Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
Die Freunde trafen sich an der Ecke Linden-Friedrichstraße. Wäre der eine von ihnen auch nur um ein paar Sekunden später vor der Konditorei Kranzler stehen geblieben, die dort ihre Wunderwerke von Torten in geschmackvoll aufgeputzten Schaufenstern den Vorübergehenden verlockend zeigt, so wäre all das, was hier geschildert wird, nie geschehen.
„Wirklich – Heinz – Du?!“
„Egon! Darf ich meinen Augen trauen?“
„Tun Sie’s man ruhig,“ rief ein Berliner Junge und verschwand im Gedränge.
Die Freunde lachten, schüttelten sich die Hände, gingen dann Arm in Arm weiter die Linden hinauf und hatten wohl fünf Minuten nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig mit Fragen zu bombardieren.
Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Doktor Heinz Wüllner war im tiefsten Innern Afrikas gewesen, hatte von seiner langjährigen Forschungsreise überreiche wissenschaftliche Ausbeute jeder Art mitgebracht und bisher nicht daran denken können, die Beziehungen zu allen Bekannten wieder aufzunehmen.
Egon Lenz schien ihm, seit er ihn zuletzt gesehen, über Gebühr ernst und grüblerisch geworden zu sein – diesem sonnigen Menschen, der nicht zu Unrecht Lenz hieß, eine merkwürdige Erscheinung. Als er ihn nun fragte, welche besonderen Umstände und Ereignisse diese Verwandlung hervorbracht hätten, antwortete Lenz ausweichend.
Doktor Wüllner sah plötzlich nach der Uhr.
„Ich muß um fünf zu einem Vortrag in der Urania sein,“ sagte er. „Falls Du nichts vorhast, begleite mich doch. Professor Görke spricht über seine Expedition nach Turkestan, mit Lichtbildern, – wird recht interessant werden.“
„Gut. Ich komme mit. Nur um bei Dir bleiben zu können.“ –
Professor Görke machte eine Pause, rückte die goldene Brille zurecht und fuhr dann mit erhobener Stimme fort:
„Meine Herren! Ich habe ja leider keine Gelegenheit gehabt, die Angaben an Ort und Stelle nachprüfen zu können. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß diese geheimnisvolle Oase inmitten der unwirtlichen, unerforschten Wüste Küsül-Kum tatsächlich existiert. Ich bin nur ein friedliebender, friedlicher Forscher; ich hätte mich kaum dazu geeignet, all die Gefahren auf mich zu nehmen, die dem Weißen dort zwischen den Flüssen Amu-Darja und Syr-Darja drohen –“
Der Professor sprach noch eine gute Viertelstunde. Dann dankten ihm die zahlreich Erschienenen durch lauten Beifall, und wenige Minuten später lag der Saal der Urania wieder in Dunkelheit da.
Die Freunde traten auf die Straße hinaus. Sie waren beide schweigsam. Beiden ging das Gehörte durch den Kopf. Besonders Egon Lenz glaubte noch immer die Worte zu vernehmen:
„Es soll sich um ein feenhaftes Schloß handeln, eine von jenen Bauten, wie man sie in den Märchen von tausend und eine Nacht beschrieben findet, und Reichtümer sollen darin enthalten sein, die alle Pracht der Erde in Schatten stellen –“
Jetzt lachte der Doktor heiter auf.
„Ich glaube, uns haben die Schätze der sagenhaften Oase etwas den Kopf verwirrt! – Los, sprechen wir von was anderem.“
„Nein,“ sagte Egon Lenz kurz. „Sprechen wir gerade davon!“
„Wie – Du interessierst Dich plötzlich für wissenschaftliche Dinge?!“
„Nur so viel oder so wenig wie früher! Nicht einen Deut mehr! – Die Reichtümer regen mich auf. Das ist’s!“
„Die Reichtümer – Dich? – Dich, der selbst genug davon –“
„– gehabt hat,“ vollendete Egon. „Durch unglückliche Spekulation habe ich mein Riesenvermögen bis auf einen geringen Rest verloren. Deshalb bin ich auch so ernst. Ich denke eben ständig darüber nach, wie ich wieder zu Gelde kommen kann, denn ohne Reichtum bin ich ein Unglücklicher, ein Lasttier, das unter dem Packsattel ächzt.“
„So?! Deswegen glaubst Du, ein Unglücklicher zu sein?! – Egon, Egon – ich kenne Dich nicht mehr!“
„Dann hast Du meine Eigenart nie verstanden. Ich bin kein Durchschnittsmensch. Ich habe stets gern gearbeitet. Du weißt, daß ich, ohne ein besonderes Studium abgeschlossen zu haben, der Welt Erfindungen schenkte, die mich hätten berühmt machen können, wenn ich eitel und ehrgeizig wäre. Es gibt für mich nichts Schöneres, als frei von Alltagssorgen zu experimentieren, dies und das auszuklügeln, chemische Versuche anzustellen, – kurz, selbständig als Erfinder zu arbeiten! Das ist mir nun genommen. Mein Reichtum ist dahin. Bald wird die Angst um das tägliche Brot neben mir stehen, bald werde ich hinabsinken zum Lohnsklaven. – Das darf nicht sein. In meinem Hirn schlummern noch gewaltige Pläne, die aber einen freien Menschen – einen sorgenfreien verlangen! – Höre mich an, Heinz! Du weißt: Ich bin stets schnell von Entschluß gewesen. Diese Stunde in der Urania mag meine Schicksalsstunde gewesen sein! Ich glaube an diese Oase! Ich werde den Rest meines Vermögens flüssig machen und nach Turkestan aufbrechen. Willst Du mich begleiten? – Es wäre mir sehr lieb. Du bist eine behördlich abgestempelte wissenschaftliche Größe, bist ein Forscher von Ruf. Wenn Du bei mir bist, glaubt uns jeder, daß wir nur harmlose Dinge dort zwischen den beiden Flüssen treiben wollen! Komm’ mit! Oder ich gehe allein, nehme nur meinen neuen Kammerdiener mit, der eine Perle und ein Hans Dampf in allen Gassen ist.“
Egon Lenz bewohnte seit dem Verlust seines Vermögens am Lützowplatz in Berlin W. im Gartenhaus eine Dreizimmergelegenheit.
Als die Freunde gegen 7 Uhr abends den Flur der Wohnung betraten, schlugen ihnen geradezu pestilenzialische Düfte entgegen.
„Der richtige Lenzgeruch,“ lachte der Doktor.
Egon eilte in das Hinterzimmer, das er sich als Laboratorium eingerichtet hatte. Dort stand März Ypsilon in einer Wolke grauen Rauchs, hustete und nieste und rief nun seinem Herrn zu:
„Ich habe ein Mittel zum Ausräuchern von Motten entdeckt, das geradezu großartig ist!“
„Scheint so,“ krächzte Lenz und riß alle Fenster auf.
Doktor Wüllner war starr vor Staunen in der Tür stehen geblieben. Er hatte einen Erwachsenen in dieser Perle von Diener vorzufinden gehofft und sah sich nun einem langaufgeschossenen jungen Burschen gegenüber, dessen Spitzmausgesicht allerdings eine gehörige Portion Schlauheit und geistige Regsamkeit verriet.
„Packe Deine Chemikalien weg,“ befahl Lenz nun. „Wir reisen morgen abend mit dem Orientexpreß nach Konstantinopel.“
„Bloß bis Stambul?“ fragte März geringschätzig.
„Bis Turkestan! Aber – Maul halten!“
Dann führte Lenz den Doktor in sein Arbeitszimmer.
„Ich muß Dich so etwas über März Ypsilon aufklären,“ sagte er, als ihre Zigarren brannten. „Ich habe ihn vor einem Jahr von der Straße aufgelesen. Er fiel gerade vor mir vor Hunger in Ohnmacht. Ich nahm ihn mit.
