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In der Kirgisensteppe

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

In der Kirgisensteppe[1].

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Am Rande der Küsül-Kum.

In den endlosen Steppengebieten südlich und östlich des Aralsees, des zweitgrößten Binnengewässers Asiens, kommt der Frühling ebenso plötzlich wie der strenge Winter, dem meist nur ein vierzehntägiger Herbst vorauszugehen pflegt. Warmer Regen, der oft eine Woche anhält, leitet hier gewöhnlich den Sommer ein, denn von einem richtigen Frühling kann man nicht gut sprechen, da die Temperatur binnen kurzem bis zu 20 Grad steigt, ohne daß noch Kälterückschläge wie in anderen Länderstrecken erfolgen.

Anfang April war auch in diesem Jahre der übliche Regenfall eingetreten. Tagelang goß es in Strömen. Die lauen Wasser zermürbten den Schnee, fraßen tiefe Rinnen in die weiße Decke der winterlichen Steppe, vereinigten sich zu Bächen, füllten die Niederungen, bildeten Teiche, ganze Seen, sich schließlich nach einer noch tieferen Stelle als tosende Stromschnellen entleerten.

An dem flachen, ganz unbesiedelten Ostufer des Aral stand etwa dort, wo die geographische Grenze zwischen den[2] Gouvernements Amu-Darja und Syr-Darja verläuft und den tiefsten Winkel einer langen, schmalen Bucht trifft, eine verlassene Fischerhütte, aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet und mit Schilfrohr gedeckt, auf dem bereits eine dicke, grüne Moosschicht der Feuchtigkeit den Zutritt ins Innere noch mehr verwehrte.

Der Hügel, auf dem das Hüttchen sich erhob, glich jetzt einer Halbinsel, die sich in einen großen Landsee hineinerstreckt. Regen und Schneewasser hatten auch hier der Gegend ein ganz anderes Aussehen gegeben. Auf dem neu entstandenen Gewässer tummelte sich eine Schar Wildenten inmitten des ununterbrochen herabströmenden Regengusses, unbekümmert auch um den mächtigen Steinadler, der fast regungslos in der von den dichten Schleiern der Sintflut verfinsterten Luft gerade über dem Entenschwarm hing.

Der gefiederte Räuber stieß plötzlich wie ein Pfeil herab. Eine der Wildenten war gerade der Tür der Hütte gegenüber ans Land gewatschelt. Und auf die hatte der Steinadler, ausgehungert nach der langen Winterzeit mit ihren vielen Fastwochen, es abgesehen, obwohl er sonst mit so geringer Kreatur sich kaum abgab und nur den jungen Saiga-Antilopen und den Pfeifhasen nachstellte.

Die Fänge des starken Vogels bohrten sich in den Rücken der jämmerlich schreienden Ente ein. Da – ein kurzer, scharfer Knall – der Adler ließ die Beute fahren, tat noch ein paar immer schwerfälliger werdende Flügelschläge aufwärts und sank matt auf den feuchten Sand zurück, zerwühlte den Boden mit den Krallen in vergeblichen Versuchen, wieder auf die Füße zu kommen und verendete.

In der Tür der Hütte stand jetzt der glückliche Schütze, ein langaufgeschossener Junge, gekleidet in einen dicken Anzug, dem man es ansah, daß kein Schneider von Beruf ihn gefertigt hatte. Dieser Winterrock, zu dem Stücke eines Teppichs von persischem Muster verwendet worden waren, wirkte wie ein Klownkostüm und hätte in jeder europäischen Stadt einen Straßenauflauf zur Folge gehabt.

Der schlanke Bursche, dessen Kopf eine Lammfellmütze bedeckte, wie die Kirgisen sie tragen, lehnte den noch rauchenden Stutzen an die Hüttenwand und eilte die wenigen Schritte zu seiner Beute hin, neben der die schwer verletzte Ente sich in Zuckungen auf der Erde hin und her warf.

„Ypsi,“ rief dem Jungen jetzt ein sehr großer, schmaler Mann in deutscher Sprache zu, der soeben gleichfalls die Hütte verlassen hatte, „erlöse das arme Tier von seinen Leiden.“

„Jawohl, Herr Doktor!“ Und mit sicherem Hieb schlug der Knabe der Ente mit seinem Tatarenbeil den Kopf ab.

Dann wurde der Adler bewundert.

Noch ein dritter Mann war jetzt hinzugetreten, ein mittelgroßer, kräftiger Europäer mit einem sehr kühn geschnittenen Gesicht und dunklen, lebhaften Augen.

„Ein Prachtexemplar,“ sagte er und breitete den einen Flügel des Steinadlers aus. „Du kannst stolz auf diesen Schuß sein, Ypsi!“

„Bin ich auch, Herr Lenz,“ entgegnete der Junge in seiner frischen Art, die bei aller Keckheit doch nichts Aufdringliches und Vorlautes hatte. „Schade nur, daß der Raubvogel nicht eßbar ist. Er hätte mehrere Mahlzeiten geliefert.“

Doktor Wüllner, ein Forschungsreisender von großem Ruf, machte seine beiden Gefährten jetzt auf ein Stück blauen Himmels im Süden aufmerksam.

„Ich hoffe, morgen haben wir klares Wetter,“ sagte er. „Der Wind hat gedreht, und nur die West- und Ostluftströmungen bringen hier Regen.“ Er begann einen umständlichen Vortrag über diesen gelehrten Gegenstand zu halten, bis Egon den Freund ungeduldig unterbrach und meinte, über die klimatischen Verhältnisse des Aralgebietes könnte man nun wohl genügend unterrichtet sein. Zweckmäßiger als Kathederreden wäre jetzt die Erörterung der Frage, ob man noch länger in der Hütte bleiben oder versuchen solle, einen Kirgisenaul (Dorf) zu erreichen.

„Ich möchte nämlich darauf hinweisen,“ fügte er hinzu „daß unser alter Feind vielleicht doch mit Hilfe eines Fischdampfers jene Insel hat verlassen können, die uns dort drüben ein Jahr beherbergte. Jedenfalls ist es ratsam, der Küste den Rücken zu kehren und uns in der Steppe zu verlieren.“

Doktor Wüllner nickte zerstreut. Seine Augen waren zufällig über die langgestreckte Bucht hingeschweift, die man von hier aus ein paar Meilen aufwärts nach dem Aral zu überblicken konnte.

„Wenn mich nicht alles täuscht,“ sagte er nun, „so sind das da drüben drei Hundeschlitten.“ Er deutete mit der Hand die Richtung an.

Egon Lenz und der Junge – letzterer führte den ungewöhnlichen Namen Ypsilon und als Vornamen die Monatsbezeichnung März – fuhren gleichzeitig herum.

„Wahrhaftig – Hundeschlitten!“ rief Lenz dann. „Vorwärts – jetzt gilt’s! Wir müssen unser Heim hier schleunigst im Stiche lassen. Es ist unser alter Widersacher, der geheimnisvolle Fremde!“

In aller Eile packten die drei Gefährten zusammen, was sie notwendig mitnehmen mußten, um in der Kirgisensteppe nicht ohne alle Hilfsmittel zu sein. Jeder belud sich mit einer Art von Rucksack, die sie schon vorher für alle Fälle angefertigt hatten.

Dann ging’s in flottem Marschtempo nach Südosten zu in die Wüste hinein.

Die Schlitten waren mittlerweile hinter einer Biegung der Bucht verschwunden. Da es noch immer regnete, wenn sich auch der blaue Fleck am Himmel zusehends vergrößerte, brauchten die Flüchtlinge nicht zu fürchten, daß ihre Fährten sie verraten würden. Diese mußten durch den dichten Tropfenfall sofort wieder weggewaschen werden.

Das niedrige Dünengelände des Küstenstriches des Aralsees lag bald hinter den drei Deutschen, die ungefähr vor einem Jahre nach diesen Gegenden gekommen waren, um in der Wüste Küsül-Kum nach einer Oase zu suchen, in der alten Überlieferungen bei den Kirgisenstämmen nach ein Bauwerk stehen sollte, das sehr wertvolle Schätze barg. (Wir machen unsere Leser auf die vorigen Bändchen „Im Lande der Turkmenen“ und „Auf dem Aralsee“ aufmerksam, in denen die Erlebnisse unserer Abenteurer bis zur Auffindung der Fischerhütte am Ostufer erzählt sind.) Nun betraten sie die eigentliche Steppenregion, den Landstrich zwischen den Flüssen Amu-Darja und Syr-Darja, der die Bezeichnung Wüste Küsül-Kum oder politisch Westturkestan führt.

