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Der Gefangene des Ras Bagror

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)

 

Der Gefangene des Ras Bagror.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Die Verfolger.

Gottlob Quark zog nun gleichfalls sein Fernglas aus dem Lederfutteral, nahm es an die Augen und stellte es auf die richtige Entfernung ein. All das tat er mit der ihm eigenen Gemächlichkeit, die ihn selbst in den unangenehmsten Lagen, wo jeder andere sich nach Möglichkeit beeilt hätte, nie verließ.

Was er jetzt durch den Krimstecher sah, entlockte ihm nur ein: „Na wenn schon! Zehn Kamelreiter! Das ist doch kein Malheur!“

„Gottlob, Sie sind wieder mal gottvoll – einfach gottvoll,“ meinte Helmut Mook halb scherzend, halb ärgerlich. „Sie tun gerade so, als ob wir uns hier in Hamburg, besser in Stellingen bei Hamburg befinden, uns eine Völkerschau Hagenbecks ansehen und die nächste Programmnummer heißt: „Zehn Kamelreiter, frisch importiert aus Abessinien – ganz echt, sogar bis auf die Läuse.“ – Ne, mein liebes Quärkchen, leider befinden wir uns nicht im sicheren Stellingen, wo uns zehn dunkelhäutige Reiter trotz Lanzen und Flinten nichts anhaben könnten, sondern im südlichsten Teile von Abessinien, wohin selbst die Macht des berühmten Kaisers Menelik nicht mehr recht reicht, haben vielmehr alle Ursache, jede Begegnung mit Eingeborenen tunlichst zu vermeiden, wenn wir nicht den Erfolg unserer ganzen Expedition schwer gefährden wollen. Ich halte es daher auch für richtig, den Kamelreitern auszuweichen, indem wir hier in dieses Seitental einbiegen. Die zehn Leute dort vor uns dürften uns bisher kaum bemerkt haben. Also los! Rechts schwenkt marsch – und schleunigst!“

Der, der so gesprochen hatte, war bis vor fünf Monaten noch einer jener jungen, reichen Nichtstuer gewesen, die den Straßen in Berlin W, besonders der Tauentzienstraße[1], in den Nachmittagsstunden das Gepräge eines allgemeinen Stelldicheins begüterter Faulenzer geben.

Dieser Helmut Mook hatte sich gegen Berlin jetzt auch in seinem Äußeren stark nach der vernünftigen Seite hin verwandelt. Er trug nicht mehr übermoderne Erzeugnisse eines erstklassigen Schneiders, sondern einen Tropenanzug aus graugrünem, sehr derbem Leinen, dazu ebenso derbe, braune Schuhe mit Überschnallgamaschen und eine weiche, graue Mütze aus geöltem, feinem Leder mit großem Schirm.

Seine beiden Begleiter waren genau so kostümiert, da ihre Sachen aus demselben Reiseartikelgeschäft in Dar-es-Salam stammten, wo sie mit Helmut Mook als dem bezahlenden Teile als besonders praktisch empfohlen worden waren. Bewaffnet waren die drei mit Gewehren und Mehrladepistolen desselben Systems. Jeder führte außerdem noch andere notwendige Sachen, teils am eigenen Leibe, teils in den Satteltaschen ihrer kleinen, aber sehr ausdauernden abessinischen Pferde bei sich.

Zwei der Teilnehmer dieser Expedition, die jetzt bis auf drei Köpfe zusammengeschmolzen war, haben wir bereits kennen gelernt, eben Helmut Mook und seinen in Berlin sehr brauchbaren, weit über das Normalmaß groß geratenen Diener Gottlob Quark, der hier jedoch jeden Tag mehrfach bewies, daß ihm die Rolle eines Abenteurers gar nicht lag.

Und der dritte? – Mit diesem hatte es eine besondere Bewandtnis. Während Helmut Mook in Berlin das Nichtstun und Geldverschwenden nach besten Kräften besorgt hatte, war der fünfzehnjährige August Rulicke ein Jünger des Seifschaumbeckens, des Rasiermessers, Kammes und der Schere, also – Barbierlehrling gewesen, bis ihn ein Zufall aus seinem friedlichen Berufe heraus- und auf die Abenteurerlaufbahn warf.

Ja – mit gutem Recht konnte man diese drei an Alter, Lebensanschauungen und Charaktereigenschaften so sehr verschiedenen Deutschen als Abenteurer bezeichnen – nicht in jenem Sinne freilich, der Abenteurer und Hochstapler beinahe gleich macht. Nur Zweck und Ziel dieser ihrer Reise nach Afrika hatten etwas Abenteuerliches an sich, besonders nachdem die von Helmut Mook in Dar-es-Salam (Ostafrika) zusammengestellte Karawane während des Marsches nach Norden allmählich immer schwächer an Kopfzahl geworden war, da die schwarzen Träger sich heimlich zu zweien und dreien gedrückt hatten, um nicht den Weitermarsch in jenes Gebiet westlich des Stefanie-Sees mitmachen zu müssen, das unter den gewerbsmäßigen Karawanenträgern im Rufe größter Gefährlichkeit stand sowohl infolge der dort hausenden, zum Teil noch unbekannten Völkerschaften als auch wegen der angeblich sehr zahlreichen wilden Tiere. So war es denn gekommen, daß die drei europäischen Teilnehmer der Expedition schließlich ganz allein auf sich angewiesen waren, und dies gerade zu einer Zeit, wo die Hauptschwierigkeiten erst begonnen. – Was die Gefährten gerade nach Abessinien geführt hatte, werden wir später erfahren, auch hören, wie es kam, daß August Rulicke trotz seines friedlichen Gewerbes als Haarkünstler jetzt mit Büchse und Zaum umzugehen gelernt hatte. –

Helmut Mook ließ die beiden anderen vorausreiten und zügelte seinen kräftigen Braunen hinter einem Gebüsch von baumartigen Kugeldisteln, einem Gewächs, das im Reiche Meneliks mit seinen gewaltigen Gebirgen bis zur Schneegrenze heraufreicht. Hier, wo er gegen Sicht gut gedeckt war, nahm er seinen vorzüglichen Krimstecher wieder zur Hand und beobachtete die von Osten her über die stellenweise dicht bewaldete Hochebene näherkommenden Kamelreiter mit einer gewissen halb neugierigen, halb ängstlichen Spannung weiter, bemerkte, daß es fraglos reguläre abessinische Kavalleristen waren, da sie die ihm aus einem Reisehandbuch bekannt gewordenen Abzeichen des kaiserlichen Heeres trugen, und glaubte auch aus der ganzen Art ihres Verhaltens auf einen besonderen Auftrag der kleinen Truppe schließen zu können, denn diese hatte zwei Leute etwa hundert Meter als Spitze vorausgeschickt, während zwei andere die Seitendeckung übernommen hatten.

Die Reiter bewegten sich in jenem langen Trab, der die Hauptgangart der hochbeinigen Kamele ist und der dem leichten Galopp eines Pferdes an Schnelligkeit gleichkommt. Sie näherten sich daher auch sehr rasch, und gerade als der Deutsche es für ratsam hielt, den beiden Gefährten in das Seitental zu folgen, ereignete sich etwas, das jenen doch wieder an seinen Platz bannte.

Plötzlich hatte nämlich der die linke Flanke des Trupps sichernde Abessinier einen gellenden Schrei ausgestoßen und gleichzeitig die Büchse (die Abessinier sind durchweg mit Remington-Gewehren bewaffnet) vom Sattelknopf losgehakt und sich schußbereit gemacht, während sein gelbgraues Reittier in Schritt fiel.

Auf den schrillen Ruf hin war in den Haupttrupp sofort Leben gekommen. Diese sechs Leute breiteten sich im Nu fächerartig aus und umstellten dann ein kleines Gehölz von Zitronenbäumen und Affenbrotbäumen, wobei die beiden Spitzenreiter gleichzeitig den Kreis nach Westen zu schlossen.

Mook war jetzt überzeugt, daß die Kavalleristen auf der Verfolgung eines oder mehrerer Menschen begriffen waren und fand diesen Zwischenfall nach den letzten, ereignislosen Tagen interessant genug, um auch der weiteren Entwicklung der Dinge von seinem Versteck aus beizuwohnen.

Die zehn Abessinier, oder besser die fünf von ihnen, die der Deutsche von seinem Platz aus wahrnehmen konnte, rückten dem Gehölz nun recht vorsichtig näher, indem sie sich ganz tief im Sattel zusammenduckten, offenbar aus Furcht vor Gewehrkugeln. Dann machten sie mit einem Male halt, ließen ihre Tiere niederknien und warfen sich hinter diesen in das hohe Gras, wo sie vollständig verschwanden.

So vergingen wohl fünf Minuten. Nichts ereignete sich weiter. Helmut Mook fuhr jedoch plötzlich erschrocken zusammen, als dicht neben ihm jetzt eine menschliche Gestalt sich aus dem auch hier üppig wuchernden Grase erhob, erkannte in dem lautlos Aufgetauchten seinen Schützling August Rulicke und drohte diesem etwas ärgerlich mit der Hand, indem er nach vorn auf das Gehölz deutete, das keine vierhundert Meter entfernt war.

August Rulicke, den Mook und Quark stets Pipin den Großen nannten, war ein hochaufgeschossener Junge, dem der Marsch von der Küste Ostafrikas bis hierher insofern vorzüglich bekommen war, als er ihn nicht nur körperlich sehr gekräftigt, sondern auch sonst Gelegenheit gegeben hatte, mancherlei schlummernde Fähigkeiten, so besonders eine entschiedene Begabung zum Jäger, in ihm zu wecken. Soeben hatte er seinem Wohltäter, an dem er mit großer Dankbarkeit hing, wieder einen Beweis seines Talentes im Anschleichen geliefert. Wenn Helmut Mook die Vorgänge dort drüben nicht so sehr in Anspruch genommen hätten, würde er Pipin dem Großen seine Anerkennung für diese Leistung in lautlosen Späherbewegungen ausgesprochen haben. So aber flüsterte er ihm jetzt nur zu:

„Vorsicht – die Sache ist nicht ganz geheuer! Vielleicht gehören die Reiter zu den Truppen des Ras Bagror (Ras – Fürst, auch Berggipfel), und dann haben wir alle Ursache, ein Zusammentreffen mit ihnen zu vermeiden. – Wo steckt Gottlob? Du hättest besser bei ihm bleiben sollen, sonst macht er nur wieder irgend welche Dummheiten,“ fügte er beunruhigt hinzu.

„Keine Sorge, Herr Mook,“ erwiderte der Junge ebenso leise. „Gottlob ist bei den Pferden, die wir in dem hohlen Stamm eines Affenbrotbaumes gut untergestellt haben.“

Da – vorn ein paar Schüsse – drei – vier, noch zwei, dann wieder Stille.

Der Junge hatte sein Fernglas schnell eingestellt, beobachtete nun gleichfalls mit größter Spannung das kleine Gehölz, in dem irgend etwas steckte, worauf die Kamelreiter es abgesehen hatten. Von diesen war nichts zu bemerken. Nur schwache Pulverwölkchen kennzeichneten die Stellen, wo die Schützen im Grase hinter ihren[2] ruhenden Tieren lagen.

Abermals knallte es drüben. Und kaum eine Minute nach dem harten Peng-peng der Schüsse erscholl in dem lichten Hain ein wüstes Geschrei, das jedoch sehr schnell wieder verstummte. Auf dieses Gebrüll hin, das sich anhörte, als ob eine Menge Menschen im wildesten Kampf sich befunden hätten, waren die fünf von dem Versteck der Deutschen aus sichtbaren Abessinier aufgesprungen und in langen Sätzen hinter den Bäumen verschwunden. Was dort nun vorging, blieb den beiden heimlichen Lauschern verborgen.

Die Zeit verstrich. Nichts geschah. Und doch ließ Helmut Mook das Glas nicht von den Augen, nahm bald diese, bald[3] jene Stelle des Randes des Gehölzes aufs Korn, ohne etwas wahrzunehmen, was ihm auch nur gestattet hätte, einen noch so unsicheren Schluß auf die Vorgänge innerhalb des Haines zu ziehen.

„Was mögen die Abessinier dort nur betreiben?“ meinte er jetzt flüsternd. Als August Rulicke keine Antwort gab, setzte Mook den Krimstecher ab und – gewahrte so, daß der Junge verschwunden war.

„Er wird doch nicht etwa auf eigene Faust den Späher spielen?!“ dachte Mook besorgt. „Zuzutrauen ist’s ihm schon! – Wirklich – dort bewegt sich das Gras – in der Richtung auf das Gehölz zu. Das kann nur unser leichtsinniger Pipin sein! – Na warte, ich werde Dir gehörig den Marsch nachher blasen!“

Vielleicht hätte Mook diesen ganz berechtigten Gedanken noch weitere ähnlicher Art hinzugefügt, wenn nicht plötzlich zu seiner Rechten etwas geschehen wäre, das, wie sich später zeigte, für die Absichten unserer drei Abenteurer recht weitgehende Folgen haben sollte.

 

2. Kapitel.

Der Verfolgte.

Helmut Mooks Kopf war herumgefahren. Brechen von Zweigen und dumpfer Hufschlag ließen ihn nach rechts schauen, wo jetzt Quarks und Pipins Pferde in gestrecktem Galopp das den Eingang des Seitentales einsäumende Gebüsch durchbrachen und – ein unseliger Zufall! – gerade auf das Gehölz losstürmten, in dem die Abessinier untergetaucht waren.

Nicht genug hiermit! Den beiden Pferden folgte in langen Sätzen und hin und wieder ein wütendes Schimpfwort auf die Flüchtlinge ausstoßend der lange Gottlob Quark, der nun gleichfalls dem Haine dort drüben zulief.

„Alle guten Geister,“ murmelte Mook entsetzt. „Die Geschichte kann aber faul werden!“

Und sie wurde auch oberfaul! Der lange Quark hatte kaum die Hälfte des Weges nach dem Gehölz durchmessen, als schon drüben drei der Kavalleristen erschienen und den blindlings den Pferden Nachjagenden ergriffen und mit sich nahmen.

„Wirklich – das fehlte uns nur,“ dachte Mook ingrimmig. „Sonst ist Gottlob zu faul, auch nur ein paar Schritt zu gehen, und jetzt läuft er blindlings wie ein wildgewordener Maulwurf den Abessiniern gerade in die Arme! – Was nun?! – Wir sitzen da ja allerliebst in der Patsche!“

Urplötzlich war August Rulicke wieder neben seinem Gönner erschienen, meinte sofort fliegenden Atems:

„Schnell, Herr Mook, laufen Sie hinter Quark drein und suchen Sie zu retten, was noch zu retten ist –“ Das, was er dann weiter seinem verehrten Beschützer in Vorschlag brachte, fand dessen Billigung.

„Junge – der Gedanke ist nicht schlecht,“ erklärte Mook erregt. „Gut – ich will also zu den Kamelreitern hinüber. Quark kann ja nichts verraten, da er sich mit den Abessiniern nicht zu verständigen vermag.“

Mook lief nun gleichfalls auf den Hain zu, kam auch unangefochten bis unter die ersten Bäume und trat ganz außer Atem, ein Dornendickicht umgehend, auf eine kleine Lichtung hinaus, wo er die Abessinier, Quark und einen älteren Mann bemerkte, der bereits gefesselt war.

Als man seiner ansichtig wurde, sprangen sofort zwei Kamelreiter auf ihn zu und zerrten ihn recht unsanft vor den Führer des Trupps, einen Offizier, der gerade versuchte, den langen Gottlob auszufragen, wobei er sich nacheinander des Italienischen, Französischen und Englischen bediente, ohne damit einen Erfolg bei Quark zu erzielen, der stets von sich selbst scherzend behauptet hatte, er beherrsche nur zwei Sprachen: Deutsch und – Berlinsch!

Der Offizier war eine wenig angenehme Erscheinung. Sein gelbbraunes Gesicht mit den halb geschlossenen, lauernden Augen, dem dünnen Schnurrbart über wulstigen Lippen und dem spitzen Kinn ließen ihn als einen reinblütigen Vertreter des abessinischen Volkstyps erscheinen. Er trug als Abzeichen seines Ranges über der weißen, baumwollenen Schama (ein leichter Umhang, togaähnlich) ein Leopardenfell und eine silberne Stirnspange (Akodama genannt). Im übrigen war er wie seine Leute mit bis über die Knie reichenden Hosen, sandalenähnlichen Schuhen und dem in Abessinien allgemein gebräuchlichen breiten Gürtel bekleidet, der aus einem langen Streifen Zeug, das mehrfach wie eine Leibbinde gewickelt wird, besteht. Der Umhang zeigte bunte Verzierungen, und diese sind die besonderen Kennzeichen des Militärs, bilden also sozusagen die Uniform.

Quark hatte seinen Herrn kaum erblickt als er ihm auch schon zurief:

„Herr Mook, ich bin wahrhaftig an diesem Reinfall jänzlich und janz und jar unschuldig wie ein neugeborenes Lämmchen. Ich –“

„– ja – ich bin kein Lämmchen, sondern ein ausgewachsenes Schaf erster Güte,“ fiel Mook ihm wütend ins Wort. „Was mußten Sie auch so schlecht auf die Pferde achtgeben, daß diese –“

„Jestatten, Herr Mook,“ meinte der lange Gottlob, seinen Brotherrn unterbrechend und eine sehr gekränkte Miene aufsteckend. „Jestatten – die Biester von Jäulen sind vor einem verfluchten Affenvieh ausjerissen, das in dem hohlen Baume seine Mittagsruhe jehalten hatte. Es war ein jroßer Affe, – so – so jroß –“

„Also so groß wie Sie beinahe! Und ich dachte immer, einen solchen Affen wie Gottlob Quark gäbe es nirgends mehr!“

„Herr Mook!“ rief der lange Dünne vorwurfsvoll. „Herr Mook, ich muß doch sehr bitten –“

Da mischte sich der Offizier ein, sprach Mook in miserablem Englisch an.

„Wer sind Sie? Was treiben Sie beide hier?“ fragte er barschen Tones.

„Ich bin ein deutscher Forschungsreisender. Der dort ist mein Diener. – Hier sind meine Papiere, auch der Erlaubnisschein des Kaisers Menelik für meinen Aufenthalt hier im Lande.“

Der Offizier tat so, als ob er die Papiere sehr genau durchlas. Da er verschiedene aber verkehrt hielt, war wohl anzunehmen, daß er überhaupt nicht lesen konnte, zumal in dem nur halb zivilisierten Reiche des großen Meneliks diese Kunst nur wenige – die höchsten Staatsbeamten, Militärs und Geistlichen verstehen.

Dann schob der braunhäutige Herr die Papiere in seinen Gürtel und sagte noch ebenso unfreundlich zu Mook, daß er ihn und seinen Begleiter mit nach Braxar, der Hauptstadt des Ras Bagror, nehmen würde, fügte auch noch die Frage hinzu, wo Mooks Karawane sich befinde, worauf dieser der Wahrheit gemäß erklärte, daß seine sämtlichen Träger davongelaufen seien und daß er daher sein Gepäck habe unterwegs liegen lassen müssen.

„Wo?“ wollte der Abessinier sofort wissen, natürlich von dem Wunsche beseelt, es sich anzueignen.

„Acht Tagemärsche südlich an einer Furt durch den Galana-Fluß,“ erwiderte Mook. „Dort lagert der Hauptteil. Das andere liegt hie und da verstreut auf der Karawanenstraße nach Gadi.“ (Stadt mit lebhaftem Handelsverkehr in der abessinischen Provinz Dschimma.)

Daß noch ein dritter Deutscher vorhanden war, ahnte der Offizier nicht, kam auch gar nicht auf diesen Gedanken, ein weiterer Beweis für seine geringe Bildung, da ja in den Papieren Mooks als dritter Teilnehmer der Expedition August Rulicke mit aufgeführt war. –

Bevor wir in unserer Erzählung fortfahren, wollen wir unseren jungen Freunden und Lesern das Nötigste über Abessinien mitteilen. Dies ist zum Verständnis des Folgenden unbedingt erforderlich. – Daß Abessinien das einzige christliche Kaiserreich in Afrika und zwar an der Nordostküste ist, dürfte bekannt sein. Dieses gebirgige Land, das von dem jetzt von den Italienern besetzten Küstenstrich aus (Kolonie Erythrea, am Roten Meere) den Anblick einer mächtigen, nur durch wenige Pässe zugänglichen Burg gewährt, wird in sieben Provinzen eingeteilt, von denen fünf unter je einem Fürsten, zwei aber unter Königen (Negus) eine Art von selbständigen Staaten bilden. Außerdem gibt es noch eine Anzahl kleinerer Fürstentümer, deren Herrscher zum Teil die Oberhoheit des Kaisers (Negus Negesti – König der Könige) nicht voll anerkennen. Zur Zeit unserer Erzählung, 1908, war Menelik der Zweite Kaiser von Abessinien, ein Mann von außerordentlichen Fähigkeiten, der sein Reich zu großer Blüte gebracht hat. – Alles sonst noch Wissenswerte erfahren wir im Verlaufe unserer Erzählung. –

Der abessinische Offizier hatte bei der Angabe Mooks, daß das Gepäck der Karawane so weit nach Süden zu zurückgelassen worden sei, ein etwas enttäuschtes Gesicht gemacht, schien jetzt zu überlegen, was er mit den beiden Deutschen anfangen solle, und erklärte nun, er müsse sie mit nach Braxar, der Residenz seines Fürsten, nehmen, da nur dieser entscheiden könne, ob den Reisenden der Weitermarsch durch sein Land zu gestatten sei.

Mook hatte bei der Erwähnung der berüchtigten Felsenfeste Braxar einen schnellen Blick mit Quark ausgetauscht. Also gerade nach Braxar führte das Schicksal sie – gerade dorthin, wo der wegen seiner Gewalttaten gegen Europäer mehr als verrufene Ras Bagror herrschte. – Mook hätte viel darum gegeben, wenn es nur irgendwie möglich gewesen wäre, dieser Begegnung mit dem grausamen und selbstbewußten Fürsten zu entgehen. Nach kurzem Nachsinnen nahm er den Offizier abseits und bot ihm zehn Mariatheresien-Taler, falls er ihn und Quark laufen ließe. (Abessinien hat zwar eigene Münzsorten, aber die alten österreichischen Mariatheresien-Taler werden noch immer wie überall im Orient bevorzugt.)

Der Offizier lehnte kurz ab, obwohl ihm die Habgier deutlich aus den Augen leuchtete. Er schien vor seinem Fürsten eine Heidenangst zu haben. Vielleicht fürchtete er auch, seine Leute könnten ihn verraten.

Helmut Mook hatte sich schon in Gedanken an den noch in Freiheit befindlichen August Rulicke, der zweifellos alles tun würde, die beiden Gefährten den Abessiniern zu entreißen, mit seiner Gefangennahme abgefunden und richtete nun seine Aufmerksamkeit auf den unweit am Boden liegenden, gefesselten älteren Mann, dessen langer, bereits mit Grau vermischter Bart im Verein mit dem ganzen, kühnen Gesichtsschnitt den Araber verriet.

Dem Offizier war es sichtlich unangenehm, daß Mook sich diesen recht sauber, ja beinahe reich gekleideten Menschen so genau anschaute und suchte den Deutschen dadurch schnell abzulenken, daß er ihm befehlenden Tones seine Waffen abforderte.

Mook sträubte sich nicht. Später würde er sie sich schon zurückverschaffen. Um aber dem Offizier zu zeigen, daß er sich durchaus nicht als Gefangener fühle, fragte er ihn geradezu, wer jener Mann dort sei.

„Ein Mörder ist’s, ein Ungläubiger,“ erwiderte der Abessinier zögernd. „Er saß bereits in Braxar im Gefängnis, entfloh dann aber und wird nun seine gerechte Strafe empfangen. Ich sollte ihn, falls ich ihn ergreife, aufhängen. So will es Ras Bagror.“

Dann ließ er die beiden Deutschen stehen und trat zu seinen Leuten, denen er in der Landessprache einige Anweisungen gab, wobei er auf einen gut zwei Meter hohen Termitenhügel deutete, der unter einem starken, tief herabgehenden Ast eines Brotfruchtbaumes sich erhob.

Termiten sind bekanntlich große Ameisen. Verschiedene Arten von ihnen bauen nun aus Tonerde und Holzstückchen bis zu sechs Meter hohe, sehr feste Hügel. Eine in Australien lebende Art ist deswegen besonders erwähnenswert, weil sie ihre mit zahlreichen, schmalen Zinnen versehenen Bauten, die stets langgestreckt sind, genau in der Richtung Nord-Süd errichten, wodurch die Tierchen erreichen, daß nur die Schmalseite ihrer Wohnungen von der Sonne beschienen wird und in diesen nicht zu starke Wärme herrscht.

Mook und Quark hatten sich im Schatten eines Baumes in das Gras gesetzt und warteten, was nun weiter geschehen würde. Als der lange Gottlob hörte, daß der Araber, der keineswegs nach einem Mörder aussah, wahrscheinlich sehr bald von den Abessiniern aufgehängt würde, schaute er Mook erst ungläubig an und platzte dann heraus:

„Das – das werden wir doch nicht zulassen, Herr Mook! Der Mann macht ja einen weit anständigeren Eindruck als diese sojenannten Soldaten! Nein – daraus wird nischt! Dafür sorge ich, und wenn’s mir dabei auch so etwas ans Leder jeht!“

Gottlob Quark war ein Unglückswurm, der in Unkenntnis der Verhältnisse unzivilisierter Länder hier in Afrika allerhand dumme Streiche und Fehler gemacht hatte, aber durchaus kein Feigling, wenn er auch seiner Bequemlichkeit wegen oft den Eindruck erweckte, als hielte er Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit. Sein jetziges Eintreten für den langbärtigen Fremden legte ein gutes Zeugnis für sein hilfsbereites Herz ab. Daher verzieh ihm Helmut Mook nun auch vollständig diese unüberlegte Jagd auf die durchgehenden Pferde, streckte ihm die Hand hin und sagte:

„Sie sind ein braver Kerl, Quärkchen! Sehen wir zu, was sich für den Araber tun läßt. – Ah – wirklich! – der Gefesselte winkte mir soeben verstohlen mit den Augen zu. Er scheint sich mit uns verständigen zu wollen. Ich werde mal hinter jenen Busch schlendern. Von dort aus kann ich vielleicht unbemerkt mit dem Manne reden. Die Abessinier sind ja jetzt alle beschäftigt. Ich glaube, sie richten schon für den Araber einen Galgen her –“

Er stand auf, schritt erst in der Lichtung gebückt auf und ab, als suche er nach Käfern oder seltenen Pflanzen, und näherte sich dann dem angeblichen Mörder.

Quark beobachtete heimlich das Tun seines Herrn, fand, daß dieser sich sehr schlau benahm und harrte voller Spannung darauf, was der Gefesselte wohl von Mook gewollt haben könnte. Er mußte sich aber gut fünf Minuten gedulden. Dann kam Mook, setzte sich wieder neben ihn und erzählte, offenbar selbst etwas erregt, daß der Araber ihm zugeflüstert habe, er möge ihn retten; er sein kein Mörder, sondern ein Diamantenhändler, den Ras Bagror ausgeplündert habe und den er nun beseitigen wolle.

Bevor Gottlob auf diesen hastigen Bericht seines Herrn noch irgend etwas erwidern konnte, näherten sich drei der Kavalleristen dem Gefangenen und schleppten ihn auf den Termitenhügel, wo sie ihn auf dessen höchster Zacke auf die Füße stellten während ihm der Offizier höchst eigenhändig die Schlinge eines langen Lederriemens um den Hals legte.

„Donnerwetter, Herr Mook, – es wird Ernst!“ meinte Quark und sprang auf. „Die Schufte wollen –“

„Kein vorschnelles Eingreifen, Gottlob,“ warnte Mook und hielt ihn fest. „Bleiben Sie hier. Ich werde mal mit dem Offizier reden.“

Doch Quark litt es nicht auf seinem Platz. Er folgte seinem jungen Herrn, der bereits den Abessinier angesprochen hatte.

„Sie haben es ja sehr eilig mit der Hinrichtung,“ hatte Mook zu jenem gesagt, der ihn wütend ansah und nun drohend rief:

„Bleiben Sie, wo Sie sind! – Was hier vorgeht, kümmert Sie nichts!“

„Vielleicht doch!“ entgegnete Mook sehr bestimmt. „Ist denn der Araber rechtskräftig verurteilt? – So weit mir bekannt, dürfen Todesstrafen hier in Abessinien nur von dem obersten Gerichtshof in der Hauptstadt Addis Abeba verhängt werden. Ich habe Empfehlungsschreiben an Kaiser Menelik und werde nicht verabsäumen, ihm von dieser Hinrichtung Mitteilung zu machen, die mir ihrer Rechtmäßigkeit nach sehr fragwürdig erscheint.“

Man merkte dem Offizier abermals deutlich an, daß die Gegenwart und die Einmischung der Deutschen ihm wohl lediglich aus dem Grunde lästig war, weil er selbst nur einem Zwange folgte, was diese schnelle Exekution anbetraf. Verlegen schaute er jetzt um sich, als ob er die Mienen seiner Untergebenen studieren wollte, bei denen er an Ansehen einzubüßen fürchtete, wenn er Mook gegenüber nicht energisch auftrat.

Unter den Kavalleristen befand sich ein Mann, der so etwas wie Unteroffizier zu sein schien, ein baumstarker Kerl von reinstem Negertyp, wie man dies unter dem Mischvolke Abessiniens häufig findet. Dieser Schwarze, der ein intelligentes, wenn auch rohes Gesicht hatte, rief seinem Vorgesetzten jetzt wie ungeduldig ein paar Worte zu, auf die hin dieser ärgerlichen Tones etwas erwiderte.

Gleich darauf fielen die Kavalleristen über die beiden Deutschen her, rissen sie zu Boden und banden ihnen Arme und Beine so fest, daß sie kein Glied mehr rühren konnten, stellten sie dann dicht vor den Termitenhaufen auf und traten wieder zurück.

 

3. Kapitel.

Glücklich entronnen.

Der Unteroffizier zog jetzt den Lederriemen, der über dem Ast hing, so weit an, daß die Schlinge den Hals des Arabers zwar ganz eng umspannte, ihn aber nicht erwürgen konnte, wenn er – auf Zehenspitzen stand und sich recht lang reckte.

Das braune Gesicht des Opfers der Willkür des berüchtigten Ras Bagror war aschgrau geworden. Dicke Schweißperlen standen dem Ärmsten auf der Stirn. Und seine Augen ruhten nun mit flehendem Ausdruck auf dem Offizier, der seitwärts sich aufgestellt hatte und starr zu Boden schaute.

Der schwarze Henker aber, der das freie Ende des Riemens in den Händen hielt, rief dem Todeskandidaten nun einige kurze Sätze zu, die Mook nicht verstand, die auf ihn aber den Eindruck machten, als ob der herkulische Unteroffizier den Araber irgend etwas gefragt hätte, was dieser bisher zu beantworten sich geweigert hatte.

Da – als Antwort erschien auf dem Gesicht des Langbärtigen nur ein verächtliches Lächeln. Wieder rief der Unteroffizier, recht eindringlichen Tones, jenen an. Die Erwiderung war nur ein abermaliges stolzes Lächeln. –

Der Aufbruch der Kamelreiter ging dann so schnell vor sich, daß Mook und Quark erst etwas zur Besinnung kamen, als der Reitertrupp den Hain längst hinter sich hatte.

Die Kavalleristen hatten mit ihren beiden auf den Pferden festgebundenen Gefangenen eine nordwestliche Richtung eingeschlagen und machten nicht früher halt, als gerade in einem weiten Talkessel ein tropisches Gewitter von furchtbarer Stärke losbrach. Unter einer überhängenden Felswand suchten sie Schutz vor den niederstürzenden Regenmassen und den gleich bündelweise aufzuckenden Blitzen, die über den jetzt nachtschwarzen Himmel hinliefen wie die Bahnen unzähliger, glühender Geschosse.

Mook und Quark standen nebeneinander an die Felswand gelehnt da und beobachteten das schaurigschöne Schauspiel dieser elektrischen Massenentladungen, während ihre Gedanken trotzdem immer wieder zurückeilten zu jenem Unglücklichen, den die entmenschten Abessinier, wahrscheinlich auf genauen Befehl ihres Fürsten hin, auf dem Termitenhaufen auf Zehenspitzen hochgereckt und mit straff gespannter Lederschlinge, zurückgelassen hatten und der, sobald seine Kräfte versagten und sobald er diese Stellung nicht mehr beibehalten konnte, sich selbst erdrosseln und dann von der schmalen Spitze des Termitenbaus herabgleiten und als Gehängter frei in der Luft taumeln würde.

Ja – beide dachten an den Araber, beide hofften aber auch dasselbe, nämlich daß August Rulicke den Diamantenhändler nach dem Abzuge der Abessinier in dem Hain gefunden und abgeschnitten haben würde.

Als das Unwetter nach zwei Stunden ausgetobt hatte, war inzwischen der Abend herangekommen. Da der ungeheure Regenfall die tieferen Pfadstellen in reißende Bäche verwandelt hatte, befahl der Offizier, den seine Leute stets mit Amsa (Führer von 50 Mann, Leutnant) Mangascha anredeten, es solle hier für die Nacht das Lager aufgeschlagen werden.

Die Reittiere, auch die Pferde der Gefangenen, koppelten die Abessinier auf einer grasreichen Stelle des Tales unweit der grottenartigen Vertiefung der Felswände an. Sie selbst, bis auf zwei Wächter für die Kamele, streckten sich um ein mächtiges Feuer auf den harten Boden hin, brieten an der Flamme lange Streifen gedörrtes Ochsenfleisch und tranken dazu den sog. Detsch, zum Gären gebrachtes Honigwasser, das Nationalgetränk Abessiniens.

Auch Mook und Quark erhielten Speise und Trank. Man nahm ihnen auch die Handfesseln ab, bewachte sie aber scharf. Amsa Mangascha hatte ihnen streng verboten, miteinander zu sprechen. So hockten sie denn stumm da und beobachteten das Tun und Treiben dieser Soldaten, die diese Bezeichnung kaum verdienten.

Mooks Nase, sehr empfindlich gegen üble Gerüche, hatte hier viel auszuhalten, denn infolge ihrer Unreinlichkeit und des Einfettens ihrer Haare und Körper verbreiten die meisten Abessinier einen ranzigen, äußerst widerwärtigen Geruch.

Nachdem die Wachen bei den Reittieren abgelöst waren und Amsa Mangascha noch einen Posten vor der Grotte aufgestellt hatte, legte alles sich zur Ruhe nieder.

Den beiden Gefangenen waren auch die Hände wieder gefesselt worden; man hatte sie auch getrennt, und jeder lag zwischen zwei Abessiniern, für Mook eine wahre Folter, da die Leute in solcher Nähe geradezu entsetzlich stanken.

Mook merkte bald, daß er in dieser Lage keinen Schlaf finden würde. Quark schnarchte schon – am lautesten von den neun Menschen, die hier Schutz vor der nächtlichen Kühle und den in diesem Lande so häufigen Leoparden gesucht hatten.

Der junge Deutsche richtete sich schließlich zu sitzender Stellung auf. So konnte er draußen im Tale den Posten sehen, der langsam auf und ab ging und häufig frisches Holz in das Feuer warf, um es nicht ausgehen zu lassen.

Der Posten hatte das Gewehr im Arm und rauchte eine der Zigarren, die sich als letzte seines Vorrats in Quarks Satteltasche befunden hatten.

Dann blieb der Mann ganz plötzlich stehen, starrte mißtrauisch in den dunklen Talkessel hinaus und packte sein Gewehr fester, entsicherte es auch. Irgend etwas mußte seinen Argwohn erregt haben.

Mook ließ jetzt kein Auge von dem Posten. Eine leise Hoffnung regte sich in ihm, es könnte vielleicht August Rulicke sein, der den Abessinier durch ein Geräusch beim Anschleichen an den Lagerplatz aufmerksam gemacht hätte. Daß der wackere Junge versuchen würde, die Gefährten zu befreien, war bei seinen Charaktereigenschaften und besonders bei seiner geradezu rührenden Anhänglichkeit an Helmut Mook selbstverständlich. Freilich, ob er bei allem guten Willen seine Absicht auch würde durchsetzen können, erschien gegenüber der Anzahl der Abessinier und seiner geringen Erfahrung in derartigen Unternehmungen doch recht zweifelhaft. Trotzdem war es für Mook ein beruhigendes Gefühl, einen ergebenen und mutigen, wenn auch noch recht jungen Freund in der Nähe zu wissen, der ihm zum mindesten bei der Ausführung eines von ihm selbst betriebenen Fluchtplanes helfen würde.

Während Helmut Mook sich dies noch überlegte und dabei unverwandt jede Bewegung des Postens genau verfolgte, war hinter diesem gerade dort, wo der Lichtschein des Feuers die nächtliche Dunkelheit nur noch ganz schwach verdrängte, etwas wie ein grauer, am Boden hingleitender Schatten aufgetaucht. Mook gewahrte ihn erst, als der graue, bewegliche Fleck urplötzlich nach oben zu sich verlängerte und nun mit dem Posten sozusagen in eins verschmolz. Ein dumpfes, gurgelndes Röcheln wurde vernehmbar, erstarb aber sofort wieder. Und dann – dann fragte sich der Deutsche, der diese Szene soeben beobachtet und diese unheimlichen Töne gehört hatte, allen Ernstes, ob er nicht das Opfer einer Sinnestäuschung geworden sei, da der Abessinier jetzt da draußen vor der Grotte wieder genau so auf und ab schritt wie vordem.

Genau so?! – Nein, doch nicht! – Mook hatte nicht nur gute Augen, sondern hatte auch hier in den Urwäldern und Steppen Afrikas und schon vorher als eifriger Jäger in der Heimat mit diesen Augen so sehen gelernt, wie jeder denkende Mensch es tun sollte, das heißt, Auge und Verstand arbeiteten gleichzeitig. Und deshalb fiel ihm jetzt sehr bald auf, daß der Abessinier merkwürdigerweise plötzlich um einen guten Kopf größer geworden war. – Sofort sagte er sich, die Wache von vorhin und dieser Mann dort könnte unmöglich ein und dieselbe Person sein. Hier hatte ohne Zweifel ein gewaltsamer Wechsel des Postens stattgefunden. Dies aber – und da erst dachte Mook an den Araber! – hätte August Rulicke niemals allein bewerkstelligen können. Jemand anders war hier tätig gewesen, und das konnte ja nur der Mann sein, den der Ras Bagror auf so unmenschliche Weise hatte umbringen lassen wollen.

Mook brauchte sich nicht noch weiter mit solchen Überlegungen abzugeben. Ein neues Ereignis trat ein. Von der linken Seite her, wo ein Streifen Gestrüpp den breiten Eingang zu der Felsausbuchtung einsäumte, schob sich lautlos auf allen Vieren ein Mensch auf den Lagerplatz zu, ein erst halb erwachsener Mensch: der einstige Friseurlehrling und jetzige Begleiter des jungen Millionärs auf dieser abenteuerlichen Expedition.

Helmut Mook stockte der Atem. Wenn jetzt einer der Abessinier erwachte, war alles verloren! Kein Wunder, daß Mook mit fieberhafter Spannung den Augenblick herbeisehnte, wo des Knaben Messer seine Fesseln durchschneiden würde! Jetzt kroch dieser wie eine Schlange zwischen den Schlafenden hindurch, jetzt richtete er sich etwas auf, flüsterte seinem Gönner zu: „Strecken Sie die Beine mehr aus. – So. – Diese Stricke sind erledigt. Nun die anderen an den Händen –“

Mook fühlte die kalte Klinge an seiner Haut entlangfahren. Dann hörte der schmerzhafte Druck an den Handgelenken auf. Er war frei, konnte sich wieder frei bewegen.

Nun handelte er selbständig. Ohne Waffen durfte er nicht von hier fort! Sein und Quarks Gewehre, Pistolen und sonstige Habe lagen dort neben dem Offizier, eingewickelt in eine Decke. Behutsam schob er sich vorwärts. Dann ein Blick nach rechts. Er sah, daß Pipin der Große soeben Quark auf die Beine half, dem bei seinem Alter infolge der engen Fesselung die Füße den Dienst versagten. Da packte er zu, nahm das Bündel hoch, sprang über den fest schlummernden Offizier hinweg und verschwand in dem dunklen Tale. Hier wurde er dann halblaut in englischer Sprache angerufen:

„Sidi (Herr), bleibt stehen. Ich bin Mehemed ben Ursa, den Euer kleiner Diener gerade noch zur rechten Zeit von dem Aste des Tabaldie (Affenbrotbaum) abgeschnitten hat.“

Mook sah sich dem Araber gegenüber, der noch den Umhang des abessinischen Postens trug, den er vorhin so geräuschlos überwältigt hatte, um dem Knaben den Weg zu seinem Herrn hin frei zu machen.

Zu einem längeren Gespräch war jetzt keine Zeit. Der Araber, mit europäischen Gebräuchen vertraut, drückte jetzt kräftig die ihm hingestreckte Hand des Deutschen, murmelte ein paar Worte in seiner Sprache, die wohl ein Segenswunsch für den Deutschen sein sollten, wandte seine Aufmerksamkeit dann aber sofort wieder dem nahen, mäßig erleuchteten Lagerplatz der Abessinier zu und schnellte sich plötzlich mit ein paar langen Sätzen bis zu dem Feuer hin, dessen Brände er mit den Füßen auseinander warf.

Er tat’s wohlüberlegt, da Quark bei dem Versuche, sich durch die Schläfer hindurchzuschleichen, einem der Kavalleristen auf die Hand getreten hatte, so daß dieser wild emporgefahren war, ohne sofort in seiner ersten Schlaftrunkenheit Lärm zu schlagen.

Die Brände des Lagerfeuers knisterten einzeln in weitem Umkreis auf dem Boden. Und als Quark und Pipin der Große nun zu Mook stießen, erscholl auch schon der Alarmruf des so schmerzhaft geweckten Abessiniers.

Zehn Minuten später finden wir unsere drei Gefährten und Mehemed ben Ursa in einem dichten Gebüsch der nahen Hochebene wieder, wohin der Araber und der Knabe vor der Befreiung der Gefangenen nicht nur deren Pferde, sondern auch die zehn Reitkamele der Kavalleristen geschafft hatten, nachdem der Araber die bei diesen aufgestellten zwei Wachen genau so geschickt wie den Posten vor dem Lager beseitigt hatte.

Die Finsternis in dieser Nacht war so groß, daß es schwer war, sich auch nur einigermaßen zurecht zu finden. So dauerte es denn auch eine geraume Zeit, bis der kleine Trupp zum Weitermarsch fertig war. Mehemed machte den Führer. Daß er nicht lediglich vom Diamantenhandel etwas verstand, hatte er ja bereits recht eindringlich bewiesen. Jetzt legte er ein noch deutlicher für seine Vielseitigkeit sprechendes Zeugnis durch die ganze Art und Weise ab, wie er trotz der Dunkelheit die drei Deutschen und die lange Kette der aneinander gebundenen Kamele vor jedem Unfall zu bewahren und gleichzeitig ein Tempo anzuschlagen wußte, das die Flüchtlinge schnell aus der Nähe ihrer glücklich überlisteten Feinde fortbrachte.

Mehemed hatte sich unter den Reitkamelen das beste für sich ausgesucht, trug jetzt die Waffen einer der drei überrumpelten und gefesselt und geknebelt an Ort und Stelle zurückgelassenen Wachen und benahm sich ganz so, als habe er sein Leben in der freien, weiten Wüste oder sonstwo fern von allen Stätten der Kultur in Gemeinschaft mit Männern zugebracht, die mit allen Schlichen und Künsten wilder Völkerschaften wohlvertraut waren.

Der Ritt ging zunächst über eine jener Hochebenen hinweg, die für die Bodengestaltung Abessiniens so kennzeichnend sind. Es handelt sich um sogenannte Tafelplateaus, das sind weite Bodenerhebungen mit steil abfallenden Wänden, aus deren gras- und buschreicher Erde hier und da kleinere Tafelberge herauswachsen, die teilweise überhaupt nicht zugänglich sind und mit ihren malerischen Formen bald riesigen Burgen, bald wieder natürlichen Festungen gleichen. Diese Tafelplateaus sind oft von solcher Ausdehnung, daß sie ganze Landschaften bilden, weite Steppen, Seen und Flüsse beherbergen, während man von ferne den eigentlichen Charakter eines solchen Gebietes als Tafelland stets sofort zu erkennen vermag.

Dann lenkte Mehemed nach gut zwei Stunden in ein flach abwärts geneigtes Tal ein, das die Verbindung mit einer anderen, tiefer gelegenen Tafellandschaft herstellte. Helmut Mook gewann jetzt immer mehr den Eindruck, daß der Araber die Gegend hier recht gut kannte. Dies wurde dann auch ganz offensichtlich, als der Araber aus der neuen, waldreichen Hochebene sehr bald vor einer senkrecht hochsteigenden Felswand halt machte, sein Reittier niederknien ließ, abstieg und den Deutschen bedeutete, sie möchten dasselbe tun.

 

4. Kapitel.

Die Botschaft Meister Langbeins.

Mittlerweile hatte sich das Gewölk mehr in einzelne, langsam ziehende Wolkenfetzen aufgelöst und gab des öfteren den Mond frei, dem nur wenig an seiner vollen Rundung fehlte.

Mook war überrascht, daß der Araber gerade an dieser kahlen, felsigen Stelle so dicht vor der gut achtzig Meter hohen Wand einer der merkwürdigen natürlichen Burgen den Ritt unterbrach. Dieser Platz eignete sich mit seinem steinigen Boden und dem mangelnden Schutz von Bäumen und Büschen in keiner Weise zum Lagern.

Nun – der junge Millionär sollte bald noch mehr staunen! Mehemed wandte sich jetzt nämlich an die drei Deutschen mit der Bitte, sich von ihm die Augen verbinden zu lassen. Er begründete dies folgendermaßen:

„Ich bin in der Lage, Euch an einen sicheren Zufluchtsort zu führen, wo wir alle vor den Nachstellungen des Ras Bagror, mit denen wir bestimmt rechnen müssen und die dieser in seinem eigensten Interesse mit größtem Eifer betreiben wird, geborgen sind. Mit diesem Orte ist jedoch ein Geheimnis verknüpft, das mich zwingt, Euch den Zugang zu verbergen und auch das Versprechen abzunehmen, sowohl diesen Zugang später nicht zu suchen als auch über all das, was Ihr in diesem Versteck sehen solltet, Stillschweigen zu bewahren.“

Helmut Mook gab ohne Zögern als erster und gleichzeitig für seine beiden Begleiter das verlangte Versprechen ab. Dann wurde eine Decke in breite Streifen zertrennt, mit denen sich die Deutschen die Augen verbinden ließen.

Nun hieß Mehemed die drei einander bei den Händen fassen und führte sie sehr langsam wohl eine halbe Stunde lang über bald kahlen, steinigen Boden, dann wieder über Grassteppen und durch im Nachtwinde rauschende Gebüsche und Gehölze, bis er nach diesem stillen, sonderbaren Marsch abermals den Mund auftat und erklärte, man würde jetzt eine steile Schlucht hinansteigen, in der stellenweise Stufen in den Boden gehauen seien.

Dieser Aufstieg dauerte gut zehn Minuten und war recht anstrengend. Dann erst bat der Araber die Deutschen, die Binden von ihren Augen zu entfernen.

Mook und die Seinen taten’s, schauten sich dann neugierig um. Sie befanden sich jetzt auf einer kleinen, fast kreisrunden Lichtung eines Waldes, der zumeist aus Tabaldien, Ölbäumen und Palmen zu bestehen schien. Über dieser kaum fünfzehn Meter im Durchmesser weiten Blöße leuchtete der Mond am jetzt klaren Nachthimmel und spiegelte sich wider in der glatten Oberfläche eines winzigen Weihers in der Mitte der Lichtung.

Mehemed erklärte nun mit der ihm eigenen Ruhe und würdevollen Freundlichkeit, die Deutschen möchten es sich hier bequem machen und den versäumten Nachtschlaf nachholen. Er selbst wolle noch die drei Pferde und sein Reitkamel heraufschaffen; die anderen neun Tiere der Abessinier werde er laufen lassen. „Ich habe sie bis hierher nur mitgenommen, um eine Verfolgung unmöglich zu machen,“ fügte er hinzu. Dann ging er davon und tauchte im Dunkel der Baumschatten unter.

An Schlaf dachten die Gefährten jedoch vorerst noch nicht. Dazu gab es viel zu viel zu fragen und zu erörtern. Besonders Pipin der Große mußte genau erzählen, wie er Mehemed befreit und was sie beide dann weiter getan hatten.

August Rulicke schilderte alles in seiner bescheidenen Art, ohne sich irgendwie herausstreichen zu wollen. Er hatte nach dem Abzuge der Abessinier und ihrer beiden Gefangenen sofort jenes Gehölz betreten, hatte so den Araber in seiner verzweifelten Lage vorgefunden, ihn befreit und sich dann ganz der Führung dieses Mannes anvertraut, mit dem er sich nur durch Zeichen hatte verständigen können, da er des Englischen nicht mächtig war, das Mehemed als einzige europäische Sprache leidlich beherrschte. Sie waren den Spuren des Trupps gefolgt, in den Talkessel gelangt, hatten das Lager bemerkt und dann nach dem Gewitter zuerst die Wachen der weidenden Reittiere unschädlich gemacht, wobei der Junge die Aufmerksamkeit der Posten von dem sie beschleichenden Araber durch kleine Geräusche in den Büschen ablenken mußte.

Nachdem dieser Gegenstand erledigt war, meinte Gottlob Quark, der sich in sehr schlechter Laune befand, da er infolge der Fesselung starke Schmerzen an Hand- und Fußgelenken hatte:

„Ich habe wahrhaftig noch nie so ’n großen Haufen Pech beisammen jesehn wie den, den wir in letzter Zeit entwickelt haben. Erst reißen uns so langsam alle Träger aus, und die Karawane löst sich in Wohljefallen bis auf unser Dreikleeblatt auf, dann fallen wir ausjerechnet sojenannten Soldaten jerade des schuftigen Kerls in die Finger, dem wir in aller Heimlichkeit eins haben auswischen wollen, und nun – nun, sitzen wir hier, Gott weiß wo, im Mondschein und können uns vielleicht auf eine längere Luftkur jefaßt machen, bis der Herr Ras Bagror eingesehen hat, daß er uns doch nicht mehr am Wickel kriejen kann. Na – und was dann, wenn wir wieder an unser schönes Ziel denken können?! Werden wir je das Gefängnis Doktor Merwarts finden?! – Ich glaube nein!“

Mehemed hatte sich den drei im Grase Sitzenden genähert und den Namen Merwart als einziges von den deutschen Worten verstanden. Er wandte sich nun, sich gleichfalls niedersetzend, an Mook, indem er auf Englisch fragte, ob er soeben richtig gehört habe und ein Doktor Merwart erwähnt worden sei.

„Gewiß, – so ist’s“ entgegnete Mook bereitwilligst. „Dieser Doktor Merwart hat ja auch meine Expedition hier nach Abessinien insofern veranlaßt, als ich mit der Absicht hergekommen bin, ihn zu befreien.“

Mehemed horchte auf, strich sich dann nachdenklich seinen langen Bart und meinte: „Sidi, würdet Ihr mir Näheres über Merwart berichten wollen. Vielleicht stellt sich heraus, daß gerade uns das Fatum (Schicksal) zur rechten Zeit zusammengeführt hat.“

Mook nickte und begann: „Dieser mein junger Schützling dort, August Rulicke, war in Berlin Lehrling in einem meiner Wohnung nahen Geschäft eines Barbiers und rasierte mich zuweilen daheim. Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, ihn kennen zu lernen. Ich fand bald Gefallen an dem aufgeweckten Knaben, der mir dann eines Tages eine illustrierte Zeitschrift mitbrachte, in der ein Storch nach einer photographischen Aufnahme abgebildet war, der, wie ein nebenstehender kurzer Aufsatz besagte, als flügellahm in der Nähe Wiens aufgegriffen war und am linken Fuße ein dünnes Holzröhrchen, mit geharztem Bindfaden befestigt, bei sich getragen hatte, in dem auf einem besonders präparierten Stück eines Pflanzenblattes in rotbrauner Schritt zu lesen gewesen war: „Werde von Ras Bagror gefangen gehalten in Schlangenhöhle nordwestlich von Braxar gegenüber Sripada. – Doktor Karl Merwart aus Riga, Jötenring l6.“ – August Rulicke hatte mir diesen illustrierten Artikel, in dem noch ausgeführt war, daß ein Doktor Karl Merwart tatsächlich vor längerer Zeit zu Studienzwecken nach Abessinien gegangen und dort verschollen sei, nur aus dem Grunde gezeigt, weil ich einmal halb scherzend zu ihm gesagt hatte, wenn sich eine Gelegenheit zu einem recht abenteuerlichen Unternehmen bieten würde, so würde ich mich sehr gern daran beteiligen. Er meinte nun, ob ich nicht versuchen wolle, den Doktor den Händen des Ras Bagror zu entreißen. Das sei doch abenteuerlich genug, außerdem aber auch ein gutes Werk. – Ich lachte dazu und hätte die Sache sicherlich bald vergessen, wenn Pipin der Große – so nennen wir unseren Jüngsten! – nicht jedes Mal, wenn er mich sah, wieder davon angefangen haben würde, bis ich schließlich wirklich Interesse für diese ein wenig geheimnisvolle Geschichte gewann und Erkundigungen über den Storch, die an dessen Fuß befestigte Botschaft und über den Doktor einziehen ließ. So erfuhr ich denn, daß Ras Bagror, der auf die Storchenbotschaft hin von Kaiser Menelik auf Veranlassung des englischen Gesandten in Addis Abeba angefragt worden war, ob er wirklich einen Europäer irgendwo gefangen halte, erwidert habe, all das sei erlogen und wohl nur von seinen Feinden erfunden, um ihm zu schaden; er kenne keinen Mann dieses Namens. – Kaiser Menelik gab sich jedoch mit dieser Antwort seines als gewalttätig bekannten Vasallenfürsten nicht zufrieden, sondern schickte einen Beamten nach Braxar, der Residenz Ras Bagrors, und befahl, die Angelegenheit ganz genau zu untersuchen, da Doktor Merwart zuletzt mit seinen Begleitern in einem Dorfe dicht an der Grenze des Gebietes des selbstbewußten und europäerfeindlichen Fürsten gesehen worden war. Aber auch der Beauftragte des Kaisers richtete nichts aus. Der Fürst blieb bei der Behauptung wie anfangs: Er habe Feinde, und ein paar von diesen dürften sich zusammengetan und europäische Störche in großer Zahl eingefangen haben, denen sie dann diesen gefälschten Hilferuf des vielleicht irgendwo umgekommenen Forschers mitgegeben hätten, damit die scheinbar echte Botschaft beim Wanderfluge der Störche nach Norden gefunden und ihm dadurch die jetzt auch wirklich eingetretene Unannehmlichkeit bereitet würde. – Obwohl diese geschickt ersonnene Ausrede den Stempel kecker Lüge nur zu deutlich trug, gab sich Kaiser Menelik doch damit zufrieden. Vielleicht deswegen, weil er sich nicht die Blöße geben wollte, eingestehen zu müssen, daß er mit Gewalt gegen den Ras Bagror nichts ausrichten könne, der in seiner uneinnehmbaren Felsenfeste Braxar von jeher allen Drohungen Meneliks getrotzt und nur aus gutem Willen zuweilen dessen Anordnungen befolgt hatte. – Die Angelegenheit Merwart war also hiermit – vorläufig – erledigt. Vorläufig! Denn kaum hatte ich die Überzeugung gewonnen, daß Ras Bagror den Forscher ohne Zweifel aus irgend welchen Gründen als Gefangenen heimlich festhalte, als ich auch schon den Entschluß faßte, auf eigene Faust der Sache weiter nachzugehen.“

Mook machte eine kurze Pause. Mehemed aber streichelte mit einem rätselhaften Lächeln seinen Bart und sagte nur: „In der 22. Sure des Korans (die Bibel der Mohammedaner) steht: Allah lenkt Deinen Schritt vom Tage der Geburt bis zum Tode, zeichnet Deine Pfade auf im Buche des Schicksals. So ist Dir bestimmt, was Dir begegnet, wie der Pfeil die Gräser und Blätter durchschneiden muß, die auf seiner Bahn wachsen.“ Die Lehre Mohammeds gipfelt bekanntlich in dem sogenannten Fatalismus, der Vorherbestimmung der Schicksale eines jeden Menschen, so daß die Anhänger des Propheten des Glaubens sind, ihren Lebensweg von sich aus in keiner Weise beeinflussen zu können.

Mook verstand, was diese Bemerkung des Arabers andeuten sollte, eben daß es schon im Buche des Schicksals vorgezeichnet wäre, wer als Befreier Merwarts hier in Abessinien erscheinen würde. Er nickte Mehemed ernst zu und fuhr fort:

„Ich bin reich, sogar sehr reich. Vielleicht zu reich. Nicht immer bringt Reichtum Segen. Aus mir wäre wohl ein tüchtiger Mensch geworden, wenn meine Eltern nicht so früh gestorben wären und mich als einzigen Erben ihrer Reichtümer zurückgelassen hätten. Ich wurde einer jener begüterten Nichtstuer, die alles und nichts treiben, die oft aus Langeweile auf die unmöglichsten Einfälle kommen. Nun – als ich mich dazu entschloß, Merwart zu suchen, sprach dabei sowohl eine gewisse Abenteuerlust als auch Mitleid mit dem Schicksal dieses Forschers und schließlich noch ein plötzlich in mir erwachter Ehrgeiz mit, meinen Namen durch eine Aufsehen erregende Tat bekannt werden zu lassen. Die Vorbereitungen waren bald getroffen. Wer über Millionen verfügt, findet überall, was er braucht. Absichtlich wollte ich dann nicht auf dem kürzesten Wege, das heißt von der Küste des Roten Meeres aus, nach Westen vordringen, sondern wählte den Weg durch Deutsch-Ostafrika, damit Ras Bagror ja nicht auf die Vermutung käme, meine Expedition habe sein Land zum eigentlichen Ziel. Unterwegs haben mich dann meine Karawanenträger einer nach dem andern im Stiche gelassen, so daß schließlich nur wir drei Weißen übrig blieben: mein alter Diener Gottlob Quark, mein kleiner Freund August Rulicke und ich. – So, das ist alles, was ich zu berichten hätte.“

Mehemed hatte schon vorhin einmal lauschend den Kopf gehoben. Jetzt stand er schnell auf, deutete den drei Gefährten durch eine Handbewegung an, ruhig sitzen zu bleiben, und verschwand unter den Bäumen.

Kaum war er gegangen, als Quark eifrig sagte:

„Herr Mook, haben Sie die beiden Schüsse gehört? Unser brauner Freund ist sicherlich deswegen fortgeeilt.“

„Schüsse?! – Nein! – Sollten Sie sich nicht verhört statt etwas gehört haben, Quärkchen! Zuweilen spielen Ihre Ohren Ihnen ja einen Streich! Besinnen Sie sich nur auf jenes Lager am Ufer des langgestreckten Sees, als Sie Löwengebrüll vernahmen und – der Löwe nachher ein verirrter Maulesel war!“

Gottlob Quark zuckte die Achseln. „Diesen Maulesel krieje ich heute zum elften Mal aufs Butterbrot jeschmiert. – Hör’ mal, Pipin, hast Du nicht auch so was wie Schüsse mit Deinen großen Ohrmuscheln aufgefangen?“

Der Junge erwiderte, er habe allerdings gleichfalls zwei ferne dumpfe Knalle vernommen. Ob es gerade Schüsse gewesen seien, wolle er nicht beschwören.

„Hm – diese Geräusche sind mir wohl dann im Eifer meiner Schilderung entgangen,“ meinte Mook. „Na – Mehemed wird uns ja darüber aufklären, weshalb er so hastig davongeeilt ist. Wenn er wieder zurückgekehrt ist, werde ich ihn auch fragen, ob meine Vermutung zutrifft, daß auch er so einiges über Doktor Merwart weiß. Jedenfalls kann ich seine Worte vorhin „– daß gerade uns das Schicksal zur rechten Zeit zusammengeführt hat –“ nicht gut anders deuten. Auch die Koransure erwähnte er wohl lediglich deshalb, um anzudeuten, er sei –“

Er brach plötzlich ab, rief: „Da – wahrhaftig! – das war ein Schuß! – Wo nur der Araber bleibt? Ich beginne seinetwegen besorgt zu werden. Vielleicht hat er die Absicht gehabt, jenen beiden ersten Schüssen –“

Abermals schwieg er. Ganz deutlich war jetzt der harte, kurze Knall eines Gewehrs an sein Ohr gedrungen. Da erhob er sich, winkte dem Jungen, ihm zu folgen, raunte Gottlob Quark zu. „Rühren Sie sich hier nicht vom Fleck!“ und eilte davon, indem er dieselbe Richtung einschlug, die Mehemed genommen hatte.

 

5. Kapitel.

Neues Pech.

Inzwischen war auch die Morgendämmerung angebrochen. Jenes fahle, kalte Licht, das den Übergang der Dunkelheit in die Tageshelle bildet, lagerte über dem Haine der tropischen Pflanzen und Bäume und der ganzen Umgebung, von der Mook nichts anderes wußte, als daß dieser Ort hier wahrscheinlich einer jener merkwürdigen Tafelberge sei, die mit ihren steilen Wänden oft wie von Menschenhand errichtete Felsenwälle aussehen.

Mehemeds Fährte war in dem vom Tau feuchten Grase deutlich zu erkennen. Sie führte sehr bald aus dem kleinen Gehölz heraus auf eine steinige, kahle Fläche, wo sie sich auf diesem harten Boden sofort verlor. Immerhin konnte man aber wohl annehmen, daß der Araber dieselbe Richtung beibehalten habe. Dies taten daher auch Mook und der Junge, kamen dann nach etwa hundert Meter an eine Reihe merkwürdig geformter, alleinstehender Felsen, die teils wie Säulen, teils wie Mauerreste oder versteinerte Baumstümpfe aussahen und unten nur hier und da genug Zwischenraum hatten, um einen Mann durchzulassen.

Mook drängte sich zwischen zwei Steinsäulen hindurch, blieb dann aber wie angewurzelt stehen, denn unter ihm gähnte eine schwindelerregende Tiefe. Er stand am Rande des Tafelberges, der hier glatt und steil wie eine ungeheure Mauer abfiel.

Er starrte hinab, sah unten das verschiedenartige Grün des Blätterdaches der Bäume und Sträucher, sah, wenn er den Blick etwas hob, das blinkende Band eines Flusses und weiterhin eine baumlose Steppe, auf der große Herden weideten, wollte gerade sein Fernglas zur Hand nehmen, als eine kräftige Faust ihn zurückriß. Gleichzeitig hörte er eine Stimme, die August Rulickes:

„Herr Mook – Vorsicht! Dort unten tummeln sich einige dreißig Kamelreiter, wahrscheinlich Kavalleristen Ras Bagrors!“

Mook war daher Pipin dem Großen sehr dankbar, daß dieser ihn gerade noch rechtzeitig gewarnt hatte. Jedenfalls hatten die Reiter, die dort in der Tiefe eilfertig hin und her jagten und recht aufgeregt schienen, ihn nicht bemerkt. Gut gedeckt gegen Sicht äugte er nun mit Hilfe seines Fernglases hinunter.

Es waren tatsächlich Kamelreiter, und Mook glaubte unter ihnen auch den Amsa Mangascha zu erkennen.

Es machte ganz den Eindruck, als ob die Abessinier die Gehölze und Büsche nach irgend etwas absuchten. Dann gewahrte Mook zu seinem Schreck eine Gruppe von Menschen, die unter einem geradezu kolossalen Affenbrotbaum stand. In deren Mitte aber war der hellbraune Burnus Mehemeds zu bemerken. Kein Zweifel! Es war der Araber!

Sehr bald darauf verschwanden die Reiter nach Westen zu und führten Mehemed als Gefangenen mit sich. Recht niedergeschlagen kehrten Mook und der Junge nach der kleinen Lichtung zu Gottlob Quark zurück, der bei der Nachricht von der Festnahme Mehemeds durch Ras Bagrors Reiter bedauernd ausrief: „Armer brauner Gefährte! Jetzt dürftest Du der Schlinge nicht entjehen, die schon einmal um Deinen Hals gelegen hat.“

Mook hatte bereits einen Entschluß gefaßt. Er wollte Mehemed um jeden Preis zu befreien versuchen. Hoffte er doch, daß der Araber ihm dann behilflich sein würde, auch Doktor Merwart den Händen des übelberüchtigten Fürsten zu entreißen. Ganz besonders aber hoffte er von dem doch offenbar in Abessinien sehr gut bekannten Mehemed näheres über die von Merwart in jenem Storchen-Zettel erwähnte Sripada zu erfahren, ein Wort, das eigentlich „Fußstapfe des Glückes“ bedeutet und das von den Buddhisten in Indien für jene angeblich menschliche Riesenfußspur in dem abgeplatteten Gipfel des Adamspiks auf Ceylon gebraucht wird.

Was jedoch Sripada hier in dem christlichen Abessinien bedeutete, hatte Mook vergeblich sowohl schon daheim in Europa als auch in afrikanischen Häfen herausbringen wollen. Niemand konnte hierüber Aufschluß geben. Und solange er dieses „Sripada“ nicht klar gedeutet hatte, war gar nicht daran zu denken, den Ort auszukundschaften, wo Merwart festgehalten wurde.

Mook befahl daher jetzt seinen Begleitern, sofort der eine nach Süden, der andere nach Norden zu den flachen Berggipfel genau nach jenem Wege zu durchforschen, auf dem man unter Führung Mehemeds mit verbundenen Augen hier herauf gelangt war. Er selbst wollte im Osten und Westen den Tafelberg untersuchen.

Doch Helmut Mook hatte sich das Auffinden dieses Weges einfacher vorgestellt, als es war. Der Tafelberg hatte bei etwa eiförmiger Oberfläche einen größten Durchmesser von etwa 300 Meter. Die Gefährten brauchten also keine allzu großen Strecken zu durchstöbern, entdeckten jedoch nichts, das auf einen Pfad abwärts hingedeutet hätte. Erst am folgenden Tage abends hatte August Rulicke das Glück, den Zugang zu dieser natürlichen Felsenburg zu finden, während Quark die Pferde und auch Mehemeds Reitkamel schon tags zuvor in einer Felsenhöhle unweit des Randes des Tafelberges entdeckt hatte.

Mook erklärte, nachdem Pipin der Große ihm den seltsamen Treppenpfad gezeigt hatte, daß sie nun sofort am nächsten Morgen aufbrechen und den Abessiniern folgen würden, obwohl wenig Hoffnung vorhanden sei, jene noch einzuholen.

Der Junge schwieg dazu. Daß er aber sich dabei sein Teil gedacht und sogleich etwas Besonderes geplant hatte, zeigte der nächste Morgen: August Rulicke hatte sich heimlich allein auf und davon gemacht, um Mehemed Rettung zu bringen, den er jetzt beinahe ebenso sehr liebte wie seinen Gönner Helmut Mook.

Dieser war erst ganz entsetzt über diese Eigenmächtigkeit des Knaben, beruhigte sich aber bald in dem Gedanken, daß Pipin der Große schon dafür sorgen würde, den Feinden nicht in die Hände zu fallen.

Und – dieses Vertrauen in die Tüchtigkeit des einstigen Seifschaumbecken-Jüngers war nicht unberechtigt gewesen. Jedenfalls mußte man es August Rulicke als ureigenstes Verdienst anrechnen, daß Helmut Mook den Doktor Merwart befreien konnte und daß Ras Bagror endlich für all seine Verfehlungen bestraft wurde.

 

Der nächste Band enthält:

Die Schlangenhöhle von Akkassar.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Tauentzinstraße“.
  2. In der Vorlage steht: „ihrem“.
  3. In der Vorlage steht: „balde“.