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Auf dem Aralsee

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Auf dem Aralsee.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Auf verbotenen Pfaden.

Die beiden Deutschen verließen das Regierungsgebäude des Gouverneurs der Transkaspischen Provinz in Aschabad und begaben sich nach ihrer Karawanserei zurück.

„Was nun?“ fragte Doktor Heinz Wüllner den Freund.

„Nun gerade!“ meinte Egon Lenz, und in sein Gesicht trat ein Ausdruck trotziger Entschlossenheit.

„Also ohne Pässe – heimlich!“ sagte der Doktor leise. „Ein gefährlich’ Ding, mein Lieber! Vergiß nicht, daß wir uns auf russischem Gebiet befinden.“

„Mir gleichgültig! – Ich wette, Heinz, daß der Gouverneur uns nur deshalb die Pässe verweigert hat, weil er vorher[1] gegen uns eingenommen worden war. Vielleicht hat der Schielende auch hier seine Hände mit im Spiel. Der geheimnisvolle Mensch hatte ja auch den bösen Streich ausgeheckt, Ypsi und mich den turkmenischen Pferdedieben zu verraten. Seitdem scheint er verschwunden zu sein. Scheint –! – Ich traue dem Frieden nicht. Ich fürchte, unser rätselhafter Gegner ist heimlich weiter hinter den Kulissen tätig.“

Doktor Wüllner zuckte die Achseln. „Ich kann mir über diesen Herrn kein Urteil erlauben“, meinte er, vorsichtig in seinen Worten wie immer. Er war in seinem Äußern ganz das Muster eines deutschen Gelehrten. Lang, hager, vornübergebeugt, lag in seiner Haltung etwas Schlaffes. Anderseits verriet aber das magere, von einem blonden Spitzbart umgebene Gesicht Klugheit und jene geistige Sammlungsfähigkeit, die nötigenfalls sich zu zielbewußter Tatkraft steigern kann. Die Augen, obwohl in ihrem Graublau etwas nüchtern, konnten zuweilen hinter den runden Gläsern der Hornbrille geradezu aufflammen, – sei es infolge hoher Begeisterung für eine wissenschaftliche Idee, sei es infolge zorniger Erregung, die dann nur durch die hochentwickelte Selbstbeherrschung des jungen Forschers, der sich als Afrikareisender bereits einen Namen gemacht hatte, eingedämmt wurde.

Egon Lenz, gut einen Kopf kleiner, schlank aber muskulös und in jeder Bewegung Kraft und Energie verratend, war ein ganz anderer Typ von Mann als der Doktor – innerlich auch. Sein bartloses, braunrotes Gesicht, scharf geschnitten wie die Gemmenköpfe altrömischer Nobili, hätte vielleicht brutal gewirkt, wenn nicht in den braunen, lebhaften Augen stets ein Ausdruck gutmütiger, etwas spöttischer Überlegenheit vorhanden gewesen wäre. – Von Hause reich, war er bis vor kurzem eine Art Privatgelehrter, hauptsächlich Erfinder gewesen. Der Verlust seines Vermögens zwang ihn dann, sich nach einer gewinnbringenden Beschäftigung umzusehen. Gewiß – es wäre Egon Lenz bei seiner Vielseitigkeit leicht geworden, eine auskömmliche Stellung zu finden. Doch alles was alltäglich war, verabscheute er ebenso wie den Zwang, dem er seine Lebensführung vielleicht hätte unterordnen müssen. Sein Sinn stand nach anderem. Und – der Zufall kam ihm zu Hilfe. Er traf nach Jahren mit seinem Freunde Wüllner wieder zusammen und durch diesen wurde er in eine gelehrte Gesellschaft eingeführt, in der ein Professor gerade einen Vortrag über Turkestan hielt und dabei eine halb sagenhafte Oase in der Wüste Kara Kum erwähnte.

Diese Oase zu suchen, in der märchenhafte Schätze verborgen sein sollten, waren die Freunde nach Aschabad gekommen. Der russische Gouverneur jedoch hatte ihnen die Pässe zur Reise durch das Steppengebiet verweigert, war zwar sehr höflich gewesen, aber anderseits auch von jener frostigen Förmlichkeit, die Bittstellern gegenüber andeutet, daß sie nicht gern gesehen sind und sogar als lästige Gäste betrachtet werden. Zum Schluß hatte der Gouverneur Ihnen sogar noch mitgeteilt, daß er ihnen den ferneren Aufenthalt auf russischem Gebiet untersagen müßte.

Die Freunde waren jetzt vor ihrer Karawanserei, die einem Perser gehörte, angelangt. Sie hatten absichtlich kein europäisches Hotel gewählt, um schneller mit Land und Leuten vertraut zu werden und um weniger aufzufallen. Aus diesem Grunde trugen sie auch recht bescheidene, graue Leinenanzüge mit Jacken in Joppenschnitt, Mützen aus demselben Stoff mit sehr langen Schirmen und braune Ledergamaschen zu ebensolchen Schnürschuhen.

Vor dem breiten Eingang, der auf einen viereckigen, von Galerien mit einzelnen Wohngemächern umgebenen Hof führte, stand Egon Lenz’ Diener, noch ein halber Knabe, aber langaufgeschossen und kräftig und mit einem Gesicht, in dem ein sinnender, schwermütiger, aber auch Schlauheit verratender Zug alles Kindliche wegwischte. Dieser Junge, den Lenz von der Straße aufgelesen hatte, hörte auf den etwas ungewöhnlichen Namen März Ypsilon, abgekürzt Ypsi.

Kaum hatte er die beiden Freunde erblickt, als er ihnen auch schon entgegeneilte.

„Herr Lenz“, flüsterte er erregt, „ich habe ihn wiedergesehen –!“

„Ah – den Schielenden?“

„Ja. Er wohnt hier in der Karawanserei, ist wieder verkleidet und gibt sich für einen armenischen Händler aus.“

Lenz brummte eine Verwünschung vor sich hin.

„Der Kerl klebt wirklich wie Leim an uns!“ sagte er dann. „Gerade jetzt ist er uns besonders lästig, wo wir so tun müssen, als ob wir über Baku mit der Bahn heim[wärts reisen, insgeheim aber][2] doch unsere Pläne weiter verfolgen werden, freilich ohne Karawane und ohne Führer, nur auf uns selbst gestellt!“

Doktor Wüllner räusperte sich. „Hm, wäre es nicht angebracht, sozusagen einen Kriegsrat zu halten –? Drei Köpfe denken besser als einer, besonders wo es sich um die Praxis des alltäglichen Lebens und nicht um geistige Probleme handelt.“

Lenz war einverstanden. – Was bei diesem Kriegsrat beschlossen wurde, zeigt der Fortgang unserer Erzählung.

 

2. Kapitel.

Die Dromedarreiter.

Die Karawane, die Lenz bereits zusammengestellt hatte, und die gleichfalls angeworbenen beiden Führer, zwei Turkmenen, wurden durch einen Monatslohn abgefunden und entlassen. In der Karawanserei erzählten die Freunde jedem, der es hören wollte, daß sie durch Persien nach Europa zurückzukehren dächten, und zwar hätten sie die Absicht, zunächst einmal die südlich des Kaspischen Meeres gelegene Stadt Astrabad zu besuchen.

Von Aschabad zur persischen Grenze sind es vierzig Kilometer etwa. Sehr bald hinter Aschabad gelangt man in das Bergvorgelände, während im Westen sich die düsteren Gebirgsrücken des Elbrus immer höher und höher zu türmen scheinen.

Die drei Deutschen, die sehr gut beritten waren, wurden der Ehre teilhaftig, aus einiger Entfernung von einer Kosakenpatrouille so lange beobachtet zu werden, bis sie persisches Gebiet betreten hatten und in einer bewaldeten Schlucht verschwunden waren.

Die wildromantische Szenerie der Gebirgslandschaft fesselte die Aufmerksamkeit der drei Abenteurer – denn das, was sie vorhatten, war ja tatsächlich ein mehr als abenteuerliches Unternehmen! – derart, daß sie die zehn persischen Reiter erst gewahr wurden, als diese sie bereits umzingelt hatten.