Ein steiniges Flußbett, in dem sie neben den gurgelnd dahinschießenden Frühlingswassern entlangschritten, bot ihnen gute Deckung gegen Sicht und brachte sie auch gerade in der gewünschten Richtung vorwärts.

 

2. Kapitel.

Asbestos.

Kurz vor der Mittagsstunde hatten sie ihre Flucht begonnen. Zwei Stunden später lachte über ihnen der prächtigste blaue Himmel, schien die Sonne mit einer Kraft auf die schneenasse, auftauende Steppe herab, als befände man sich bereits im Juni.

Gleichzeitig mit der Sonne hatte sich auch ein warmer, starker Südwind eingestellt, der ebenfalls das seinige dazu beitrug, das winterliche Bild der Wüste zu zerstören.

Gegen fünf Uhr nachmittags rasteten die Gefährten in einer kleinen Oase, unter deren Eichen und Nadelbäumen zahllose Spuren von Menschen und Tieren auf einen wohl erst vor kurzem beendeten Besuch eines Kirgisentrupps hindeuteten. Dessen breite Fährte ging denn auch als glattgestampfte Heerstraße genau nach Osten zu, und Lenz machte deshalb den Vorschlag, der Spur zu folgen und zuzusehen, ob man bei dieser Kirgisenhorde nicht Pferde und Sättel einhandeln könnte.

Nach einstündiger Ruhe wurde wieder aufgebrochen. Zur Überraschung unserer Abenteurer zeigte es sich, daß, je weiter man nach Osten gelangte, die Steppe desto schneearmer wurde, ein Beweis dafür, wie rauh gerade um den Aralsee herum das Klima ist, der in seiner ganzen Ausdehnung im Winter recht oft zufriert und auf dem zwanzig Grad Kälte nichts Seltenes sind, wovon die Gefährten selbst genug erzählen konnten, da sie ja gerade den langen strengen Winter auf einer öden Insel des riesigen Gewässers zugebracht hatten.

Bei anbrechender Dunkelheit wurde in einer Talsenkung, deren Boden hie und da grauschwarzes Gestein zu Tage treten ließ, das Lager aufgeschlagen und zwar in Gestalt eines Zeltes, dessen Leinen aus einem großen Teppich bestand, während die Zeltstangen erst aus vielen kürzeren Stücken zusammengebunden werden mußten.

Die Temperatur sank nach Sonnenuntergang doch wieder so sehr, daß die Gefährten auf die Suche nach Brennmaterial, leidlich trockenem Dünger, gingen. Nach einer halben Stunde hatten sie dann in dem Zelt wirklich ein Feuer entfacht, das etwas Wärme spendete und auch genügte, das Teewasser in dem Aluminiumkessel zum Sieden zu bringen.

Die Abendmahlzeit bestand aus getrockneten Fischen und Hirsekuchen, die erst in Wasser aufgeweicht werden mußten. Während des Essens beratschlagte man, ob es nicht besser wäre, die Waffen zu verbergen, sobald man die Kirgisenhorde dicht vor sich hätte, da diese Steppenbewohner für moderne Feuerwaffen eine allzu große Vorliebe haben und nichts unversucht lassen, sie sich anzueignen, wo sich nur Gelegenheit dazu bietet.

Der Doktor meinte, man könne nicht vorsichtig genug sein. Bei all ihren sonstigen guten Charaktereigenschaften fehle den Nomaden hier doch das Gefühl für das Verwerfliche eines Diebstahls, sobald es sich um Dinge handele, die sie entbehren müßten.

Als Wüllner sich gerade näher über die Kirgisen, ihre Abstammung von den Türken, ihre Lebensweise und so weiter auslassen wollte, hörten die drei Gefährten gleichzeitig draußen vor dem Zelt das dumpfe Knurren einiger Hunde von einer hochbeinigen Art, wie sie in Europa als russische Windhunde zu haben sind, und eines dieser Tiere schob sogar den Kopf durch die Türvorhänge hindurch, gebärdete sich wie toll und wich erst zurück, als Ypsi ihm mit dem Kolben seines Stutzens drohte.

Die Kirgisenhunde sind äußerst bissig und fallen Fremde, die ein Dorf betreten, leicht an, so daß niemand sich zu Fuß in einen Aul wagt. Als Ypsi nun den Vorhang ein wenig lüftete, sah er draußen in dem Halbdunkel der sternklaren Nacht nicht weniger als neun der kräftigen Tiere, die offenbar gewillt schienen, die Deutschen zu belagern.

Größer aber als der Schreck bei dem Anblick der fraglos sehr ausgehungerten Hunde war des Jungen ängstliche Unruhe, als er in einiger Entfernung einen Haufen menschlicher Gestalten wahrnahm, sicherlich Kirgisen, die vielleicht Rat pflogen, auf welche Weise man [die][3] Insassen des Zeltes überwältigen könnte. Wären die Kirgisen in friedlicher Absicht gekommen, so hätten sie sich ja sofort bemerkbar machen können.

Egon Lenz meinte jetzt, man würde die Lage wohl dadurch für sich am günstigsten gestalten, daß man die Kirgisen herbeiriefe. Der Doktor war hiermit ganz einverstanden. Da die Kirgisen nun ein reines Türkisch sprechen und Wüllner dieses leidlich beherrschte, übernahm er es, die Verhandlungen mit den Nomaden zu führen.

Die Kirgisen – es mochten etwa ein Dutzend sein – schickten zwei Männer nach dem Zelte hin, die zunächst noch recht mißtrauisch waren, dann aber bald zutraulicher wurden, als Lenz ihnen durch den Doktor erklären ließ, daß sie harmlose Reisende aus dem fernen Germanistan seien und nur Turkestan deshalb durchqueren wollten, um Land und Leute kennen zu lernen.

Einer der Kirgisen, der als Fremdenführer zwei Jahre in Baku gewohnt und etwas mehr von der Kultur beleckt war, erwiderte[4] darauf, die Germanisti sollten im Lager des Auls (Aul-Dorf, aber auch nomadisierende Unterabteilung einer Stammesgemeinschaft) willkommen sein. – Es handelte sich um Männer jener Horde, deren Spuren unsere Abenteurer seit dem Nachmittag gefolgt waren. Das Kirgisenlager selbst befand sich ein halbes tausend Schritt weiter östlich in einer langgestreckten Senke, wo die Herrschaft des Winters bereits völlig beendet und keine noch so kleine Schneehalde mehr vorhanden war.

Der Aul – die Abteilung hieß Daulek, dem Dorfältesten nach – zählte rund vierzig Jurten (Filzzelte für den Winter) und gegen fünfzig erwachsene Männer. Der Dorfälteste, ein ehrwürdiger Greis vom Aussehen eines biblischen Patriarchen, war jedoch wenig zugänglich und bot den Deutschen weder Salz noch Brot als Zeichen der Gastfreundschaft an, so daß Wüllner, mit den Sitten dieser Nomaden am vertrautesten, seinem Freunde Lenz heimlich zuflüsterte, hier müßten besondere Umstände mitsprechen, warum das Dorfoberhaupt sich so zugeknöpft verhielte.

Als Wohnung wurde unseren Reisenden eine unbenutzte Jurte angewiesen. Sie schliefen in dieser Nacht nicht viel. Die Sorge, was der kommende Tag ihnen bringen würde, machte sie unruhig und ließ sie immer wieder ihre Lage flüsternd besprechen.

Am Morgen wanderte Lenz allein durch das Lager, um jenen Kirgisen zu suchen, der einst Fremdenführer in Baku gewesen. Er fand auch dessen Jurte und den Besitzer, der seines Zeichens Schmied war, mit verbundener rechter Hand am Steinamboß bei der Arbeit.