Er lag drei Wochen ohne Bewußtsein krank. Als er genesen war, stellte sich heraus, daß er das Gedächtnis vollständig verloren hatte. Über seine Vergangenheit, seine Eltern, seinen Namen weiß er nichts – gar nichts. Es ist, als ob er erst von dem Tage ab lebt, an dem er bei mir aus seiner Ohnmacht erwachte. Und dies geschah im März des Vorjahres und gerade an dem Tage, als der Stern Ypsilon im Großen Bären nach der Beobachtung der Astronomen seine Leuchtkraft ohne jede äußere Ursache verdoppelte. – Deshalb heißt der Junge auch März Ypsilon. Auch polizeilich ist er so gemeldet. Alle Nachforschungen nach seiner Herkunft blieben umsonst.“
„Merkwürdige Geschichte!“
„Schon richtig! – Merkwürdig – für mich aber auch glücklich, denn ich finde keinen ergebeneren Diener, keinen treueren Gehilfen, keinen klügeren Assistenten als ihn.“
Lenz läutete, und gleich darauf erschien auch der, der eigentlich erst ein Jahr lebte.
„Ich soll ein Abendessen für die Herren herrichten, nicht wahr?“ fragte er gelassen.
„Ja. Ein Festmahl! Dies hier ist –“
„Herr Doktor Heinz Wüllner,“ vollendete März den Satz. „Ich habe des Herrn Doktors Bild ja oft genug dort auf dem Schreibtisch mir angesehen als das des Intimus meines lieben Herrn Lenz.“
Wüllner reichte Ypsilon die Hand.
„Wir werden uns schon verstehen, mein Junge.“
„Gewiß, Herr Doktor. – Ich nehme an, Sie kommen mit nach Turkestan. – Nachher muß ich mal im Atlas nachsehen, wo es eigentlich liegt. In Asien – das weiß ich. Aber sonst –?!“
Dann ging er hinaus.
„Ein ulkiger Bursche,“ meinte Wüllner.
„Ja – aber seine hervorstechendste Eigenschaft ist doch seine schnelle Auffassungsgabe und seine Fertigkeit, aus einer Reihe von Geschehnissen bestimmte Schlüsse zu ziehen.“
„Ah – also Kombinationstalent.“
„Ganz richtig. – Ich staune mitunter geradezu, was er in dieser Hinsicht leistet. – Doch nun wollen wir die Einzelheiten unserer Reise besprechen. Es eilt damit ja sehr, wenn wir morgen abend Berlin verlassen wollen, – wenigstens ich und März, da Du ja nachkommen willst.“
„Es geht nicht anders. Ich habe hier noch drei Tage zu tun. Inzwischen könnt ihr dann bereits in Aschabad alles für die Weiterreise mit einer Karawane vorbereitet haben.“
Vierzehn Tage später.
Egon Lenz und März Ypsilon standen neben ihrem Gepäck auf der Landungsbrücke des Hafens in Baku am Kaspischen Meer und schauten nach dem Dampfer aus, der sie über das riesige Binnengewässer nach der Stadt Krasnowodsk bringen sollte, von wo sie mit der Eisenbahn bis Aschabad fahren und hier auf den Doktor warten wollten.
„Ich werde froh sein, wenn ich aus diesem Petroleumduft heraus bin,“ meinte März und schaute nach dort hinüber, wo die Erdölquellen nun schon seit Jahrhunderten – nein, wohl Jahrtausenden, brannten und von den Parsen, den Feueranbetern, noch immer wie seit altersher als heilige Feuer verehrt wurden.
Ypsilon spielte stets den Wendehals. Bald schaute er hierhin, bald dorthin. Nichts entging seinen schwarzen Mausaugen.
„Herr Lenz,“ sagte er nach einer Weile. „Da läuft unser Dampfer ein. – Hm – und der Kerl ist auch wieder da.“
„Welcher Kerl?“
„Der in Odessa sich an uns heranmachte und der Sie auszufragen suchte, wohin wir eigentlich wollten. Damals war er blond. Dann trug er schwarzen Bart und Brille, als er im Zuge vor zwei Tagen abermals versuchte, sich mit Ihnen anzufreunden. Jetzt ist er rothaarig. Aber er schielt links. Und daran erkenne ich ihn.“
Lenz war aufmerksam geworden.
„Weshalb hast Du mir von diesem Menschen bisher nichts gesagt,“ meinte er leise. „Die Geschichte ist verdächtig.“
„Sehr sogar. – Weshalb ich schwieg? – Sehr einfach. Ich wollte sicher gehen, daß blond, schwarz, rot dieselben Gesichtszüge schmückten.“
Lenz blickte nach dem Fremden hin. Es war ein unauffällig gekleideter Europäer, der auf seinem Koffer saß und anscheinend ebenfalls auf den Dampfer wartete. Dieser machte jetzt an der Landungsbrücke fest und brachte sofort einen noch ärgeren Geruch mit, als es der Petroleumduft war: den Gestank verwester Fische.
Der Raddampfer Zesarewitsch wurde nämlich nicht nur zum Personen- und Frachtverkehr, sondern auch zum Transport der Fischbeute der russischen Regierungskutter benutzt, die auf dem Kaspischen Meere stets in kurzem – so fischreich ist dieses Gewässer – bis obenan mit zappelnden Fischleibern gefüllt sind.
Die Überfahrt über das seiner Stürme wegen berüchtigte Binnenmeer verlief dann glatt und ohne Aufregung. In Krasnowodsk stand der Zug nach Herat, das bereits in Afghanistan liegt, schon fertig zur Abfahrt da. Die üblichen Trinkgelder sicherten Lenz und März gute Plätze, und dann ging es südwärts, bald am Rande der Wüste Kara-Kum entlang, die nicht minder trostlos ist als ihre Nachbarin jenseits des Amu-Darja, die Küsül-Kum.
Der Mann mit den drei Gesichtern saß im Nebenabteil.
Lenz zerbrach sich vergeblich darüber den Kopf, was der Mensch von ihm eigentlich wolle. Er riet auf alles Mögliche. Aber stets mußte er sich bei nüchterner Prüfung seiner Ansicht über den „Geheimnisvollen“ sagen, daß auch diese Annahme nicht stimmen könnte.
Der Zug zeichnete sich durch eine gemütliche Langsamkeit aus. Nur auf einer Strecke, wo gerade in den benachbarten Dörfern die Cholera herrschte, fuhr er schneller.
Am fünften Tage morgens war Aschabad erreicht. März Ypsilon staunte über das lebhafte Getriebe in der Stadt, die ein bedeutender Stapelplatz für allerhand Durchgangswaren ist.
Der Fremde verschwand hier – vorläufig. Egon Lenz, der den Orient gut kannte und zum Vergnügen einmal Persien bereist hatte, begann sofort mit dem Ankauf von Pferden und dem Anwerben von geeigneten Leuten, um eine kleine Karawane zusammenzubringen.
Am 28 April 1907 war’s, als er ein Reitpferd selbst erproben wollte und daher in Begleitung Ypsilons, der das Reiten schneller als ein anderer das Kauen erlernt hatte, ein Stück in die Wüste nach Westen zu hinaussprengte, bald die Stadt in einer Bodensenkung aus dem Gesicht verlor und sich in einem steinigen Tale zu einer Hetze auf drei ausgehungerte Wölfe verleiten ließ.
Ypsilon, dessen Pferd bedeutend langsamer war, blieb zurück. Und dann war er weit und breit allein mit seinem kleinen Turkmenengaule, den sein Herr ihm geschenkt und dem er den Namen Zett gegeben hatte.
Er stieg ab, suchte den Schatten einer Felswand auf und drehte sich eine Zigarette.
Nach einer Weile kamen zwei Turkmenen vorübergeritten, zähe, magere Männer mit langen schwarzen Bärten, aus deren bronzefarbigen Gesichtern den jungen Europäer tiefliegende, dunkle Augen unheimlich anglühten.
Aber Ypsilon wußte von Lenz, daß dieses den Türken so nahe verwandte Volk der Turkmenen längst aus gefürchteten Räubern zu friedlichen Ackerbauern geworden ist und daß man von ihnen nichts zu fürchten hat, wenn man sie gerade nicht schwer beleidigt.
Die beiden Reiter verschwanden wieder. Es verging eine halbe Stunde, – noch eine. Ypsilon wurde hungrig, aber auch besorgt um seinen Herrn.
Er stieg zu Pferde, suchte nach den Spuren des Wolfsjägers und trabte auf den deutlich sichtbaren Eindrücken weiter. Di Spuren liefen auf einen felsigen Höhenzug zu.
Dann tauchten vor Ypsilon in einer tiefen Mulde vier große Jurten (Filzzelte) auf. Hunde stürmten ihm entgegen, gleich darauf auch die beiden Reiter, die er vorhin gesehen hatte.
