lautlos der zweite Bootsinsasse. Sie wandten sich nun landeinwärts, folgten einem ausgetrockneten Bachbett und gelangten nach Überwindung einer steinigen Hügelkette nach halbstündigem Marsch in die Nähe eines kleinen Dorfes, auf das sie schon von weitem durch das Kläffen zahlreicher Hunde aufmerksam wurden.

Die zu dem Dorfe gehörige Oase lag noch ein Stück nordwärts. Die Kronen der Palmen zeichneten sich scharf gegen den hellen Himmel ab.

Der Ingenieur wußte, daß die Eingeborenen ihre kunstlosen Anpflanzungen zumeist durch besondere Wächter nachts gegen Plünderung „freundlicher“ Nachbarn schützen. War dies auch hier der Fall, so mußte man nach einem zweiten Dorf in der Nähe suchen, eine sehr schwierige Aufgabe, da es weit und breit in dem öden Küstenstrich nichts von Wegen oder Stegen gab.

Stillfrieds Sorge erwies sich als überflüssig. Die Oase mit ihren vielleicht hundert Dattelbäumen und auch die rings um ein tümpelartiges Gewässer angelegten Anpflanzungen erwiesen sich als unbewacht.

In kurzem hatten die beiden nun zwei Decken (es waren die Umhüllungen des von dem braven jüdischen Händler gespendeten Bündels) mit Datteln gefüllt, ebenso Wassermelonen abgeschnitten und zusammengebunden. Dann ging’s zurück nach der Bucht. – Wie sehr aber das Sternenlicht täuscht, wie leicht man gewisse Formationen des Bodens für bereits bekannte hält, sollten[3] die beiden jetzt zu ihrem Nachteil erleben. Nach einer Stunde hatten sie sich vollständig verlaufen. Da entschloß der Ingenieur sich, einfach den Meeresstrand aufzusuchen und dort nach Osten zu entlangzugehen, denn nach dieser Himmelsrichtung mußte die Bucht liegen. Dieses einfache und sichere Mittel half wirklich.

Zu beider Freude fanden sie das Boot noch unberührt vor, verstauten darin ihren Raub und stießen ab.

Mittlerweile war’s doch weit nach Mitternacht geworden. Der Ingenieur konnte sich eines gewissen Gefühls von Unruhe nicht erwehren, je näher man den Inseln kam. Bisher war die Expedition ja ohne jede besondere Zwischenfälle verlaufen. Was würde man nun aber auf dem Eiland und in der Grotte vorfinden …?! Würde Rob wachsam genug gewesen sein, um sich von Bompard nicht heimtückisch überwältigen zu lassen …?!

Näher und näher rückte die Jolle jetzt durch die Kanäle der nördlichsten Insel. Auch hier in den Sunden, die die Eilande trennten, war alles tot und einsam. Nur zuweilen kreischte eine der wenigen Möwen auf, die in den Uferfelsen nisteten.

Jetzt lenkte das Boot auf die geheime Einfahrt zu, durch die man in den dunklen, unterirdischen Kanal gelangte.

Da – ganz plötzlich ließen Stillfried und Norb gleichzeitig die Ruder sinken …

Von der Insel war ein lauter Ruf an ihre Ohren gedrungen, ein paar französische Worte, – mehr wohl ein Schrei, den die höchste Angst nur Bompards Kehle entlockt haben konnte.

„Was war das, Norb?“ flüsterte der Ingenieur.

„Fraglos unser Gefangener“, meinte der Knabe.

Das Boot trieb jetzt mit der leichten Strömung langsam weiter nach Westen.

Dann – ja – dann sahen die beiden in der Jolle oben am Rande der Uferfelsen der Insel vier Leute, deren Gestalten sich gegen den ausgestirnten Himmel deutlich wie Silhouetten abhoben.