Egon Lenz wollte sich diesen Mann, der Ibrahim ibn Gemal hieß und bei seinen Dorfgenossen offenbar hoch im Ansehen stand, gern irgendwie verpflichten. Als Ibrahim ihm bedeutete, er habe sich beim Schmieden die Hand verbrannt, fiel ihm ein, daß er dort, wo man am Abend vorher gelagert hatte und wo dann die Kirgisenhunde das Zelt aufgestöbert hatten, in dem aus dem Sande zu Tage tretenden Kalkstein Anzeichen für das Vorhandensein jenes merkwürdigen Minerals gefunden hatte, das schon im Altertum unter dem Namen Asbestos (unverbrennlich) bekannt war und vielfach verwendet wurde. Daß Asbest zu den Mineralien gehöre, ist den biegsamen Fasern nicht anzusehen, die weit eher als pflanzliche Stoffe angesprochen werden können. Der weiße, auch leicht grünliche Asbest, der in Zentralasien gefunden wird, heißt geradezu Bergflachs und bildet im Gouvernement Perm bei Newjansk einen ganzen Berg.

Lenz, als vielseitig gebildeter Mensch und als Erfinder aus Neigung, stellte nun für Ibrahim aus Asbest ein paar Arbeitshandschuhe und eine Arbeitsschürze im Laufe des Vormittages her. Beide wurden sofort ausprobiert, und zwar in Gegenwart des halben Auls, dessen Bewohner noch nie etwas von einem Stoffe, der sich wie Flachs verarbeiten ließ und dabei vom Feuer nicht angegriffen wurde, gehört hatten und nun aus dem Staunen gar nicht herauskamen, als Lenz ihnen geschickt mit Hilfe der Handschuhe und der Schürze eine Anzahl harmloser Kunststücke vormachte.

Ibrahim war überglücklich. Aus Dankbarkeit berichtete er Lenz dann nachher, daß der Dorfälteste notgedrungen den deutschen Gästen gegenüber sich so unfreundlich verhalten hätte. Es gebe nämlich einen erst kürzlich erneuerten Steckbrief des Gouverneurs von Aschabad, dessen Personalbeschreibungen gerade auf sie zutreffe und dessen Inhalt dahin laute, die betreffenden drei Leute festzuhalten und der nächsten Kosakenstation gut gesichert zuzuführen.

„Ich habe nun schon gestern durchgesetzt, daß man Euch nicht weiter behelligt, sondern nach drei Tagen fortschickt,“ fügte er hinzu. „Mehr dürfen wir kaum für Euch tun, wenn wir uns nicht der Gefahr aussetzen wollen, daß die Russen uns zur Verantwortung ziehen. Ich persönlich werde Euch aber gute Pferde aus meiner eigenen Herde zur Verfügung stellen und auch meinen sechzehnjährigen Sohn Mohammed als Führer mitgeben, der Euch auf Wegen weiterbringen wird, wo Ihr vor jeder Begegnung mit Russen oder anderen Abteilungen meines Volkes sicher seid. Ich rate Euch also, heute bereits gegen Abend aufzubrechen und zwar in nördlicher Richtung an dem mit Schilfrohr bewachsenen Flußbett entlang. Dort trefft Ihr dann nach zwei Stunden auf eine Ruine, die aus einem gelblichen Steinmaterial besteht und die ihrer Bauart nach aus den Zeiten stammt, als hier die jetzt weit zurückgedrängten Chinesen herrschten, denen auch unsere Urväter untertan waren. Bei der gelben Ruine wartet auf mich und meinen Sohn. Wir werden um Mitternacht bei Euch sein.“

Egon Lenz hatte bei der Erwähnung der chinesischen Ruine nur schwer einen Ausruf der Überraschung unterdrücken können. Diese gelbe Ruine kannte er ja bereits aus den schriftlichen Aufzeichnungen eines russischen Offiziers namens v. Bleulen, der so glücklich gewesen war, die geheimnisvolle Oase zu finden, nach der zu suchen die drei Deutschen ausgezogen waren. Nach den Angaben des Leutnants, die dieser in ein geographisches Werk in einer schwierigen Geheimschrift eingetragen hatte, hätte Lenz die gelbe Ruine allerdings viel weiter südöstlich vermutet, und er dankte nun der Vorsehung aus vollem Herzen, weil er und seine Gefährten auf diese Weise der Mühe überhoben wurden, jene Wegmarke erst lange suchen zu müssen.

 

3. Kapitel.

In den Katakomben von Li-au-Tsing.

Unsere Abenteurer befolgten den Rat des gutmütigen und dankbaren Ibrahim, verabschiedeten sich abends von dem Dorfältesten und verließen den Aul, indem sie zunächst aus Vorsicht die genau entgegengesetzte Richtung nach Süden einschlugen, dann das Lager umgingen und nun jenem Flußbett folgten. Sie ließen nicht außer acht, ihre Spuren hinter sich zu verwischen, wandten kleine Listen an, um dies vollständig zu erreichen und durften hoffen, jeden Verfolger irregeführt zu haben. All dies taten sie, obwohl keineswegs feststand, daß der Dorfälteste etwa aus Angst vor Weiterungen, die er ihretwegen mit den russischen Behörden haben könnte, ihnen heimlich Leute nachgeschickt hätte. Nein – sie dachten dabei weit mehr an ihren alten Feind, der sie ja auch schließlich auf der Insel im Aralsee aufgespürt gehabt hatte, dem sie damals nur mit genauer Not entkommen waren und der jetzt schon wieder hinter ihnen her war, ferner auch noch an die Möglichkeit, daß es unter den Kirgisen des Auls doch diesen oder jenen geben könnte, der sich einen Judaslohn verdienen wollte und den Verräter spielte.

Wie wohl berechtigt diese ihre Bemühungen gewesen, sollte sich sehr bald herausstellen.

Der Mond ging um elf Uhr abends auf. Die Helle der Nacht war dann so groß, daß man weithin wie bei Tagesdämmerlicht die Gegenstände unterscheiden konnte. Kurz darauf kam die Ruine in Sicht, die auf dem rechten Ufer des Flußbettes auf einer kuppelförmigen, steinigen und mit Mauertrümmern in allen Größen übersäten Anhöhe lag.

Der chinesische Ursprung des Bauwerks ließ sich trotz dessen geringen Überresten noch leicht erkennen. Es handelte sich um drei Pagoden, die nebeneinander standen und von denen nur noch die mittelste zu betreten war. Das Ganze hatte einst eine Umzäunung in Gestalt einer offenbar recht hohen Mauer mit kleinen Ecktürmen gehabt und daher gleichzeitig festungsartigen Charakter besessen.

Über dem breiten Säuleneingang der mittleren Pagode, zu der eine verfallene Treppe emporführte, war in dunklerer Steinmosaik eine Inschrift angebracht, die der gelehrte Doktor nach einiger Mühe zu entziffern vermochte.

Sie lautete: „Den Toten der Länder rechts des Flusses der Tempel Li-au-Tsing. – Verehrung, Gnade, Anbetung. – Zur Zeit der Dynastie Ping Scho.“

„Wir haben es also mit einer altchinesischen Begräbnisstätte zu tun,“ erklärte Wüllner. „Für den Altertumsforscher dürften diese Ruinen eine geradezu kostbare Fundgrube sein. Sollte ich morgen am Tage Zeit dazu finden, werde ich mich hier recht genau umsehen. Viele Europäer dürften diesen Platz kaum betreten haben. Befinden wir uns doch im ödesten Nordteile der Küsül-Kum.“

Die noch leidlich erhalten gebliebene Pagode, auf deren niedrigem Unterbau sich sechs geschweifte Dächer übereinander auftürmten, war im Innern von Gräsern und Unkraut, die sich zwischen die Steinchen des Mosaikfußbodens eingedrängt hatten, völlig überwuchert. Die Dächer, deren Gerüst aus dem unverwüstlichen Holze einer Eukalyptus-Art bestehen mußte, hatten die Kirgisen der gebrannten Tonziegel fast völlig beraubt, so daß Mond und Sterne jetzt nachts ungehindert hineinlugten.

Die Gefährten machten es sich in einer Ecke bequem, zündeten ein Feuer aus trockenen Unkrautstengeln an und kochten Tee.

Ypsi schien es hier wenig zu behagen. Der weite, kahle Raum wirkte auch in seiner Zerstörung und Verwitterung ein wenig unheimlich. Das empfanden sogar der Doktor und Egon Lenz. Und gerade letzteren waren derlei Empfindungen sonst völlig fremd.

Während Wüllner dann draußen den trümmererfüllten Hofraum in Augenschein nahm, durchstreifte Ypsi vorsichtig die Pagode, die mit ihrer sechseckigen Gestalt genug dunkle Winkel bildete, in denen die durch die ganze Umgebung angeregte Phantasie allerlei Gestalten nur zu leicht entstehen ließ.