Vor ihm machten sie Halt und bedeuteten ihm durch Zeichen, daß er ihnen folgen solle. Ahnungslos tat er es. Die vier Jurten standen dicht beieinander. Als er auf den offenen Platz zwischen ihnen einbog, sah er dort seines Herrn Pferd stehen, das er sofort an dem hellen Sattelzeug wiedererkannte.
Jetzt erst erschien ihm seine Lage bedenklich.
Zu spät! – Er wurde vom Pferde gezerrt, gebunden, erhielt eine Decke über den Kopf und lag dann irgendwo auf weichen Matten, wahrscheinlich in einer der Jurten, wie ihn der Geruch ahnen ließ, da diese Filzbehausungen der nomadisierenden Turkmenen sich sämtlich durch vollständigen Mangel einer Einrichtung auszeichnen, die das Lüften ermöglicht.
Erst abends erhielt er Hirsebrei und gekochtes Hammelfleisch vorgesetzt. Und da wurde ihm endlich auch die Decke abgenommen und der rechte Arm freigegeben.
Er befand sich in einer engen Abteilung einer Jurte. Vor ihm brannte eine Petroleumlaterne. Daneben hockte ein Turkmene und beobachtete ihn, während er die Mahlzeit heißhungrig hinunterschlang.
Zwei Stunden später etwa wurde er dann ins Freie gebracht und auf seinen Zett gesetzt. In Begleitung von zwei Turkmenen ging’s nach Osten zu in die Nacht hinaus. Bald war jener Höhenzug erreicht, auf den Egon Lenz’ Spur zugeführt hatte. Ohne Aufenthalt wurde das steinige Hügelgelände durchquert.
Der Mond ging jetzt auf. März Ypsilon begann an Flucht zu denken. Die Turkmenen hatten ihm die Fesseln abgenommen. Sogar seinen Stutzen am Sattel hatten sie ihm belassen.
Flucht? – Ein leichtes! Aber nur, wenn er sich nicht scheute von dem Stutzen Gebrauch zu machen. Er hatte ja nur nötig, die Pferde seiner Wächter zu erschießen. Dann war er frei.
Die drei nächtlichen, stillen Reiter ritten so, daß Ypsilon stets zwischen ihnen blieb, mochte man hinter- oder nebeneinander traben.
Der hagere, starke Junge begann an den Riemen, die die kurze Schußwaffe am Sattel festhielten, herumzunesteln. Zwei Riemen hatte er bereits aufgeschnallt. Jetzt noch der dritte.
Auch das schien zu gelingen. Die Turkmenen hingen müde auf ihren ungepflegten Gäulen. Den Gefangenen beachteten sie kaum. Wahrscheinlich hielten sie ihn für ganz harmlos.
Jetzt – jetzt hatte er den Stutzen! Jetzt fühlte er, ob die Patronen noch in der Kammer waren.
Sie waren’s.
Mit der Linken fester in die Zügel greifend, hielt er seinen Zett etwas zurück. Dann ein Ruck – das Pferd drehte auf der Hinterhand – Sporen gegeben – auf und davon.
Zett schien zu ahnen, daß es hier um mehr als nur einen Probegalopp ging. Er reckte sich förmlich lang, streifte alle Behäbigkeit ab und benahm sich sehr brav.
Eine Viertelstunde später stellte der Junge fest, daß er scheinbar nicht mehr verfolgt wurde.
Er orientierte sich über die einzuschlagende Richtung nach den Gestirnen und gelangte auch wirklich beim ersten Morgengrauen nach Aschabad zurück.
Vor der Karawanserei, in der er mit seinem Herrn Quartier genommen, stieg er vom Pferde, übergab dem Türhüter Zett zur weiteren Versorgung und ging in das Zimmer nach oben, in dem das Licht – eine Erdöllampe – brannte und – Egon Lenz schnarchend im Bett lag.
Das Zuklappen der Tür weckte ihn. Er fuhr hoch.
„Ah – endlich,“ meinte er. Dann mußte Ypsilon erzählen.
Der Junge sah das Lächeln auf seines Herrn stets glatt rasiertem Gesicht, sah das lustige Blinzeln der Augen, stockte, rief:
„All das war abgekartetes Spiel, Herr Lenz!“
„Ja – eine kleine Probe, ob Du auch hier in der Wüste Dich bewähren würdest,“ lachte Lenz. „Jetzt lege Dich schlafen! Ich bin mit Dir zufrieden.“
März Ypsilon blieb noch eine Weile wach und überdachte dieses Abenteuer.
„Ich hätte selbst merken müssen, daß alles nur Spiegelfechterei war,“ schalt er sich aus. „Ich habe mich wie ein Dummkopf benommen. Na – das nächste Mal lockt mich niemand mehr auf den Leim.“ –
Am nächsten Tage ritten Lenz und sein junger Reisemarschall friedlich gegen Mittag zur Stadt hinaus, um die Turkmenen zu begrüßen, die dort im Westen in den vier Jurten hausten und denen man noch die Durchführung der kleinen Komödie wie vereinbart zu bezahlen hatte.
Lenz war in bester Laune. Heute abends würde der Doktor eintreffen, und dann konnte die Reise nach dem Amu-Darja sofort angetreten werden. Die Vorbereitungen waren sämtlich erledigt.
Gerade als die vier Jurten in Sicht kamen, sagte Ypsilon mit Betonung:
„Herr Lenz. „Er“ hat das vierte Gesicht aufgesetzt.“
„Wirklich? – Welches denn?“
„Das eines Turkmenen. Sogar die Haut hat er sich gefärbt. Aber er schielt eben noch immer.“
„Und wo sahst Du ihn?“
„Vor der Karawanserei, als wir vorhin zu Pferde stiegen.“
„Hm – merkwürdig! Wenn ich nur wüßte, was –“
Da kamen schon die langhaarigen Steppenhunde der Jurtenbewohner mit wütendem Kläffen angejagt; zwei Männer traten zwischen den Filzzelten hervor, drei andere ritten nach links in die Wüste hinaus.
Vor dem größten Zelte stieg Lenz ab.
Kaum hatte ein Turkmene sein Pferd abseits geführt, als das bisherige Benehmen der hier versammelten sechs Männer den Deutschen gegenüber mit einem Schlage sich änderte.
Wenige Minuten später lagen Lenz und sein Diener in einer Jurte auf weichen Decken, aber so eng gefesselt, daß ihnen die Riemen schmerzhaft an den Handgelenken in die Haut schnitten.
Egon Lenz war durch den Überfall so überrascht worden, daß er erst jetzt die Sprache wiederfand.
„Ypsi, bist Du da,“ fragte er leise, denn sie lagen im Finstern.
„Jawohl, Herr Lenz. Aber heute lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen. Auch dieses hier ist ein bestellter Scherz von Ihnen.“
„Nein, Junge, – nein, wirklich nicht,“ beeilte sich Lenz zu antworten. „Du könntest auch schon an den Handfesseln merken, was die Glocke geschlagen hat. Meine Riemen bereiten mir Schmerzen, gegen die sechs hohle Zähne mit Wurzelhautentzündung ein Vergnügen sind.“
„Mir geht’s ähnlich,“ meinte Ypsi kleinlaut. „Haben Sie jemandem erzählt, daß Sie mich gestern so leimen wollten oder geleimt haben,“ fügte er hinzu.
„Hm – erzählt?! – Nein, aber ein russischer Kaufmann, den ich vorgestern kennen lernte und der mir nicht glauben wollte, daß Du ein so heller Kopf bist, schlug mir die Probe vor und gab mir auch an die Hand, wie ich die Sache am besten einfädeln könnte.“
„So – so! Schielte der Kaufmann vielleicht?“
„Warte, ich will nachdenken. – Ja – er schielte – links!“
„Dann war’s unser Mann, und wir sind ihm hier in eine Falle gegangen, die er uns mit Hilfe Ihrer „Probe“ gestellt hat,“ meinte März Ypsilon fast triumphierend.
In demselben Augenblick fiel der Schein einer Laterne in das durch Filzmatten abgeteilte Gemach.
Der Junge erkannte sofort den als Turkmenen verkleideten Fremden.
Dieser begann sehr frech und zwanglos Lenz auszuplündern. Dessen Brieftasche steckte er nachher zu sich. Alles andere gab er zurück und ging wieder wortlos davon, wie er gekommen.