Vier Männer waren’s. Drei gingen voraus. Der mittelste schien geführt zu werden. Einer schritt hinterher. Nun tauchten die Gestalten hinter dem Kamm der Anhöhen nach Norden zu unter, wurden auch nicht wieder sichtbar.

Schweigend saßen die beiden Deutschen in der treibenden Jolle … Dann sagte der Ingenieur dumpf:

„Mein Junge, – das waren Franzosen, die Rob mitgenommen haben. – Was nun, – was wird aus uns?! Unser Schlupfwinkel ist fraglos verraten.“

Aber Norb widersprach lebhaft. „Niemals war das mein Bruder, – nein, Herr Stillfried, ganz ausgeschlossen! Rob ist nicht so groß wie der, den die Männer zwischen sich hatten. Es kann weit eher Bompard gewesen sein! Die Leute werden ihn seines lahmen Beines wegen gestützt haben. – Ich möchte hier an Land, – sofort! Sie wissen ja, wie gut ich mich aufs Anschleichen verstehe! Ich will zusehen, was eigentlich passiert ist.“

Gleich darauf stieß die Jolle leicht gegen einen weit ins Wasser hineinragenden Felsen. Norb sprang hinaus und verschwand sofort, indem er auf allen Vieren weiterkroch.

Dem zurückbleibenden Ingenieur, der das Boot in den Schatten einer steil aus dem Wasser aufsteigenden Uferwand gedrückt hatte, wurde das Warten endlos lang. Eine halbe Stunde verging. Stillfried kam diese Zeitspanne mindestens achtmal so lang vor. Er fieberte förmlich vor Ungeduld. Dann endlich ein leises Knirschen des Ufergerölls rechts von ihm, ein halblauter Pfiff.

„Bist Du’s, Norb?“

„Jawohl, Herr Stillfried.“ Dann schwang sich der Junge ins Boot.

„Mir ist die ganze Geschichte vollkommen unerklärlich“, meinte Norb. „Ich habe zunächst die Insel vollständig umrundet, aber nirgends die Spur eines Fahrzeugs weder am Strande noch in See entdeckt. Dann bin ich zweimal der Länge nach durch das Eiland geschlichen, habe aber ebensowenig etwas Verdächtiges bemerkt. Nur die Leine hängt zum Felsloche heraus, Herr Stillfried, – also hat jemand die Grotte auf diesem Wege verlassen, denn Rob sollte das Tau doch eingezogen halten bis zu unserer Rückkehr.“

„In der Grotte selbst warst Du nicht?“ forschte der Ingenieur schnell.

„Nein – das wagte ich nicht!“

„Nun – jedenfalls ist hier etwas passiert, etwas für uns Nachteiliges!“ meinte Stillfried nachdenklich. „Ein Boot oder dergleichen muß hiergewesen sein, – muß! Du wirst es übersehen haben.“

„Mit meinen guten Augen?! – Nein, das ist nicht möglich. Ich bin bereit, jeden Eid darauf zu leisten!“ ereiferte sich der Knabe.

Nach kurzer Beratung gingen nun beide an Land und erklommen einen Hügel an der Ostseite, von wo sie das Eiland so ziemlich überblicken konnten. Der Morgen begann bereits zu grauen. Die Dämmerung ging schnell in das Zwielicht vor Sonnenaufgang über. Dann rötete sich der östliche Horizont. Das Tagesgestirn erschien.

Zwei Augenpaare suchten nun jeden Winkel zwischen den Felsen und Klippen ab. Nichts – nichts, – nirgends die Spur eines lebenden Wesens.

Stillfried und Norb lagen oben in ihrem Versteck lang auf dem Bauch. Der Ingenieur wußte wirklich nicht, was er von der Sache halten sollte. Die Zeit schlich hin. Sie spürten Hunger. Auch der Durst nahm zu. Die Sonne brannte ihnen auf dem Rücken. Auf dem Eiland regte sich nichts.