Egon Lenz war am Feuer sitzen geblieben und putzte an seiner Doppelbüchse hierum, der die Nässe der letzte Tage nicht gut bekommen war. Überall zeigten sich Rostflecke, und selbst die Läufe hatten gelitten.

Gerade als er das Schloß auseinander genommen hatte und durch die Läufe hindurchsah, die Waffe gegen den hellen Schein des Feuers haltend, blickte er flüchtig nach dem Eingang hin, gewahrte so ein niedriges, schlanke Tier mit buschiger Rute, das mißtrauisch umherwindend vorwärtsschlich und dann plötzlich mit ein paar Sätzen unter den Gräsern und dem Unkraut verschwand.

Gleich darauf, nur drei bis vier Sekunden später, hörte Lenz den Jungen angstvoll aufschreien.

Er sprang empor und lief auf die Stelle zu, wo er Ypsi nahe an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand stehen sah.

„Ach, Herr Lenz, ich habe mich soeben wie eine Memme benommen,“ sagte März Ypsilon kleinlaut. „Es war ja nur ein Fuchs, der mir beinahe zwischen den Beinen durchschlüpfte. Deshalb erschrak ich so sehr.“

„Und ich, weil Du so wunderbar harmonisch aufkreischtest. Wo ist der Übeltäter hin, Ypsi?“

„Dort in jenes Loch hinein, Herr Lenz. Wie ein Blitz schoß er in seinen Bau.“

„So? In jenes Loch? – Hm – merkwürdig! Hole doch mal ein paar Brände vom Feuer. Ich möchte mir diese Röhre etwas näher ansehen. Anscheinend hat die Pagode doch einen Keller, denn anders hätte Meister Reineke sich hier wohl kaum häuslich niederlassen.“

Ypsi war im Handumdrehen wieder da. Ein Keller! Das schmeckte nach Geheimnissen! Das war gerade etwas für ihn!

Inzwischen hatte Doktor Wüllner draußen beim Mond- und Sternenschein umhergestöbert und an den Außenmauern der Pagode noch eine Anzahl von Mosaikinschriften entdeckt. Dann war er zu der am südlichsten liegenden Pagodenruine gegangen, hatte die Treppe zum Eingange erklommen und von da aus einen Blick über die Umgegend geworfen. Zweierlei nahm er wahr, daß ihm beachtenswert erschien, wenn ihn auch nur seine zweite Beobachtung geradezu beunruhigte.

Zunächst: In dem Flußtal kamen zwei Reiter mit drei ledigen Pferden in schlankem Trab auf die Pagode zu. Das konnte nur Ibrahim mit seinem Sohne sein.

Dann aber bemerkte er im Westen in der Steppe gleichfalls sich fortbewegende Gestalten, über deren Natur er nicht recht klar werden konnte. Es waren vielleicht Reiter – vielleicht! Wüllners Kurzsichtigkeit hinderte ihn jedoch daran, sich sicheren Aufschluß darüber zu verschaffen, zumal die dunklen Punkte offenbar nicht die Richtung nach dem alten Heiligtum einhielten, sondern mehr nach Nordwest zu ihr Ziel hatten und bald auch in einer Bodensenkung verschwanden.

Wenige Minuten später langten die beiden Kirgisen an. Der Doktor vergaß über der Begrüßung ganz die[5] anderen Reiter – falls es solche gewesen – führte Ibrahim und dessen Sohn in die Pagode und rief Lenz, der mit Ypsi noch immer an der jenseitigen Wand sich zu schaffen machte, laut zu:

„Du, Egon, unsere Freunde sind mit den Pferden eingetroffen!“

Man saß dann zu fünfen um das Feuer herum. Nachdem zuerst mit den Kirgisen das Nötige besprochen war, fragte Wüllner, was Lenz und Ypsi denn dort im Hintergrunde der Pagode vorgehabt hätten.

„Einen Fuchs, ein Loch und die Vermutung, daß die Pagode unterkellert ist,“ erwiderte Lenz vergnügt. Er war froh, daß Ibrahim sein Versprechen gehalten und ihnen Pferde gebracht hatte, ohne die sie ihren Plan kaum hätten ausführen können.

„Unterkellert – allerdings!“ erklärte der Doktor in Rücksicht auf Ibrahim gleichfalls in englischer Sprache. „An der Ostwand außen fand ich eine Inschrift, die darauf hindeutet.“

„Ach – wirklich? – Ibrahim, weißt Du etwas darüber?“

Der Kirgise schüttelte den Kopf. „Nein, – ich glaube es auch nicht. Sonst müßten wir doch davon Kenntnis haben, da unser Aul hier in der Nähe seine Weideplätze hat und wir oft die Ruinen hier besuchen, wenn wir gerade Bausteine für Herde im Winter brauchen.“

Die Worte „hier in der Nähe“ riefen dem Doktor die dunklen, eilig vorwärtsstrebenden Punkte ins Gedächtnis zurück, die er vorhin ebenfalls hier in der Nähe beobachtet hatte.

Als er das, was er gesehen, jetzt erwähnte, richtete Ibrahim sich sofort argwöhnisch auf und meinte, es könne sich nur um Reiter gehandelt haben – vielleicht um Dromedarreiter, die ja allerdings auf die Entfernung gesehen ganz anders als Menschen zu Pferde erschienen.

Dann sprach er zu seinem Sohn ein paar Worte in ihrer Mundart, worauf der junge Kirgise sofort sich erhob und hinausging.

Ypsi war es am Feuer zu langweilig geworden. Er konnte den Fuchs und die unterirdischen Räume nicht vergessen, war aufgestanden und nach der Stelle hingeschlendert, wo der rote Räuber in das Loch im Boden geschlüpft war. Er sagte sich: Wenn die Pagode unterkellert ist, muß es auch einen Eingang zu diesen Räumen geben! – Den Eingang wollte er finden. Ihn ärgerte es noch immer, daß der Fuchs ihm vorhin den Angstschrei entlockt hatte. Er mußte diese Scharte wieder auswetzen! – Sein Herr hatte durch die Feuerbrände nur feststellen können, daß das Loch, welches durch die Lockerung einiger Steinplatten des Fußbodens entstanden war, sich schräg nach unten hinzog und sehr bald eine scharfe Biegung machte.

Jetzt kniete Ypsi über der Röhre des Fuchsbaus und wuchtete die umliegenden Steinplatten ganz los, legte sie bei Seite und erweiterte das Loch, so gut er es mit den Händen konnte. Dabei stieß er auf eine größere, sechseckige Steinplatte, die von einem kriechenden Unkraut ganz eingesponnen war.

Er richtete sich auf, packte mit beiden Händen zu, zog mit aller Kraft – und wäre beinahe nach rückwärts der Länge nach hingefallen, da der Stein ganz plötzlich nachgab. Nun beugte er sich über die Stelle, wo eben noch das steinerne Sechseck gelegen hatte.

Ein schwarzes Loch gähnte dort. Und in der Tiefe schimmerte es wie hellere Striche – die Stufen einer Treppe.

Der Angstschrei war wettgemacht! Was sein Herr nicht gefunden – er hatte es entdeckt!

Er blickte nach dem Lagerfeuer hinüber. Aber – was bedeutete das?! Da sprangen ja gerade der Doktor und sein Herr so hastig auf, als wäre etwas Besonderes geschehen?! Und nun rief auch Lenz ganz aufgeregt: „Ypsi – Ypsi – hierher!“ – ja er rief’s mit unterdrückter Stimme wie einer, der nicht allzu weit gehört werden will.

Der Junge lief zum Feuer. Lenz empfing ihn mit den Worten: „Wir müssen sofort aufbrechen. Offenbar ist unser alter Feind dicht hinter uns her. Ibrahim will selbst nachsehen, wie es draußen steht. Mach’ Dich jedenfalls fertig.“

Gleich darauf kam der Kirgise angelaufen.

„Ein Weißer und sieben Jomuden,“ meldete er. „Wir müssen fort. Wir dürfen nicht mit Euch zusammen gesehen werden. Es könnte für unseren ganzen Aul böse Folgen haben, da ihr ja festgehalten werden sollt, wo man Euch findet. Die Pferde nehme ich mit. Wir treffen uns dann nördlich der Ruine gegen Morgen. Am besten, ihr verbergt euch. Im Hofe draußen gibt es zwischen den Trümmern genug Schlupfwinkel.“

Die beiden Kirgisen glitten wieder hinaus ins Freie und verschwanden.