Die Reiter waren Angehörige der Leibwache des persischen Statthalters der Provinz Astrabad und eigens zu dem Zweck ausgeschickt, die Deutschen hier an der Grenze in Empfang zu nehmen und ihnen mitzuteilen, daß ihnen der Statthalter von Astrabad persischen Boden zu betreten verbiete.

Kein Wunder, daß Lenz förmlich vor Wut schäumte. Er sah in dieser durch nichts begründeten Maßregel einen neuen Schachzug ihres geheimnisvollen Widersachers, über dessen Absichten sich Klarheit zu verschaffen, bisher ganz unmöglich gewesen war.

Ein Glück, daß die Perser für ein paar Goldmünzen ihr weiches Herz entdeckten und den drei Reisenden gestatteten, bis zum Abend in dieser Schlucht sich aufzuhalten. So konnten diese wenigstens erst nach Eintritt der Dunkelheit auf russischen Boden zurückkehren, wo sie dann sofort zwischen Aschabad und der nördlich davon gelegenen Station Besmein die Bahnlinie passierten und gegen Morgen bereits ein gut Stück in der Wüste Kara Kum ihr Lager aufschlugen und zwar in einem jener flachen Flußtäler, die im Frühjahr eine solche Überfülle an Wasser haben, daß sich weite Überschwemmungsflächen bilden, aus denen mit der Zeit Sumpfgebiete, mit Schilfrohr dicht bedeckt und von Wasservögeln bewohnt, werden, die an Umfang langsam, aber stetig zunehmen. Diese sumpfigen Niederungen, deren Hauptwasserversorger, der Fluß oder Bach, in der heißen Jahreszeit regelmäßig austrocknet, sind noch häufiger nach Osten zu, also in der Wüste Küsül Kum und der sog. Kirgisensteppe.

Lenz hatte, als Kundschafter vorausreitend, den Lagerplatz sehr klug gewählt. Die schmale Halbinsel, die sich in vielen Windungen in ein unübersehbares Röhrichtfeld hineinzog, war so leicht nicht aufzufinden und ebenso leicht zu bewachen. An ihrer Spitze, wo einige Büsche wuchsen, war das Feuer angezündet worden, über dem unsere Abenteurer sich ihren Tee in dem Aluminiumkessel zubereiteten und einen Springhasen am Spieße brieten. März Ypsilon hatte ihn mit seinem Stutzen mit der Kugel erlegt und sowohl von seinem Herrn als auch von dem Doktor wohlverdientes Lob für diesen Meisterschuß geerntet.

Jetzt anfangs Mai begann sich die wärmende Kraft der Sonne bereits früh am Tage recht lästig bemerkbar zu machen. Ypsilon hatte die zweite Wache, von acht bis elf vormittags, und war, um Schatten vor den unbarmherzig herabsengenden Strahlen zu finden, bis an den Anfang der Halbinsel gegangen, wo zwei niedrige Eichen ihr Blätterdach zu einem schützenden Laubzelt vereinigten. Hier hielt er Ausschau, ob irgendwo etwas Verdächtiges zu bemerken war. Und verdächtig mußte für die drei Deutschen, die sich vor niemandem, ob Europäer oder Turkmenen, blicken lassen durften, eigentlich alles sein: jeder Mensch, mochte er noch so friedfertiger Gesinnung sein; er konnte ja weitererzählen, wem er in der Kara Kum begegnet war, und die Folgte hätte ja sein können, daß der Gouverneur in Aschabad eine Treibjagd auf sie veranstalten ließ –!

Ypsi hielt die Augen daher auch sehr gut offen. Lenz hatte ihm seinen Feldstecher mitgegeben. Und mit Hilfe des vorzüglichen Glases war es ein leichtes, die Steppe vom Wipfel einer der Eichen aus weithin zu erblicken.

Der Knabe, der einen ähnlichen Leinenanzug wie die beiden Herren, dazu aber eine Lammfellmütze trug, die ihm der Besitzer der Karawanserei geschenkt hatte, war soeben wieder auf den Baum geklettert und gewahrte nun im Westen durch das Glas einen einzelnen Reiter, der ein sehr schnelles Dromedar ritt. Wenn auch der stolze Steppenbewohner, sei es Turkmene oder Kirgise, das Pferd als Reittier bevorzugt, so hat er sich doch nicht der Erkenntnis verschlossen, daß das Dromedar weit genügsamer und auch als Lasttier weit leistungsfähiger ist. Die Nomaden, besonders die seßhaft gewordenen von ihnen, halten daher das Dromedar als Haustier, ohne jedoch wie mit Pferden Zucht im großen zu treiben.

Der Reiter schien aus Aschabad zu kommen. Seine Bewegungen hatten insofern etwas Auffallendes an sich, als er von Zeit zu Zeit abstieg und tief gebückt auf dem Grasboden der Steppe etwas zu suchen schien. Sodann hielt er sich auch stets in den Tälern, verschwand zuweilen, tauchte wieder auf, bis er in einer steinigen Schlucht im Osten untertauchte, die dort die Kara Kum wie eine tiefe Falte durchfurchte. Die nächste Entfernung, in der der Dromedarreiter an des Jungen Beobachtungsplatz vorübergekommen war, betrug vielleicht achthundert Meter.

Ypsi wollte dann nach einer Weile von der Eiche wieder herabsteigen, als er zu seiner Überraschung einen zweiten Reiter gewahrte, der offenbar auf der Fährte des ersten ebenfalls die Richtung nach Osten verfolgte. Auch dieser stieg einige Male und zwar genau an denselben Stellen ab und lenkte nachher auch in die Schlucht ein.

Während Ypsi noch überlegte, ob es sich hier etwa um Verfolger und Verfolgten handelte, tauchte schon ein dritter Dromedarreiter auf, der sich genau ebenso wie die beiden anderen benahm. Ihm folgten in Abständen von etwa zehn Minuten noch sieben weitere, so daß im Verlauf von rund anderthalb Stunden also zehn Männer denselben Weg genommen hatten.

Nun schien die Anzahl dieser merkwürdigen Stafettenreiter aber erschöpft zu sein. Zwanzig Minuten vergingen, und kein weiterer erschien. Ypsi zögerte nicht lange. Er mußte wissen, weshalb jeder einzelne dieser zehn Leute stets genau an denselben Punkten abgestiegen war. Bald laufend, bald eiligst ausschreitend näherte er sich der jetzt breit ausgetretenen Spur, fand dann auch einen der Orte, wo die zehn ihre Tiere hatten niederknien lassen und ein paar Schritt seitwärts gegangen waren. Er bemühte sich, auf dem Grasboden irgend etwas zu entdecken, was die Leute sich hatten näher ansehen wollen, denn nur darum konnte es sich handeln, wie er jetzt fest überzeugt war.

Zunächst bemerkte er nichts Auffälliges. Dann aber erblickte er auf einer runden, grasfreien Stelle, wo der grauschwarze (Kara Kum heißt Schwarzer Sand) Wüstensand auch nicht ein einziges Hälmchen hervorbrachte, einige Aststückchen, die ohne Zweifel absichtlich in die Erde gesteckt worden waren und die eine ganz bestimmte Figur bildeten.

Dies erschien dem Jungen wichtig genug, um den beiden Herren davon Meldung zu erstatten. Als er die Figur der Aststückchen dem Doktor, der als Forschungsreisender mit allen Eigentümlichkeiten der Bewohner fremder Länder gut vertraut war, genau beschrieben hatte, erklärte Wüllner, es könnte sich hier nur um etwas Ähnliches wie sogenannte Zigeunerzinken handeln, das heißt Zeichen, die ein vorausmarschierender Trupp oder einzelner Mann für die Nachfolgenden zur Übermittlung bestimmter Nachrichten zurückgelassen hätte.

Der Doktor wanderte dann in Begleitung des Knaben nach dem Platze hin. Zu Ypsis ärgerlicher Enttäuschung waren die Aststückchen inzwischen jedoch verschwunden. Man erkannte nur noch an dem zerwühlten Sande, wo sie gesteckt hatten. Es mußte also, während Ypsi auf der Spitze der Halbinsel am Lagerplatz weilte, noch ein Reiter vorübergekommen sein, der die Zinken beseitigt hatte.