„Man kann uns eine Falle gestellt haben“, meinte Stillfried. „Vielleicht lauern die Franzosen in der Höhle auf uns. Trotzdem –: ewig können wir hier nicht bleiben! Wir wollen uns näher an den Eingang heranpirschen.“

Mit äußerster Vorsicht, sich stets in Deckung haltend, krochen sie davon. Nun hatten sie die Mulde am Fuße des Westhügels erreicht, nun konnten sie in das Felsloch oben an der Steilwand ein Stück hineinblicken.

Dort bewegte sich etwas. Es war … Rob – Rob’s Kopf, der deutlich sichtbar war …! Aber Rob lag lang am Boden, und der Kopf schob sich nur ganz allmählich vor.

Dann hatte Stillfried die Sachlage mit einemmal richtig durchschaut.

„Er ist gefesselt!“ sagte er zu Norb ganz aufgeregt. „Ganz eng gefesselt! Deshalb schiebt er sich so langsam vorwärts! – Aber – in der Grotte kann sich außer ihm niemand befinden! Sonst könnte er sich nicht am Eingang zeigen!“

Da war Norb nicht länger zu halten. Er sprang auf und eilte in großen Sätzen auf den Hügel zu, erfaßte die Leine und turnte daran empor.

Stillfried hätte ihn gern zurückgehalten. Aber es war zu spät. – Doch das, was der Ingenieur befürchtet hatte, trat nicht ein: Kein Feind zeigte sich! Wenn Franzosen hier gewesen waren, dann hatten sie die Insel tatsächlich wieder verlassen!

Stillfried wagte sich nun ebenfalls näher heran. Und – da kamen ihm auch schon die Knaben entgegengesprungen …!

Rob erzählte fliegenden Atems, was ihm begegnet war. Der Schlaf hatte ihn überwältigt, und darauf schien der wortbrüchige, verräterische Bompard nur gelauert zu haben, der den fest Schlummernden nur sehr geschickt vorgetäuscht hatte. Plötzlich hatte der Franzose sich auf den Knaben geworfen, ihm den Revolver aus der Tasche gerissen und ihn dann gebunden. Dem nunmehr Wehrlosen hatte er dann höhnisch erklärt, er würde jetzt auf der Spitze des Hügels ein Signalfeuer anzünden, welches wohl in kurzem eines der Wachtschiffe der Entente, die im Mittelmeer überall gegen die U-Boote kreuzten, herbeilocken dürfte. Darauf war er verschwunden und nicht mehr zurückgekehrt. –

Jedenfalls wurde durch diese Mitteilung das Geheimnis, das über dem Auftauchen der vier Männer auf der Höhe des Uferkammes lag, in keiner Weise geklärt.

Sehr bald hatten die drei Gefährten auch festgestellt, daß sich weder auf ihrem Eiland noch auf einem der benachbarten ein fremdes Wesen befand. Die beladene Jolle war unberührt: kurz, die Angelegenheit war rätselhafter denn je!

Wenn es Franzosen gewesen, die von Bona zu Wasser herübergekommen waren und die Bompard mitgenommen hatten: weshalb hatten sie dann nicht auch sich Robs bemächtigt und den Heimkehrenden aufgelauert?! Weswegen waren sie so schnell wieder verschwunden …?!

Stillfried und die Knaben rieten hin und her. Eine einleuchtende Erklärung vermochten sie jedoch nicht zu finden.

Obwohl die drei Gefährten sich nun vorläufig in Sicherheit befanden, waren sie doch überzeugt, daß der Feind über kurz oder lang zurückkehren würde. Es hieß also dieses prächtige, wohnliche Versteck aufgeben und ein neues suchen.

Da kam der Zufall den Bedrängten zu Hilfe. Jetzt war es Norb, der bei einer genauen Besichtigung des runden, unterirdischen Wasserbeckens dicht unter der Felsendecke bei Fackellicht eine Spalte fand, die gerade breit genug war, einen Menschen zur Not hindurchzulassen. Diese enge Kluft führte dann steil abwärts in eine langgestreckte Höhle, deren südlicher Teil durch zahlreiche kleine Risse und Spalten in der Uferwand so viel Licht erhielt, daß man sich hier auch ohne Fackeln bequem umsehen konnte.