Und nun kam der große Augenblick für März Ypsilon! – „Ich weiß ein Versteck – besser als auf dem Hofe,“ sagte er hastig. „Ich habe den Zugang zu dem Keller gefunden.“

Kaum zwei Minuten später tappten die Gefährten auch schon, während der Junge mit einem Feuerscheit vorausging, die Stufen der schmalen Stiege abwärts, nachdem sie das Lagerfeuer ausgetreten und dann die Steinplatte wieder von unten in ihre frühere Lage zurückgebracht hatten.

Die Treppe hatte 32 Stufen. Am Fuße der tief und steil hinabführenden Stiege, die in einem gemauerten Schacht abwärtsging, befand sich eine offene Pforte, neben der in der Mauer des Schachtes etwas wie kurze dicke Knüttel steckten.

„Ah – Harzfackeln!“ meinte Lenz erfreut. „Nun werden wir’s bald heller haben.“

Er zündete eine an und betrat dann durch die Pforte den unterirdischen Raum. Dieser hatte das Aussehen eines niedrigen, von Säulenreihen der Länge nach durchschnittenen Domes, besaß Mosaikfußboden und war genau so knallgelb gestrichen wie die Oberbauten der Pagoden.

Wüllner und Ypsi hielten sich dicht hinter Lenz, prallten nun genau so wie dieser zurück, – denn das flackernde Fackellicht war auf zwei menschliche Gestalten gefallen, die regungslos an der nächsten Säule standen.

Dann lachte Lenz leise auf. „Es sind ja nur Mumien, – Mumien chinesischer Tempelpriester! Seht – überall an den Säulen stehen sie! Na – ein schöner Anblick sind diese ausgetrockneten, tief nachgebräunten Totengesichter nicht. Aber – man gewöhnt sich sicherlich daran!“

„Sehr interessant,“ meinte Wüllner, als Gelehrter schnell begeistert. „Katakomben – wer hätte das gedacht!“

 

4. Kapitel.

Der unterirdische See.

Lenz sah die Sachlage mit nüchternen Augen an.

„Ich pfeife auf alles Interessante,“ brummte er. „Diese uralten chinesischen Bonzen (Priester) haben sich nach uns ebensowenig gesehnt wie wir nach ihnen! Was tun wir hier unten, wenn oben der Unbekannte und sein Anhang nicht das Feld räumen?! Dann können wir hier in aller Gemütlichkeit verhungern!“

Er war langsam weitergegangen. Man sah schon jetzt, daß diese unterirdischen Räume nicht lediglich unter der mittleren Pagode sich hinzogen, sondern daß der Säulensaal nach beiden Seiten hin Abzweigungen hatte, die eben zu den völlig zerstörten Pagoden gehörten.

Eine Besichtigung dieser Räumlichkeiten ergab die recht merkwürdige Tatsache, daß es sich um ein System natürlicher Grotten handelte, die dann erst zu diesen Katakomben ausgestaltet waren, ferner, daß auch in die beiden anderen Pagoden ähnliche Treppen hinaufführten und daß die Gelasse unter der nördlichen in eine Felsenhöhle übergingen.

In dieser Höhle wurde nun ein Lagerplatz aufgesucht, da die Katakomben mit ihrem grinsenden Wandschmuck eingetrockneter Leichname nicht gerade behaglich wirkten.

Lenz holte dann den Rest der Harzfackeln herbei, entdeckte auch in den beiden anderen Treppenschächten noch eine ganze Menge davon und überbrachte den seiner harrenden Gefährten die Nachricht, daß er den Feind und die Jomuden oben in der Pagode hätte sprechen hören und daß er auch einzelnes verstanden hätte, woraus zu entnehmen gewesen wäre, wie unerklärlich den Verfolgern das Verschwinden der drei Deutschen sei; jedenfalls könne man sich hier unten zunächst ganz sicher fühlen.

Ypsi, der schon verschiedentlich heimlich gegähnt hatte, meinte nun, dann könne man ja auch getrost ein wenig schlafen; er für seine Person sei recht müde.

Lenz nickte. „Natürlich! – Zu Bett also! Wenn auch die Betten etwas hart sind!“

Der Doktor wurde nach vielen Stunden als erster munter. Tiefste Finsternis ringsum. Noch halb schlaftrunken fühlte er um sich und patschte dabei Lenz gerade ins Gesicht. Der fuhr hoch.

„He – was gibt’s?“

„Baldigst Kaffee, falls ich zuerst mal Dein Feuerzeug bekommen kann.“

Da erwachte auch März Ypsilon, half dem Doktor nun, die Katakomben insofern ein wenig zu plündern, als den Mumien die Holzstützen geraubt wurden, an denen sie befestigt waren. Das Holz mußte als Brennmaterial dienen.

An Lebensmitteln besaßen die drei Abenteurer genau so viel, daß man damit drei Tage auskommen konnte. – Nach dem ersten Frühstück bat Ypsi seinen Herrn um die Erlaubnis zu einem kurzen Spaziergang tiefer in die Höhle hinein.

„Meinetwegen! Aber – entferne Dich nicht zu weit! Und sei vorsichtig. Es wird hier fraglos auch tiefe Risse und Spalten im Boden geben.“ Lenz drohte seinem Diener und Vertrauten scherzend mit dem Finger.

Ypsi war glücklich. Zu gern machte er auf eigene Faust Entdeckungsreisen. Und: Nicht zu weit sich entfernen! – Nun, weit war ein sehr dehnbarer Begriff, genau so wie reich, wovon der Doktor stets sagte: „Geht’s ans Steuerzahlen, sind alle arm, geht’s ans Renommieren, alle reich, – gelogen wird immer.“

Der Junge steckte eine Fackel an dem Lagerfeuer in Brand und schritt den steinigen Hang hinab, der sich dann sehr bald, in lange Terrassen übergehend, so sehr verbreiterte, daß die Höhlenwände hier gut vierhundert Meter auseinanderrückten.

Bis zu den Terrassen war Lenz auch schon vorgedrungen gewesen. Ypsi fühlte sich also erst von hier ab so recht als selbständiger Höhlenforscher.

Der Schein seiner stark qualmenden Fackel tanzte vor ihm her. Sie brannte sehr sparsam. Er hatte bereits ausgerechnet, daß sie wenigstens zwei Stunden vorhalten würde.

Dann stutzte er plötzlich. Vor ihm blinkte es hell auf, spiegelte sich das Licht seiner Leuchte in etwas Glänzendem Blankem wider – auf der Oberfläche eines Gewässers – eines Sees, der die Höhle von Wand zu Wand füllte.

Ypsi hob die Fackel höher. Wirklich ein See! – Gewiß, der Doktor hatte ihm mal von den größten Höhlen, die es auf der Erde gibt, so allerlei erzählt, auch von unterirdischen Teichen und Seen, in denen sogar Fische leben sollten, – aber so recht hatte er daran nicht geglaubt. Und nun hatte er selbst einen solchen See entdeckt! Und dort – wahrhaftig! – Dort schwamm sogar auf dem Wasser dicht am felsigen Ufer so etwas wie ein Schiff, – ein Boot besser, aber eins von so seltsamer Gestalt, wie es sie heutzutage wohl nirgends mehr gab.

Er trat näher hinzu. Ein Tau hielt das Fahrzeug an einer Felszacke fest. Es sah genau so aus, wie man gewöhnlich die Arche Noah abgebildet findet, war aus einem dunklen, fast schwarzen Holz gefertigt, hatte auf dem flachen Deck etwas wie ein Häuschen, verziert mit allerlei Holzschnitzereien, und zeigte an dem verlängerten Vorder- und Hintersteven scheußlich grinsende Götterköpfe, die blau und rot bemalt waren.

Da Ypsi der weitere Weg durch den See, dessen Länge sich bei dieser Beleuchtung nicht erkennen ließ, versperrt war, machte er nun in froher Erregung kehrt. Die Kunde, die er von seinem Ausflug mitbrachte, rief denn auch bei den beiden Freunden zunächst ungläubiges Staunen, dann eine solche Spannung hervor, daß alle drei sofort sich wieder aufmachten und nach dem See hinabstiegen, jeder mit einer Fackel in der Hand.