Wüllner machte dazu ein sehr ernstes Gesicht. Nachher sagte er zu Egon Lenz, der ebenfalls bedenklich den Kopf schüttelte:

„Die Geschichte gefällt mir gar nicht! Die Dromedarreiter dürften Dinge vorhaben, die nicht ganz reinlicher Art sind. Hoffentlich hat der letzte Mann, der die Zeichen entfernte, Ypsis Spur nicht bemerkt, aus der er bei einiger Klugheit leicht schließen kann, daß ein Unbeteiligter sich die Zinken angesehen und wieder kehrt gemacht hat.“

Lenz nickte. „Genau dasselbe habe ich mir sofort gesagt. – Ob es sich hier vielleicht um dieselben Pferdediebe und Steppenpiraten handelt, die in der Ruine des Russenforts ihren Schlupfwinkel haben?“ (Wir verweisen auf das vorige Bändchen „Im Lande der Turkmenen“, das die Schilderung der Abenteuer Egon Lenz’ und Ypsis mit turkmenischen Pferdedieben enthält).

Wüllner zuckte die Achseln.

„Kann sein – kann auch nicht sein. Immerhin ist es ratsam, dieser Gegend baldigst den Rücken zu kehren. Wir müssen es vermeiden, daß sich irgend jemand, wenn auch nur aus einem unbestimmten Mißtrauen heraus mit uns näher beschäftigt.“

Man brach daher auch sehr bald auf, war jetzt noch vorsichtiger als bisher, schlug eine mehr südliche Richtung ein und umging in weitem Bogen jede Niederlassung der Turkmenen und jedes Sommerlager nomadisierender Steppenbewohner, wodurch man freilich zu weiten Umwegen gezwungen wurde.

Erst am dritten Tage wandten unsere Reisenden sich wieder mehr nach Norden zu und erreichten dann am fünften Tage die Grenze des russischen Vasallenstaates Chiwa, dessen Gebiet sich in Form eines stumpfwinkligen Dreiecks vom Ufer des Amu Darja in die Transkaspische Provinz hineinerstreckt.

Das Chanat Chiwa hat mit seinen 60 000 Quadratkilometer Bodenfläche nur etwa ein Drittel davon bebaubares Land. Alles andere ist kahle Wüste. Trotzdem erfreut sich die rund eine Million betragende Bevölkerung eines gewissen Wohlstandes, da die ertragreichen Landstriche am Amu Darja reiche Ernten an Flachs, Hirse, Reis, Baumwolle, Wein und Früchten liefern und große Herden von Schafen, Pferden und Dromedaren vorhanden sind. Die Bevölkerung besteht aus Kirgisen, Turkmenen, Persern und Uzbeken. (Ein Volksstamm, zu den Turktataren gehörig, sehr intelligent herrscht auch im Chanat Buchara.) Letztere sind der herrschende Volksstamm. Der Chan (Sultan, Fürst), der das Land ziemlich despotisch beherrscht, ist ein Uzbeke. Rußland ist es nicht leicht geworden, Chiwa zu einem Vasallenstaate herabzudrücken. Erst 1873 gelang es, die Hauptstadt Chiwa zu erobern. Aber die Chane sind stets unsichere Freunde Rußlands geblieben. Wo es nur anging, haben sie Unruhen unter den benachbarten Turkmenen und Kirgisen angestiftet und eigentlich nie aufgehört, ihre Feindschaft gegen das Zarenreich im geheimen durch allerlei Intrigen zu beweisen.

Unsere Abenteurer glaubten sich hier auf dem Boden des selbständigkeitslüsternen Chanats freier bewegen zu können. Nach eintägigem Ritt erreichten sie ein in einem breiten, teilweise sumpfigen Tale gelegenes Dorf, das aus einigen vierzig Lehmhütten bestand.

Der Dorfälteste, ein Karakalpake (Ein Mischvolk, hauptsächlich Tataren,) nahm sie jedoch wenig freundlich auf und zeigte sich sogar einem Geldgeschenk gegenüber so ablehnend, daß Doktor Wüllner argwöhnisch wurde und zu sofortigem Weiterritt drängte.

Wie berechtigt dieses Mißtrauen gewesen, stellte sich dann heraus, als man das Dorf hinter sich hatte und gerade einen großen Eichenhain passierte.

Urplötzlich wurden die drei Deutschen hier umzingelt und, da jeder Widerstand den zwanzig mit modernen Gewehren bewaffneten Chiwanern gegenüber zwecklos war, schnell überwältigt, gefesselt und dann weiter nach Nordwesten bis in ein großes Dorf gebracht, wo man sie in eine leere Lehmhütte einsperrte.

 

3. Kapitel.

Abermals der geheimnisvolle Fremde.

Der Amu Darja, im Altertum bereits unter dem Namen Orus bekannt, ist neben dem Syr Darja der einzige Fluß, der den zweitgrößten Binnensee Asiens, den Aralsee, speist. Breiter und wasserreicher als Rhein und Rhone hat er eine für Dampfer schiffbare Länge von 600 Kilometer und bewässert in ähnlicher Weise wie der Nil das umliegende Flachland so reichlich, daß an seinen Ufern der mannigfachste Ackerbau getrieben wird.

Außer Dampfern und Schleppkähnen verkehren auf dem Flusse auch noch zahlreiche Arten von Booten, darunter sehr breite, flache Fahrzeuge mit hohem Deck, auf dem der Schiffseigentümer gleichzeitig seine Wohnhütte aus luftgetrockneten, hohlen Ziegeln zu stehen hat. Die Flachböte, Irgschai genannt, werden zumeist von Persern benutzt, die neben Armeniern den ganzen Handel Westturkestans an sich gerissen haben.

Ein besonders großer Irgschai, dessen Bordwand zierlich bemalt war und der überhaupt einen sauberen Eindruck als ein gewöhnliches Handelsfahrzeug machte, lag vor der Stadt Nukus, wo das Delta des Amu Darja beginnt, vor Anker.

Soeben hatte der russische Zollbeamte das Boot nach gründlicher Durchsuchung verlassen. Gehörte es doch einem Chiwaner, den man in starkem Verdacht hatte, allerlei unredliche Geschäfte zu betreiben.

Der Schiffseigentümer lachte hinter dem Zollbeamten drein, wandte sich jetzt an einen dunkelbärtigen Europäer, der neben ihm vor der Tür der hellgestrichenen Wohnhütte stand:

„Gut, daß er unsere lebende Fracht nicht entdeckt hat! Na – sicher genug verborgen ist sie ja! In dem Loche haben schon andere Dinge gesteckt! Trotzdem – ich werde froh sein, wenn ich die drei erst wieder los bin! Es ist doch immer ein gewagtes Spiel –!“

Der Weiße zuckte die Achseln. „Du wirst gut bezahlt, Abu Birk! Im übrigen haben wir das Schlimmste nun hinter uns. Wir werden den Ulkun-Darja bis in den Aralsee benutzen. Auf diesem Mündungsarm wird man uns nicht weiter belästigen. Dazu ist dort der Schiffsverkehr zu rege. Das einzelne Boot verschwindet in der Menge der übrigen.“

„Wollen’s hoffen! – Abends habe ich meine Ladung eingenommen. Dann geht’s weiter.“ –

Das Fahrzeug Abu Birks hatte am Heck einen schlau angelegten Verschlag, der dem Chiwaner für gewöhnlich zum Schmuggeln zollpflichtiger Waren diente. Jetzt lagen in dem finsteren Loch eng aneinander gedrängt drei Menschen, die noch vor sechs Tagen frei und unternehmungslustig durch die Kara Kum geritten waren.

Die Balkentür öffne sich. Ein schwacher Lichtschein drang in das Versteck hinein. Und Abu Birk schleppte einen der Gefangenen nach dem andern unter die Luke des Decks, so daß man die Gesichter der drei deutlich erkennen konnte.

Es waren Egon Lenz, Doktor Wüllner und März Ypsilon.

Der Chiwaner nahm ihnen die Knebel ab und lockerte auch ihre Hand- und Fußfesseln.