Stillfried erklärte sofort, daß dies ein geradezu ideales Versteck sei, in das man sich im Falle der Not leicht zurückziehen könne. Und hierhin schaffte man denn auch den größten Teil der Datteln und die Wassermelonen als Proviant. Das Boot wieder sollte in dem Wasserbecken, das recht tief war, so versenkt werden, daß man es jederzeit wieder heben konnte. – Der Ingenieur war eben der Meinung, daß, wenn tatsächlich Franzosen den Leutnant mitgenommen hatten, sie im Laufe der nächsten Tage nach den Inseln zurückkehren würden, um die Deutschen abzufangen. Hielt man sich also in der neu entdeckten Höhle verborgen und fehlte die Jolle, so mußte der Feind notwendig annehmen, daß die Flüchtlinge sich anderswohin gewandt hätten.

Die Grotte wurde als Wohnraum daher nicht mehr benutzt. Auf dem Hügel stand den ganzen Tag über einer der drei Gefährten abwechselnd Wache. Nachts schlief man in der neuen Höhle. Aber – eine volle Woche verstrich, und kein Fahrzeug, kein Franzose erschien. – Stillfried konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Er begriff die Vorgänge jener Nacht weniger denn je.

Dann aber brachte ein regnerischer, nebliger Abend endlich die Aufklärung des seltsamen Geheimnisses.

Die drei Flüchtlinge hatten bis Einbruch der Dunkelheit vor dem Felsloche der Grotte gesessen und in das dunstige Tal hinabgeschaut, auf dessen Felspartien die feinen Tropfen unaufhaltsam herniederträufelten, hatten von der Heimat gesprochen, hatten in Sehnsucht des deutschen Vaterlandes gedacht und wieder allerlei Pläne geschmiedet, wie man es wohl durchsetzen könne, irgendwie nach Spanien zu gelangen, um endlich einmal wieder in einem Kulturstaate sich frei zu bewegen.

Da war Rob plötzlich, gerade als man sich in die neue Höhle zum Schlafen hatte zurückziehen wollen, aufgesprungen und ängstlich tiefer in die Grotte zurückgewichen.

„Dort – dort – – drei Männer!“ hatte er leise hervorgestoßen und auf ein paar undeutlich zu erkennende Gestalten gewiesen, die in den Schleiern des feinen Regens soeben sichtbar geworden waren.

Mit angehaltenem Atem beobachteten die Flüchtlinge jetzt die Fremden. Diese schienen irgend etwas zu suchen, schauten immer an den Felswänden des Hügels empor, bis der eine dann die Hände zum Trichter formte und rief:

„Hallo! Sind die Landsleute noch hier …?! Meldet Euch! Wie sind Deutsche – – deutsche U-Bootsmatrosen!“

Rob fand zuerst eine Erwiderung – ein jubelndes Hurra!

Und dann schüttelten die endlich Erlösten derbe Seemannsfäuste in heller Freude, dann erfuhren sie, daß ein U-Boot damals ein paar Mann gelandet hatte, die nach Trinkwasser suchen sollten und denen Bompard gerade in die Arme gelaufen war. Der Franzose hatte zunächst verschwiegen, daß sich drei deutsche Flüchtlinge auf der Insel befanden, hatte erst vor zwei Tagen dem Kommandanten hiervon endlich Mitteilung gemacht!

So kam es, daß Stillfried und die Brüder kurz darauf sich auch ein deutsches U-Boot von innen ansehen konnten, das sie glücklich nach Fiume brachte – auf österreichischen Boden – in die Freiheit!

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Das Geheimnis des Erfinders.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „einer“.
  2. In der Vorlage steht: „Mensche“.
  3. In der Vorlage steht: „sondern“.