Unterwegs erzählte Egon Lenz dem Knaben, daß es ihm während dessen Abwesenheit gelungen sei, die Verfolger oben in der Pagode abermals zu belauschen. „Sie zerbrechen sich noch immer die Köpfe, wo wir nur geblieben sein mögen,“ sagte er lachend. „Besonders unser alter Gegner ist fuchsteufelswild darüber, daß wir ihm entwischt sind, schwur auf Russisch fürchterliche Eide, daß er nicht eher die Ruine verlassen würde, bevor er nicht festgestellt hätte, wo wir uns versteckt hielten. Na – er kann lange suchen! Ein Glück, daß wir den See gefunden haben, der vielleicht Höhlenfische beherbergt, die uns als Nahrung dienen können, während das Wasser hoffentlich trinkbar ist.“

Am Seeufer angelangt, wurde die Arche Noah sofort mit Hilfe des Taues ganz dicht an Land gebracht.

„Es ist ein unverwüstliches Tau aus Asbestfasern,“ erklärte Lenz nach kurzer Untersuchung. „Auch heute benutzt man Asbest noch zu Seilerarbeiten. Derartige Taue faulen nicht, sind allerdings nicht so haltbar wie die aus Hanf und doppelt so teuer.“

Dann schwang er sich als erster an Bord. Der Doktor und Ypsi folgten, ebenso neugierig darauf, was man wohl in dem plumpen Fahrzeug vorfinden würde.

Wüllner begann es zunächst auf Deck ganz eingehend zu besichtigen. Seiner Gewohnheit gemäß, fing er alsbald einen gelehrten Vortrag über diese Arche altchinesischen Ursprungs an, deren Alter er auf viele Hunderte von Jahren schätzte und zu deren Bau, was Lenz bestätigte, ein sogenanntes Eisenholz benutzt worden war, das selbst im Wasser niemals fault.

Das Häuschen auf Deck hatte eine bunt bemalte Tür, die in einen einzigen Innenraum führte, der vollständig mit seltsamen Einrichtungsgegenständen einer längst vergangenen Kulturepoche ausgestattet war. Von der Decke, die ebenso wie die Wände mit einem dicken, seidenartigen Stoff bespannt war, hing eine Lampe herab, in der noch ein Rest Öl vorhanden war. Dann lagen auf einem breiten Wandbrett sauber aufgeschichtet eine große Menge dicker Harzfackeln; in einer Ecke wieder standen Glasgefäße, mit Öl gefüllt, deren Stöpsel mit Wachs luftdicht gemacht waren. Noch manches andere für die Gefährten Wertvolle enthielt diese Wohnkajüte, deren Zweck aus zwei niedrigen Lagerstätten und einem Herde aus Steinen ersichtlich war.

Lenz drängte dann, man solle sich hier nicht zu lange aufhalten, vielmehr erst noch das Innere des Fahrzeugs in Augenschein nehmen, in das man durch eine Luke des Vorschiffes und über eine Treppe hinabgelangte.

Unter Deck gab es jedoch weit weniger zu sehen als oben. Immerhin standen hier allerlei Gefäße und Kisten herum, deren Inhalt man später feststellen wollte. Lenz ließ der Gedanke nämlich keine Ruhe, daß man jetzt die Möglichkeit habe, den See mit der Arche zu überqueren und zu erforschen, was es am jenseitigen Ufer gäbe, falls ein solches vorhanden war, – denn es konnte ja auch die Höhlenwand dort ebenso steil ins Wasser abfallen wie zu beiden Seiten, wo man nicht gut von Ufer, sondern nur von einer Steilküste sprechen konnte.

Der Doktor und Ypsi brannten ebenso sehr darauf, eine Fahrt mit der plumpen Arche zu unternehmen, auf deren Deck vier lange Ruder lagen, die in besonders eingerichteten Dollen bewegt werden konnten.

So wurde denn das Tau losgemacht, und Lenz und Wüllner versuchten sich als Ruderknechte, während Ypsi Steuermann spielte. Auf dem Dache des Häuschens hatte man im ganzen acht Fackelhalter entdeckt, die sofort benutzt wurden, so daß das breite Boot in einer Flut rötlichem Lichtes dahinschwamm, hinter sich eine dicke Qualmwolke zurücklassend, die träge und schwer auf dem Wasser lagerte, immerhin aber doch durch einen sonst nicht wahrnehmbaren schwachen Luftzug allmählich hinter der Arche hergetrieben ward, ein Beweis dafür, daß es in der mächtigen Höhle eine geringe Luftströmung gab.

 

5. Kapitel.

Ein Kampf im Dunkeln.

Der See hatte eine durchschnittliche Breite von vierhundert Meter. – Nach einer Fahrt von etwa zehn Minuten rief Lenz dann:

„Wir nähern uns dem anderen Ufer. Die zurückgelegte Strecke dürfte der Breite des Gewässers entsprechen. Die Küste da vor uns ist flach. Und der helle Streifen kann nur Sand sein. Ich bin mehr als gespannt, was wir noch alles in dieser Riesenhöhle entdecken werden, denn die Arche beweist ja, daß drüben betretbares Gebiet vorhanden sein muß, was wir uns auch gleich hätten sagen können! Bisweilen klappt es mit dem logischen Denken bei uns doch nicht ganz.“

Wüllner nickte ernsthaft. „Ganz recht, lieber Egon. Lediglich zu Spazierfahrten dürften die chinesischen Bonzen sich das Boot kaum gehalten haben!“

Die Arche lief auf dem flachen, sandigen Seegrunde gleich darauf fest. Bis zum Strande waren es noch gut zehn Schritt, so daß man notwendig diese Strecke durchwaten mußte.

Das Wasser war auffallend warm, während die Luft in der Höhle etwa 18 Grad Celsius haben mochte, und es war auch durchaus genießbar, wie der Doktor, der davon mit der flachen Hand geschöpft hatte, laut verkündete.

Die Höhle hier an dieser Seite des Sees bildete ein teils sandiges, teils felsiges Hügelland, besaß eine stellenweise recht üppige Höhlenflora und hatte den Priestern der drei Pagoden offenbar zum Halten von Haustieren gedient, worauf verschiedene Anzeichen hinwiesen. Sie dehnte sich sehr bald noch weiter aus und verdiente auf dieser Seeseite mit Recht den Namen Riesengrotte. Sie ganz zu durchforschen, dazu ließen die Gefährten sich jetzt nicht Zeit. Lenz meinte, es sei doch besser, zunächst nach dem Lagerplatz zurückzukehren und den Feind weiter zu beobachten, da man ja doch immer mit der Möglichkeit rechnen könne, daß auch die jetzigen Herren der Pagode den geheimen Zugang zu den Katakomben und dieser unterirdischen Welt fänden.

Man trat also den Rückweg und die Heimfahrt an. Am Lagerplatz angelangt, begab Lenz, von einer seltsamen Unruhe getrieben, sich nach dem Schacht und der Treppe hin, wo er schon vorhin, den sechseckigen Stein etwas lüftend, die Leute oben belauscht hatte.

Am Fuße der Treppe bereits vernahm er ein Geräusch, das ihm verdächtig erschien. Vorsichtig höher steigend gewahrte er plötzlich über sich einen Schimmer von Tageslicht, hörte auch Stimmen.

Da wußte er genug. In wilder Hast lief er zum Lagerplatz zurück, alarmierte die Gefährten und beladen mit ihrer geringen Habe eilten die Drei dann dem Seeufer zu, bestiegen die Arche und ruderten hastig davon, indem sie jetzt nur eine einzige Fackel brennen ließen, um dem Feinde nicht zu verraten, welchen Weg sie genommen hatten.

Drüben angekommen, machten sie ihr Fahrzeug sorgsam fest und wanderten etwa dreihundert Meter weit bis zu einer Stelle hin, wo in einer Felsschlucht mit breiter Sohle die auch in Höhlen gedeihende Farnkrautgattung Adiantum Kapillus Deneris (Frauenhaar) in reicher Fülle mit Wedeln bis zu anderthalb Meter Höhe wuchs und ein oberirdisches Landschaftsbild vortäuschte.

Hier wurde der neue Lagerplatz angelegt, hier sofort ein neuer Herd gebaut und mit Hilfe der Sachen aus dem Häuschen der Arche die aus Steinen errichtete Wohnhütte behaglich ausstattet und durch eine Öllampe, die nie ausgehen durfte, erleuchtet, während eine zweite Lampe vor dem Steinhause ausgestellt wurde, damit die ewige Nacht des Platzes wenigstens etwas erleuchtet würde.

So begannen die Gefährten hier in der Ypsilonhöhle, wie Wüllner sie zu Ehren des Entdeckers des Sees taufte, ihr seltenes Robinsondasein, das sie nicht weniger als einen Monat lang zu führen gezwungen waren. Am Abend dieses Tages saßen sie, aus chinesischen Bechern Tee schlürfend, beisammen und besprachen ihre merkwürdigen bisherigen Erlebnisse. Der Doktor, der ja nur zu gern Ypsis allgemeine Bildung durch gelehrte Erörterungen zu ergänzen suchte, hatte einmal die berühmten Rekahöhlen bei St. Kanzian im Karst durchforscht, in welche die Reka verschwindet, um nach etwa 30 Kilometer langem unterirdischen Lauf unter dem Namen Timavo plötzlich wieder zutagezutreten. Noch größer ist bekanntlich die Mammuthöhle in Südkentucky, die gangbare Strecken von 240 Kilometer Länge hat. Weiter sprach Wüllner von den Tieren, die ausschließlich in der immerwährenden Dunkelheit der Höhlen leben und bei denen, wie bei dem Olm, einer Molchart, ferner bei dem Höhlenfisch, den Höhlenkrebsen und -insekten, die Augen eine Rückbildung erfahren haben, so daß alle diese Lebewesen blind sind. Dann erzählte er von den indischen Höhlentempeln, den architektonisch geradezu prachtvollen Bauwerken von Karli und Ellora, auch von den Höhlenmenschen der Vor- und der neuen Zeit und der modernen Ausnutzung der unterirdischen Flüsse mit starkem Gefälle zu elektrischen Kraftanlagen, wie solche auf den Philippinen angelegt sind.

Egon Lenz hörte gleichfalls still zu und sagte dann, als Wüllner mit seinen interessanten Ausführungen fertig war:

„Heinz, was hast Du nur alles in Deinem Hirn aufgespeichert! Das ist ja geradezu unheimlich! Du bist das reine wandelnde Lexikon!“

Auch Ypsi machte eine ähnliche Bemerkung. Der Doktor lächelte bescheiden dazu.

Der Junge aber, der von seiner Jugendzeit nichts wußte, dessen Gedächtnis durch irgendwelche unbekannten Einflüsse erloschen war und nur bis zu der Stunde zurückreichte, wo er in Egon Lenz Wohnung aus tiefer Ohnmacht erwacht war, nachdem dieser den Bewußtlosen mitleidig von der Straße in sein Heim hatte schaffen lassen – März Ypsilon also dachte gerade jetzt daran, daß vielleicht Doktor Wüllner ihm sagen könnte, was jene sich stets wiederholenden Träume zu bedeuten hätten, die Ypsi sich selbst immer als kleinen Jungen inmitten eines weiten Parkes oder im Innern eines großen ländlichen Gebäudes sehen ließen, wo er nach Kinderart umhertollte und mit Personen zusammen war, zu denen er in herzlichem, vertrautem Verhältnis stand.

März Ypsilons erste Jugendzeit lag mithin in undurchdringlichem Dunkel. Und die Schleier, die seine Vergangenheit verhüllten, schienen nur im Traume durchsichtiger zu werden

Als er jetzt, zunächst noch zaghaft, von diesen Dingen zu sprechen begann, war Wüllner sofort ganz Ohr, stellte allerlei Zwischenfragen und sagte dann, als er mit allem genau Bescheid wußte, was zur Beurteilung der Geschehnisse in Betracht kam: „Wenn Du immer wieder träumst, daß Du von einer Frau „Kurt“ gerufen wurdest, so dürfte dies Deine Mutter und Kurt Dein Vorname gewesen sein. Unerklärlich aber bleibt, daß Du bereits in Deutschland, bevor Du noch eine Oase zu Gesicht bekommen hattest, eine solche im Traum immer wieder vor Dir sahst. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß eines Tages der Vorhang, der Deine Vergangenheit absperrt, jäh zerreißen wird. Hierzu dürfte eine starke seelische Erregung nötig sein; Furcht, Schreck, Mut, Trauer oder dergleichen. Dann wird das Einst deutlich vor Dir liegen, dann wirst Du darüber Aufschluß erhalten, weshalb Du von den Deinen nie gesucht worden bist, wie Du nach Berlin gelangt und dort vor Erschöpfung umgesunken bist. Hoffe also, mein Junge, mit Geduld auf diese Stunde! Sie wird kommen! – So und nun gehe ich für meine Person schlafen. Euch beiden kann Ruhe auch nichts schaden.“

Gleich darauf schnarchten drei in der Steinhütte um die Wette.

Am nächsten Vormittag wollte Egon Lenz sich überzeugen, ob der Feind mit seinen Jomuden sich noch in den unterirdischen Räumen aufhielt. Die Fahrt mit der Arche fand diesmal in vollster Dunkelheit statt. Auf dem Boote brannte nur in dem Deckhäuschen eine Öllampe, deren Schein gerade genügte, die Stellung des Kompasses beobachten zu können, mit dessen Hilfe man allein die Richtung einzuhalten vermochte.

Der uralte Kompaß gehörte mit zu den wenigen nautischen Instrumenten der Arche. Über die Erfindung dieses wichtigsten Hilfsmittels der Seefahrer zur Bestimmung des Kurses, lassen sich keine sicheren Angaben machen. Wahrscheinlich dürften ihn die Chinesen zuerst benutzt haben. Im Jahre 1297 wird er in einem chinesischen Werk erwähnt, und der berühmte Seefahrer Marco Polo soll ihn von China nach Europa gebracht haben. Jedenfalls ist er am Ende des 14. Jahrhunderts in Europa bereits allgemein verbreitet gewesen.

Als die Arche etwa drei Viertel des Weges zurückgelegt hatte, nahm Lenz mit seinen vorzüglichen Augen in der Ferne einen schwach leuchtenden Punkt wahr. Man ruderte nun lautlos weiter, kam dem Ufer näher und näher. Der helle Punkt bewegte sich hin und her. Es konnte nur ein Mensch mit einer brennenden Fackel sein. Dann wurde der strahlende Fleck, der wie ein Stern am pechschwarzen Firmament schimmerte, kleiner, bis er ganz verschwunden war.

Nachher, als die Arche am Ufer festgemacht hatte, schwang Lenz sich an Land und kletterte im Dunkeln einige Terrassen empor, blieb stehen, lauschte und spähte um sich.

Alles totenstill. Nur an den Seitenwänden der Riesenhöhle tropfte das Wasser mit leisem Aufschlag herab.

Dann aber hörte Egon Lenz ein anderes Geräusch, das er sich sofort richtig erklärte: Ein Mensch hatte beim Umherirren in der Dunkelheit einen Stein aus seiner Lage gestoßen, und dieser war dann eine schräge Stelle hinuntergerollt.

Für Lenz war es gerade kein angenehmes Gefühl zu wissen, daß jemand in seiner Nähe herumschlich, mit doch jedenfalls recht heimtückischen Absichten. Er sagte sich, daß dies wohl nur der Fremde, ihr erbitterter Feind, sein könnte, da die abergläubischen Jomuden wohl kaum dazu zu bewegen gewesen wären, hier unten jemand nachzustellen, wo nach ihrer Ansicht die Geister der Mumien umgingen.

Nun – wenn er sich ganz regungslos verhielt, würde er einen Zusammenstoß mit jenem wohl vermeiden können. Gewiß – dieses Abenteuer im Finstern regte ihn ein wenig auf, aber nicht etwa nach der Seite ängstlicher Empfindungen hin. Nein, es war das Gefühl derselben Anspannung aller Nerven, das den Jäger auf Großwild beim Beschleichen des Tieres überkommt, jenes Prickeln in allen Nervensträngen, das eine Art Rausch erzeugt, den Rausch des Vernichtenwollens, in dem der Mensch sich aufwirft zum Bezwinger einer ihm vielfach an Kräften überlegenen Kreatur.

Da – abermals ein herabkollerndes Steinchen! Jetzt aber näher nach ihm hin. Der Feind nahte, hielt offenbar die Richtung auf das Boot zu.