„Habt Ihr Euch die Sache überlegt?“ fragte er dann Egon Lenz. „Ich denke, die Freiheit ist immerhin 25 000 Rubel wert!“

Lenz, der ebenso matt und bleich aussah wie seine beiden Gefährten, nickte verächtlich und antwortete dem Chiwaner ebenfalls auf englisch:

„Allerdings, 25 000 Rubel würde ich für unsere Freiheit gern hingeben – sehr gern sogar! Hier aber weiß ich genau, daß Ihr es weit weniger auf unser Geld als auf anderes abgesehen habt. Ihr wollt uns erst unserer Barmittel entblößen, indem Ihr mich veranlaßt, einen Scheck auf die Summe auszufüllen, die ich bei der Bank in Aschabad zugute habe. Nachher würden wir aber genau so Eure Gefangenen bleiben wie jetzt, nur mit dem Unterschiede, daß wir dann weit schwerer als völlig mittellos Euch entfliehen könnten. – Was wollt Ihr nun eigentlich sonst noch von uns? Ich wette, daß Ihr nur der Beauftragte eines Mannes seid, der uns schon seit einiger Zeit nachstellt. Ich möchte diesen Menschen einmal sprechen. Vielleicht können wir uns einigen.“

Abu Birk dachte nach, sagte dann: „Wartet – ich bringe Euch Bescheid.“

Als er verschwunden, wandte Lenz sich an den Doktor.

„Siehst Du, ich habe recht! Der Kerl ist ebenfalls an Bord. Dachte ich’s mir doch. Unsere Gefangennahme und diese Fahrt zu Schiff – alles ist sein Werk!“

Doktor Wüllner murmelte eine Verwünschung vor sich hin.

„Ich bekäme den Menschen zu gern mal vor meine Revolvermündung! Man peinigt uns hier absichtlich, um uns mürbe zu machen! – Ah – da ist der gelbbraune Schurke wieder! Und – sein Begleiter –“

„Der Schielende!“ ergänzte Lenz erregt.

Es war tatsächlich der geheimnisvolle Fremde, jener hartnäckige Widersacher der Deutschen, der ihnen, seit sie russischen Boden betreten hatten, in wechselnder Verkleidung stets nahe geblieben war.

Hochgewachsen, breitschultrig und in stolzer, ruhiger Haltung trat er vor die Gefangenen hin, die auf den Bodenplanken des Laderaumes hockten und mit einem Gefühl tiefer Demütigung zu ihrem Feinde emporschauten, um dessen Mund jetzt ein höhnisches Lächeln zuckte.

„Geh!“ befahl er Abu Birk, der denn auch sofort auf das Deck zurückkehrte.

Dann sprach er Egon Lenz an.

„Sie meinten, wir könnten uns vielleicht einigen. Schon möglich. Vorbedingung aber wäre, daß Sie die 25 000 Rubel zahlen.“

„Und dann?“ fragte Lenz erwartungsvoll.

„Dann sollen Sie mir sagen, was Sie über die geheimnisvolle Oase wissen, von der Professor Görke in der Urania berichtete – alles sagen! Denn ich vermute wohl mit Recht, daß Sie darüber mehr wissen als der Professor.“

„Ah – also das ist’s“ entfuhr es Lenz „Daran habe ich freilich nicht gedacht. Nein – niemals! – Nun – ich kann Ihnen ehrenwörtlich versichern, daß ich nur das weiß, was der Professor vortrug.“

Der Fremde, der das Deutsche sehr hart und gebrochen sprach, machte eine geringschätze Bewegung mit der Hand.

„Ehrenwort?! Darauf gebe ich gar nichts! Sie werden mir doch nicht einreden wollen, daß Sie lediglich nach den dürftigen Angaben des Professors die Oase finden sich vorgenommen haben?!“

„Wer sagt denn überhaupt, daß ich die Oase suche?“ entgegnete Lenz achselzuckend.

„Oh – Sie weichen mir aus, machen Winkelzüge. Vielleicht bereuen Sie es sehr bald, nicht offen gewesen zu sein. – Ich frage nochmals: Wollen Sie mir mitteilen, wie man am leichtesten und sichersten die Oase erreicht? –Wenn Sie sich weigern – das möchte ich Ihnen gleich vorhalten! – werden Sie und Ihre Gefährten auf eine der Sundinseln der Ostküste des Aralsees gebracht, auf der die russische Regierung Aussätzige zur Vermeidung der Ansteckungsgefahr angesiedelt hat. Diese Leute lassen niemanden mehr von ihrem Eilande fort, der es einmal betreten hat. Vielleicht haben Sie davon gehört, daß die Ostküste ihres Triebsandes wegen berüchtigt ist, der alles verschlingt, was sich seiner trügerischen Oberfläche anvertraut. Und dieser Triebsand ist die sicherste Umzäunung für jene Inseln –!“

Egon Lenz schaute den Fremden durchdringend an.

„Sie sind ein Schurke! Und die Vergeltung für das, was Sie planen, wird Sie schon ereilen! Ich kann Ihnen nicht mehr über die Oase sagen, als Professor Görke berichtet hat. – Gehen Sie! Gott wird zwischen uns beiden wählen – ob er uns oder Ihnen hilft.“

Der Schieläugige lachte höhnisch auf.

„Gott – Gott – lassen Sie den aus dem Spiel! Der ist für mich dasselbe wie Ihr Ehrenwort –!“

Er ging langsam, zögernd davon. Vielleicht hoffte er, daß Lenz ihn zurückrufen würde.

Die drei Gefährten waren allein.

Doktor Wüllner sagte ernst und traurig: „Ich fürchte, er wird seine Drohung wahrmachen. – Schade, daß er sich darüber nicht äußerte, ob er zu den Dromedarreitern in Beziehung stand. Ich liebe solche ungeklärten Fragen nicht.“

Lenz schüttelte den Kopf.

„Du bleibst doch stets der streng logisch denkende Gelehrte, Heinz! – Mir ist es sehr gleichgültig, ob der Mann mit jenen Zinken im Sande etwas zu tun hatte oder nicht.“

„Hm – aber die andere Frage: Ob der Schielende ebenfalls jenen Vortrag in der Urania mitangehört hat? – wie stellst Du Dich dazu?“

„Ja – das erscheint mir freilich wichtiger! – Doch da kommt ja auch schon unser Herbergsvater mit der Mahlzeit – natürlich Hirsebrei wie immer!“ fügte er leiser und mit bitterem Galgenhumor hinzu. „Ich habe einen Gedanken, Heinz: Wir werden versuchen, den Chiwaner zu bestechen!“

Abu Birk machte jedoch ein sehr ablehnendes Gesicht, als Lenz ihm zehntausend Rubel zusagte, wenn er ihnen zur Flucht verhülfe. Ängstlich blickte er zu der Dachluke empor und erwiderte flüsternd:

„Gebt Euch keine Mühe! Der, der auch über mich befiehlt, ist zu mächtig, als daß ich es wagen dürfte, unredlich zu handeln.“

Eine Stunde später lagen die Gefährten wieder in ihrem Verschlage.

„Wir müssen fliehen“, sagte Lenz leise. „Wir müssen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen! Zum Glück hat man uns nicht wieder enger gefesselt. Ich habe bereits eine Idee, wie wir gewaltsam die Freiheit wiedererlangen können.“

 

4. Kapitel.

Die Insel im Aralsee.

Acht Tage nach diesen Vorgängen segelte der Irgschai Abu Birks bei schwachem Südwind an der Ostküste des Aralsees, etwa hundert Kilometer nördlich des Deltas des Amu Darja entlang.

Der Aralsee mit seinen rund 68 000 Quadratkilometer Flächeninhalt ist, wie schon erwähnt, der zweitgrößte Binnensee Asiens, hat flache, sandige, unfruchtbare Ufer, nur einen stärker besiedelten Küstenstrich und zwar im Süden, wo der Amu Darja seine zahlreichen Mündungsarme ausbreitet und zahlreiche, kahle Inseln, die größtenteils unbewohnt sind. Das Wasser ist schwach salzhaltig, wird von den Tieren getrunken und verdunstet so leicht, daß der See ständig kleiner wird. An alten Wassermarken läßt sich erkennen, bis wohin sein Spiegel reichte. So soll sein Niveau noch 1831 nicht weniger als 15 Meter höher gelegen haben. Seines Fischreichtums wegen ist er berühmt. Doch auch dieser wird von den Russen nicht in gehöriger Weise ausgenutzt. Freilich hindern auch die ganz plötzlich auftretenden schweren Stürme das Befahren des Sees mit kleineren Schiffen und in der Hauptsache werden nur Fischereidampfer verwendet, die für die Witterungsverhältnisse des Aral besonders gebaut sind.