Dann wurden Lenz und Ypsi getrennt. Letzterer mußte in eine andere Jurte hinüber, wo er sich bald dem Manne mit den vielen Gesichtern gegenüber sah, der ihn sogleich auszufragen begann.
Der Junge konnte nicht antworten, selbst wenn er gewollt hätte. Lenz hatte im nicht gesagt, weshalb die teure Reise unternommen wurde, – wenigstens die Wahrheit hatte er verschwiegen und nur angedeutet, daß der Doktor in Turkestan nach Altertümern graben wolle.
Der Schieläugige fühlte wohl heraus, wie harmlos und sicher sich der Junge benahm und daß dieser nicht log, als er erklärte, er wüßte nur von Altertümern, die der Herr Doktor irgendwo zu finden hoffe.
Deshalb ließ er Ypsi auch bald in Ruhe und sagte nur noch zu ihm in dem schlechten, harten Deutsch, das er sprach:
„Wage nicht auf Flucht zu sinnen! Ich lasse Dich peitschen, wenn Du auch nur derartige Gedanken verrätst.“
In der Nacht brachten vier Turkmenen den Jungen sehr eilig nach stundenlangem Ritt nach einer Ruine, die auf einem Felshügel im Nordosten sich erhob.
Diese Ruine war der letzte Rest eines russischen Forts aus den hartnäckigen und erbitterten Kriegen, die Rußland zur Unterwerfung der ebenso kriegerischen wie räuberischen Turkmenen um das Jahr 1860 geführt hatte und die erst allmählich durch die Bezwingung der zehn Stämme dieses Volkes ihr Ende erreichten.
Wir haben unsere Leser, alte wie junge, schon wiederholt darauf hingewiesen, daß es in jedem Falle empfehlenswert ist, die Erlebnisse einsamer Menschen sozusagen mit dem Atlas in der Hand zu lesen. Nur dadurch erweitert man spielend seine geographischen Kenntnisse, daß man die Wege der Helden unserer Erzählungen auf der Karte verfolgt. Wir wollen ja nicht lediglich unterhalten, nein, auch belehren. Und deshalb sei es uns auch an dieser Stelle gestattet, mit ein paar Sätzen näher auf die Heimat der Turkmenen einzugehen und auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen diesen und ihren nahen Verwandten, den Kirgisen besteht.
Die Turkmenen bewohnen das Steppengebiet südlich des Kaspischen Meeres zwischen den Flüssen Atrek (persische Grenze) und dem in den Aralsee[1] sich ergießenden Amu-Darja, in der Hauptsache also die Wüste Kara-Kum bis hinab zur afghanischen Grenze. Nordöstlich dieses ungeheuren Landstrichs, der rund 1 Million Turkmenen beherbergt, schließt sich die sogenannte Kirgisensteppe an, reicht nördlich bis zum Ural und umfaßt ein Gebiet von etwa 1¾ Millionen Quadratkilometer mit 2½ Millionen Einwohnern, enthält 48 500 Quadratkilometer Seen und stellt keineswegs ein einheitliches Steppenland dar, sondern besitzt verschiedene recht beträchtliche Bergzüge. Charakteristisch für die Wasseransammlungen der Kirgisensteppe sind die salzhaltigen Seen. – Man unterscheidet bei den Kirgisen scharf zwischen den echten oder schwarzen (Berg-) Kirgisen und den Kirgiskaisaken. Erstere, hauptsächlich am oberen Laufe des Amu-Darja, etwa ¾ Mill., stehen etwa nur zu ¼ unter russischer Herrschaft. Unter dem Namen Buruten[2] sind sie als stolze und listige Kämpfer um ihre Freiheit den russischen Truppen bis in die jüngste Zeit unangenehm bekannt geworden. Anders die Kirgiskaisaken, die ebenso wie die Turkmenen dem russischen Heere sowohl vorzügliche Reiter als auch ebenso vorzügliche Pferde stellen. Der Pferdereichtum der Kirgiskaisaken ist auf 6 Millionen Stück geschätzt worden. An Schafen sollen sie etwa 8 Millionen, an Rindern 2 Millionen besitzen. Sie essen jedoch kein Rindfleisch. Der Religion nach sind Turkmenen und Kirgisen – letztere dunkelhäutiger und kleiner an Gestalt, Mohammedaner (Sunniten[3]), ohne jedoch die Gesetze des Korans streng zu beachten.
Im Laufe dieses und der nächsten Bändchen werden wir noch Gelegenheit haben, Land und Leute jener Steppenländer näher kennenzulernen. –
Der Morgen graute, als die vier schweigsamen Turkmenen ihren Gefangenen den Felshügel hinan nach der Ruine führten. Ein frischer Wind strich über die Wüste hin, auf der das helle Grün der neuen Gräser bereits hie und da von bunten Flecken blühender Blumen durchzogen war und ein würziger, kräftiger Duft die für eine Europäernase recht widerwärtige Ausdünstung der den Jungen begleitenden Turkmenen angenehm milderte.
Das zerstörte Fort, in dem einst eine ganze Menge Russen von den erbitterten Turkmenen kaltblütig abgeschlachtet worden waren, reckte, als Viereck erbaut, nur noch den südlichen Eckturm unversehrt in die klare Morgenluft. Es lag in einem hügeligen, steinigen, ganz unbewohnten Gelände und war, wie Ypsilon später erfuhr, bei den benachbarten Tekinzen (Tekke-Turkmenen, Stamm der Turkmenen) als von bösen Geistern angeblich bewohnt, sehr verrufen. Trotzdem mußten Ypsis Wächter hier offenbar sehr gut Bescheid. Durch ein verfallenes Tor der äußeren Mauer gelangten sie auf einen Hof, von dem aus eine schmale Pforte in den Turm führte.
Ypsi wurde bis in das oberste Turmgemach gebracht, dem man es ansah, daß es schon häufiger als Wohnraum benutzt worden war.
Hier nahm man dem Jungen die Fesseln ab, gab ihm Wasser zu trinken, setzte ihm kalten Hirsebrei und Dörrfleisch hin und ließ ihn allein. Ypsi befühlte sachverständig die Teppiche, die den Boden bedeckten. Die Frauen der Tekke verstehen die Teppichweberei nicht minder gut als ihre westlichen Nachbarn, die Perser, und ihre Erzeugnisse gehen denn auch zumeist unter dem Namen echte Perser in den Handel. – Nicht minder großes Interesse zeigte der Junge aber auch für die Fernsicht, die sich ihm durch die schmalen Schießscharten bot. Im Westen glaubte er mit seinen vorzüglichen Augen sogar die Häuser der Stadt Aschabad zu erkennen, die mit ihren 22 000 Einwohnern und als Hauptort des Transkaspischen Gebiets eine recht beträchtliche Ausdehnung besitzt.
Noch mehr sah er: Einen Reitertrupp, der in schneller Gangart von Westen her durch ein trockenes Flußtal sich der Ruine näherte.
Es waren zwölf Reiter mit ebenso vielen ledigen Tieren. Ypsi verstand jetzt doch schon so viel von Pferden, daß er sich sagte, es handele sich hier um ausgesucht wertvolle Stücke.
Dann machte er noch eine Beobachtung, die ihm sehr zu denken gab. Den zwölf ledigen Pferden waren die Hufe mit Strohdecken so umwickelt, daß die Fährte im Steppengrase sich nur ganz undeutlich ausprägen konnte.
Wozu diese Vorsichtsmaßregel?! – Ypsi überlegte. Sehr bald erinnerte er sich, daß in der Karawanserei in Aschabad, in der er mit seinem Herrn Wohnung genommen, viel von einer Bande von Pferdedieben gesprochen worden war, die die Umgegend schon seit Jahren unsicher machte und die ihre Raubzüge bis in die Kirgisensteppe ausdehnen sollte, also bis jenseits des fernen Amu-Darja, obwohl es sich hier doch um eine Strecke von hunderten von Kilometern handelte.
Pferdediebe! – Ja, so konnte, so mußte es sein! Kein Turkmene hätte sich wohl so leicht dazu hergegeben, Europäer gefangen zu nehmen. Was Ypsi bisher über diesen Stamm gehört hatte, war nur Gutes gewesen. Sie sollten aufrichtig, treu und überaus gastfreundlich sein. Den Pferdediebstahl sahen sie wie alle Reitervölker als todeswürdiges Verbrechen an. Wahrscheinlich waren es von ihrem Stamme ausgestoßene Leute, die das gefährliche Handwerk des Pferdediebstahls hier trieben und die gegen gute Bezahlung sich auch bereit erklärt hatten, Egon Lenz und seinen Diener bei Seite zu schaffen – dies nicht im schlimmsten Sinne gemeint.
