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Der Gefangene auf Karmaktschi

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Gefangene auf Karmaktschi.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Am Ufer des Steppenflusses.

Ibrahim ibn Gemal, der Schmied der Kirgisenabteilung Daulek[1], war gegen Abend ein Stück in die Steppe hinausgegangen, um aus einer Steinschloßflinte, die er wieder in Ordnung gebracht hatte, einige Probeschüsse abzugeben.

Als Scheibe hatte er sich den Deckel einer Pappschachtel mitgenommen, die sich durch eine Reihe von Zufällen bis hierher in die Kirgisensteppe südlich des Aralsees verirrt hatte. Er stellte sie nun in einem kleinen Tale gegen einen Haufen von Steintrümmern irgend eines Bauwerks auf, das aus jener Zeit stammte, als noch die Chinesen das jetzt asiatische Rußland bis zum Kaspischen Meere hin beherrschten, und machte sich schußfertig.

Dann jedoch, wieder nach der Scheibe hinblickend, mußte er feststellen, daß sie verschwunden war. Er rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf, und – begann die Geistersure des Koran leise vor sich hin zu beten, nichts anderes denkend, als daß hier etwas Übernatürliches geschehen sei.

Er stand keine sechzig Schritt von dem Trümmerhaufen entfernt. Steinschloßflinten tragen nicht weit. Und moderne Gewehre sich anzuschaffen, gestattet das vorsorgliche Rußland seinen die Kirgisensteppe bewohnenden Kindern aus Furcht vor dem unruhigen, kriegerischen Charakter der zumeist noch als Nomaden lebenden braunen Gesellen nicht oder doch nur höchst ungern, findet stets einen Grund, solche Waffen zu beschlagnahmen, für die die Kirgiskaisaken, denn um diese handelt es sich hier in der Hauptsache, anderseits die höchsten Preise zahlen.

Auch Ibrahim ibn Gemal war ein Kirgiskaisak. Seine Abteilung hatte ihre Weideplätze südlich des Aralsees zwischen den Flüssen Amu Darja und Syr Darja etwa in der Gegend des Steppenflusses Karmaktschi, der wie viele seinesgleichen plötzlich wieder spurlos im Sande ohne eigentlichen Abfluß in ein größeres Gewässer verschwindet.

Die Steppe zwischen den genannten Flüssen führt den Namen Küsül Kum und bildet einen Teil der großen Kirgisensteppe, in der gegen zwei Millionen dieses Volkes türkischen Ursprungs hausen, das sich seine Eigenart als Reitervolk noch ziemlich rein bewahrt hat.

Noch gefahrdrohender für das allgewaltige, an Menschenmaterial unerschöpfliche Rußland sind die echten oder schwarzen Kirgisen, auch Buruten genannt, die das Hochland von Ferghana bewohnen und sich größtenteils ihre Selbständigkeit bewahrt haben.

Während Ibrahim noch seine Koransure murmelte und etwas ängstlich nach dem Steinhaufen hinüberschaute, indem er jeden Augenblick das Wiederauftauchen der Scheibe erwartete, ertönte plötzlich von dort her eine laute, fröhliche Stimme, die dem Kirgisenschmied zurief:

„Ich grüße Dich, braver Ibrahim! Wir sind aus der Pagode von Li-au-Tsing glücklich entkommen.“

Zwischen den Mauertrümmern kroch jetzt ein Mann hervor, der einen derben, grauen, nicht mehr ganz unbeschädigten Sportanzug zu ebenso derben Ledergamaschen und -stiefeln trug.

Um das schmale, leicht gebräunte Gesicht dieses Europäers, der sich der englischen Sprache bedient hatte, um sich mit dem Kirgisen zu verständigen, sproßte ein stattlicher, spitz geschnittener Bart. In der Hand trug er eine Doppelbüchse mit zwei Kugelläufen, eine vorzügliche Waffe, die aus einer deutschen Fabrik hervorgegangen war.

Ibrahim hatte schnell die erste Überraschung überwunden, eilte jetzt auf den Mann zu, begrüßte ihn herzlich erfreut und sagte dann:

„Ich habe für Dich und Deine beiden Gefährten das Schlimmste gefürchtet, nachdem wir vor nunmehr sechs Wochen in der Pagode von Euren Verfolgern überrascht worden waren. Weshalb ich Euch nicht Hilfe bringen durfte, weißt Du. Ihr seid so gut wie vogelfrei, und der Steckbrief des russischen Gouverneurs besteht noch heute, ist sogar inzwischen erneuert worden.“

Der schlanke, mittelgroße Europäer, ein Deutscher namens Egon Lenz, lächelte sorglos.

„Aus dem Steckbrief machen wir uns nicht viel, Ibrahim, wenn Du uns jetzt nur zu guten Pferden verhilfst. Deshalb sind wir ja auch in die Nähe Eures Dorfes gekommen, nachdem wir mit unserem alten Gegner, dem Ingenieur Boris Aksakoff, abgerechnet und Frieden geschlossen haben. Wir haben viel erlebt, seitdem wir uns in der Pagode trennen mußten, und Du wirst staunen, wenn Du hörst, was wir alles an Überraschungen in dem uralten, halb zerstörten Bauwerk vorfanden.“

Sie setzten sich nebeneinander auf einen Mauerrest, und Lenz erstattete nun in Kürze Bericht über die seltsamen Geschehnisse dieser Belagerung in der Pagode. (Wir verweisen unsere Leser auf das vorhergehende Bändchen „In der Kirgisensteppe“, wo die Abenteuer der drei Deutschen eingehend geschildert sind.)

Ibrahim erklärte dann, er würde seinen Freunden sehr gern noch heute aus seiner Herde die besten drei Pferde heraussuchen und zuführen.

Der Pferdereichtum der Kirgiskaisaken ist überaus groß. Einzelne Kirgisen besitzen bis zu 3000 Stück, daneben noch Schafe und Rinder in weit größerer Menge. Die Gesamtzahl der Pferde der Kirgiskaisaken schätzt man auf etwa 8 Millionen, und diese Riesenherden liefern denn auch dem russischen Heere ein vorzügliches Material.

Mittlerweile war es dunkel geworden, und Ibrahim meinte nun, er würde dann also den drei Deutschen mit Tagesanbruch hier an dieser Stelle die Pferde nebst Sätteln aushändigen. Lenz bat noch um verschiedene Dinge, die ihnen fehlten, und überreichte dem Kirgisen als Gegengabe nunmehr drei prächtige, altchinesische Hauschwerter, die er in den unterirdischen Räumen der Pagode gefunden hatte.

Dann trennten sie sich.

Der Deutsche wanderte nach Norden zu in die nächtlich stille Steppe hinein, bis er an ein weites, mit Gebüsch und Bäumen bewachsenes Tal gelangte, durch das sich, umgeben von weiten Sumpfstrecken, ein Flüßchen, der Karmaktschi, hindurchschlängelte.

An einem versteckten Platze hatten die drei Gefährten, die in der Absicht nach der Kirgisensteppe gekommen waren, hier eine halb sagenhafte Oase zu suchen, ihr Lager aufgeschlagen.

In einer von Gebüsch umstandenen Lichtung brannte ein kleines Feuer, über dem ein Kessel hing. Als Lenz auftauchte, rief ihm einer der beiden neben dem Feuer Liegenden, ein langer, hagerer Mann, zu:

„Endlich Egon! Wir waren Deinetwegen schon in Sorge!“

Und der Zweite, ein kräftiger, großer Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, fügte hinzu: „Ich wollte Ihnen schon folgen, Herr Lenz! Nur gut, daß Sie wohlbehalten wieder da sind!“

Lenz warf sich zu den beiden in das Gras.

„Ich habe Ibrahim glücklich gefunden“, berichtete er. „Der Kirgise freute sich ehrlich, als er mich sah. Morgen bringt er die Pferde. Und dann geht’s weiter. Wir haben ja jetzt die beste Aussicht, die Oase in kurzem zu erreichen, nachdem wir festgestellt haben, daß jene Pagode eine der Wegmarken ist, die der Leutnant von Bleulen in seinen Aufzeichnungen angegeben hat.“

„Es war also eigentlich ganz vorteilhaft für uns, daß die Turkmenen uns damals in den alten Turm des verfallenen Forts einsperrten“, meinte der Junge eifrig. „Sonst hätte ich das Buch des Offiziers nie in die Hand bekommen, und der Herr Doktor hätte auch nie Gelegenheit gehabt, die Geheimschrift zu entziffern, die zu unserer Überraschung gleichfalls gerade von der Oase und dem alten Bauwerk darin handelte.“

Doktor Wüllner, der lange Hagere, nickte mit dem ihm eigenen würdevollen Ernst.

„Jedes Ding hat seine zwei Seiten, und bei allem Unglück ist auch ein wenig Vorteilhaftes dabei, wie die Erfahrung lehrt. – Jetzt jedoch – vorwärts an das Abendessen! Unser Braten muß längst gar sein!“

Mit einem zu einem kleinen Spaten zurechtgeschnittenen Holzstücke entfernte er die Erde über einem mit glühend gemachten Steinen ausgefütterten Loche, in dem ein von dem Jungen am Tage erlegter Pfeifhase, in Blätter gewickelt, wie in einem Kochtopf zubereitet worden war.

Nach der Mahlzeit legten Lenz und der Doktor sich schlafen. Der Knabe, der den ungewöhnlichen Namen März Ypsilon führte, was seine besonderen Gründe hatte, sollte die erste Wache bis elf Uhr übernehmen. Lenz wollte ihn dann ablösen.

Das Feuer war ausgegangen. Am klaren Nachthimmel waren längst die Sterne aufgetaucht. Auch der Mond erschien jetzt über den fernen Rändern des Tales. Es war warm und windstill, und Ypsilon gedachte einen Rundgang um das Lager zu machen, um sich ein wenig zu bewegen. Er nahm seine kurzläufige, leichte Büchse, spannte und sicherte sie und durchschritt das Gebüsch, wandte sich dem Flüßchen zu und fand bald die von Röhricht freie Stelle, an der er am Spätnachmittag die selbstgefertigten Angeln ausgelegt hatte, nachdem er gesehen, daß das Gewässer recht fischreich war.

 

2. Kapitel.

Ein seltsamer Hilferuf.

Gerade an dieser Stelle erweiterte sich der Bach, denn den Namen Fluß verdiente dieser träge, seichte Wasserlauf kaum, zu einem kleinen See. Das Ufer war lehmig, wie denn überhaupt in den tieferen Schichten des Wüstenbodens der Küsül Kum Lehm- und Tonablagerungen nicht selten sind. So weit die Feuchtigkeit von der Sonne aufgesogen wurde, bildete der Uferstreifen daher auch eine harte Tenne, die von feinen Rissen, oft auch größeren Spalten durchzogen war, in denen die kurzschwänzigen grünbraunen Turkestan-Wasserratten nur zu gern die Schlupflöcher für ihre Bauten anlegten.

Als Ypsi die erste Leine einholte, merkte er sofort, daß sich am Haken ein größerer Fisch festgebissen hatte. Die Beute bestand denn auch aus einem stattlichen Exemplar derselben Welsart, die auch im Aralsee zahlreich vorkommt. Die anderen drei Angelschnüre waren jedoch leer. Aber der Köder fehlte an den Haken, ein Beweis, daß es wohl nur an der Form der selbstgefertigten Eisenhaken lag, wenn die Fische wieder freigekommen waren.

Der Junge gab ihnen daher eine andere Form, indem er die Spitzen mehr seitwärts bog, versah sie mit neuen Ködern und warf sie in der schilffreien Bucht möglichst weit vom Ufer aus. Hierbei geriet die letzte der Schnüre jedoch auf einen größeren Gegenstand, der am Rande des Röhrichts sich verankert hatte, und Ypsi mußte sie nochmals einziehen, um den Wurf geschickter zu wiederholen. Es stellte sich nun heraus, daß Haken und Köder von dem merkwürdigen Ding, auf welches der Junge erst hierdurch aufmerksam wurde, nicht loszuzerren waren, vielmehr dieses schwimmende Etwas langsam mit an Land nahmen.

Ypsis Staunen wuchs, je näher ihm der wunderliche Gegenstand rückte, den er bei der unsicheren Beleuchtung nicht gleich richtig erkennen konnte. Als er ihn nun aber aus dem Wasser hob, entschlüpfte ihm ein leiser Aufruf des Staunens.

Es war ein Gestell aus Zweigen und Baumrinde in Form eines viereckigen Rahmens, auf dem aus dünnen Ruten eine vierseitige Pyramide befestigt und mit hellen, trockenen Blättern eines lederartigen Blattschmuck tragenden Distelstrauches überzogen war Das Ganze sah ungefähr so aus wie eine der bekannten Fliegenpyramiden, an denen die lästigen Brummer kleben bleiben und sich langsam zu Tode zappeln, nur war es bedeutend höher und breiter.

Ypsi ging allen Dingen gern auf den Grund. Dieses schwimmende Gestell hatte doch fraglos einen bestimmten Zweck. Gewiß – es konnte sich um eine Arbeit, eine Spielerei von Kindern handeln. Dafür aber war die ganze Ausführung zu sorgfältig und insofern auch zu sinnreich, als um das Schwimmgestell sich ein kreisförmiger Rahmen herumzog, der doch ohne Zweifel verhindern sollte, daß diese kleine schwimmende Boje irgendwo allzu leicht festhakte. Dem Verfertiger war es also darauf angekommen, die Pyramide einen möglichst weiten Weg zurücklegen zu lassen.

Dies war ungefähr Ypsis Gedankengang, während er das Ding in den Händen hielt und es von allen Seiten beschaute.

Die lederartigen, breiten Blätter der Steppendistel, die hier als Überzug für das Rutengestell dienten, haben nun die Eigentümlichkeit, nach dem Welk- und Trockenwerden in der Sonne zuweilen fast blendend weiß wie Papier zu werden. Und vier von solchen weißen Blättern waren genau in der Mitte der Seitenteile der Pyramide so befestigt, daß sie einen hellen, zusammenhängenden Streifen bildeten.

Ypsi hatte guten Grund dazu, plötzlich einen leisen Pfiff auszustoßen, – – denn auf diesem hellen Streifen waren Schriftzeichen zu sehen, lateinische Buchstaben, die eine fortlaufende Reihe ohne Satzzeichen oder eingestreute große Anfangsbuchstaben darstellten.

Die Angelschnur wurde jetzt sehr eilig ausgeworfen, und dann schritt Ypsi ebenso eilig dem Lagerplatz zu, fachte das nur noch ganz schwach glimmende Feuer zu hellen Flammen an und begann das Geschriebene zu entziffern, was jedoch nicht so einfach gehen wollte. Während er noch damit beschäftigt war, erwachte Doktor Wüllner, richtete sich auf und sagte etwas ungehalten zu dem Jungen, der bei diesem Anruf erschrocken zusammenfuhr:

„Ypsi –welcher Leichtsinn! Der Schein des Feuers ist ja meilenweit zu sehen –!“

Ypsi erklärte, weshalb er helle Beleuchtung brauche, hob die Pyramide hoch und fügte hinzu: „Sie müßten mir bitte helfen, diese Schrift zu deuten, Herr Doktor, mit der es doch sicherlich eine besondere Bewandtnis hat.“

Wüllners Interesse war rege geworden. Er schob sich näher an das Feuer heran, untersuchte die merkwürdige Schwimmboje und meinte: „Ganz recht, Junge, – das Ding verdient’s, daß man es genauer betrachtet.“

Dann suchte auch er das Geschriebene in Worte abzuteilen, die einen Sinn gaben. Nach einer Weile rief er:

„Ah – ich hab’s! Seltsam genug: Es ist Deutsch!“

Da klang von Egon Lenz’ Lagerstätte her eine scharfe Stimme:

„Zum Donner! Macht das Feuer aus! Wollt Ihr, daß wir Besuch bekommen?! Ihr wißt ganz gut, wie sehr uns daran liegen muß, ganz unbeachtet zu bleiben.“

Ypsi riß die Brände auseinander. Lenz konnte sehr ungemütlich werden, wenn man nicht sofort seinen Wünschen nachkam, die stets wohlberechtigt waren.

„Brumme nicht, Egon“, meinte Wüllner lebhaft. „Wir haben hier etwas gefunden, das wirklich höchst merkwürdig ist.“

Auch Lenz rückte dem Feuer näher.

„Also deutsche Worte sind’s?“ fragte er gespannt.

„Ja! – Warte einen Augenblick –“ Der Doktor nahm einen brennenden Ast und benutzte ihn als Leuchte.

„Jetzt hab’ ich’s“, rief er dann leise. „Hier fängt das Satzgefüge an. – Hört zu –!“

„Vier Jahre Gefangener im Sumpf des Karmaktschi! Rettet mich! Die Linie von der Adler-Eiche zum Kreuzfelsen geht über mich hinweg. – Helft – rettet! – Kurt Preßler –“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Lenz. „Also ein Hilferuf!“

„Ja – und einer ganz eigentümlicher Art“, nickte Wüllner ernst.

Lenz hatte die Rutenboje an sich genommen und beschaute sie von allen Seiten.

„Armer Landsmann!“ sagte er dabei. „Vier Jahre in Gefangenschaft! Und fraglos noch immer der Freiheit beraubt, denn dieses „sprechende Gestell“ hier ist, nach dem Grade der Dürre der Ruten zu urteilen, keine acht Tage alt, jedenfalls ist es erst kürzlich angefertigt worden.“

Ypsi saß jetzt so still da, daß es dem Doktor auffiel.

„Na, Junge, – so stumm?“ meinte er freundlich. „Du kannst doch stolz sein; hast ja die Boje herausgefischt! Der Landsmann Kurt Preßler ist Dir Dank schuldig, denn natürlich werden wir ihn zu befreien versuchen.“

Ypsi schaute auf, sprach wie im Traum leise vor sich hin:

„Kurt – Kurt Preßler –!“

„Was hast Du denn nur, Ypsi?!“ fragte nun auch Lenz kopfschüttelnd. „Du tust ja so, als ob Du Dich in Gedanken mit ganz Besonderem beschäftigst.“

Der Junge starrte in die schwach glimmende Glut.

„Mir – mir ist so seltsam zumute geworden, als ich den Namen Preßler hörte –“, meinte er zögernd. „Ich muß ihn kennen – sehr genau kennen. Meine Lippen formen ihn wie einen, der mir ganz geläufig ist. Und doch: Ein Preßler ist mir unbekannt.“

Doktor Wüllner warf Lenz einen vielsagenden Blick zu.

„Darüber wollen wir nachher sprechen, lieber Ypsi“, sagte er fast herzlich. „Zunächst laßt uns den Hilferuf dieses Unglücklichen erörtern. – Die Boje ist flußabwärts geschwommen und dann hier in der Bucht angetrieben. Also haben wir den Sumpf und die beiden Orte, von denen der Landsmann spricht, stromaufwärts zu suchen. – Halte mir doch mal diesen brennenden Ast, Egon. Ich will mal unsere Karte befragen.“

Er holte eine Landkarte der beiden russischen Gouvernements Amu Darja und Syr Darja hervor und breitete sie auf seinen Knien aus.

Dann rief er triumphierend: „Hier ist der Karmaktschi-Bach und hier genau südwestlich des Forts gleichen Namens, das am Syr Darja liegt, ein riesiges Sumpfgebiet eingezeichnet mit drei roten Fragezeichen in der Mitte, – das heißt: unerforschtes Gebiet! – Mehr brauchen wir vorläufig nicht zu wissen.“

„Stimmt!“ erklärte auch Lenz zuversichtlich. „Adler-Eiche und Kreuzfelsen werden uns weiteren Aufschluß über die Lage der Sumpfinsel geben, denn nur um eine solche kann es sich wohl handeln, auf der Preßler gefangen ist. Wenn er sagt: „Die Linie geht über mich hinweg“, so will er doch nur einen Anhalt geben, daß diese Insel zwischen den beiden Punkten zu suchen ist.“

Ypsi wurde jetzt wieder lebhaft. „Alles Grübeln hilft nichts!“ meinte er kopfschüttelnd. „Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mir der Name Preßler so leicht über die Zunge geht. – Wie erklären Sie sich das, Herr Doktor?“

„Hm, ich habe ja eine Vermutung, mein Junge, – die ist aber so unsicher, daß ich sie vorläufig für mich behalten möchte.“

Auch Lenz schien Ypsi von diesem Gegenstand ablenken zu wollen.

„Wir sind jetzt doch alle drei so munter geworden, daß es am klügsten ist, sofort aufzubrechen und die Kühle des Morgens zum Weiterritt zu benutzen, sobald Ibrahim die Pferde gebracht hat.“

 

3. Kapitel.

An der Adlereiche.

Nach zweitägigem Ritt nach Süden zu, immer den bald ganz schmalen, bald zu sumpfigen Niederungen sich verbreiternden Bach zur Linken, merkten unsere drei Abenteurer, daß sie sich dem Sumpfgebiet näherten, in dessen Mitte die Geographen bisher noch ein paar Fragezeichen: „Unerforscht!“ setzen mußten.

Das Land ringsum senkte sich zu einer ungeheuren, für das Auge unbegrenzten Niederung abwärts, der Boden verlor den Steppencharakter, Bäume und Sträucher tauchten gruppenweise auf, das Gras dazwischen war hoch und saftig und auch die Tierwelt war zahlreich vertreten, besonders die in diesen Landstrichen hauptsächlich heimische Saigaantilope war in ganzen Rudeln vorhanden, ebenso mehrten sich die Vögel und die Vertreter der Insektenwelt.

Gleichzeitig mußten die drei Gefährten jetzt aber auch sehr auf ihrer Hut sein, stets rechtzeitig den ebenfalls hier immer häufiger werdenden Kirgisenauls auszuweichen, in deren Nähe stets große Herden von Pferden, Schafen, Rindern, zuweilen auch von Dromedaren weideten. Ist doch auch das Dromedar für viele Kirgisen längst zum Haustier geworden, dessen Zucht er der edler Pferde zuweilen vorzieht, dies besonders in Gegenden mit dürrem Boden, auf dem das genügsamere Dromedar leichter als das Pferd zu ernähren ist.

Unsere Abenteurer verdankten es nur ihrer Vorsicht, daß sie sich ungesehen durch den Landstreifen hindurchwanden, der die endlosen Karmaktschisümpfe wie ein Ring umgibt.

Dann wurden sie am vierten Tage nach der Auffindung der Schwimmboje gegen Mittag gewahr, daß der Sumpf ihnen überall ein warnendes Halt entgegenrief. So sorgfältig sie auch nach einer Stelle suchten, wo der trügerische, teils schlammige, teils moosbewachsene Boden, aus dem Sumpfsträucher aller Arten eine wahre Wildnis machten, genügend Festigkeit für Pferdehufe oder Männerstiefel besaß, – stets mußten sie sehr bald, wenn sie vielleicht hundert Meter vorwärts gekommen waren, die Unmöglichkeit weiteren Vordringens in dieses Sumpfland einsehen und kehrt machen.

Nachdem sie sich in einem Wäldchen dann ein paar Stunden ausgeruht hatten, wandten sie sich mehr dem Bache selbst zu, um hier vielleicht mit einer Überwindung dieses grünen Morastes mehr Glück zu haben. Abermals gab es nur Enttäuschungen. – Der Doktor war bereits ganz kleinmütig geworden über all diesen Mißerfolgen.

„Wie sollen wir wohl hier in dieser Wildnis die beiden Merkzeichen finden!“ meinte er. „Ich halte das für ganz unmöglich. Wir müßten denn gerade die ganzen Sümpfe umreiten, bis wir entweder auf den Kreuzfelsen oder die Adlereiche stoßen.“

Egon Lenz erwiderte nichts, stieg vom Pferde und nahm diesem Sattel und Zaumzeug ab.

„Tut nur dasselbe“, meinte er. „Mit dem Reiten ist’s vorläufig vorüber. Wir müssen unsere Gäule laufen lassen. Die weitere Reise wird eine Bootstour werden.“

„Ah!“ machte der Doktor nur.

Die Pferde wurden dann von Ypsi an Halftern, die man schnell aus Binsen geflochten hatte, bis in die Nähe einer weidenden Herde eines in der Ferne sichtbaren Auls geführt und freigelassen. Nach den Gesetzen der Steppe, die jeder ehrliche Kirgise beachtet, würde man die drei Tiere ihren Eigentümern später bestimmt wieder zurückgeben.

Dann begann die Suche nach einem Boote oder Kahn. Man entdeckte denn auch gegen Abend einen im Schilf versteckten, sehr plumpen Nachen, der aus einem leidlich zurechtgehauenen, durch Feuer ausgehöhlten Eichenstamm bestand. Anstatt der Ruder lagen zwei Stoßstangen darin, die am unteren Ende viereckige Brettchen trugen, damit die Spitzen sich nicht in den weichen Boden einbohrten.

Der Sumpf war von zahlreichen Kanälen durchzogen, auf denen nur eine dünne Decke von winzigen Pflänzchen schwamm. In einem dieser Kanäle suchten die drei Abenteurer nun tiefer in das weite Gebiet hineinzugelangen. Egon Lenz hatte erklärt, man dürfe weder Adlereiche noch Kreuzfelsen am Rande des Sumpfes suchen, vielmehr müssen diese so liegen, daß eins von dem anderen aus sichtbar, und daß Preßlers Aufenthaltsort, höchstwahrscheinlich eine Insel, dann zwischen beiden zu finden wäre; mithin mußten die beiden Merkzeichen ohne Zweifel auch erhöhten Stellen und so stehen, daß sie weithin zu sehen wären.

Gegen diese Ausführungen hatte auch des Doktors kritisches Gemüt nichts einwenden können.

Als die Dunkelheit anbrach, waren die Gefährten etwa ein Kilometer in das unübersichtliche Gebiet eingedrungen. Wo sich hier der Lauf des Baches befand, ließ sich nicht erkennen. Es blieb nichts anderes übrig, als dem Kompaß nach die Sumpfstrecken bald nach dieser, bald nach jener Richtung hin zu durchqueren, bis man auf eines der beiden Merkzeichen stieß.

Der Nachen wurde auf eine kleine Insel festen Landes gezogen, die sich schon von weitem durch ihren Baumwuchs als betretbarer Boden erkennbar gemacht hatte.

Jetzt Mitte Mai, wo der Sommer den klimatischen Verhältnissen der Wüste Küsül Kum nach bereits längst seinen Einzug gehalten hatte und die Wärme am Tage durchschnittlich 24 Grad betrug, war der Sumpf von unzähligen lästigen Insekten belebt, die des Nachts geradezu zur Plage wurden, wenn man nicht andauernd ein stark qualmendes Feuer unterhielt. Außerdem stiegen aber auch aus dem morastigen Gewässer dicke Nebel auf, die nur zu geeignet waren, gefährliche Fieber zu erzeugen. Des Doktors erste Sorge nach der Landung auf dem Inselchen war daher auch, das kleine Fleckchen sicheren Bodens nach jenem Strauche abzusuchen, dem die Kirgisen den Namen Golodnaja gegeben haben, zu Deutsch „Hunger“, da ein Aufguß von dessen fleischigen Blättern im Magen ein starkes Hungergefühl hervorruft. Wüllner wußte jedoch, daß der Golodnaja auch ähnlich wie Chinin, also als Vorbeugungsmittel gegen Fieber wirkt. Jeder der drei Deutschen trank daher noch vor der Abendmahlzeit einen Becher des aromatisch-bitter schmeckenden Golodnaja-Tees.

Während der Nacht wurde abwechselnd gewacht, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Trotzdem war eine braunrote Art von Stechmücken so frech und zudringlich, daß ausgerechnet Ypsis Nase am Morgen mehr einer roten Kartoffel als einem menschlichen Riechorgan glich.

Mit Sonnenaufgang ging es weiter. Nach etwa einer Stunde begegnete der Nachen mit den drei Deutschen dann einem größeren Boote, das von vier hellhäutigen Leuten mit kurzen Rudern vorwärtsgetrieben wurde, während zwei andere am Steuer saßen.

Nur mit genauer Not hatte Lenz den Nachen noch rechtzeitig hinter hohem Schilf verbergen können. Das Boot glitt vorüber, verschwand.

„Es waren fraglos armenische Händler“, meinte Lenz. „Diese übelberüchtigten Kerle haben ja in ganz Turkestan[2] den Handel an sich gerissen. Sie scheinen doch einen Weg durch das Sumpfgebiet zu kennen, denn sie kamen mit ihrem vollbepackten Boot von Norden her.“

Leider hatte das Boot keinerlei Spuren zurückgelassen. Dies wäre den Gefährten sehr gelegen gekommen, da das Vordringen in den passierbaren Kanälen insofern immer schwieriger und zeitraubender wurde, als die meisten sich als Sackgassen erwiesen und eine Rückkehr auf demselben Wege bis zur nächsten Kreuzung oder ein Überlandschleppen des Nachens quer durch eins der immer zahlreicher werdenden flachen Inselchen nötig machten.

Am Abend des dritten Marschtages durch den Sumpf fing Ypsi dicht am Lagerplatz eine große Schildkröte, deren Fleisch eine prächtige Brühe abgab. Und am folgenden Morgen wieder gab es bei der Weiterfahrt sehr bald eine frohe Aufregung, als Wüllner in der Krone einer verkrüppelten Eiche auf einer größeren Insel einen Adlerhorst entdeckte, auf dem das Weibchen brütend saß. Es handelte sich um einen Steinadler, denselben Raubvogel, der auch in Bayern, im Riesengebirge und in den ostpreußischen Wäldern anzutreffen ist, und den die Kirgisen zur Jagd auf Antilopen und kleinere Tiere so gut abzurichten wissen, daß die Adler diese Arbeit besser leisten als Falken, die für die Reiherbeize dressiert sind.

Die Freude war verfrüht. Die Eiche war so niedrig, daß sie niemals das von Preßler erwähnte Merkmal sein konnte. Im Laufe dieses Tages stieß man dann noch auf drei weitere Adlerhorste, und Ypsi glückte es, ein Männchen, das sich gerade mit einem Antilopenzicklein[3] in den Fängen auf das Nest niederlassen wollte, durch einen Schuß so zu erschrecken, daß der Adler die Beute fallen ließ, die noch ganz frisch war und daher eine hochwillkommene Mahlzeit abgab.

Am nächsten Morgen geriet der Nachen in einen sehr breiten Kanal, der zudem noch eine weite Strecke schnurgerade verlief und über dessen glatte Fläche hin man daher einen guten Fernblick hatte.

Wieder war es Wüllner, der plötzlich nach vorwärts deutete und rief: „Da – ein paar Felsen – tatsächlich! – Wie merkwürdig! So mitten in einer Sumpflandschaft Gesteinsmassen!“

Er hatte sich nicht versehen. Es waren Felsen, allerdings so dicht mit Moos bewachsen, daß man sie nur an der Gestalt als solche erkennen konnte.

Die Felsen belebten die Hoffnung unserer Abenteurer auf einen glücklichen Ausgang ihres Unterfangens so sehr, daß sie jetzt, als Felsgruppen hier und da häufiger wurden, nur zu leicht geneigt waren, in jedem Felsen die erwünschte Kreuzform, eben den Kreuzfelsen, zu sehen.

Nachmittags, nach einer kurzen Rast, wurden die Gefährten dann Zeugen eines Kampfes zwischen zwei Steinadlern, die in kaum zweihundert Meter Höhe ein Duell auf Leben und Tod ausfochten.

Endlich hatte der gewandtere von beiden dem Gegner, von oben auf ihn herabstoßend, die Fänge in den Rücken geschlagen und begann blindwütig mit Schnabelhieben nach dem Kopf des Feindes zu hacken, bis dieser die Schwingen matt sinken ließ und, von dem anderen freigegeben, wie eine leblose Masse schwer in den Sumpf stürzte.

Der Sieger ließ sich rechts von dem Kanal auf eine Eiche nieder, die oben all ihres Blätterschmuckes beraubt war, da sich hoch im Wipfel ein riesiger Horst befand und der Unrat des hier hausenden mächtigen Raubvogelpaares die Blätter zum Absterben gebracht hatte.

Dieser Baum hatte, worauf die Insassen des Nachens erst jetzt aufmerksam wurden, eine bedeutende Höhe, überragte jedenfalls den Baumwuchs der umliegenden Inselchen so sehr, daß Ypsi meinte, man müßte diese Eiche doch auf jeden Fall erklettern und vom Gipfel aus einmal Umschau halten.

Lenz war einverstanden. „Der Baum ist tatsächlich höher als alle, denen wir bisher begegnet sind“, sagte er.

Man drängte den Nachen daher nach der betreffenden Insel hin. Ypsi, bewaffnet mit seinem Revolver, begann dann den Aufstieg. Er mußte bestimmt damit rechnen, daß die Adler – das Weibchen brütete auch hier – ihn angreifen würden.

So kam es auch. Aber bereits der erste Schuß, den der Junge abgab und den er absichtlich nur als Schreckschuß in die Luft feuerte, verscheuchte die mächtigen Vögel, die jeder eine Flügelspannung von über 2 Meter hatten.

Ypsi stieg in der Krone der Eiche dann so hoch empor als es anging. Er hatte Lenz’ Fernglas mit und hielt nun sehr sorgfältig nach allen Seiten hin Ausschau nach dem ersehnten Kreuzfelsen.

Unten warteten Wüllner und Lenz gespannt auf das Ergebnis. Sie hatten sich auf eine vom Sturm entwurzelte, lang auf dem Boden liegende kleinere Eiche gesetzt, die mit der Krone weit in den Sumpf hineinragte.

Hinter ihnen zog sich dichtes Gestrüpp hin, in dem es schon verschiedentlich recht verdächtig geknackt hatte, ohne daß einer der beiden argwöhnisch wurde. Sie fühlten sich hier ebenso vollständig sicher, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, ihnen könnte eine Gefahr drohen.

Ypsi stieg jetzt sehr eilig abwärts, rief nun all seine Lungenkraft zusammennehmend:

„Der Kreuzfelsen ist gefunden – – hurra! Ein Zweifel ist ausgeschlossen!“

Er hatte gehofft, daß die Gefährten ihm sogleich antworten würden. Nichts geschah.

Da rief er abermals: „Gefunden!“ und versuchte durch das Blätterdach nach unten zu spähen. Dieses war jedoch zu dicht, und so beeilte er sich denn noch mehr, schnell hinabzugelangen. Ein dumpfes Gefühl, daß irgend ein Unheil sich ereignet haben müsse, verstärkte sich bei ihm schnell bis zu angstvoller Erwartung.

Wiederum erklang jetzt sein lautes: „Gefunden!“

Doch nichts Freudiges war mehr in diesem Ruf, den er ja nur ausgestoßen hatte, um ein Lebenszeichen von den Gefährten zu erhalten.

Alles still –

Und nun konnte er auch hinabschauen auf den entwurzelten Stamm, wo der Doktor und Egon Lenz gesessen hatten.

Leer der Platz – nichts – – nichts!

Ypsi glitt jetzt auf den Boden herab mit geschicktem Sprung. Kaum hatte er sich wiederaufgerichtet, als er auch schon den Blick in die Runde schweifen ließ, dann mit ein paar Sätzen das Gebüsch durchbrach. Das Inselchen war ja so winzig, so leicht zu übersehen –

Der Nachen fehlte – die Gefährten nicht da! Lautlos hatten sie sich entfernt, ohne ihren kleinen Genossen auch nur im geringsten davon zu verständigen, was sie vorhätten –!

Ypsi sanken die Arme schlaff herab. Seine Gedanken hasteten wie aufgescheuchtes Wild, das sich von der Kette der Treiber eingekreist sieht, das stets an denselben Punkt zurückflieht.

Er begriff das alles nicht. Was nur hatte dieser schnelle, lautlose Aufbruch der beiden zu bedeuten?! Nirgends gab es doch etwas, wodurch dies veranlaßt sein könnte – nirgends! Einsam, trübe und unergründlich lagen die Kanäle zwischen den kleinen Flecken festen Erdreichs da, majestätisch schwebten in langsamem Fluge die beiden Steinadler über der hohen Eiche im Äther.

Ypsi raffte sich auf. Urplötzlich, wie die Verzagtheit ihn befallen, tauchte auch die Hoffnung in ihm auf, daß die Gefährten in kurzem zurückkehren würden. – Ja – sie würden wiederkommen, ganz sicher, denn wohin sollten sie sich gewendet, weshalb ihn hier zurückgelassen haben –?!

Er schritt dem umgestürzten Baumstamm zu, schaute sich nach seinem Stutzen um, den er gegen die Eiche gelehnt hatte, bevor er in deren Wipfel emporkletterte.

Die Büchse war nicht da –! – Alles Suchen half nichts.

Da kam wieder diese tiefe Mutlosigkeit über den Jungen, kamen wieder all die Gedanken, die ihm zuraunten: Es ist etwas Unbegreifliches geschehen – ein Unglück!

Weshalb sollten der Doktor und Egon Lenz wohl den Stutzen mitgenommen haben, wenn sie sich mit dem Nachen nur für kurze Zeit entfernen wollten. Weshalb waren sie so ohne jede Benachrichtigung ihres kleinen Gefährten davongefahren –?!

Dies und noch anderes wollte Ypsi nicht aus dem Sinn, häufte sich zu sicherem Beweise auf, daß seine Angst nur zu berechtigt wäre –!

Er setzte sich auf den Stamm, stierte vor sich hin. Schon einmal hatte er sich – und das lag etwa ein Jahr zurück! – in einer Lage befunden, die ebenfalls ganz geeignet war, ihn in trübeste Verzweiflung zu stürzen. Das war damals gewesen, als er von den Pferdedieben nach der Ruine des Russenforts geschleppt wurde. (Vergl. eines der letzten Bändchen: „Im Lande der Turkmenen“).

An diese kurze Einkerkerung, an seine kühne Flucht, an die Aufzeichnungen des russischen Leutnants, – an all das erinnerte er sich jetzt. Und diese Erinnerungen wurden für ihn zu einem Quell neuer Hoffnung, vertrauensvoller Zuversicht –

Wenn es ihm damals geglückt war, all der Schwierigkeiten Herr zu werden und über das Ungemach zu triumphieren, – warum nicht auch jetzt –?! Hatte er nicht in diesem inzwischen verflossenen Jahre mit seinen neuen Abenteuern auf der öden Insel im Aralsee an Selbständigkeit, an praktischem Blick und schneller Entschlußfähigkeit noch gewonnen, hatte er nicht mehr als einmal bewiesen, daß er weit über seine Jahre hinaus auch geistig entwickelt war –?!

Er erhob sich jäh! – Fort mit allem Kleinmut! Gott würde ihn, den Einsamen, nicht verlassen –!

Mit dem wiedererwachten Selbstgefühl meldete sich auch der Hunger. Er suchte nach Schildkröten. Aber eine Stunde verging, bevor er eines der Panzertiere überraschte, das gerade an Land kroch.

Zündhölzer besaß er nicht. Und an seinem Feuerzeug war der Zündstein längst verbraucht. Dafür hatte er jedoch die Linsen aus Egon Lenz’ Fernglas. Nicht zum erstenmal waren sie dazu benutzt worden, ein Feuer anzufachen. Gewiß – es war mühsam, auf diese Art trockenes Moos zum Glimmen zu bringen. Doch – was half’s –! – Und so schraubte er die Linsen aus, suchte nach Baumzunder, wartete geduldig, bis die schwelende Masse dann durch sachtes Hineinblasen in Flämmchen aufging.

Am Spieß briet er Stücke des Schildkrötenfleisches, aß reichlich, wenn auch ohne rechten Appetit.

Mittlerweile war es Nachmittag geworden.

Die beiden Gefährten fanden sich nicht wieder ein. Ypsi hatte sich ihr Verschwinden immer aufs neue zu erklären versucht. Schließlich war er zu der Annahme gelangt, etwas ganz Besonderes müßte wohl die beiden ganz plötzlich zu eiligster Flucht bewogen haben.

Die Langeweile kam jetzt. Was sollte er auch auf diesem winzigen, 15 Meter langen und 8 Meter breiten Fleckchen Erde beginnen?! Er war ein Gefangener. Und das Bewußtsein dieses Abgesperrtseins ließ ihn die Langeweile noch mehr empfinden.

Und doch: Er mußte sich beschäftigen! Nur nicht wieder untätig sich zwecklosen Grübeleien hingeben! Arbeit mußte sich finden lassen.

Die Nacht stand bevor. Wollte er da auf dem bloßen Boden liegen? Konnte er nicht eine Hütte aus Zweigen ganz gut brauchen?

Zum Glück besaß er ja ein starkes Dolchmesser. Auch hatte er seinen Revolver nebst einigen vierzig Patronen außer anderen nützlichen Kleinigkeiten.

Also ans Werk! – Und als er erst einmal begonnen hatte, Zweige für eine Hütte abzuschneiden, fühlte er auch die Freude an der Arbeit, stellte sich der Wunsch ein, das Hüttchen recht praktisch zu bauen.

Als die Dunkelheit nahte, war er mit allem fertig, war er recht müde, aber auch stolz auf das, was er geschaffen.

In der Mitte des Inselchens hatte er eine Stelle unter dicken Moospolstern entdeckt, wo grünbläulicher, fetter Ton in starker Schicht lagerte. Daraus hatte er sich einen Herd gebaut, sogar ein paar Schüsseln geformt, die er nun in einem schwachen Reisigfeuer trocknen ließ.

In dem Hüttchen lag sein dickes Mooslager. Und davor stand sogar ein niedriges Tischchen, dessen Platte er aus einem Stück Rinde des umgestürzten Baumes gewonnen hatte.

Kurz: Er hatte in vier Stunden recht viel geleistet, fühlte sich befriedigt in diesem Bewußtsein und war gleichzeitig fest überzeugt, auch all die anderen Schwierigkeiten überwinden zu können.

Die Nacht über schlief er fest und nur wenig beunruhigt durch Träume, die auf die letzten Erlebnisse Bezug hatten. Dagegen sah er im Traume wieder den Park und das ländliche Gebäude, in dem er spielend umhertollte, auch den Mann in grüner Jagdjoppe, auf dessen Knien er ritt, bis ihn jemand fortrief: „Kurt – Kurt!“

 

4. Kapitel.

Zur Karmaktschi-Insel.

Bereits recht früh am Tage weckte ihn das mißtönende Geschrei der Adler auf ihrem Horste. Sie begrüßten den Morgen nicht gerade melodisch, und als Ypsi nun vor seine Hütte trat und diesem durch Mark und Bein gehenden Frühkonzert lauschte, das gar kein Ende nehmen wollte, sagte er sich bald, die Raubvögel würden wohl eine besondere Veranlassung zu diesem anhaltenden Gekrächz haben.

Über dem Sumpfgebiet lagerten noch leichte Nebel. Die Sonne war nur als hellerer Fleck in diesem milchigen Grau zu erkennen. – Ypsi wäre am liebsten sofort in die Krone der Eiche emporgestiegen, um zu sehen, was die Steinadler so erregte. Er wollte aber doch lieber warten, bis der Nebel verschwunden, um dann gleich mit dem Fernglas die Kanäle absuchen zu können.

Gewiß – die Hoffnung auf die Rückkehr der Gefährten hatte er aufgegeben. Aber vielleicht kam in der Nähe ein zweites Handelsboot, mit Armeniern darin, vorüber, das er durch Revolverschüsse herbeirufen konnte.

Zunächst sah er jetzt nach seinen Tongefäßen. Die waren während der Nacht wirklich recht hart geworden, wenn auch etwas rissig an den Außenseiten.

Dann ging er auf die Schildkrötenjagd. Jetzt morgens fand er reiche Beute – drei große Exemplare, von denen er zwei neben der Hütte auf den Rücken legte, sie so an den Platz fesselnd, die dritte aber für eine Suppe zerkleinerte.

Nachdem er diese auf dem Feuer hatte, begann er die Kletterpartie. Die Steinadler waren noch immer nicht ruhig geworden. Und er war wirklich recht gespannt, was an dieser Aufregung die Schuld trug.

Der Nebel zerflatterte jetzt vor einem frischen Morgenwinde vollständig. Die Sonne schien klar auf die Krone des mächtigen Baumes und ließ alle Einzelheiten des Adlerhorstes deutlich erkennen.

Die beiden Raubvögel saßen dicht vor dem großen Nest auf einem Ast und reckten abwechselnd die Hälse lang, stießen laute Schreie aus und bewegten dabei wie in höchster Wut die Flügel.

Der Junge, der seitlich um das Nest herum geklettert war, wurde von ihnen seltsamerweise gar nicht beachtet. Sie hatten nur Augen für etwas, das sich in dem Horste selbst befinden mußte.

Jetzt konnte Ypsi von oben hineinsehen.

Er traute seinen Blicken nicht! Da hockte mitten im Nest ein stattlicher Bursche von Wüstenfuchs, fletschte das weiße Gebiß und brachte heisere Laute hervor, die wie ein Knurren klangen.

Der gelbrote Räuber, dessen Vetternschaft bei den Hühnerbesitzer auch in Deutschland nicht gerade beliebt ist, blutete leicht aus ein paar Rückenwunden. Und diese waren es, die Ypsi darüber Aufschluß gaben, daß sich hier ein recht seltsames und sehr seltenes Tierdrama abgespielt haben mußte.

Ohne Zweifel hatte einer der Adler in aller Frühe den Fuchs, von oben auf ihn herabstoßend, mit den Fängen gepackt und den schlauen, sich tot stellenden Burschen mit nach dem Horst gebracht.

Daß Füchse nur zu gern zu diesem Mittel greifen, sich ein späteres Entkommen zu ermöglichen, ist nicht nur aus Tierfabeln bekannt, sondern auch von Jägern so und so oft bestätigt worden.

Im Neste seiner geflügelten Feinde hatte der listige Räuber dann die Verstellung aufgegeben, sich zwischen die buntgesprenkelten Eier gedrückt und den Steinadlern tapfer die Zähne gezeigt, die jetzt nicht auf ihn zu stoßen wagten, da sie fürchten mochten, die bereits angebrüteten Eier zu beschädigen.

Ypsi verhielt sich ganz regungslos und wartete die weitere Entwicklung der Dinge ab.

Während er die drei Tiere beobachtete, fiel ihm ein, daß seine Suppe unten auf dem Herde wohl anbrennen würde, wenn er sich hier zu lange aufhielte. Weiter aber sagte er sich, daß er die Körper dieser feindlichen Raubgesellen sehr gut brauchen könnte, wenn er den Gedanken zur Ausführung bringen wollte, der ihm am Morgen gekommen war. Sich ein Floß zu bauen, damit er das Inselchen verlassen könnte.

Ypsi gehörte nicht zu denen, die ein Tier nur deshalb niederknallen, um zu töten. Er liebte Natur und Kreatur viel zu sehr, um beide nicht zu schonen, wo es irgend anging.

Hier aber handelte es sich um sein eigenes Wohl und Wehe! So zog er denn den geladenen Revolver, entsicherte ihn, legte auf das Adlermännchen an, zielte sorgfältig auf die Brust unterhalb des rechten Flügels, drückte ab, – nochmals, – richtete die Waffe auf das Weibchen und jagte auch diesem zwei Kugeln in den Leib.

Beide Vögel waren zu Tode getroffen und fielen flügelschlagend nach einigen krampfhaften Versuchen sich aufrechtzuhalten von Ast zu Ast auf den Boden herab.

Und der Fuchs – der schlaue Meister Reineke?

Ypsi mußte lächeln.

Der rote Räuber spielte jetzt wieder dasselbe Spiel, mit dem er sich heute schon einmal das Leben gerettet hatte: Er stellte sich tot!

Lang ausgestreckt lag er da, rührte kein Glied. Nur die Augen waren nicht ganz geschlossen. Und als Ypsi nun den Revolver anlegte – nur zum Schein –, da – da fuhr die listige Bestie in höchster Todesangst wie ein Blitz empor und – sprang in besinnungslosem Selbsterhaltungstrieb über den Rand des Horstes hinweg ins Leere, fiel auf ein paar dünner Aste, brach durch, kam so von Ast zu Ast tiefer und tiefer und entschwand den Blicken des Jungen auf Nimmerwiedersehen!

Ypsi lachte hinter ihm drein.

„Hast Dich wacker gewehrt“, dachte er, „Ich gönne Dir’s daß Du lebend unten ankommst!“

Dann kletterte er schnell bis in die höchsten Äste, nahm das Fernglas zur Hand, fand die Kanäle leer, sah hinüber nach dem fernen, einzelnen Felsen, der aus dem Grün dunkel sich abhob und ungefähr die Form eines Kreuzes hatte.

Er schätzte die Entfernung auf vielleicht 2500 Meter. Mehr konnte es kaum sein.

Und diese Strecke mit Hilfe eines Floßes zurückzulegen, – nein, nicht die ganze Strecke, da ja die Insel des Gefangenen etwa auf der Mitte der die Adlereiche und das Kreuz verbindenden Linie liegen mußte –, war nunmehr sein einziger Gedanke.

Wieder auf festem Boden angelangt, sah er sich nach den Raubvögeln und dem Fuchse um. Erstere lagen dicht nebeneinander im Gestrüpp, letzterer hatte das Inselchen offenbar schwimmend verlassen.

Nachdem er seine Suppe verzehrt, weidete er die Steinadler aus, reinigte die Därme gründlich, trocknete sie an der Luft und rieb sie dauernd mit dem Bauchfett der Vögel ein. So erhielt er, wie er dies bereits von Doktor Wüllner bei einer früheren Gelegenheit gelernt hatte, durch Drehen der Därme sehr feste, dünne Bänder, den Darmseiten ähnlich, die er nachher beim Bau des Floßes[4] benutzte.

Die Kadaver der Vögel warf er in den Sumpf. Nur ein paar schöne Schwungfedern, die Krallen und die Schnäbel behielt er und fertigte sich daraus einen Schmuck für die Lammfellmütze, die dadurch ein recht phantastisches Aussehen gewann.

Der Bau des Floßes erforderte volle zwei Wochen, da die ersten Versuche kläglich scheiterten, ein für dieses mit Pflanzen durchsetzte Wasser geeignetes Fahrzeug zustande zu bringen.

Schließlich hatte er aber große Rindenstücke des umgestürzten Baumes durch Holzpflöcke verbunden und die Ritzen durch Ton verschmiert, der schnell trocknete und in seiner Eigenschaft als Kalfatermittel (kalfatern – ein Schiff abdichten) durch abermaliges Verschmieren der noch undichten Stellen verbessert wurde.

Gewiß, dieses muldenförmige Ding von Nachen war nur ein kläglicher Notbehelf. Aber: es schwamm und trug auch recht gut die Last des Knaben.

Nach einem Robinsondasein von genau sechzehn Tagen brach Ypsi dann eines Morgens auf.

Aber wie endlos langsam kam er vorwärts. Er hatte nur einen langen Ast als Stoßstange zur Verfügung, mußte außerdem sehr behutsam mit seinem Rindenboot umgehen, das keinerlei Erschütterungen vertrug. Dann bog er auch in ein paar Kanäle ein, die Sackgassen waren, mußte des öfteren umkehren und war gegen Mittag seiner Schätzung nach erst etwa fünfhundert Meter in Richtung auf den Kreuzfelsen voran gekommen.

Dann eine neue Schwierigkeit.

Der Sumpf veränderte hier allmählich seinen Charakter. Die Inselchen verschwanden, selbst die winzigen Flecken, die mit Gestrüpp bestanden waren, wurden seltener und seltener. Dafür bildete das Wasser mit den Resten abgestorbener Pflanzen immer mehr einen zähen Brei, in dem nirgends mehr etwas wie eine Fahrstraße zu finden war.

Der Sumpf wurde zum zähen, flüssigen, grundlosen Morast, der Ypsis Kahn wie mit tausend Armen festhielt.

Erschöpft ruhte der Junge sich jetzt erst eine Stunde aus. Dann begann die Arbeit von neuem. Und es war ein Kampf mit dem zähen, grünbraunen Brei, wie er schlimmer nicht sein konnte.

Doch Ypsi wollte um jeden Preis vorwärts! Um jeden! Und wenn er tagelang sich abmühen müßte, sagte er sich, – die Insel des Gefangenen lag da vor ihm, jetzt als grüner Streifen klar zu erkennen, und sollte erreicht werden, koste es auch noch so viel Schweiß.

Jetzt zeigte es sich, wie günstig gerade die flache Form des Kahnes für dieses dicke, tragende Element war. Mit einem tief im Wasser liegenden Boot wäre hier gar nichts auszurichten gewesen.

Ganz, ganz allmählich rückte das plumpe Fahrzeug dem grünen Strich der Insel, die mitten in diesem breiten Morastgürtel lag, näher und näher.

Aber der Abend brach an, und Ypsi war noch immer so weit von ihr entfernt, daß er notwendig die Nacht in seinem Fahrzeug zubringen mußte.

 

5. Kapitel.

Signalfeuer.

Daß er hierzu vielleicht genötigt sein würde, hatte er bereits vorausgeahnt und sich danach eingerichtet. Auf dem Boden des Kahnes befand sich eine breite Platte von Ton, um darauf ein Feuer anzünden zu können.

Auch Brennmaterial hatte er mitgenommen, ebenso zwei lebende Schildkröten und einen Kochnapf.

Diese Nacht mitten im Morast wurde Ypsi zu einer schlimmen Qual infolge der zahllosen stechenden Insekten, die sich blutgierig auf ihn stürzten und sich selbst durch das Feuer nicht vertreiben ließen.

Obwohl er Gesicht und Hände mit seiner Jacke umhüllte, zerstachen sie ihm Nase, Wangen und Kinn so arg, daß er mit den Fingern die Anschwellungen fühlen konnte.

Schließlich hielt er es so nicht länger aus. Er schöpfte von der Oberfläche des Morastes halbtrockene Pflanzenreste und legte sie als Mittel zur Qualmerzeugung auf die Glut. So entwickelte sich nun wirklich ein dicker, schwarzgrauer Rauch, der von dem kaum zu spürenden Luftzug langsam nach Osten geweht wurde.

Ypsi setzte sich mitten in den Qualm und streckte nur den Kopf an die frische Luft, wenn er atmen wollte.

Da – als er dies gerade abermals tat, gewahrte er in der Ferne und zwar in der Richtung auf die Insel des Gefangenen einen hellen Feuerschein, der jedoch in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder verschwand, dann wieder sichtbar wurde, eine Weile durch die Nacht leuchtete, abermals erlosch.

Ypsi saß regungslos.

Die Mücken waren vergessen! – Sein erster Gedanke war: Lichtsignale sind’s, stumme Hilferufe des Mannes, der dort auf dem Eiland schmachtet und auf Rettung hofft.

Und weiter sagte er sich: „Der Unglückliche da drüben hat den Schein meines Feuers hier bemerkt und sucht meine Aufmerksamkeit zu erregen. – Gut, antworten wir ihm.“

Er warf Reisig in die Glut, daß sie wieder aufflackerte, bediente sich dann seiner Jacke als Vorhang und verdeckte das Feuer in gleichen Zwischenräumen fünf Mal.

Sofort wiederholte der da drüben diesen Blinklichtgruß.

Dann, nach einigen Versuchen hin und her, kam dadurch eine Verständigung zustande, daß die Buchstaben der Reihe nach durch ebenso viele Lichtblitze ausgedrückt wurden.

Es dauerte aber eine geraume Zeit, ehe Ypsi auf diese Weise von dem Gefangenen die Worte übermittelt erhielt: „Kommen Sie, retten Sie mich!“ – Worauf er zurückgab: „Ich komme!“

Noch vor Tagesanbruch setzte er dann die Arbeit dieses fast nur zentimeterweisen Vorrückens mit eiserner Energie fort. Er hatte herausgefunden, daß, wenn er sein Fahrzeug in schaukelnde Bewegung brachte und dabei die Stoßstange benutzte, am leichtesten der Widerstand des Morastes zu überwinden war.

Als die Sonne erschien, hatte er sich der Insel so weit genähert, daß er durch das Fernglas eine menschliche Gestalt unterscheiden konnte, die einen grünen Zweig eifrig schwenkte.

Doch mit jedem Meter nach vorwärts wurde jetzt auch die Arbeit mühsamer und ergebnisloser. Oft saß der Muldenkahn völlig fest. Dann galt es, ihn durch Schaukeln wieder in dünneren Schlamm zu bugsieren.

Mittags lagen noch gegen dreihundert Meter dieses unsäglich schwierigen Weges vor dem wackeren Jungen.

Zwei Stunden Schlaf kräftigten ihn für neue Anstrengungen. Die Arbeit begann nun mit doppeltem Eifer, denn jetzt war der Mann drüben mit dem Glase bereits ganz gut zu sehen, – sein bärtiges Gesicht, die seltsame Kleidung und das aufmunternde Zuwinken mit der Hand.

Abermals sollte jedoch die Dunkelheit hereinbrechen, ohne daß Ypsi sein Ziel erreichte. Er hörte schon die Zurufe des Mannes drüben. Aber er war viel zu erschöpft, um die letzten hundert Meter sofort bewältigen zu können.

Leider war sein Brennholzvorrat erschöpft. Die Stechmücken kamen mit der Dunkelheit in dichten Schwärmen, rächten sich für die Ausräucherung der vorigen Nacht.

An Schlaf war nicht zu denken. Eine Stunde bot Ypsi den Plagegeistern Trotz. Dann packte ihn die Wut der Verzweiflung. Er riß die oberen Teile des Nachens ab, legte sie in die noch vom Mittag her glimmende Glut und blies hinein, bis sie aufflammten.

Dann ergriff er die Stoßstange. Und in der Qualmwolke stehend strebte er der nahen Insel zu, an deren Ufer der Gefangene wieder ein Feuer angezündet hatte.

Die Insel jedoch war hier anscheinend von dickflüssigem Leim umgeben. Der Nachen wollte und wollte nicht vorwärts.

Ypsi stemmte sich gegen die Stange, die er unten anstatt eines Brettes mit einem dicken Rindenstück versehen hatte, – drückte mit solcher Gewalt, daß – plötzlich die Verbände des Bodens des Rindenkahnes sich lösten und der Junge mit dem linken Bein durchbrach.

Vor Schreck entfiel ihm die Stoßstange. Der Morast quoll durch das Loch in den Nachen, füllte ihn schnell. Ypsi zog den Fuß aus dem Leck, stopfte seine Jacke hinein.

Das half nur wenig. Langsam füllte sich der Kahn, sank mit seinem lebenden Inhalt tiefer und tiefer.

Der arme Junge sah den sicheren Tod vor Augen.

Und drüben schien der Gefangene zu merken, daß ein Unglück geschehen. Schon vorher hatten die beiden Landsleute sich begrüßt. Jetzt rief Preßler: „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Ypsi klärte ihn mit wenigen Worten auf.

„Ich bin verloren“, fügte er hinzu. „Vor dem Morast mit seinen hinabziehenden Kräften gibt es keine Rettung.“

Der Kahn lag bereits so tief, daß der zähe Brei den Rand fast erreicht hatte.

Ypsi wollte nicht sterben. Er nahm seine Mütze und benutzte sie als Schöpfeimer.

Das war eine neue Art von Kampf gegen die Heimtücke des Moores. Wie dieser Kampf enden würde, war nicht weiter zweifelhaft. Es war nur ein Hinausschieben des letzten Augenblickes.

Ypsis Kräfte schwanden. Die schlechte, einseitige Ernährung der letzten Wochen, die Strapazen dieser Tage, der wenige Schlaf, – alles begünstigte das, was plötzlich eintrat.

Nach einigen leichteren Ohnmachtsanfällen verlor der bedauernswerte Junge das Bewußtsein, fiel halb über den Rand des drei Viertel vollen Nachens und – begann mit diesem in der Tiefe des unheimlichen grünbraunen Breies zu verschwinden.

Auf der nahen Insel hatte Preßler inzwischen jedoch alle Vorkehrungen bereits getroffen, dem Landsmann Hilfe zu bringen.

Am Aste einer dicht am Ufer stehenden, verkrüppelten Rotbuche war ein starkes Tau aus Pflanzenfasern befestigt. Preßler selbst hatte an den Füßen schwimmschuhähnliche Gestelle aus Rinde festgebunden, die ihn[5] vor dem Versinken im Morast so lange schützten, als er sich vorwärts bewegte. Freilich – stehen bleiben durfte er nicht. Das wußte er nur zu gut von seinen Versuchen her, ein Mittel zur Flucht über den seine Insel umschließenden Moorgürtel zu ersinnen.

Mit dem Tau in der Hand strebte er nun dem kaum mehr sichtbaren Nachen zu, gelangte auch bis an die Unglücksstätte, band das Tau schnell dem Bewußtlosen um die Brust und hastete zurück.

Am Ufer stehend suchte er dem Morast die Beute wieder zu entreißen.

Preßler war ein kräftiger Mann. Aber fast schien es, als sollte das Moor hier Sieger bleiben. Jeder weiß ja, wie fest zäher Morast einen erst einmal darin halb Versunkenen festhält. Doch Preßler ließ nicht nach. Die Adern an seiner Stirn schwollen an, Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht.

Und – ein Höherer half – es glückte!

Der Körper des Todgeweihten kam frei, wurde nun schnell nach der Insel gezerrt.

Preßler schleppte den Geretteten, dessen Gesicht dick mit Morast beschmiert war, zum Feuer, legte ihn behutsam nieder, holte Wasser in einer plumpen Holzschale, flößte es dem Ohnmächtigen ein, wusch ihm das Gesicht sauber und –

Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, ein Wort folgte – ein gellender Ruf –

„Kurt – Kurt!“

Als Ypsi wieder zu sich kam, sah er den Fremden neben sich knien, sah Tränen aus dessen Augen hervorquellen, hörte nun Worte. die er zunächst nicht begriff.

Dann aber zerriß mit einem Male der Vorhang, der seine Jugenderinnerungen vor ihm verhüllte.

„Vater!“ rief er, „Vater!“

Und zwei Menschen, die des Schicksals Wunderwege zusammengeführt hatten, lagen sich in den Armen –

Den Wiedervereinten gelang es dann, die Karmaktschi-Insel zu verlassen und den Doktor und Egon Lenz aufzufinden, mit denen zusammen sie versuchten, jene Oase zu erreichen, deretwegen unsere drei Abenteurer bereits so mannigfaches überstanden hatten.

Unsere Leser werden über die ferneren Erlebnisse der Helden dieser Erzählung Näheres hören in dem Bändchen:

 

Das Gespenst der Küsül-Kum.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Dauleh“ – Einheitlich innerhalb dieser Fortsetzungsgeschichte (Heft 98–104) auf „Daulek“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „Turkistan“.
  3. In der Vorlage steht: „Antilopenziklein“. Auch damals wurde „Zicklein“ schon mit „ck“ geschrieben!
  4. In der Vorlage steht: „Flosses“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher alle Vorkommen geändert auf „Floßes“.
  5. In der Vorlage steht: „ihm“.