Egon Lenz atmete kaum noch, sog ganz langsam die Luft ein, lauschte nur, vereinigte all seine Sinne sozusagen im Gehör.

Abermals etwas: Ein Scharren, Schlurfen.

Und dann glaubte Lenz einen besonderen Geruch zu spüren – den von Juchtenleder! Der Fremde trug Juchtenstiefel! Das verriet seine Nähe jetzt.

Lenz hielt den Atem an. Nun wieder war’s das feine Ticken einer Taschenuhr, das die Stille durchdrang, und jenes unbestimmte Geräusch eines auf allen Vieren sich vorwärtsschiebenden Menschen, dessen Gelenke zuweilen knacken, dessen Anzug dumpf bei jeder Bewegung knistert, dessen Lungen in der Aufregung und vor Anstrengung hastiger arbeiten.

Die Lage war ohne Zweifel jetzt so, daß der Gegner ganz dicht an Lenz vorüberkroch. Der Deutsche streckte vorsichtig die Hand aus, zog sie aber schnell wieder zurück, da er einen rauhen Stoff berührte.

Hier gab es kein langes Überlegen! Diese Gelegenheit mußte ausgenutzt werden!

Er schnellte sich vorwärts mit vorgestreckten Händen, fiel dem anderen gerade auf den Rücken, tastete blitzschnell nach dessen Hals, schrie gleichzeitig:

„Heinz – Ypsi – zu Hilfe – zu Hilfe!“

Der Fremde, erst ein paar Sekunden starr vor Schreck, setzte sich nun zur Wehr. Aber zehn Finger lagen wie Eisenzangen um seine Kehle, und jede Abwehrbewegung machte den Luftmangel fühlbarer. Die Anstrengungen erlahmten – er wurde ohnmächtig.

Da waren auch schon Lenz’ Gefährten mit brennender Fackel zur Stelle.

Der Doktor rief triumphierend: „Ah – also diesen seltenen Vogel hast Du gefangen. Das heißt –“

Weiter kam er nicht. Der donnernde Widerhall zweier Schüsse durchdröhnte die Riesenhöhle. Eine Kugel pfiff dicht an Ypsis linkem Ohr vorüber.

„Fort – schnell fort,“ keuchte Lenz und hob den Ohnmächtigen auf. „Packe mit zu, Heinz! Vorwärts – nach der Arche hin!“

Des Fremden Verbündete feuerten weiter von einer der Terrassen herab. Es war ein Wunder, daß kein Schuß traf. Als man erst an Bord der Arche war, wurde die Fackel sofort ausgelöscht, das Fahrzeug vom Lande abgestoßen und weitergerudert. Damit war jede Gefahr beseitigt.

 

6. Kapitel.

Boris Aksakoff.

Der Fremde wurde sicher gefesselt. Als er wieder zu sich kam, beobachtete er, in dem Deckhäuschen am Boden liegend, mit spöttischer Überlegenheit Egon Lenz, der zuweilen eintrat und nach dem Kompaß sah.

Nachher vor der Steinhütte folgte dann ein eingehendes Verhör. Aus den Papieren des Mannes ging hervor, daß es sich um einen russischen Ingenieur namens Boris Aksakoff handelte. Im übrigen blieb dieser stumm, spielte nur weiter den alle Drohungen der Deutschen kühl Belächelnden und trat in einer geradezu frechen und herausfordernden Weise auf.

„Wenn Sie mich nicht sofort freigeben, wird Ihnen dies größere Ungelegenheiten bringen, als Sie ahnen,“ sagte er höhnisch. „Ich besitze hier in der Nähe überall einflußreiche Freunde, die von meinen Jomuden ohne Zweifel sofort benachrichtigt werden. Sie haben hier also sehr bald mit dem Erscheinen eines Grenzkosakentrupps zu rechnen und mit der sicheren Aussicht, zur Strafe aufgehängt zu werden.“

Lenz blieb ganz gelassen dieser Unverfrorenheit gegenüber. Man nahm auf die frechen Reden Aksakoffs jedenfalls keinerlei Rücksicht und ließ ihn seine Gefangenschaft gehörig fühlen. Leider brachte die Notwendigkeit seiner ständigen Überwachung recht viele Unbequemlichkeiten mit sich. Die mußten aber ertragen werden.

Mit der Zeit wurde der Russe dann doch bescheidener, schlug eine besondere Vereinbarung, sozusagen einen Friedensschluß, vor und wollte sein Ehrenwort geben, die Gefährten fernerhin in keiner Weise zu belästigen.

Inzwischen hatten die Deutschen sich an das seltsame Leben als Höhlenbewohner bereits völlig gewöhnt. Gewiß, die Eintönigkeit der Kost, die stets nur aus Höhlenmuscheln und -fischen bestand, die man abkochte oder in Öl röstete, war nicht leicht zu ertragen. Es mußte jedoch sein, da die Jomuden die Pagode noch immer besetzt hatten und keinerlei Anstalten machten, das Feld zu räumen, vielmehr sofort die Arche mit Schüssen begrüßten, wenn sie sich am anderen Ufer blicken ließ.

Nach vierzehn Tagen verlegte Aksakoff sich bereits aufs Bitten, schwor die längsten Eide, versprach alles mögliche und bewies so, daß die Kerkerhaft in der für ihn errichteten zweiten Hütte ihm mehr als lästig geworden war.

Die Gefährten unternahmen abwechselnd zu ihrer Zerstreuung weite Ausflüge durch das endlos sich hinziehende Höhlengebiet, fanden noch recht viel Interessantes, leider aber keinen Ausgang zur Oberwelt.

Dann – es war am 25. Tage ihres Höhlendaseins, kehrte der Doktor von einer solchen Forschungstour sehr erregt zurück und nahm Lenz sofort bei Seite.

„Egon – endlich, endlich! – Ich habe mir ja schon immer gedacht, daß der unterirdische Bach dort in der westlichen Nebenhöhle von der Erdoberfläche kommen müsse, da er so viele frische Zweige und Blätter mitsichführt. Heute hin ich seinem Lauf trotz aller Schwierigkeiten gefolgt, bin durch das Wasser gewatet, das mir stellenweise bis unter die Arme ging, habe einen Tunnel überwunden, der – höre und staune, schräg nach aufwärts führte, und gelangte so – ins Freie, ans Tageslicht, in eine tiefe, steinige Schlucht!“

Die Freude der Gefährten war unbeschreiblich. Aber Aksakoff ließen sie nichts davon merken – im Gegenteil, als sie jetzt auf seine Bitten eingingen, ließen sie ihn allerhand feierlichst versprechen, besonders auch, daß er mit den Jomuden die Pagode sofort verlassen und daß er den Deutschen in keiner Weise mehr zu schaden versuchen würde.

Dann wurde er über den See gebracht. Die Jomuden feuerten wieder, stellten die Schießerei aber sofort ein als er ihnen zurief, daß er freigelassen würde.

Kaum waren die Gefährten dann nach ihrem Lager zurückgekehrt, als sie sofort alle Vorkehrungen zum Aufbruch trafen.

Der Doktor führte. Auf oft lebensgefährlichen Pfaden strebten die Drei der Erdoberfläche zu. Die Sonne war gerade im Untergehen begriffen, als sie die von Wüllner erwähnte Schlucht betraten.

Geblendet von dieser Überfülle an Licht standen sie in stummer Ergriffenheit da.

„Gott war mit uns,“ sagte Ypsi leise.

„Ja, danken wir ihm, der uns so wunderbar geschützt hat,“ fügte der Doktor hinzu. –

Wir trennen uns hier von unseren Helden, verweisen auf das nächste Bändchen, das die Fortsetzung zu diesem bildet, – auf:

 

Der Gefangene auf Karmaktschi.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Auf der Umschlagseite sowie in der Hauptüberschrift dieses Heftes heißt es „Kirkisensteppe“. Tatsächlich wird aber in der ganzen Fortsetzungsgeschichte (Heft 98–104) und auch in der Verlagswerbung generell nur der Begriff „Kirgisen…“ verwendet. Daher geändert auf „Kirgisensteppe“.
  2. In der Vorlage steht das Wort „den“ eine Zeile zu hoch. An die richtige Stelle hinter dem Wort „zwischen“ gesetzt.
  3. Fehlendes Wort „die“ ergänzt.
  4. In der Vorlage steht: „erwiderten“.
  5. In der Vorlage sind die folgenden zwei Zeilen vertauscht.