Der Reitertrupp war jetzt in den Hof der Ruine eingeritten. Was dort weiter vorging, konnte Ypsi nicht sehen. – Es gab nach Norden hin keine geeignete Schießscharte zum Beobachten.
Jetzt wurde ihm die Zeit bald lang. Unversehens schlief er dann auf dem teppichbelegten Boden ein. Als er erwachte, ging im Westen gerade die Sonne unter. Sie sog Wasser, wie man im Volkesmunde zu sagen pflegt. Und tatsächlich begann es bereits eine halbe Stunde später zu regnen – so zu regnen, wie es nur in sonst regenarmen Landstrichen hin und wieder zu gießen pflegt.
Die Dunkelheit nahm schnell zu. Ypsi, der sein Gefängnis zuerst recht behaglich gefunden hatte, schalt jetzt ärgerlich auf die undichte Balkendecke, durch die es an vielen Stellen hindurchtropfte. Außerdem hatte er Hunger.
Wieder war vielleicht eine Stunde vergangen. Der knurrende Magen ließ Ypsi keine Ruhe. Schließlich hielt er es nicht länger aus, hob die schwere Falltür, die nach unten führte, auf und lauschte, ob sich etwas rege.
Alles grabesstill. Nur das Geräusch des Regens war zu vernehmen.
Ypsi dachte an den strengen Befehl des Schieläugigen: „Keinen Fluchtversuch! Oder –!“
Nein – fliehen wollte er ja auch nicht. Nur versuchen, ob er nicht einem der Wächter sich verständlich machen konnte. Er mußte etwas zu essen haben. Hungern war nicht März Ypsilons Sache!
Er tappte jetzt die Stufen abwärts. Unter seiner Zelle lag eine andere, genau so wie die seine eingerichtete. Er hatte sie auf dem Wege nach dem obersten Gemach gesehen. Hier hatte er vor einer Stunde noch sprechen gehört. Jetzt brannte hier eine Öllampe, und zwei Leute lagen schlafend auf niedrigen Wanddiwans. Sie schliefen so fest, daß er den einen stark rütteln mußte, um ihn wach zu bekommen.
Der Tekinze fuhr empor. Es war ein junger Bursche, der jedoch bereits mit einem furchtbaren Schnitt im Gesicht prahlen konnte, dazu hübsch, stattlich, kurz eine ganz angenehme Erscheinung alles in allem.
Als er sah, wen er vor sich hatte, warf er sofort einen ängstlichen Blick auf seinen noch immer gleich fest weiterschlummernden Gefährten, sah dann Ypsi an und deutete warnend nach oben. – Das hieß: „Geh’ in Deine Zelle zurück! Mit dem da ist nicht zu spaßen!“
Der Diener des Deutschen nickte, winkte dem Turkmenen gleichzeitig aber auch zu, der nun seinerseits die Hand zustimmend hob.
In Ypsis Gefängnis entspann sich dann zunächst zwischen den beiden beim Scheine der Öllampe, die der Tekinze mitgebracht hatte, eine rege Unterhaltung mittels Zeichensprache. Erst nach einer Weile stellte sich heraus, daß der junge Turkmene gerade so viel englisch radebrechte wie Ypsi und daß eine Verständigung mit Hilfe des Englischen möglich war.
Der Tekinze nannte sich Scha Mau, warnte Ypsi nochmals vor dem ein Stockwerk tiefer Schlafenden, holte leise Speisen und einen Krug Kumys (gegorene Stutenmilch) herbei und schien sich zu freuen, wie gut es dem Jungen schmeckte. Er erzählte weiter, daß er in Persien einmal Hotelboy gewesen und zwar in Mesched; dort hätte er auch die englische Sprache erlernt, worauf er offenbar trotz der Mangelhaftigkeit seines Wortschatzes sehr stolz war.
Ypsi merkte, daß Scha Mau ein harmloser, gutmütiger Bursche, aber auch ein Prahlhans war, der nach seinen Schilderungen der größte Held der Kara-Kum-Wüste sein mußte.
Nachher holte der Turkmene für Ypsi sogar noch eine Öllampe und – ein halb zerfetztes Buch von ziemlicher Größe und Dicke. Es war ein geographisches Werk über das jetzige Turkestan aus dem Jahre 1852 und Holländisch geschrieben. Ypsi nahm an, daß es vielleicht einem der Offiziere der russischen Besatzung des Forts gehört hätte.
Scha Mau machte Ypsi klar, daß er das Buch für sehr wertvoll hielte, zeigte ihm auch eine Anzahl Blätter, die ganz hinten eingeheftet und die mit allerhand Bleistiftskizzen von Menschen, Tieren und romantischen Örtlichkeiten sowie längeren Aufzeichnungen in einer Art Geheimschrift bedeckt waren.
Dann verließ er den Jungen, nachdem er ihm nochmals versichert hatte, daß er es gut mit ihm meine und daß er ihn schützen wolle, so weit er es vermöchte.
Ypsi wußte nicht, daß der Kumys auf den nicht daran Gewöhnten eine leicht berauschende Wirkung ausübt. Ihm schmeckte das dicke, gegorene Getränk vorzüglich, das aus den Steppen Innerasiens längst seinen Weg in die kultivierte Welt als ein von den Ärzten anerkanntes gutes Kräftigungs- und Heilmittel, besonders gegen Lungenkrankheiten gefunden hat und in russischen Großstädten in Mengen verbraucht wird. Der Nährwert und die leichte Verdaulichkeit des Kumys sind bei uns in Deutschland viel zu wenig bekannt geworden. Die Fabrikanten künstlicher Nährmittel haben es sich angelegen sein lassen, den Kumys sozusagen totzuschweigen. Und doch könnte dieses Getränk auch hier viel Gutes stiften Bei Lungentuberkulose haben russische Ärzte damit geradezu überraschende Erfolge erzielt.
Ypsis Hirn, durch den Alkoholgehalt zu eifriger Arbeit angeregt, baute aus der Tatsache, daß das zerfetzte Buch eine Menge handschriftlicher Aufzeichnungen enthielt, die phantastischsten Luftschlösser von verborgenen Schätzen, wunderbar romantischen Geheimnissen und anderem auf, wie dies nur dem regen Geiste eines jungen Menschen entspringen kann, dessen Herz von Abenteuerlust und Tatendrang erfüllt ist.
Das Öllämpchen spendete gerade genug Licht, um die Schrift entziffern zu können. Über den handschriftlichen Notizen stand als Überschrift:
Merkwürdiges aus den Steppen Turkestans.
Von Leutnant v. Bleulen, geb. zu Riga, 8. 8. 1858.
Das Weitere folgte dann in einer Geheimschrift mit besonders gestalteten Buchstaben.
Aber gerade diese Schrift zu entziffern, war so recht eine Aufgabe nach dem Herzen März Ypsilons. Heute an diesem Abend gelang es ihm noch nicht. Aber er besaß Ausdauer und jene zielbewußte Hartnäckigkeit, die schwierigen geistigen Problemen gegenüber stets die Vorbedingung des Erfolges ist.
Als er nach stundenlangem Grübeln müde wurde und einschlief, nahm er in seine lebhaften Träume die Erinnerung an Leutnant v. Bleulens, des Kurländers, Notizen mit hinüber.