Die Ostküste ist am ödesten und eintönigsten und geht unmittelbar in das wellige Gelände der Wüste Küsül Kum über, die hier in ihrem nördlichen Teile nur spärlichen Graswuchs hervorbringt und daher auch von den Kirgisen, den Kindern dieses ungeheuren Steppengebiets, wenig besucht wird. –

Der Irgschai Abu Birks hatte im ganzen vier Mann Besatzung. Dies festzustellen war den Deutschen nicht schwer gefallen. Ob sich der Fremde noch an Bord befand, wußten sie nicht. Aber das mußte ihnen gleichgültig sein. Es galt, den Streich, der ihnen die Freiheit verschaffen sollte, auszuführen, bevor sie jene Insel der Aussätzigen erreichten. Und an diesem Abend, der sich jetzt über die weite Wasserfläche und die sandige Küste herabsenkte, sollte es sich entscheiden, ob Egon Lenz’ Plan gelingen würde oder nicht.

Abu Birk bediente die Gefangenen stets selbst und zwar auf Befehl des Schieläugigen, der wohl fürchten mochte, daß die Schiffsknechte Bestechungsversuchen leichter zugänglich wären.

Um Sonnenuntergang erhielten die drei Deutschen die letzte Mahlzeit und durften dann wie immer unterhalb der Deckluke sitzend ihr Essen verzehren. Absichtlich hatten sie in den letzten Tagen sich völlig ergeben in ihr Schicksal gezeigt und es auch nicht an kleinmütigen Klagen und Bitten fehlen lassen, die natürlich bei Abu Birk auf taube Ohren trafen. Immerhin glaubte dieser nun ganz fest an die Harmlosigkeit seiner Gefangenen, obwohl der Schielende ihn eindringlich besonders vor Egon Lenz gewarnt hatte.

Als der Schiffseigentümer jetzt die Leiter abwärtskletterte, die große Schüssel Hirsebrei im Laderaum auf den Boden gestellt und die geheime Tür des Verschlages geöffnet hatte, krochen die Gefangenen von selbst wie stets in letzter Zeit aus ihrem engen Kerker hervor und setzten sich unterhalb der Luke nieder.

Abu Birk wollte nun jedem wie gewöhnlich die linke Hand losbinden. Er beugte sich zu März Ypsilon herab, nestelte an dessen Stricken herum, sah nicht, daß Egon Lenz die Hände aus den Schlingen, die der Knabe ihm vorher geschickt gelockert hatte, herauszog und der Deutsche nun urplötzlich hochschnellte. –

Der Chiwaner fühlte einen eisernen Druck um die Kehle, wollte schreien – konnte keinen Laut hervorbringen.

Röchelnd verlor er das Bewußtsein. Sein Messer und sein Revolver wechselten sofort den Besitzer. Lenz überzeugte sich, ob die Waffe geladen war, lächelte dann ingrimmig und sagte leise:

„Nun soll nur jemand versuchen, mich dort wieder einzusperren! Lebend bekommt mich niemand in das dunkle Loch!“

Ypsi war in dem Laderaum suchend hin und her geeilt und reichte nun dem Doktor ein Tatarenbeil mit gebogenem Stiel, während er selbst einen großen Hammer kampflustig schwang.

„Gut“, meinte Lenz mit aller Ruhe, „nun folgt die Fortsetzung. Zuerst aber hinein mit dem Chiwaner in die Zelle! Fest genug gebunden haben wir ihn! Steckt ihm zur Sicherheit aber noch einen Knebel zwischen die Zähne.“

Er selbst stieg die Leiter empor, lugte über den Lukenrand hinweg und sah hinten am Steuer die drei Schiffsknechte dem in ganz Turkestan beliebten Würfelspiel mit leidenschaftlichem Eifer huldigen.

Ypsi mußte mit, da er gewandter als der lange Doktor war. Beide krochen nun auf allen Vieren das Deck entlang, indem sie sich hinter dort aufgestellten Fässern und Kisten so gut es ging verbargen.

Die Überrumpelung der Schiffsknechte – es waren Turkmenen vom Stamme der Januden – gelang über Erwartung gut. Der Revolver redete eine so überzeugende Sprache, daß die jungen Burschen, von denen der Älteste kaum zwanzig Jahre sein mochte, sich widerstandslos fesseln ließen, wobei der Doktor jetzt eifrig half.

Gerade als der Letzte gebunden wurde, ereignete sich dann ein tragikomischer Zwischenfall. Aus der Wohnhütte kam ein Weibsbild von so abschreckender Häßlichkeit herausgeschossen und begann so fürchterlich zu keifen, daß die drei Gefährten zunächst völlig sprachlos waren. Dann aber stießen sie gleichzeitig eine schallende Lache aus, die den Erfolg hatte, der anders vielleicht nicht so schnell zu erreichen gewesen wäre: die schlumpig angezogene Alte – es war Abu Birks Frau! – verstummte und stierte die Überwältiger der Schiffsbesatzung an, als ob sie an ihrem gesunden Verstande zweifelte.

Eine Unterhaltung mit dem Weibe war nicht möglich. Nur durch Zeichen konnte man sich verständigen. Die Frau des Chiwaners schien darüber, daß die Schiffsknechte gebunden an Deck lagen, gar nicht so sehr aufgebracht. Nur ihren Herrn Gemahl wollte sie sofort wieder frei haben. Als Lenz ihr dann galant sein buntes seidenes Taschentuch verehrte, wurde sie noch friedlicher und versprach den Gefährten sofort eines der Hühner zu braten, die in einem großen Käfig ihrer letzten Stunde ahnungslos entgegengackerten.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Das Flachboot, dessen Steuer man festgebunden hatte, war vor dem Winde mit nur leicht geschwelltem Großsegel (jeder Irgschai führt ein sog. lateinisches Segel und an einem zweiten Mast am Steuer noch ein etwas kleineres) langsam weiterglitten. Die Schiffsknechte wurden nun gleichfalls in den Verschlag gebracht und durften Abu Birk Gesellschaft leisten. Der war jetzt wieder bei vollem Bewußtsein und bewies sein Hasenherz durch klägliches Winseln um Gnade. Er hätte ja nur „dem Herrn“ gehorcht, gegen dessen Befehle es keine Auflehnung gebe.

Gefragt, wer der Schieläugige denn eigentlich wäre, erwiderte er unter tausend Eiden für die Wahrheit seiner Angaben, daß er dessen Namen nicht kenne, ja nicht einmal wisse, ob es ein Russe wäre; er wäre mit „dem Herrn“ vor drei Jahren bekannt geworden und vermute, daß jener das Oberhaupt eines weitverbreiteten Geheimbundes von Dieben und Räubern sei, die, über ganz Turkestan verteilt, vor niemand sich fürchteten und von den Turkmenen der Kara Kum ebenso sehr aus Angst vor Rache unterstützt würden wie von den Kirgisen.

Weiter gefragt, ob die Dromedarreiter damals vielleicht Mitglieder dieser Bande gewesen sein könnten und ob das verfallene Russenfort ihm von Hörensagen bekannt wäre, bejahte er beides. Er erklärte, jene Dromedarreiter wären auf dem Wege zu einem Stelldichein gewesen. Der letzte von ihnen hätte Ypsis Fährte bei den geheimen Zeichen bemerkt, diese fortgenommen und verwischt und seine Beobachtung den anderen gemeldet, die daraufhin die Deutschen sofort ausgekundschaftet und weiter im Auge behalten hätten. –

So war denn nun ein Teil der Rätsel der letzten Abenteuer aufgeklärt. Noch nicht alle! Die Person des Fremden, der das Flachboot bei der Stadt Tschimbai am Deltaarme des Amu Darja verlassen hatte, blieb in geheimnisvolles Dunkel gehüllt.

Abu Birks Weib, das auf den wohlklingenden Namen Nimbalea hörte, hatte auf dem Herde in der Ziegelhütte ein mächtiges Feuer angemacht, über dem das Huhn bereits brodelte und zischte. Egon Lenz stand dabei und sah der Alten zu, die eifrig den Fleischsaft in einem Holzlöffel auffing und den Braten damit kunstgerecht begoß. Der Doktor saß auf einem Schemel vor der Tür und bemühte sich, sein Haar mit Hilfe eines Kammes etwas in Ordnung bringen. Ypsi wieder thronte stolz am Steuer und spielte den Kapitän des Bootes.

Mit einem Male erklang draußen in der Luft ein seltsamer Ton. Es war wie der Schall einer schlechten Trompete, hell, kreischend fast, und so laut, das Egon Lenz schnell vor die Hütte lief, um zu sehen, woher das Geräusch käme.

Da stürzte schon ganz grau vor Schreck im Gesicht die Alte hinter ihm drein, packte ihn am Arm und zeigte auf die Segel, indem sie die Bewegung des Einholens machte.

Lenz verstand die Gesten nicht gleich. Als er dann merkte, daß irgend eine Gefahr im Anzuge wäre, war es zu spät.

Mit Blitzesschnelle hatte sich der Himmel mit schwarzem Gewölk überzogen; tiefste Finsternis herrschte jetzt ringsum, jeder Luftzug hatte aufgehört.

Dafür zeigte sich an allen Spitzen und Kanten die Erscheinung des St. Elmsfeuers. Das gespenstische, weiße Licht, bald in Büscheln, bald in dünnen Strichen erstrahlend, wurde bald so stark, daß das Flachboot geradezu illuminiert aussah.

Egon Lenz hatte kaum begriffen, was die Alte wollte, als er nach dem Haupttau des lateinischen Segels griff, um die große Leinwand herabzulassen.

Um Sekunden kam er zu spät.

Derselbe heulende Ton, jetzt hundertfach verstärkt, gellte durch die Stille. –

Dann folgte ein Brausen, als ob ein Riesengebläse plötzlich in Gang gesetzt sei und nun mit seinem Strahlrohr das Boot zu treffen suche.

Ein ungeheurer Windstoß ließ beide Segel knallend die Taue zerreißen. Das war ein Glück! Hätten sie gehalten, wäre der Irgschai gekentert, der sich ohnedies gefährlich weit übergelegt hatte.

Nun richtete er sich zwar wieder auf. Aber die Hütte auf dem hohen Deck wirkte wie ein weiteres Segel, fing den Winddruck auf und jagte das Boot in toller Eile nach Norden zu davon.

Der Aralsee zeigte seine ganze Heimtücke. Im Augenblick fast stiegen die Wellen bis zu drei Meter Höhe an, waren umso gefährlicher, als sie sehr kurz aufeinander folgten.

Lenz, der jetzt das Steuer bediente, schickte den Doktor nach unten und ließ die Gefangenen an Deck bringen. Falls der Irgschai kenterte, sollten die Leute nicht elend ertrinken.

Aber das Flachboot hielt sich für seine Plumpheit sehr brav. Wenn es auch wie ein Trunkener hin und her schwankte und mehr als einmal umzukippen drohte, – stets richtete es sich wieder auf und raste weiter, als gelte es dem Orkan zu entgehen.

Nach einer Stunde kam man dann an ein paar flachen Inseln vorüber, die mit ihren hellen Sandufern wie weiße Striche durch die Dunkelheit aufleuchteten. Lenz versuchte, in einen der Kanäle zwischen den Inseln einzulenken, gab es aber wieder auf, da das Flachboot bei diesem halben Anlaufen gegen den Wind zu viel Wellen über Bord bekam.

Abermals ein paar Inseln. Zu spät erkannte Lenz, daß er ahnungslos mitten in eine Anzahl von Eilanden hineingesteuert war, von denen die meisten so flach waren, daß die Wellen jetzt darüber hinweggingen.

Plötzlich dann ein fürchterlicher Stoß, unter dem die Ziegelhütte wie ein Kartenhaus zusammenbrach.

Der Irgschai war gestrandet. –

Lenz zerschnitt die Fesseln der vier Gefangenen, rief den Gefährten zu, sich bereitzuhalten über Bord zu springen.

Abu Birk tat’s als erster. Ihm folgte die Alte, die sich eine Art Schwimmweste aus Schilfrohr umgebunden hatte.

Gerade als der letzte der Schiffsknechte gleichfalls den Sprung wagte, um die kaum sechs Meter entfernte Küste der nächsten Insel schwimmend zu erreichen, hob eine neue Riesenwelle das Boot abermals hoch empor und trieb es in einen Sund zwischen zwei Eilanden hinein, wo es dann bald abermals auf eine Untiefe auflief und jetzt endgültig festsaß.

Wie zum Hohn ließ der Orkan gleich darauf nach, flaute in einer Stunde völlig ab und tat dem gestrandeten Fahrzeug daher keinen Schaden weiter an.

„Wir können schlafen gehen“, meinte Lenz gelassen und zeigte zum Firmament empor, wo Stern auf Stern auftauchte und nun auch der Mond hinter der sich verziehenden Wolkenwand sichtbar wurde. „Morgen früh wollen wir zusehen, wo wir eigentlich sind und was wir von unserer Lage zu halten haben. Jedenfalls sind wir die braune Gesellschaft los, die da drüben auf der anderen Insel sitzen dürfte, – falls die kühnen Schwimmer nicht ertrunken sind!“

Ypsi hatte in den Trümmern der Hütte umhergesucht und hielt nun ein dunkles Etwas hoch empor.

„Unser Huhn!“ rief er. „Es dürfte genießbar sein!“

„Gut, mein Junge! Essen wir! Der Magen verlangt nach all dem Hirsebrei mal was anderes. Vorwärts, Heinz, – zu Tisch!“ –

Die Gefährten schliefen bis in den hellen Vormittag hinein. Ypsi wurde als erster munter. Ihn weckte das andauernde Gackern der Hühner, die nach Futter verlangten.

Jetzt bei Tage konnte man erst so recht erkennen, wie hoch der Orkan die Wassermassen des Sees aufgetürmt und vor sich hingetrieben haben mußte. Der Irgschai lag beinahe auf dem Trockenen dicht am Ufer einer großen Insel, die mit ihren kahlen Sanddünen im Lichte der Sonne doppelt trostlos aussah. Der Sund zwischen diesem Eiland und dem südlich davon gelegenen war etwa hundert Meter breit. Nach Westen zu wieder erstreckte sich eine dritte Insel, – diejenige, auf die die Besatzung des Flachbootes sich hatte retten wollen.

Ypsi schwang sich an einem Tau über Bord und gedachte an das nahe Ufer zu waten. Kaum hatte er die Last seines Körpers aber dem Grunde des Kanales zwischen den Inseln anvertraut, als er auch schon merkte, wie seine Füße so schnell einsanken, als würde er von einer unheimlichen Macht hinabgezogen.

Hastig packte er wieder das Tau und kletterte an Deck zurück, wo Lenz, der inzwischen auch wach geworden, ihn lachend empfing. –

„Ja, ja, mein Junge, – der Triebsand! Der ist wie Kuchenteig – weich und klebrig sozusagen!“

Nachher stellten die Gefährten dann aus Brettern eine Laufplanke bis ans Ufer her und begannen sofort auf der Insel ein wenig Umschau zu halten.

Diese hatte bei etwa bohnenförmiger Gestalt nach des Doktors Schätzung eine Länge von 4000 und eine größte Breite von 800 Meter, bestand im Gegensatz zu den Nachbareilanden aus einer Anzahl sandiger Hügel und war daher schlecht zu übersehen. Erst als die Gefährten in der Mitte eine Anhöhe, die Lenz sofort Hoffnungsberg taufte, erklommen hatten, gewannen sie einen besseren Überblick über ihr Reich, das sie dann ein volles Jahr beherbergen sollte.

 

5. Kapitel.

Die Geheimschrift Leutnant von Bleulens.

Nach der ersten oberflächlichen Besichtigung der Insel und nachdem man vergeblich nach Abu Birk und den Seinen ausgeschaut hatte, von denen auf der Nachbarinsel auch nicht eine Spur zu entdecken war, so weit man dies mit bloßem Auge von hier aus feststellen konnte, begaben die Gefährten sich auf das Flachboot zurück und räumten die Trümmer der Hütte beiseite, um an den Herd heranzukommen.

Ypsi mußte ein Huhn schlachten, das dann mit Hirse zusammen im Topf gekocht wurde und eine wohlschmeckende Mahlzeit abgab.

Nachmittags zimmerte man ein Floß, auf dem man der Westinsel einen Besuch abstattete. Lenz wollte sich davon überzeugen, ob die Leute des Irgschai sich gerettet hätten.

Man fand nicht einen von ihnen auf dem Eiland, aber auch keine angetriebene Leiche. Dies erschien recht seltsam. Die Gefährten rieten hin und her, konnten sich diese Tatsache aber durchaus nicht erklären.

Nach der Rückkehr zum Flachboot wurde dieses genau durchsucht, wobei man recht überraschende und erfreuliche Entdeckungen machte.

Von den Chiwanern, die die drei Deutschen in dem Eichengehölz überfallen hatten, war diesen all ihre Habe geraubt worden. Aber sämtliche Sachen fanden sich nun in einer Kammer des Laderaumes wohlverwahrt vor, sogar die Waffen und auch jenes halb zerrissene alte Buch, ein geographisches Werk, das Ypsi als Andenken an seine kurze Einkerkerung in der Ruine des Russenforts mitgenommen und dem er ja auch seine und seines Herrn Befreiung verdankt hatte. Darin standen auch Aufzeichnungen eines Leutnants von Bleulen in einer Geheimschrift, die sehr schwer zu entziffern war.

Außer diesen Dingen enthielt der Laderaum des Irgschai aber noch Sachen von bedeutendem Wert, besonders Teppiche, die später nach der Hafenstadt Ak-kala hatten gebracht werden sollen, wie die Aufschrift der Ballen bewies.

Es handelte sich um sog. Perserteppiche, die ja in Europa so hoch bezahlt werden und von denen doch kaum die Hälfte aus Persien stammt, vielmehr die überwiegende Mehrzahl aus dem Lande der Turkmenen: Turkestan, Buchara und Samarkand. Gerade die Turkmenenfrauen sind äußerst geschickte und geschmackvolle Teppichknüpferinnen, und viele der seidenglänzenden Gebetteppiche, „echte Perser“, haben Persien nie gesehen, sondern gelangen mit der Transkaspischen Bahn nach Europa.

Der Irgschai enthielt an Teppichen ein Vermögen. Dann hatte er noch geladen Häute und Baumwollgewebe, die ja die Hauptausfuhrartikel Turkestans sind.

An Lebensmitteln waren vorhanden: Hirse, Mehl, Gefäße mit eingeschmolzener Butter, Dörrfleisch, gedörrte Fische und – acht lebende Hühner, darunter ein prachtvoller Hahn. Nach Doktor Wüllners Ansicht – und als Forschungsreisender hatte er darüber ein Urteil – reichten diese Vorräte für etwa vier Monate.

Auch ein großes Faß Trinkwasser fehlte nicht. Aber der Inhalt schmeckte brackig, und die Gefährten gewöhnten sich dann bald daran, das Wasser des Sees zu genießen, obwohl es leicht salzig war.

Am Abend dieses ersten Tages saßen die drei Abenteurer in einem aus Teppichen auf Deck errichteten Zelt und berieten bei der Mahlzeit, ob es angebracht sei, einen der Fischdampfer, von denen zwei im Laufe des Nachmittags der Westinsel ziemlich nahe gekommen waren, durch Feuersignale herbeizurufen.

Lenz und Wüllner waren sich darüber einig, daß, falls sie auf diese Weise in bewohnte Gegenden zurückkehren wollten, eine große Gefahr bestand: der Gouverneur der transkaspischen Provinz hatte ihnen das Land verboten und dies sehr wahrscheinlich öffentlich zugleich mit einer Personalbeschreibung von ihnen bekannt gegeben. Es war also zu fürchten, daß sie den russischen Behörden ausgeliefert und wegen Nichtachtung des Verbotes bestraft würden.

Man beschloß daher, auf fremde Hilfe zu verzichten und zu versuchen, die Ostküste des Sees, die in der Ferne vom Hoffnungsberg aus undeutlich als heller Streifen zu erkennen war, zu erreichen, indem man aus den Planken des Flachbootes ein leidlich seetüchtiges Floß zimmerte.

Hiermit wollte man sich keineswegs übereilen. Mußte man doch darauf bedacht sein, erst einmal nach den Entbehrungen der letzten Wochen die Körperkräfte aufzufrischen, da das, was man fernerhin beabsichtigte, die Reise nach der unbekannten Oase, sicherlich große Anforderungen an die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen stellen würde.

Am folgenden Tage wurde zunächst aus den Trümmern der Ziegelhütte am Strande zwischen den Dünen eine neue erbaut. Der Platz war so gelegen, daß er vom Wasser aus nicht bemerkt werden konnte. Dann begann man, das Flachboot auseinanderzunehmen. Zwischenein lagen die Gefährten aber auch dem Angelsport mit selbstgefertigten Geräten ob und hatten hierbei guten Erfolg. Besonders eine Welsart, die im Aralsee bis zu 1½ Meter lang wird, biß auf Fischköder sehr gut an, und dieser Sport hatte neben dem Vorteil der Versorgung mit wohlschmeckendem Fischfleisch noch viel Aufregendes und Abwechslungsreiches an sich.

Nach einer Woche sollte sich dann jedoch ein Unfall ereignen, der für die Zukunftspläne der drei Inselbewohner von großem Einfluß wurde.

Doktor Wüllner verletzte sich an einem rostigen Nagel beim Loshauen einer Planke des Bootes die linke Hand, zog sich eine schwere Blutvergiftung zu und schwebte wochenlang zwischen Tod und Leben.

Als die Gefahr endlich beseitigt war, hatte das Fieber den Patienten derart geschwächt, daß er sich trotz bester Pflege nicht erholen konnte. Der August kam, und die Gefährten sahen sich noch immer außer Stande, die Insel zu verlassen. Dann hatte der Doktor zu allem Unglück noch einen Rückfall, und der erste Schnee, der am 24. August fiel, wie Ypsi in seinem Taschenbuche vermerkte, fand den Patienten in einem Zustande, der nicht viel besser als vor zwei Monaten war.

Die warme Jahreszeit im Aralgebiet ist sehr kurz. Der Frühling beginnt April, setzt sofort mit großer Wärme ein, die sich im Juli bis zu durchschnittlich 25 Grad steigert. Der Herbst dauert kaum vierzehn Tage, etwa von Mitte bis Ende August, wo sich das Nahen des Winters durch kalte Stürme und Schneefälle bemerkbar macht. Zwanzig Grad Frost auf dem Aralsee sind durchaus keine Seltenheit, und das riesige Gewässer gefriert denn auch sehr oft in seiner ganzen Ausdehnung. Die Burane oder Schneewirbelwinde sind für diese Gegenden eine wahre Landplage, führen häufig den Verlust ganzer Schafherden herbei und bringen auch Menschen den Tod, da die Schneemassen die Neigung haben, sich willkürlich irgendwo zu wahren Bergen aufzuhäufen. Im Sommer ist es wieder eine Hornissenart, die, in Schwärmen zu Millionen auftretend, den Viehreichtum des Steppenbewohners gefährdet. Fällt ein solcher Bremsenschwarm eine Herde, seien es Pferde, Rinder oder Schafe, an, so zerstreuen die Tiere sich in rasender Flucht und sind kaum wieder einzufangen oder fallen den zahlreichen Wölfen zum Opfer.

All dies war sowohl Lenz als auch Wüllner nur zu gut bekannt. Ersterer sorgte denn auch dafür, daß für den nahenden Winter alle notwendigen Vorkehrungen getroffen wurden. Die Teppiche mußten die Hütte wärmer und behaglicher machen, die Baumwollstoffe wieder werden zu warmen Anzügen verarbeitet, gegerbte Schaffelle zu Pelzen, Kappen und Handschuhen.

Jedenfalls gab es für Lenz und Ypsi so viel zu tun, daß sie abends stets recht müde waren und die Feierstunden beim Licht der mit Fischtran gespeisten Lampe wirklich als Erholung genossen.

Dann wurde über alles Mögliche gesprochen, dann lebte auch der Doktor auf, froh, die Gefährten in der Nähe zu haben, die tagsüber meist außerhalb der Hütte sich beschäftigen mußten.

Wüllner war es, der die Aufzeichnungen Leutnant von Bleulens nach wochenlangen vergeblichen Versuchen entzifferte. Sie waren in einer fein ausgeklügelten Geheimschrift abgefaßt, und es hatte des Doktors ganzer Intelligenz bedurft, den Schlüssel für diese Geheimschrift zu finden.