Ypsi träumte stets. Und seltsamerweise zumeist von Geschehnissen, die er scheinbar durchgemacht hatte, bevor er zu Egon Lenz kam, also bevor er das Gedächtnis verloren hatte. Ob diese Ereignisse, die in seinen Träumen zu einer bunten Reihe von Bildern sich formten, in Wirklichkeit sich je abgespielt hätten, konnte der Junge ja leider nicht nachprüfen. Auffallend war dabei nur, daß viele dieser Traumgesichte sich stets genau so wiederholten, wie sie einmal zuerst in jagender Hast vor dem geistigen Auge des Schlafenden aufgetaucht waren. Diese Übereinstimmung ging bis in die feinsten Einzelheiten. Stets zeigten die handelnden Personen dieselben Gesichtszüge, trugen dieselbe Kleidung, stets blieb auch die Örtlichkeit genau dieselbe. Ypsi wäre imstande gewesen, diese Personen und Orte zu zeichnen, so klar hafteten schließlich auch dem Wachenden all diese Bilder im Gedächtnis wie deutliche Gemälde, wie eine Reihe kinematographischer Aufnahmen. Und weiter war das Merkwürdige bei diesen Traumgesichten, daß sie ausschließlich Erlebnisse aus den Jugendjahren eines Kindes brachten, heitere Kinderszenen zumeist und harmlose Abenteuer. – Kein Wunder, daß der geistig so rege, fast frühreife Junge hierdurch zu stetem Grübeln darüber angeregt wurde, ob diese Bilder nicht etwa Ausschnitte aus seiner eigenen, aus seinem Gedächtnis fortgewischten Jugend seien und ob nicht der weite Park und das Landhaus, die er so oft träumend erschaute, sein elterlicher Besitz seien.
Er vermochte darüber keine Klarheit zu gewinnen. Die Tür, die seine Jugendjahre gleichsam in einer dunklen Zelle abschloß, ließ sich nicht öffnen. Zuweilen hatte er wohl daran gedacht, sich seinem Wohltäter anzuvertrauen und ihn zu fragen, was dieser von den ständig wiederkehrenden Traumgesichten hielte. Aber die Angst, Egon Lenz könnte ihm erklären, er messe diesen Traumbildern keinerlei Bedeutung bei, während er selbst doch nur zu gern an diese als an seine Jugenderinnerungen glauben wollte, verschloß ihm den Mund.
Er träumte.
Er hatte das zerfetzte Buch in der Hand und betrat ein helles Zimmer mit vielen Hirsch- und Rehgeweihen an den Wänden, in dem an einem großen Schreibtisch ein Mann in einer grünen Jagdjoppe saß, dem er nun auf den Schoß kletterte. Der Mann drückte ihn an seine Brust und sagte: „Gib Dir nur Mühe, die Geheimschrift zu enträtseln!“ – Dann hörte er draußen vor der Tür des Zimmers jemand laut rufen. Er verstand auch heute wieder wie stets im Traume den Namen, der gerufen wurde: Kurt – Kurt – Kurt. Und er antwortete wie stets: „Ich komme!“ und eilte hinaus.
Da erwachte der arme Ypsi, richtete sich auf, blickte schlaftrunken um sich.
Hatte da nicht wirklich soeben jemand „Kurt – Kurt“ gerufen? Hatte er nicht diesen Namen tatsächlich und nicht nur im Traume gehört?!
Dann wurde ihm klar, wo er sich befand – weit ab von Deutschland an den Grenzen Innerasiens – weit, weit ab von dem Lande, in dem sein Elternhaus stehen mußte – irgendwo – irgendwo.
Seufzend streckte er sich wieder auf seinem Lager aus, schlief von neuem ein und – träumte weiter.
Als er munter wurde, war es heller Tag.
Scha Mau stand vor ihm, zeigte auf frische Speisen, die er gebracht, und ging wieder.
Nachher kam der andere Turkmene, vor dem Scha Mau ihn gewarnt hatte. Es war ein finsterer, älterer Mann, der ihm in schlechtem Englisch bedeutete, daß er jetzt für einige Tage allein im Turme eingesperrt bleiben würde; er solle aber ja keinen Fluchtversuch wagen, da unten auf dem Hofe sehr bissige Hunde zurückblieben, die, auf den Mann dressiert, ihn zerreißen würden.
Mittags sah Ypsi dann drei Turkmenen nach Westen davonreiten. Scha Mau befand sich unter ihnen.
Sofort begann er nun eine Entdeckungsreise durch den Turm. Viel Beachtenswertes traf er nicht an bei diesem Gange durch die vier Stockwerke. Im Erdgeschoß standen in einer kellerartigen Vertiefung große Gefäße gärender Stutenmilch, hingen Streifen von Dörrfleisch und waren Säcke mit Hirse aufgestapelt. Außerdem gab es hier auch eine Zisterne mit kühlem Wasser, einen Herd aus Steinen und mehrere gefüllte Ölschläuche.
Die starke, eisenbeschlagene Tür nach dem Innenhofe war verschlossen. Als Ypsi daran rüttelte, hörte er draußen dumpfes Knurren.
Er kehrte nach oben in sein freundliches, helles Gemach zurück, frühstückte und schaute dabei durch eine der Schießscharten ins Weite. Dabei stellte er sich so allerlei Fragen, die in seiner Lage nur zu leicht sich jedem aufgedrängt hätten. Zunächst: Wo mochte Herr Lenz, sein[4] Wohltäter, sein?! – Wie würde dieses Abenteuer auslaufen? Würde er Egon Lenz und den ernsten Doktor Wüllner je wiedersehen?
Aus jeder dieser Fragen entwickelten sich stets neue. Doch – all dieses Nachdenken war ja so zwecklos. Von Nutzen konnte nur die Beschäftigung mit einem anderen Gedanken sein: „Wie könnte man wohl von hier trotz der Hunde entfliehen?“
Um sich Bewegung zu machen, ging Ypsi nun in dem Turmgelaß, das einen Durchmesser von etwa 7 Meter hatte, unermüdlich auf und ab, entwarf dabei allerlei Fluchtpläne, die leider sämtlich bei näherem Zusehen ganz unausführbar waren.
Dann setzte er sich auf eines der harten, hohen Kissen und nahm wieder Leutnant v. Bleulens Aufzeichnungen vor, betrachtete die verschiedenartigen Skizzen und – stutzte plötzlich.
Da war ja auch ein Grundriß eines der Ecktürme des zerstörten Forts! Und daneben standen in lateinischen Buchstaben allerhand Wörter scheinbar sinnlos durcheinander.
Der Grundriß aber zeigte genau das Bild des untersten Turmgelasses, – die Zisterne, den Herd, die kellerartige Vertiefung. Wahrscheinlich waren eben die vier Ecktürme völlig gleich gebaut gewesen. Darauf deutete auch eine oberhalb des Grundrisses stehende Gesamtskizze des Forts hin.
Was die Aufmerksamkeit des Gefangenen der Turkmenen aber am meisten erregte, war ein dickes rotes Kreuz, das etwa an der Außenwand des Kellerraumes eingezeichnet war und das sich unter den scheinbar sinnlosen Worten daneben in derselben liegenden Form vorfand.
Das Kreuz hatte also ohne Zweifel etwas Besonderes zu bedeuten. Ypsi dachte sofort an einen geheimen Ausgang für den Fall der Not. Und ganz eingenommen von diesem Gedanken, sprang er nun auf, ergriff das Öllämpchen und eilte die Stiegen abwärts.
Zunächst erlebte er freilich eine bittere Enttäuschung. Das quadratische Kellerloch besaß eine Außenwand aus Mauersteinen derselben Art, wie sie zu dem Oberbau des Turmes benutzt war, und eine einfache Nachprüfung ergab, daß es sich um die von oben durchgehende Turmmauer selbst handelte, die hier bis zu 1½ Meter Tiefe in den Boden, der aus Feldgeröll bestand, hinabreichte. An dieser Mauer gab es auch nicht eine Stelle, die auf etwas wie eine geheime Tür hingedeutet hätte.
Doch März Ypsilon verwarf einen erst einmal in ihm aufgetauchten Gedanken nicht so leicht etwa deswegen wieder, weil äußere Umstände die Unmöglichkeit dieses Gedankens zu beweisen schienen. Das rote Kreuz redete hier eben eine gewichtigere Sprache als der Befund der Mauer.
Ypsi holte eine Holzstange herbei, die neben dem Herde lehnte. Mit der Stange klopfte er dann geduldig Stein für Stein die Mauer ab. Als Bindemittel für die gebrannten Ziegel war eine bläuliche Tonerde, vermischt mit Kalk, benutzt worden. Dieser Mörtel besaß nur eine geringe Festigkeit und bröckelte leicht.
Bald hatte Ypsi herausgefunden, daß gerade in der Mitte die Ziegel ohne Zweifel einen anderen Klang gaben – etwas heller; nicht gerade auffällig war diese Klangschattierung, aber für ein aufmerksames Ohr doch wahrnehmbar.
Er überlegte. Die Turmmauer war, wie er an den Schießscharten sehen konnte, drei Ziegel stark. Vielleicht hatte man die Mauer an dieser Stelle absichtlich nur einen Stein stark gemacht, um sie leichter durchbrechen zu können. Es kam auf einen Versuch an.
Mit einem eisernen Schürhaken entfernte er den Mörtel, kratzte, klopfte, hackte, bis – ja bis er mit seinem Behelfsmauerbrecher plötzlich durch die eine Fuge hindurch nach außen ins Leere stieß.
Ein Aha! entschlüpfte ihm, und mit triumphierendem Lächeln arbeitete er weiter.
Bald war der erste Stein lose und konnte herausgezogen werden. Die Fortsetzung war nun ein Kinderspiel. Das Loch erweiterte sich zusehends.
Ypsi leuchtete hinein. Hinter der Mauer lag eine enge Höhle, die eine Decke von Felsgestein hatte. Im Hintergrund aber fielen durch ein paar kleine Öffnungen feine Lichtstrahlen wie leuchtende weiße Streifen in das Dunkel, kündeten die Freiheit an.
Der Junge stieß einen unterdrückten Jubelruf aus. Dann zwängte er sich durch das Loch hindurch, stellte fest, daß die Höhle von der Außenwelt durch kunstvoll übereinander gehäufte Lagen von Steintrümmern abgeschlossen war, die sich unschwer mit der Hand wegräumen ließen, kehrte in den Turm zurück, packte alles, was ihm seiner Ansicht nach bei seiner Flucht nützlich sein konnte, in einen großen, schon recht schadhaften Lederbeutel, den er in einem Haufen von allerlei Gerümpel im ersten Stockwerk fand, vergaß auch nicht, das alte geographische Werk mitzunehmen, und bedauerte nur eines außerordentlich: daß die Turkmenen ihm seine hübsche kleine Büchse, seinen Revolver und den persischen Dolch abgenommen hatten und daß es für ihn keine Möglichkeit gab, die Waffen sich wieder anzueignen, von denen er ja nicht wußte, wo sie sich befanden.
Dann verließ er den Turm. Der Schutt vor dem Eingang der kleinen Höhle war bald beseitigt. Und Ypsi stand nun im Freien im hellen, lachenden Sonnenschein einer kleinen Schlucht, die sich nach Südwest zu langsam senkte und in die Steppe allmählich überging.
Ypsi wollte vorsichtig sein. Sich ohne vorherige Ausschau über die Steppe ins Ungewisse hineinzuwagen, erschien ihm nicht ratsam. Zu leicht hätte er Genossen der Pferdediebe begegnen können, die vielleicht gerade auf dem Wege nach der Ruine waren.
Er erklomm also die südliche, höhere Wand der Schlucht und spähte über das endlose Grasmeer der Steppe nach Westen zu hinweg, denn dort mußte ja der Schienenstrang der Transkaspischen Eisenbahn und die Stadt Aschabad liegen.
Die Steppe war einsam und verlassen. Nur zur Rechten sah er Herden weiden und glaubte auch einige Filzzelte zu erkennen. Menschen waren nirgends sichtbar.
Dann drehte er sich um und musterte neugierig die Reste des einstigen Russenforts. Kaum sechs Schritt vor ihm erhob sich der noch leidlich erhaltene Turm, in dem er selbst nach dem Willen der Tekinzen wohl längere Zeit hatte zubringen sollen. Nun – die Vorsehung hatte es anders gewollt! – Dann schweifte sein Blick die eingestürzte Mauer entlang, blieb auf dem östlichen Turm haften, von dem nur noch etwa die Hälfte erhalten geblieben war.
Man gebraucht nicht zu Unrecht die Redewendung: „Mir fliegt ein Gedanke zu“, womit man einmal das Plötzliche des Aufzuckens einer besonderen Ideenreihe, dann aber auch das Unvermittelte ausdrücken will.
Auch Ypsi erging es jetzt ähnlich beim Anblick der östlichen Turmruine. Der Gedanke, der in seinem Hirn aufleuchtete, war folgender: „Sollte nicht dort ebenfalls ein solcher Notausgang vorhanden sein, und sollten nicht vielleicht in jenem Turmrest noch die unteren Gemächer erhalten geblieben sein und zur Aufbewahrung wertvollerer Gegenstände benutzt werden? Vielleicht – vielleicht finde ich dort meine Waffen wieder, die ich so ungern im Stiche lasse!“
Zunächst wanderten seine Augen noch weiter über die Reste des Forts hin. Er hatte ja bereits von seiner Turmzelle aus gesehen, daß die beiden anderen Türme nur noch Schutthaufen waren. Dort konnte es also kaum Gelasse geben, die als Vorratskammer dienten. Auch sonst entdeckte er auch von hier aus keinen Ort, der für diese Zwecke brauchbar gewesen wäre. Es blieb immer nur der Ostturm übrig als ganz, ganz geringe Hoffnung auf Wiedererlangung seiner hübschen, leichten Büchse, des Revolvers und des Dolches.
Er betrachtete ihn daher auch mit Blicken, die zu fragen schienen: „Lohnt es, sich die Mühe zu machen, bei Dir nach einem geheimen Zugang zu suchen?“
Und es war, als ob das Gemäuer selbst Antwort gab. Etwas wie ein langer Wimpel flatterte plötzlich zu der einen Schießscharte hinaus. Es war ein leichter, seidener Schal, wie ihn die reicheren Turkmenenfrauen um den Kopf gewunden tragen, während die Männer Winter und Sommer die hohe Lammfellmütze benutzen.
Der Schleier war vorhin noch nicht da gewesen, war soeben erst aufgetaucht, wehte jetzt hin und her, schlängelte sich, bauschte sich und – schien zu winken.
Ypsi stand regungslos da. Ein neuer Gedanke: Sein Herr – vielleicht wurde sein Herr dort gefangen gehalten!
Der Junge, der an seinem Wohltäter mit stiller Verehrung hing, raffte sich auf. Er durfte nicht zögern, dem Winken des hellen Schleiers sofort zu folgen. Jede Minute unnützen Verweilens in der Nähe der Ruine konnte neue Gefahren heraufbeschwören.
Die Hunde jenseits der Mauer mußten ihn jetzt gewittert haben und vollführten einen fürchterlichen Lärm. Aber heraus konnten sie nicht. Die Pferdediebe hatten die Innenseite der Mauer wieder so weit in Stand gesetzt, daß selbst diese hochbeinigen vorzüglichen Springer das Hindernis nicht nehmen konnten.
Ypsi lachte sorglos über das wütende Geheul der Meute und lief auf den Ostturm zu. Die Schießscharte, aus der der Schleier herabwehte, lag so, daß der Junge, wenn er sich einige zwanzig Schritt vom Turm entfernte, hineinsehen konnte. Er bemerkte jedoch nur etwas Helles, das vielleicht die Hand eines Menschen war, der sie aus irgend welchen Gründen nicht weiter hinausstrecken konnte.
Am Fuße des Turmes wuchsen hier als gefährlicher lebender Verhau großstachlige, persische Dornen von jener Art, die der Steppenbewohner als Sporen des Teufels bezeichnet. Ypsis Hoffnung sank, als er dies Gewirr von zähen Ranken und fingerlangen, glasharten Stacheln sah, das sich bis zu zwei Meter Höhe und in gleicher Dicke am Gemäuer hochreckte. Doch – er hatte sehen gelernt durch Egon Lenz, der selbst den unscheinbarsten Dingen Beachtung schenkte und etwas Interessantes abzugewinnen wußte. Und so bemerkte er denn auch sehr bald, daß die Dornen nicht überall die gleiche Färbung hatten. Das schwache Grau-Grün der zum Teil fingerdicken Ranken ging an der linken Seite des Turmes, wo die Mauer mit diesem zusammenstieß und einen stumpfen Winkel bildete, in ein fahles, totes Gelb über, das darauf hindeutete, diese Pflanzen hier mußten längst abgestorben sein.
Eine schnelle, aber vorsichtige Untersuchung dieser Ecke des Gestrüpps ergab denn auch, daß hier nur Dornenbüsche willkürlich übereinander gehäuft waren, die nicht mit Wurzeln im Boden hafteten. Ypsi begann nun sofort die abgestorbenen Stauden auseinanderzureißen. Daß ihm dabei bald die Hände bluteten, war ihm gleichgültig. Er merkte es kaum. Nun hatte er die Grundmauer des Turmes freigelegt, nun bemerkte er hier einen länglichen Haufen Geröll, der eine Vertiefung auszufüllen schien. Er arbeitete weiter. Steine, Felsstücke flogen zur Seite. Und im Hofe jenseits der Mauer kläfften die Hunde, jetzt schon ganz heiser vor zweckloser Wut.