Die Übertragung in die deutsche Sprache ergab dann zur Überraschung unserer Abenteurer nichts anderes als eine Schilderung einer mehr als romantischen Reise, die der russische Offizier, der später fraglos in jenem Fort den Tod gefunden, nach derselben Oase unternommen hatte, die auch unsere drei Robinsons aufzusuchen beabsichtigten.

Jetzt war auch klar, weshalb Bleulen gerade in das geographische Werk und gerade in einer Geheimschrift diese Schilderung eingetragen hatte: Es sollte sie nicht jeder ohne weiteres lesen können!

Die Schilderung der Reise war ja überaus wichtig, da sie sehr wertvolle Fingerzeige für die einzuschlagende Richtung und über gewisse Merkmale des Weges gab.

Der Doktor, ohnehin an das Bett gefesselt, entwarf nach den Angaben des Offiziers und denen Professor Görkes, die sich im allgemeinen deckten, eine Kartenskizze, von der er später für jeden der Gefährten eine besondere Art von Orientierungsplan anfertigte, der so geschickt hergestellt war, daß nur ein Eingeweihter sich darauf zurechtfand. Alle anderen Papiere, so auch die Übersetzung der Geheimschrift, wurden vorsichtshalber verbrannt.

Die Gefährten sahen jetzt mit doppelter Sehnsucht dem Frühling entgegen, da sie nunmehr mit ziemlicher Bestimmtheit darauf rechnen konnten, jene Oase zu finden und den Lohn zu ernten. Winkten ihnen doch in jenem grünen Hain, in dem ein uraltes Bauwerk sich erheben sollte, Schätze von märchenhaftem Wert, deren Ruf sich als sagenhafte Erzählungen bei den Kirgisenstämmen von Generation zu Generation weitervererbt hatte, ohne daß es je einem der Nomaden gelungen wäre, dem großen Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Leutnant von Bleulen, ein Kurländer, hatte es auch nur seiner Ausdauer zu verdanken gehabt, wenn es ihm geglückt war, bis in jene Oase vorzudringen. Ob er etwas von den dort verborgenen Reichtümern mitgenommen hatte, war aus seinen Aufzeichnungen nicht ersichtlich.

 

6. Kapitel.

Die Flucht über die Eisschollen.

Am Weihnachtstage gerade – der See war seit einer Woche zugefroren – erlegte Ypsi einen Antilopenbock, den Wölfe vom Festlande her über das Eis bis auf die Insel gehetzt hatten.

Es war eine Saigaantilope, das für die Turkestansteppen charakteristische Tier, dessen Höckernase ihm ein wenig schönes Aussehen gibt. Das Fleisch kam den Gefährten als Festbraten sehr gelegen, und sie feierten die Christnacht daher in echt deutscher, froher Weise, wobei sogar ein künstliches Bäumchen nicht fehlte.

Ende März taute der See nach ein paar warmen Regenfällen stellenweise auf. Dann kamen wieder einige kalte Tage mit frischem Schneefall, die für die Inselbewohner leicht recht verhängnisvoll hätten werden können.

Wüllner war inzwischen wieder so weit hergestellt, daß er sich jetzt an allen Ausflügen beteiligte. Diese führten unsere Robinsons zumeist zu einer tiefeinschneidenden Bucht der südlichen Nachbarinsel, wo es besonders zahlreiche Fische der verschiedensten Arten gab, denen man mit Haken und Köder durch in die Eisdecke gehauene Löcher nachstellte.

An einem klaren Nachmittage des vorletzten Tages des März waren die Gefährten, wie immer versehen mit ihren Waffen und dem Angelgerät, nach der Bucht aufgebrochen. Gerade als sie die Vordüne der Nachbarinsel überschritten, gewahrten sie drei Hundeschlitten, die in schneller Fahrt von Süden her über den See kamen.

Lenz stellte mit Hilfe seines Fernglases fest, daß in jedem der mit sechs großen Hunden bespannten Schlitten zwei Männer saßen.

Das Auftauchen der Schlitten war umso auffälliger, als man bisher während des ganzen Winters auch nicht einen Menschen zu Gesicht bekommen hatte. Lenz gab denn auch seiner Vermutung Ausdruck, daß die Leute nicht ohne Absicht vom Festlande nach den Inseln sich aufgemacht haben dürften und fügte hinzu, er fürchte beinahe, es könnte ihr alter Feind sein, der vielleicht auf der Suche nach ihnen wäre.

Die Gefährten hielten es daher auch für ratsam, sich nicht sehen zu lassen und beobachteten die drei Schlitten zunächst von der Düne aus weiter. Leider stießen die fremden Ankömmlinge dann in der Bucht auf Fußspuren um die Löcher im Eise, folgten den Fährten und gelangten so zu der Hütte.

Inzwischen hatte aber der Himmel ein recht bedrohliches Aussehen angenommen, und gerade als Egon Lenz, der als Späher auf Umwegen sich der Hütte genähert hatte, durch das Glas in einem der Leute den geheimnisvollen Menschen erkannte, setzte ein schwerer Sturm ein. Trotz des Aufruhrs der Elemente versuchten die Schlittenmänner jedoch, mit Hilfe der Hunde die Bewohner der Hütte, die sie mit Recht in der Nähe vermuteten, aufzuspüren.

Kaum hatte Lenz diese Absicht durchschaut, als er den Gefährten auch schon eine Flucht quer über den See nach der Ostküste hin vorschlug.

Der Sturm steigerte sich zum Orkan. Schneegestöber setzte ein, und das Knallen und Krachen des Eises ließ alles Mögliche vorausahnen. Und doch kam es schlimmer, als die Flüchtlinge je vermutet hatten.

Die Eisdecke barst, ohnehin schon durch das Tauwetter gelockert, breite Spalten bildeten sich, bald ganze Kanäle, die zu weiten Umwegen zwangen. Und immer toller tobte der Sturm, riß oft genug einen der Gefährten um, bis diese nur noch eng aneinander geklammert sich vorwärts wagten.

Dann trafen sie auf eine Stelle, wo offenbar warme Quellen die Eisdecke noch mehr zermürbt hatten, wo Schollen in allen Größen vom Orkan durcheinander getrieben wurden.

Nun begann der gefährlichste Teil des Weges. Von Scholle zu Scholle ging’s weiter, oft mit den Füßen im Wasser, oft strauchelnd, oft den Tod dicht vor Augen.

In Schweiß gebadet, völlig erschöpft und taumelnd vor Mattigkeit langten sie endlich bei völliger Dunkelheit an der Küste an.

Der Orkan wütete weiter. Und er wäre den mutigen Abenteurern auch sicherlich verhängnisvoll geworden, da sie ihm ohne jeden Schutz preisgegeben waren, wenn sie nicht die verlassene Hütte eines Fischers gefunden hätten, in der sogar noch eine Menge trockenen Düngers als Brennmaterial aufgehäuft lag.

Ein Riesenfeuer erwärmte den kleinen Raum bald ganz behaglich, und mit dankbar bewegten Herzen saßen die drei glücklich Geborgenen um den Herd herum und dachten mit stillem Entsetzen zurück an die Stunden, die sie in Sturm und Finsternis auf den Schollen des Aralsees zugebracht hatten.

Am anderen Morgen regnete es in Strömen. Der Frühling war da.

Und Egon Lenz sagte vergnügt, indem er nach oben zeigte:

„Diese Dusche wird auch unseren Feind vorläufig auf unserer Insel festhalten. Bis er sie dann verlassen kann, sind wir längst wieder unterwegs.“ – –

Hier wollen wir von unseren Freunden Abschied nehmen. So viel sei jetzt schon verraten: Sie fanden die Oase, fanden aber auch wiederum nicht das, was sie gesucht hatten, kehrten trotzdem zufrieden in die deutsche Heimat, reicher an Erfahrungen und Erinnerungen, nach vielen Monaten zurück.

Was sie noch erlebt haben, ist in dem folgenden Bändchen geschildert:

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

In der Kirgisensteppe.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „ovrher“.
  2. In der Vorlage ist etwas über eine halbe Zeile unleserlich. Text sinngemäß ergänzt.