Die Mühe war nicht umsonst gewesen. Als das Geröll entfernt war, zeigte sich, daß auch hier die Turmmauer in einem Umfange von ¾ Meter nur einen Stein stark und somit ebenso leicht zu durchbrechen war wie drüben im Südturm.
Zehn Minuten später stand Ypsi mit seiner Öllampe und der Stange – beide hatte er sich aus dem anderen Turme geholt – im Erdgeschoß des halb eingestürzten Gemäuers. Doch – den Zugang nach oben fand er versperrt. Eine schwere, eisenbeschlagene Falltür, die er nicht zu heben vermochte, wenn er auch den Verschlußhaken leicht lösen konnte. Dann aber benutzte er versuchsweise die Stange als Brecheisen, klemmte sie in einen mühsam hergestellten Spalt und wuchtete den schweren Deckel zentimeterweise auf, bis er Kopf und Brust hindurchschieben konnte. Er klemmte sich dann förmlich hindurch und war nun endlich dort, wohin es ihn mit aller Macht getrieben hatte.
Zunächst sah er nichts – nichts. Eine düstere Dämmerung herrschte hier. Bis auf eine einzige waren die Schießscharten sämtlich vermauert.
Neben dieser offenen, länglichen Mauerspalte aber lehnte, mit Riemen an Haken aufrecht gefesselt, ein Mann – sein Herr – Egon Lenz! –
Und wieder zehn Minuten darauf durchsuchten Herr und Diener das Erdgeschoß des Turmes, das mit Kisten und Ledersäcken zur Hälfte angefüllt war. Sie fanden auch alles, was die Tekinzen ihnen abgenommen hatten. Nur Lenz’ goldene Uhr und Kette fehlten. Doch – was kam es auf diese Dinge an! Die Hauptsache waren ja ihre Waffen, ohne die sie soweit ab von Aschabad den Gefahren der Steppe wehrlos ausgesetzt gewesen wären.
Daß die Tekinzen, die hier in der Fortruine ihren Schlupfwinkel hatten, nicht allein den Pferderaub betrieben, bewies der Inhalt der Kisten und Säcke, die allerhand Kaufmannsgut enthielten. All diese wertvollen Waren konnten nur die Beute von Raubüberfällen auf Karawanen sein, die aus dem Persischen nach den Stationen der Transkaspischen Bahn ihren Weg nahmen.
Nach kurzer Beratung über die einzuschlagende Richtung wurde aufgebrochen. Die beiden Gefährten wanderten in schneller Gangart den im Nordwesten weidenden Herden zu. Sie wollten auf Lenz’ Vorschlag die Gastfreundschaft der Turkmenen in Anspruch nehmen, denen jene Herden gehörten.
Während des Marsches berichtete Lenz seinem braven Ypsi, was er seit ihrer Trennung erlebt hatte.
Auch er war Nachts nach der Ruine geschafft worden. Dann hatte jener schielende Europäer, dem man bisher in so wechselnder Verkleidung begegnet war, versucht, Lenz zur Ausfüllung eines Schecks auf eine Bank in Aschabad zu bewegen, für die er einen Kreditbrief besaß. Lenz hatte sich jedoch standhaft geweigert. Da war der Schielende zu Drohungen übergegangen und hatte, als auch dies nichts fruchtete, sein wehrloses Opfer so an die Mauer fesseln lassen, daß jeder Fluchtversuch unmöglich war. Offenbar war es die Absicht dieses Mannes gewesen, Lenz durch eine Hungerkur von ein paar Tagen gefügig zu machen. Das aber am teuflischsten an diesem Erpressungsversuch gewesen, das war die ganz unnötige Quälerei, dem Gefangenen einen besonders gearteten Knebel mit Draht im Munde zu befestigen. Und dieser Draht, nach hinten um Lenz’ Kopf geschlungen, hatte sich so tief schon jetzt in das Fleisch eingedrückt gehabt, daß blutige Striemen entstanden waren.
Lenz führte seinem Bericht die Bemerkung hinzu, daß er sich über die Person des Schielenden noch völlig im unklaren wäre und sich nicht erklären könnte, was der Mann eigentlich von ihm wolle. – „Auf mein Geld allein hat er es nicht abgesehen,“ sagte er. „Hinter alledem steckt mehr. Ich möchte fast behaupten, der gefährliche Geselle weiß, weshalb wir hier nach Turkestan gekommen sind und will unser Vorhaben um jeden Preis vereiteln.“
„Ja – aber woher sollte er wohl von etwas Kenntnis haben, daß selbst mir noch ein Geheimnis ist,“ meinte Ypsi nachdenklich. „Er müßte denn gerade Sie und den Herrn Doktor irgendwo in Berlin belauscht haben, als Sie mal über Ihre Absichten sprachen.“
„Das taten wir aber nie – aus Vorsicht! Desto rätselhafter ist dies alles, mein guter Ypsi – Um Dir jetzt aber endlich anzuvertrauen – und Du hast dies jetzt wirklich verdient, welchem Geheimnis Wüllner und ich hier nachspüren wollen, magst Du erfahren, daß es in der Wüste Küsül-Kum, die in ihren fruchtbaren Teilen von den Kirgiskaisaken bewohnt wird, eine Oase geben soll, in der ein aus hellem, fast weißem Granit errichtetes schloßartiges, sehr altes Bauwerk steht, dessen Kellerräume Schätze an Edelsteinen und goldenen Geräten und Schmucksachen von märchenhaftem Werte beherbergen, wie hier in Turkestan halb als Sage von alten Leuten erzählt wird.“ Lenz sprach noch weiter, er erwähnte den Vortrag in der Urania und führte all die Beweise für das Vorhandensein dieser Oase an, die auch Professor Görke aufgezählt hatte.
Ypsi war ganz still geworden.
Lenz lachte schon wieder heiter und frisch, wie es seine Art war. „So schweigsam, mein Junge,“ rief er und schlug Ypsi leicht auf die Schulter. „Wach’ auf! Oder – hat Dich der Glanz der Schätze, die vorläufig noch im Monde liegen, so geblendet, daß Du ganz sprachlos bist?!“
März Ypsilon blieb stehen, schaute seinen Herrn ernst an.
„Es ist so merkwürdig, Herr Lenz,“ sagte er leise. „Ich träume stets sehr lebhaft, und zumeist wiederholen sich meine Traumgesichte. Und eines dieser Bilder zeigte mir nun bereits wiederholt einen großen Hain von tropischen Bäumen, durch deren Grün die Umrisse eines phantastischen Schlosses hindurchschimmerten. – Nein – ich muß mich genauer ausdrücken. Ein Mann, dem ich im Traum oft auf dem Schoße sitze, hat mir den Hain und das Schloß so deutlich geschildert, daß ich es erst vor mir zu sehen glaubte und dann auch vor mir sah. Alles das ist ja so seltsam, Herr Lenz, was meine Träume betrifft, genau so seltsam wie mein Leben, von dem ich nur einen geringen Teil kenne. Ich bin ja eigentlich wie eine Pflanze, die der Sturm aus dem Boden gerissen und anderswohin geweht hat –“
Da kamen ihnen zwei Turkmenen entgegengeritten.
„Verschweige unser Abenteuer in der Fortruine,“ flüsterte Lenz schnell.
Dann begrüßte er die beiden Reiter, bat um gastliche Aufnahme und erklärte, er und Ypsi hätten sich in der Steppe verirrt. –
Abends bereits langten sie wieder wohlbehalten in Aschabad an, wo Doktor Wüllner bereits eingetroffen war.
Als sie diesem ihre Erlebnisse geschildert und auch den Schielenden erwähnt hatten, schüttelte er sehr ernst den Kopf.
„Der Mann kommt uns sicher noch häufiger in die Quere,“ sagte er. –
Für heute müssen wir von den drei Deutschen in Aschabad Abschied nehmen. Was sie noch weiter im Gebiet der Flüsse Amu- und Syr-Darja erlebten, soll im nächsten Bande berichtet werden unter dem Titel:
Druck: P. Lehmann G. im. b. H., Berlin S. 14.
Anmerkungen: