Erlebnisse einsamer Menschen
Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)
W. Belka.[1]
Der Zug der Jagdteilnehmer, einschließlich der Treiber, Diener und der Wärter der in plumpen Käfigwagen mitgeführten Jagdleoparden weit über zweihundert Personen, bewegte sich langsam zum Haupttore des festungsähnlichen Schlosses des Ras Bagror hinaus und die breiteste Straße der Residenzstadt Braxar entlang bis an die mächtige, hölzerne Zugbrücke, die, Tag und Nacht von der Leibwache des Ras (Fürst eines abessinischen Vasallenstaates) beaufsichtigt, den einzigen Zugang zu der auf einem riesigen steilen Tafelberge gelegenen Stadt bildete.
Der mittelste, bewegliche Teil der Brücke wurde niedergelassen, und der Hufschlag der vielen Pferde und die schweren Räder der Leopardenwagen donnerten über die dicken Balken hin, daß es klang wie das Grollen eines nahen Gewitters.
Voran ritt der Fürst neben seinem Gaste, dem zu Ehren die heutige Jagd veranstaltet wurde.
Der Ras Bagror von Braxar war ein Mann in den besten Jahren von hellbrauner Hautfarbe und schlanker, kräftiger Gestalt. Das Gesicht zeigte einen edlen Schnitt, verriet Energie und Klugheit. Die Augen waren lebhaft, zumeist jedoch wie die aller Abessinier halb von den Lidern bedeckt, was ihnen einen lauernden Ausdruck gibt. Das bartlose Kinn, breit und stark vorgebaut, schwächte das Angenehme dieses Gesichts nur zu sehr ab, da es von unbeugsamer Härte und versteckter Grausamkeit nur zu deutlich redete. – Der Ras trug die Nationaltracht, jedoch alles aus seidenen, reich gestickten Stoffen gefertigt, – halb lange Beinkleider, zierliche Sandalen, über die europäische Sporen geschnallt waren, den weißen, togaähnlichen Umhang und darunter eine breite, hellgrüne Schärpe. Der Kopf war unbedeckt. Dafür zierte die Stirn eine kostbare, edelsteinbesetzte Spange, Akodama genannt, die gewöhnlich aus Silber hergestellt ist. Ras Bagror durfte sich mit einer goldenen schmücken, denn er war wohl der reichste der Vasallenfürsten des Kaisers Menelik von Abessinien. – Die Waffen des Beherrschers des Berglandes Braxar bestanden in einer modernen Doppelbüchse, einem Revolver und einem sehr langen, in goldener Scheide steckenden Dolch. Das Reitpferd des Ras stammte aus Arabien, war eine hellbraune Stute edelster Abkunft und stach von den kleinen, abessinischen Pferden ebenso ab wie das Gesicht ihres Reiters von dem seiner Untertanen.
Der Gast des Fürsten, ein Vertreter der englischen Regierung, war ein hagerer, bartloser Mann in gelbem Leinenanzug. Er benutzte auch den heutigen Tag dazu, dem Ras abermals durch kluge Bemerkungen den Vorteil so recht vor Augen zu führen, der für das Land durch Anlage einer elektrischen Kraftstation an den starken Wasserfällen des Topalka-Flusses sich ergeben würde.
Ras Bagror, von den Vasallenfürsten Meneliks ohne Zweifel der gebildetste und weitsichtigste, hielt mit seiner Erlaubnis für die Kraftanlage absichtlich vorläufig noch zurück. Er wollte bei dem Geschäft möglichst viel für seine Person herausschlagen. Der Engländer Wilkins hatte bereits dreiviertel Million geboten. Ras Bagror verlangte eine volle Million. Er wußte, daß er sie erhalten würde. Er konnte warten.
Der Engländer, der gleichzeitig Hauptmann im Pionierkorps in Kairo war, zeigte erst regere Teilnahme für den Zweck dieses Ausfluges, als der Zug auf eine der weiten Hochebenen mit Steppencharakter gelangt war und die Treiber durch Schüsse und Töne ihrer Signalhörner das Einkreisen einer Herde von Säbelantilopen ankündigten.
Die schwerfälligen Käfigwagen wurden jetzt auf eine Anhöhe gefahren, die Türen geöffnet und die gezähmten, angeketteten Leoparden von ihren Wärtern hinausgebracht und in Abständen von fünfzig Meter so aufgestellt, daß sie die von den Treibern auf den Hügel zugejagten Antilopen bequem bemerken konnten.
Aus einem Gehölz zur Rechten der Anhöhe brach jetzt das Rudel der leichtfüßigen, in wilder Hast dahinstürmenden Tiere hervor und raste, der Leitbock voraus, auf den Standort der Jagdgesellschaft zu, die in dem hier besonders hohen Steppengrase von den Antilopen erst im letzten Augenblick wahrgenommen werden konnte.
Jetzt ein gellender Pfiff. Die Leoparden, sechs an der Zahl, wurden losgekettet. Da sie für diese Art von Jagd von Jugend an dressiert waren, schossen sie auch sofort in langen Sätzen auf die Herde der Beisas los (Beisa, die in Abessinien heimische Abart der Säbelantilopen, die ihren Namen ihren langen Hörnern verdanken). Der Leitbock stutzte, schwenkte rechts ab. Das Rudel folgte ihm, geriet aber bald auf die Linie der Treiber, die es zu einer neuen Schwenkung nach links zwang. So kam es, daß die Leoparden die flüchtigen Tiere bereits nach einigen zehn Minuten eingeholt hatten, ihren Opfern auf den Rücken sprangen und die Halswirbel zu zerbeißen suchten.
Ras Bagror, der Engländer und einige ebenso gut berittene Abessinier des Gefolges des Fürsten waren stets hinter den Leoparden geblieben, deren stärkster sich an den Leitbock herangemacht hatte, ohne diesen jedoch sofort abtun zu können. Im Gegenteil, das überaus kräftige Antilopenmännchen schüttelte den gefleckten Angreifer sehr bald durch ein paar geschickte, kurze Sprünge ab und ging ihm dann mit den Hörnern zu Leibe.
Der Jagdleopard kauerte lang ausgestreckt am Boden und wartete den günstigsten Moment ab, um sich abermals auf den Rücken seines Opfers zu schnellen. Der Beisa-Bock näherte sich ihm langsam mit gesenktem Gehörn. Es war dies ein Bild, das jeden Jäger erfreuen mußte. Diese beiden Tiere, hier der blutgierige Vertreter des Katzengeschlechtes, dort der stolze, stattliche Antilopenbock, fochten diesen Kampf auf Leben und Tod mit aller ihnen innewohnenden Schlauheit aus.
Der Fürst und der Engländer hatten dreißig Meter vor dieser Kampfgruppe ihre Pferde gezügelt und verfolgten mit atemloser Spannung den Verlauf dieses Tierduells.
Der Leopard sprang. Wie ein Pfeil schoß sein schlanker Körper durch die Luft. Doch der Bock war auf seiner Hut. Ein Satz zur Seite, und der Leopard plumpste ohne Erfolg in das meterhohe Steppengras.
Wieder standen die beiden Gegner sich wie vorher gegenüber. Und – wieder setzte der Leopard zum Sprunge an. Da – diesmal wich die Antilope nicht aus, trat nur etwas zurück, senkte den Kopf, schnellte vorwärts und spießte den gelben Feind auf den langen, spitzen Hörnern auf. Gerade dicht hinter der Brust drang das eine Horn dem Leoparden in den Leib. Aber das Gewicht des Raubtieres war doch so groß, daß es den Bock mit zu Boden riß. Beide Tierkörper wälzten sich einen Augenblick im Grase. Dann kam der Leopard frei. Mit letzter Kraft sprang er wiederum den Beisa-Bock an, der sich gerade aufgerichtet hatte. Und nun ging dieser, die gelbe Katze auf dem Rücken, in wilder Flucht auf und davon. Hinterdrein sprengten der Fürst und der Engländer, während das Gefolge sehr bald immer weiter zurückblieb. Die tolle Hetzjagd ging auf eine felsige Hügelkette zu, deren Ausläufer sich weit in die Steppe vorschoben und schmale, flache Täler mit steinigem, unfruchtbarem Boden bildeten.
Hier in einem dieser allmählich ansteigenden Täler, deren Ränder mit Dorngestrüpp und einzelnen Büschen bestanden waren, verließen den Antilopenbock die Kräfte. Die Last des Leoparden, der mit den Krallen sich auf seinem Rücken festhielt, war auf die Dauer zu groß für das durch Blutverlust ebenfalls geschwächte Tier. Sein Gang wurde unsicher, jeder Sprung kürzer. Dann begann es zu taumeln, stürzte schließlich zwischen ein paar Felsen zusammen. Aber auch der Leopard rollte jetzt matt zur Seite, schleppte sich dann in das nächste Dornendickicht.
Ras Bagror und sein Gast kamen näher. Ersterer hatte die Büchse bereits schußfertig über dem Sattel liegen, rief jetzt dem Engländer zu:
„Master Wilkins – geben Sie dem Tiere den Fangschuß!“
Der Brite brachte sein Pferd dicht vor der keuchend daliegenden Antilope zum Stehen, hob die Büchse, zielte.
Bevor jedoch des Engländers Finger den Abzug berührte, erscholl aus demselben Dickicht, in dem der wunde Leopard sich verkrochen hatte, eine laute Stimme:
„Halt – werfen Sie die Büchse fort – sogleich! Und auch Sie, Ras Bagror, tun dasselbe! Ich zähle bis drei. Gehorchen Sie beide bis dahin nicht, so haben Sie die Folgen zu tragen.“
Der Fürst und sein Gast blickten mehr überrascht als erschrocken dorthin, woher diese gebieterische Stimme erklang.
Aus einer Lücke des Dornengestrüpps trat jetzt ein Mann hervor, eine hohe Gestalt, gekleidet wie ein Araber, mit einem Gewehr in der Hand. Neben ihm aus den gelbgrünen Dornenblättern aber ragten die Läufe von drei weiteren einläufigen Büchsen hervor, die auf die beiden Jäger gerichtet waren.
Der Araber, dessen kühnes Antlitz ein bereits leicht ergrauter Bart umgab, rief nun dem Fürsten zu:
„Ras Bagror, Ihr kennt mich! Ihr seid mein Todfeind. Allah hat es gewollt, daß Ihr mir heute in die Hände fallen solltet. – Nochmals: Weg mit den Büchsen, oder meine Gefährten werden Euch beweisen, daß sie gute Schützen sind.“
„Mehemed ben Ursa!“ Unwillkürlich war den Lippen des Fürsten dieser Name entschlüpft. In seinem Gesicht malte sich jetzt deutlich etwas wie Unruhe und aufsteigende Angst.
„Ja – Mehemed ben Ursa,“ sagte der Araber drohend. „Derselbe Mann, den Ihr beseitigen wolltet, um sein Eigentum rauben zu können, dem Eure Soldaten bereits die Schlinge um den Hals gelegt hatten, dem Ihr einen qualvollen Tod zugedacht hattet! Allah hat es anders gewollt, anders steht mein Schicksal in seinem Buche verzeichnet! – Ich zähle bis drei, Ras Bagror! Und ich warne Euch! Bis drei – und drei Kugeln lauern auf Euch!“
Der Fürst biß die Zähne in ohnmächtigem Grimm zusammen, drehte sich im Sattel um, hoffte wohl auf das Nahen seines Gefolges. Doch das schmale Tal war weithin einsam. Die anderen Reiter hatten auf dem steinigen Boden die Spuren der Beiden verloren und waren in ein falsches Tal geraten.
Da ließ Ras Bagror die Büchse fallen. Und der Engländer tat dasselbe. –
Eine halbe Stunde später bewegte sich eine kleine Schar von sechs Reitern in gestrecktem Galopp auf einen einzeln aus der Steppe herauswachsenden, abgeplatteten Bergkegel zu, auf dessen flachem Gipfel ein kleiner, halb verfallener Tempel stand.
Der Reitertrupp, den ein graubärtiger Araber führte, vermied alle Stellen, wo die Hufe der Tiere zu tiefe Eindrücke zurückgelassen hätten, obwohl diese Vorsichtsmaßregel insofern sich erübrigte, als den fünf Pferden und dem Reitkamel – dieses benutzte der Araber – die Hufe mit breiten Streifen von wollenen Decken recht dick umwickelt waren, so daß das niedergetretene Gras sich sehr bald wieder aufrichten mußte, da es nicht geradezu niedergestampft, sondern mehr gedrückt war.
Zwei von den Reitern wurden als Gefangene behandelt, wenn sie auch nicht gefesselt waren. Der eine war ein Abessinier, der Ras Bagror, der andere der Engländer Wilkins.
Die drei übrigen Reiter zeigten sonnengebräunte Gesichter von europäischem Schnitt, hatten genau gleiche, sehr derbe, graugrüne Leinentropenanzüge an, trugen dazu graue Lederschirmmützen und braune Schuhe mit Überschnallgamaschen, waren aber sonst an Alter und Aussehen so verschieden, daß es schwer war zu erraten, welcher Zweck die doch offenbar Zusammengehörigen hier in den südlichsten Teil des abessinischen Kaiserreiches geführt haben könnte.
Der eine von ihnen, sehr lang und sehr dürr, zeichnete sich durch ein faltiges Gesicht und eine lange spitze Nase aus, unter der ein geradezu riesiger Mund sich wie ein flacher Bogen fast von Ohr zu Ohr ausspannte.
Der zweite, ein Mann vielleicht Ende der Zwanziger, war mittelgroß, schlank und besaß sehr ansprechende Gesichtszüge und heitere, große Augen, deren Blau den Deutschen oder doch den Nordländer verriet.
Der dritte wieder war ein noch halb im Knabenalter stehender Junge, dessen hochaufgeschossener Körper in jeder Bewegung Gewandtheit und Kraft erkennen ließ. Das noch ein wenig kindliche, offene Gesicht hatte einen einzigen Schönheitsfehler – eine sogenannte Wippnase, deren Spitze keck und kühn nach oben in solchem Maße umgebogen war, daß das Antlitz des Besitzers dieses seltenen Geruchsorganes dadurch ein etwas komisches Aussehen erhielt.
Während der Araber – daß dies kein anderer als Mehemed ben Ursa war, braucht wohl nicht weiter betont zu werden! – stets eine Strecke vorausritt, bildeten die drei soeben näher beschriebenen Weißen den Nachtrab und zugleich die Schutzwache der beiden Gefangenen, denen nichts übrig geblieben war, als sich der Gewalt vorläufig zu fügen.
Der Araber lenkte jetzt in ein steiniges, ausgetrocknetes Flußbett ein, das sich in vielfachen Windungen auf den einsamen Bergkegel zuschlängelte. Hier hinterließen die Reittiere auch nicht die geringste Fährte, und wenn man in Betracht zog, daß eine von Osten her heraufziehende schwarze Wolkenwand, über die zuweilen ein heller Schein hinlief, ein nahendes Gewitter anmeldete, konnten die Entführer des Ras Bagror und des Engländers ziemlich sicher darauf rechnen, ihre Spuren in der Steppe sehr bald durch einen starken Regen völlig verwischt zu sehen.
Das trockene Flußbett zog sich bis an die Südseite des Bergkegels hin. Hier nun machte der Araber halt, hieß sein Reitkamel niederknien und stieg aus dem Sattel. Dann befahl er den Gefangenen, gleichfalls abzusteigen und sich auf den Boden zu setzen. Der Ras gehorchte widerstrebend. Wilkins dagegen zuckte nur gleichmütig die Achseln und sagte ironisch zu Mehemed ben Ursa: „Ich verdanke Euch ein recht interessantes Abenteuer. Hoffentlich werdet Ihr deswegen nicht gehängt.“ Er nahm dieses Erlebnis in der Tat sehr kaltblütig auf. Wußte er doch, daß man ihm nichts anhaben würde und daß der Überfall vorhin lediglich dem Fürsten gegolten hatte.
Der Araber ließ die Gefangenen jetzt von den drei Weißen bewachen, koppelte die Reittiere aneinander und brachte sie in einem schluchtartigen Einschnitt des Flußbettes unter, wo dem hier sandigen Boden magere Gräser entsprossen.
Dann spielte er wieder den Führer. Zu Fuß wurde der Berg nach Westen zu umgangen, bis sich in dessen senkrecht aufsteigender Wand eine breite Spalte öffnete, die steil nach aufwärts verlief und die, wo es nottat, mit roh in das Gestein eingehauenen Stufen versehen war.
Diese Felsspalte endete nach etwa achtzig Meter auf einer dreieckigen Felsenkanzel, wo eine Laune der Natur drei riesige Zedern angesiedelt hatte, die so dicht beieinander standen, daß man sie seiner Zeit zum Bau einer Art von hölzernen Treppe benutzt hatte, deren Stufen sich teilweise auf die Äste der Zedern stützten. Die Treppe, zu der das der Fäulnis nur nach sehr langer Zeit ausgesetzte Holz der Dschila-Fichte verwendet worden war, bildete den einzigen Zugang zum Gipfel des Berges und zu dem kleinen, Mohammed geweihten Tempel.
Der Aufstieg auf dieser Treppe war für nicht schwindelfreie Leute recht gefährlich. Besonders jetzt, während die sechs Männer die bereits stellenweise etwas schadhaften Stufen hinaufklommen, setzte der dem nahenden Gewitter vorangehende starke Wind die Zedern in so starke Schwankungen, daß außer Mehemed ben Ursa wohl alle erleichtert aufatmeten, als die abgeplattete Bergspitze glücklich erreicht war.
Der Tempel, ein rundes Steinbauwerk mit zwiebelförmigem Dach, zeigte sich im Innern noch leidlich gut erhalten, wenn auch die Westecke gänzlich eingestürzt war. Der Boden war mit farbigen Steinen ausgelegt. Im Hintergrunde stand eine Art halbkreisförmiger Altar, zu dem drei breite Stufen emporführten. Auf die oberste mußten sich die Gefangenen setzen. Ihnen gegenüber nahmen auf Mauertrümmern der Araber und seine Gefährten Platz.
Inzwischen war das Gewitter ganz nahe gekommen. Ein Regenguß ging nieder, der die Dunkelheit durch seine herabstürzenden Wassermassen noch erhöhte. In dem kleinen Heiligtum herrschte jetzt fast völlige Finsternis, die nur durch das Aufzucken der Blitze so und so oft unterbrochen wurde. Der Donner ließ den Tempel erbeben; der ganze Berg schien zu wanken. Es war ein Unwetter, wie man es selbst in den Tropen selten erlebt.
Mehemed ben Ursa hatte die Gefangenen sehr nachdrücklich vor jedem Fluchtversuch oder Gewaltakt gewarnt. Aber weder Ras Bagror noch Wilkins waren irgendwie geneigt, die Dunkelheit zu einem wahrscheinlich erfolglosen Unternehmen dieser Art auszunutzen.
Nach einer Viertelstunde war das Gewitter vorübergezogen. Der Himmel klärte sich auf, die Sonne schien wieder und deren erste Strahlen lockten den Jüngsten der drei Weißen nun ins Freie, wo er sich ein wenig umsehen wollte.
Mit einem Male kam er jedoch eiligst wieder in den Tempel gestürmt, rief den Gefährten erregt zu:
„Die Zedern! Ein Blitz wahrscheinlich! Sie brennen wie Riesenfackeln!“
Alle bis auf den Araber waren sprachlos vor Schreck. Bedeutete doch eine Vernichtung der Bäume nichts anderes als eine Gefangenschaft hier oben auf dem kahlen Berggipfel.
Dann schickte Mehemed einen der Weißen, den Blauäugigen, den er mit Helmut Mook anredete, hinaus, um die Folgen des Brandes näher zu prüfen.
Die Baumtreppe endete hinter dem Tempel. Als Mook um das kleine Bauwerk bog, sah er sofort die knisternden Flammen bereits bis zu den höchsten Zweigen emporlecken. Es gab kein Mittel, den Brand zu löschen. Man mußte untätig zuschaun, wie dieser einzige Weg hinab zur Erde vernichtet wurde.
Als Mook dem Araber dann berichtete, daß der Junge leider nicht im geringsten übertrieben habe, sagte Mehemed gelassen: „Es hat so in Allahs Schicksalsbuche verzeichnet gestanden. – Denken wir jetzt zuerst an das, was wir hier erledigen wollten.“ Dann richtete er das Wort an den Fürsten.
„Ras Bagror, wir haben Dich hierher gebracht um über Dich zu Gericht zu sitzen. Ich werde Dir Deine Verbrechen vorhalten. Du kannst Dich darauf verteidigen. Wir werden gerechte Richter sein.“
Der Fürst sprang auf, spie nach Mehemed hin und rief: „Elender Wurm! Dein Hirn muß verdorrt sein, daß Du es wagst, mich –“
Da zog ihn der Engländer wieder auf die Altarstufe nieder, flüsterte ihm zu: „Reizen Sie doch die Leute nicht noch, Ras Bagror! Bedenken Sie, daß wir ihnen gegenüber ganz wehrlos sind. Die Klugheit gebietet uns, zu schweigen!“
Der Ras schaute den Araber mit haßerfüllten Augen an, beherrschte sich jedoch.
Und Mehemed ben Ursa begann nun wieder in demselben gleichmütigen, eisigen und unheilverkündenden Tone:
„Ras Bagror, diese meine Gefährten hier, denen ich mein Leben verdanke, wissen noch nicht im einzelnen, weshalb Du mir Deine Kamelreiter vor etwa acht Tagen nachgehetzt hast und weshalb ich um jeden Preis sterben sollte. Ich habe ihnen gegenüber bisher absichtlich geschwiegen, da ich hoffte, mich Deiner bemächtigen zu können. Die heutige Leopardenjagd war ja bereits geplant und vorbereitet, als ich noch Dein Gefangener war. Daß sie heute stattfand, habe ich gestern ausgekundschaftet, als ich mich in der Verkleidung eines ländlichen Händlers in Deine Hauptstadt geschlichen hatte. Es war also kein Zufall, daß wir Dich in jenem Tale fingen, als Ihr beide, Du und der Engländer, von der übrigen Jagdgesellschaft abgekommen wart. Hiermit oder doch wenigstens mit einem ähnlichen mir günstigen Zufall rechnete ich, weil mir Dein Ungestüm und die Schnelligkeit Deines Leibrosses bekannt waren. – Ja – erst in Deiner Gegenwart sollten meine drei Freunde, wackere Deutsche, erfahren, daß ich kein Mörder bin, als den Deine Soldaten mich hinstellten. – Nun höre meine Anklage! Du, der Du Dich einen Christen nennst und doch nur wie die meisten Abessinier die Gebote Eurer Glaubenslehre nur befolgst, wenn sie Dich nicht in Deinen vielerlei Freveltaten stören. – Du sollst hier auf dem Sripada-Berge abgeurteilt werden in diesem Tempel, der dem Propheten Mohammed geweiht ist und den seine Anhänger einst in Scharen als Wallfahrer besuchten, weil dort, wo sich der Altar erhebt, in dem Felsboden des Berggipfels der Eindruck des rechten Fußes Adams, des ersten Menschen, sichtbar ist, der hier tausend Jahre auf einem Beine zur Strafe für den Sündenfall im Paradiese stehen mußte. Abgeurteilt sollst Du werden an dieser Stätte, die den Mohammedanern heilig, – Du, ein schlechter Christ, von mir, dem Bekenner der Lehre des einzigen wahren Propheten!“
Bevor wir in unserer Erzählung fortfahren, wollen wir unsern jungen Lesern, die aus den Erlebnissen einsamer Menschen nicht lediglich Unterhaltung sondern auch Belehrung schöpfen sollen, kurz das Wichtigste darüber mitteilen, was zum Verständnis des Folgenden in Betracht kommt. – Zunächst noch etwas über den Sripada-Berg. Sripada ist ein indisches Wort und bedeutet „Fußstapfe des Glücks.“ Obwohl nun nach dem Glauben der Mohammedaner Adam zur Strafe auf dem Berggipfel für tausend Jahre festgebannt war, ist dieser Bergkegel doch in Anlehnung an ein ähnliches Heiligtum auf der Insel Ceylon Sripada benannt worden, weil Adam eben durch diese Buße sich wieder den Eintritt in das Paradies verschaffte. Für ihn war es also insofern Fußstapfe des Glückes. Weit berühmter ist ja das andere Heiligtum auf Ceylon. Hier gibt es in einer Ebene inmitten der Insel einen Berg, Adamspik genannt, auf dessen Spitze sich eine 1½ Meter lange Vertiefung befindet, die gleichfalls als eine Fußspur des ersten Menschen gedeutet wird. Über ihr wölbt sich ein prächtiger, indischer Tempel, den die Bekenner Buddhas, die Buddhisten, errichtet haben, während sie die angebliche Fußstapfe selbst mit Gold und Edelsteinen am Rande verzieren ließen. Tausende von Pilgern strömen noch heute zu bestimmter Zeit nach dem Adamspik, da nach der Überzeugung der Buddhisten ein Kuß auf den Rand der Fußspur die sichere Anwartschaft auf das Paradies gibt. – So viel über Sripada. – Nun zu der Bemerkung Mehemeds im vorigen Kapitel, er sei von den Kamelreitern des Ras gehetzt worden. Sie gehören zu der Armee des Kaisers Menelik von Abessinien. Dieses ist ein christliches Kaiserreich, das einzige in Afrika. Es besitzt ein stehendes, wenn auch wenig diszipliniertes Heer. Der Kaiser Menelik, ein Herrscher von großen Fähigkeiten, der zu der Zeit unserer Erzählung, das[2] heißt im Jahre 1908, regierte, hatte in die Residenzstädte seiner Vasallenfürsten Abteilungen seiner Armee in Garnison gelegt, die aus ihm besonders ergebenen Truppen bestanden und denen die Aufgabe zufiel, die verschiedenen, oft recht widerspenstigen Fürsten ständig zu beobachten und nötigenfalls sofort gegen sie vorzugehen. Dem Ras Bagror war es nun gelungen, den Anführer dieser Abteilung durch Bestechung für sich zu gewinnen, so daß auch die in seiner Residenz Braxar liegende kaiserliche Kavallerie, ein Kamelreiterkorps, blindlings die Befehle des Ras befolgte. Kaiser Menelik war von diesen Dingen seit langem unterrichtet, konnte daran jedoch kaum etwas ändern, da der Ras Bagror zu mächtig war, um ihn offen zu bekriegen. – Bekanntlich hat Kaiser Menelik mit seinem Heere im Jahre 1896 bei Adua dem italienischen General Baratieri, der für Italien einen am Roten Meere gelegenen Küstenstrich Abessiniens als Kolonie erobern sollte, eine blutige Niederlage beigebracht, ein Beweis dafür, daß die abessinische Armee trotz vieler Mängel es immerhin mit einem europäischen Heere aufnehmen kann. Später haben die Italiener jenen Küstenstrich dann durch Vertrag für sich zu behaupten gewußt. Es ist dies die heutige italienische Kolonie Erythrea. – Nun zurück in den verfallenen Tempel, zurück zu dem Gericht, das Mehemed ben Ursa hier über den Ras Bagror abhielt. –
„Ich stamme aus jenen weiten Steppen,“ begann der Araber nach kurzer Pause, „wo der Stamm der Dschammar seine Weideplätze hat. Bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahre war ich nicht über die Grenzen unseres Gebietes hinausgekommen, hatte nur gelegentlich an Kriegszügen gegen benachbarte Stämme teilgenommen. Dann kam eines Tages jedoch ein persischer Händler zu uns, der so viel von den Wundern fremder Länder und großer Städte zu erzählen wußte, daß mich die Sehnsucht befiel, dies alles auch einmal mit eigenen Augen zu schauen. Ich begleitete den Perser zunächst nach Alexandria, der ägyptischen Hafenstadt am Mittelmeer, bereiste dann Europa, Asien und die Sunda-Inseln, lernte hier den Handel mit Edelsteinen genauer kennen und begann mich selbst darin zu versuchen, hatte Glück, erwarb Reichtümer, blieb aber doch meinem neuen Berufe treu und begab mich vor etwa zwei Monaten von einer Küstenstadt am Roten Meere aus nach der Residenz des Ras Bagror, der wie mir erzählt worden war, ein Liebhaber kostbarer Steine sein sollte.
Ich hatte, als ich zu ihm kam, Edelsteine im Werte von gut 20 000 Pfund (400 000 Mark) bei mir, bot sie dem Ras zum Kauf an und wurde mit ihm auch handelseinig. Dann aber geschah es, daß ich eines Abends in einer dunklen Gasse seiner Residenz, bevor er mir noch den Kaufpreis ausgezahlt hatte, überfallen, gebunden und auf einem Wagen fortgeschafft wurde. Nach langer Fahrt hielt der Wagen. Ich wurde, eingehüllt in große Decken wie ich war, von starken Armen eine Anhöhe hinaufgetragen und sodann irgendwo unsanft auf den harten Boden geworfen. Als stundenlang um mich herum alles still blieb, und ich die Überzeugung gewonnen hatte, daß ich allein war, bemühte ich mich, meine Fesseln abzustreifen und mich aus den Decken, in denen ich beinahe erstickte, herauszuarbeiten. Endlich gelang es mir! Neugierig schaute ich mich um. Es herrschte jedoch an dem Orte, wo ich mich befand, tiefste Finsternis. Ich konnte mich deshalb zunächst nur auf den Tastsinn meiner Finger verlassen, stellte fest, daß ich in einer Felsenhöhle weilte, in der eine auffallende Wärme herrschte.
Wieder nach mehreren Stunden, als draußen ein neuer Tag heraufzog, bemerkte ich in der Ferne einen Lichtschimmer, ging vorsichtig darauf zu und gelangte so an den[3] Ausgang der Grotte, der auf eine Art Plattform mündete, von wo aus ich nun gewahr wurde, daß meine Grotte in der steilen Wand eines fast kreisrunden, kleinen Talkessels lag. Dieser war am Boden mit dichtem Gestrüpp bedeckt, besaß auch einen Weiher in der Mitte, schien aber keinerlei Zugang zu haben. Seine Wände waren turmhoch und fielen glatt und senkrecht ab. So lag auch die Plattform, auf der ich stand, gut dreißig Meter über dem Grunde des Talkessels.
Sofort sagte ich mir, daß die Grotte hinter mir noch einen zweiten Ausweg haben müsse, durch den man mich hierher gebracht hatte. Ich wagte es also, in die Höhle trotz der darin lastenden Dunkelheit ganz weit Schritt für Schritt einzudringen und kam bald in einen schmalen Felsgang, der steil abwärts lief. Plötzlich um eine Ecke des Ganges biegend, bemerkte ich vor mir eine zweite Grotte mit sehr breitem Eingang, durch den das Tageslicht hell bis in die fernsten Winkel fiel. Und jenseits dieses Einganges wieder schimmerte es freundlich grün, wuchsen allerhand Sträucher und hohe Gräser. Schon hoffte ich den Weg ins Freie, in die Freiheit gefunden zu haben, als ich wiederum etwas Neues sah. Links von mir mündete in diese Höhle ein zweiter, ähnlicher Gang, und dort – dort erkannte ich nun eine menschliche Gestalt, die scharf nach mir hinzuschauen schien.
Ich erschrak. Dachte ich doch, es sei vielleicht einer von den Männern, die mich überfallen und hierher geschleppt hatten.
Ich irrte mich. Der Unbekannte, den ich nur undeutlich wahrnehmen konnte, winkte mir plötzlich lebhaft mit der Hand zu und rief auch in einer fremden Sprache ein paar Worte. Als ich nichts erwiderte, bediente er sich einer anderen Sprache, des Englischen. Diese beherrsche ich einigermaßen.
„Wagt Euch nicht weiter vor,“ lautete die Warnung des Unbekannten. „Dort nach vorn zu fällt die Grotte, was von hier aus nicht zu erkennen ist, in unregelmäßigen Terrassen in den Talkessel ab. Diese Terrassen dienen nun einer Unzahl von Riesenschlangen als Plätze, um sich am Tage zu sonnen, während die Reptile nachts die Höhle hier aufsuchen, die aus einer mir noch nicht klaren Ursache sehr warm ist. Häufig kommen die Riesenschlangen auch am Tage hier in die Höhle, und dort in jener Felsspalte liegen auch jetzt wenigstens drei dieser Ungeheuer, die sofort auf Euch losfahren würden sobald –“
Er schwieg, rief dann veränderten Tones:
„Fort – fort! Eine der –“
Weiter kam er nicht, verschwand vielmehr eiligst in dem Dunkel seines Felsenganges. Ich aber sah zu meinem Glück noch rechtzeitig einen dunklen Schlangenleib, der über den Boden der Grotte auf mich zu glitt, wandte mich zur Flucht und gelangte auch wieder in meine Höhle zurück, die offenbar genau über der Schlangengrotte lag.
Meine Angst, die Schlange könnte mir folgen, war nur zu leicht begreiflich. Ich hatte ja keinerlei Waffen, und das Reptil maß meiner Schätzung nach mindestens neun Meter.
Nicht zum ersten Male hatte ich dort in der Höhle unter mir ein solches Ungeheuer zu Gesicht bekommen. Nein, bereits auf Sumatra und Indien hatte ich solche Ungetüme gesehen, die mit der in Südamerika heimischen Anakonda nahe verwandt und fähig sind, ein ganzes Reh zu verschlingen, nachdem sie es durch Umschlingung zerdrückt und die Knochen zermalmt haben. Ich wußte also, was mir bevorstand, wenn das Reptil, vielleicht von Hunger getrieben, mich angriff.
Ich durchlebte furchtbare Stunden, schlief dann aber infolge völliger Ermattung draußen auf der Felsenplattform ein, nachdem ich noch Zeuge eines Kampfes zweier dieser Ungeheuer unten im Talkessel geworden war, wobei die größere, vielleicht zehn Meter lange Riesenschlange die kleinere mit ihren Zähnen so übel zurichtete, daß sie die durch Blutverlust Geschwächte nachher noch halb lebend hinabwürgen konnte.
Ich schlief also ein, erwachte dann durch eine sehr unsanfte Berührung und – merkte, daß ich abermals von irgend welchen Leuten gefesselt wurde, die mir vorher eine dicke Decke über den Kopf geworfen hatten.
Gleich darauf schleppte man mich fort. Ich wurde wieder in einem Wagen stundenlang gefahren, bis ich schließlich in einem engen Gelaß mit kleinem, vergittertem Fenster landete, wo man mir Decke und Fesseln abnahm. Ich fand in diesem meinem neuen Kerker einen Krug Wasser, Brot und Früchte vor. Das Fensterchen gestattete mir die Aussicht über eine weite Hochebene. Ich erkannte einzelne Baumgruppen darin wieder, wußte so, daß ich mich in einem Raume des Schlosses des Ras Bagror befinden mußte.
Schon längst hatte ich geahnt, daß ich nur auf Befehl des Fürsten überfallen worden sein konnte. Ras Bagror, so vermutete ich, wollte mich vielleicht zwingen, ihm die Edelsteine ohne Kaufpreis zu überlassen.
Daß diese meine Annahme richtig war, sollte ich eine Woche später erfahren, als ich in meiner Zelle Besuch erhielt. Ras Bagror kam und sagte zu mir etwa Folgendes:
„Ich hoffe, Du wirst diesen Kerker nicht so sehr lieben, um nicht gern auf Deine Steine zu verzichten. Meine Vertrauten hatten Dich erst, da sie meine Anordnungen falsch verstanden, an einen Ort gebracht, an dem ich Dich aus besonderen Gründen nicht belassen konnte. – Hier, unterschreibe diese Quittung über den Kaufpreis, und Du sollst frei sein! Tust Du es nicht, so kannst Du hier meinetwegen langsam verhungern, denn ich werde Dir fortan nur einen geringen Teil der bisherigen Lebensmittel zuweisen lassen.“
Ich – unterschrieb nicht! Ich war der Überzeugung, Ras Bagror habe es nur auf meine Unterschrift abgesehen und würde mich elend umkommen lassen, sobald ich ihm den Willen getan hatte.
In heller Wut ging der Ras davon. Böse Tage kamen nun für mich. Wenn mein Körper nicht so widerstandsfähig gewesen wäre, hätte der Ras wohl sehr bald seinen Zweck erreicht. Ich hielt die Hungerkur jedoch länger aus, als er wohl vorausberechnet hatte. Nach einem Monat fand er sich abermals bei mir ein. Wieder verhöhnte er mich, wieder sollte ich die Quittung unterschreiben. Ich weigerte mich abermals. Als er gegangen, erwachten plötzlich in mir eine Energie und eine Sehnsucht, mich am Leben zu erhalten, die bereits vollständig vordem geschwunden zu sein schienen.
Ich entwarf allerhand Fluchtpläne. Aber sie alle taugten nichts, waren unausführbar. Dann bestach ich meinen Wärter, der mir die kargen Speisen brachte, durch ein paar kleine Diamanten, die ich in einen Zipfel meines Burnus eingenäht, heimlich bei mir trug. Er verpflegte mich jetzt besser, wagte aber nicht, mich entfliehen zu lassen.
Wieder vergingen Wochen. Dann raffte ich mich an einem Abend, als ein schweres Gewitter über der Stadt tobte, zu einer entscheidenden Tat auf. Der Wächter sollte mir einen Krug Wasser holen. Als er damit meine Zelle betrat, überrumpelte ich ihn, würgte ihn, bis er das Bewußtsein verlor. Nun konnte ich die schwere eisenbeschlagene Tür öffnen, schlich hinaus, gelangte in einen engen Hofraum kletterte über eine Mauer, sprang in den Garten des Schlosses hinab und gewann auch das Freie, das heißt, ich kam auf eine Straße, sah hier mehrere zweirädrige, bespannte Wagen halten, belauschte die Fuhrleute, hörte, daß sie sehr bald nach ihrem nahen Dorfe zurückwollten, versteckte mich in einem der Wagen unter leeren Säcken und wurde so ohne Zwischenfall auch über die Zugbrücke und vor die Stadt gebracht. Hier kaufte ich mir in einem einsamen Gehöft ein Pferd und Schußwaffen, setzte dann meine Flucht fort, ohne zu ahnen, daß gerade diese Erwerbung eines Reittieres und einer Büchse die Verfolger, die der Ras sehr bald mir nachschickte, auf meine Spur leiten sollte. Nach langer Hetzjagd stellten mich eine Anzahl Kamelreiter in einem Gehölz, überwältigten mich nach einem lebhaften Feuergefecht und wollten mich, dem Befehle des Ras entsprechend, auf besonders grausame Art durch Erhängen ums Leben bringen.
Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht meine drei weißen Freunde hier zufällig beobachtet hätten, wie die Kamelreiter das Gehölz umstellten. Während zwei der Deutschen dann den Soldaten in die Hände fielen und von ihnen als Gefangene nachher fortgeschleppt wurden, befreite mich der dritte, jener Knabe dort, aus meiner entsetzlichen Lage und wurde mein Retter. (Vergl. hierzu das vorhergehende Bändchen „Der Gefangene des Ras Bagror“. Dort sind diese Ereignisse ganz eingehend geschildert worden.) Wir beide wieder konnten dann in der folgenden Nacht die Gefährten des Knaben den Kamelreitern entführen, die, verstärkt durch einen anderen Trupp, unsere Verfolgung alsbald aufnahmen und zunächst insofern Glück hatten, als sie mich auf einem Kundschaftergang ergriffen. Abermals wurde der Knabe mein Befreier, der seine Freunde heimlich nur in der Absicht verlassen hatte, mir schleunigst Hilfe zu bringen. Mitten aus dem Lager der Kamelreiter holte er mich heraus, bewies dadurch, daß er das Anschleichen besser verstand wie einer, der in der Wildnis groß geworden ist. Nachdem wir uns dann mit den beiden anderen Deutschen wieder vereinigt hatten, suchte ich Deiner habhaft zu werden, Ras Bagror! Mein Gefangenwärter hatte mir von der geplanten Jagd erzählt. Darauf baute ich meinen Plan auf. Er hatte Erfolg.“
Der Araber schwieg und wandte sich dann an den einen der Deutschen, den mit den blauen Augen, sagte zu ihm:
„Nun magst Du dem Ras das andere vorhalten. Meine Anklage ist zu Ende.“
Der junge Deutsche nickte zustimmend.
„Ras Bagror,“ hub er an, „ich heiße Helmut Mook. Eine besondere Schicksalsfügung setzte mich davon in Kenntnis, daß Du einen baltischen Forschungsreisenden namens Doktor Karl Merwart hier in Deinem Fürstentum an einem Orte gefangen hältst, den Merwart in seinem merkwürdigen Hilferuf, einem Zettel, den er an das Bein eines Storches befestigt hatte, lediglich durch die Worte: „in Schlangenhöhle nordwestlich von Braxar gegenüber Sripada“ näher bezeichnet hatte. – Ich bin reich, und daher konnte ich daran denken, in aller Stille eine Expedition auszurüsten, um den Forscher zu befreien. Ich nahm auf meiner Reise nach Afrika meinen alten Diener Gottlob Quark, jenen Mann dort, sowie den Knaben mit, der vorher ein bescheidener Barbierlehrling gewesen ist und August Rulicke heißt. Die Karawane, die ich zusammengestellt hatte und mit der ich von Dar-es-Salam[4] aufgebrochen war, löste sich durch Desertieren der Träger auf. Nur wir drei Landsleute blieben schließlich übrig. Dann fanden wir in Mehemed ben Ursa einen treuen, neuen Gefährten. Als ich ihm mitteilte, weshalb ich nach Abessinien gekommen sei, machte er eine Andeutung, daß uns ein glücklicher Zufall zusammengeführt hätte. Jetzt erst kann ich auf den tieferen Sinn dieser Bemerkung schließen, nachdem Mehemed soeben seine Schicksale und besonders seine Begegnung in der Schlangenhöhle mit jenem Fremden berichtet hat. Der Fremde kann nur Doktor Merwart sein, denn einmal gibt er als sein Gefängnis eine Schlangenhöhle gegenüber Sripada, das[5] heißt gegenüber diesem Berge an, dann aber hast Du, Ras Bagror, zu Mehemed geäußert, Deine Leute hätten ihn irrtümlich an einen Ort gebracht, an dem Du ihn nicht belassen konntest. – Nein, Du konntest ihn dort nicht belassen, da Du fürchtetest, er würde – Doktor Merwart dort begegnen.“
Hier mischte sich der Araber ein, erklärte kurz:
„Sidi Mook, Du hast recht mit Deiner Vermutung. Ich habe damals sofort gemutmaßt, der Unbekannte sei wahrscheinlich der, den Du suchtest.“
„Ja,“ fuhr Helmut Mook fort, „den ich suchte und den ich doch vielleicht nicht gefunden hätte, da ich nicht wußte, was Sripada bedeutete! Nun weiß ich es. Und jetzt hoffe ich bestimmt, daß meine Expedition einen vollen Erfolg haben wird.“
Da lachte Ras Bagror höhnisch auf.
„Erfolg?! Du kennst die Schlangenhöhle von Akkassar nicht, Du kennst auch nicht den Spürsinn meiner Schweißhunde, die ich mir in meinem Zwinger in meinem Schlosse halte. Sie werden unsere Fährte finden, werden meine Leute bis hierher an den Fuß des Bergkegels führen! Sehr bald wird dies geschehen. Und dann – dann!“ Abermals ein höhnisches, triumphierendes Lachen.
Doch des Ras Gesichtsausdruck änderte sich schnell, als Mehemed nun, an das letzte Wort des Fürsten anknüpfend, laut und schneidend sagte:
„Dann – werde ich Dich vielleicht an den Rand des Berggipfels führen und Dir dort wie einem räudigen Hund einen Fußtritt versetzen, der Dich hinabbefördert zu den Deinen! Freilich – lebend wirst Du unten kaum ankommen.“
„Du wirst es nicht wagen, mich zu töten,“ meinte der Ras kleinlaut und unsicher.
„Wagen?! – Du verdienst Strafe! Und Du entgehst ihr nicht.“
„Bedenke, daß Ihr, nein wir alle hier elend verhungern müssen, wenn meine Leute nicht die niedergebrannten Zedern auf irgend eine Weise ergänzen! Wir sind hier für immer gefangen, wenn man uns nicht Hilfe bringt!“
Ein Lächeln umspielte Mehemeds Lippen.
„So?! – Du bist ein Christ, weißt nicht alles! Sripada ist dem Propheten geweiht, und in Allahs Schicksalsbuche steht vielleicht anderes verzeichnet, als Du erhoffst, Ras Bagror! – Nun genug hiervon! – Du hast jetzt gehört, wessen Du beschuldigt wirst. – Gibst Du zu, daß Du mich beseitigen wolltest, um meine Edelsteine an Dich zu bringen?“
„Ich bin der Ras Bagror! Mein Wort gilt überall, selbst am Hofe Meneliks. Du hast mich betrügen wollen. Alles, was Du über die Quittung angegeben hast, ist erlogen. Dann hast Du Deinen Wächter bei Deiner Flucht erdrosselt. Deswegen gab ich Befehl, Dich zu hängen.“
„Erdrosselt?! – Ras Bagror, ich bin dem Manne ja begegnet, als ich verkleidet in Deiner Residenz war. Der Wächter lebt! Außerdem wußte ich dies auch schon früher, denn er mußte von mir gebunden und geknebelt werden, da er zu früh die Besinnung wiedererlangte. – Genug, Ras Bagror! Du bist selbst dazu zu feige, Deine Schandtaten einzugestehen. Vielleicht weißt Du auch nichts von Doktor Merwart.“
„Ich weiß nichts von ihm – nichts!“ erklärte der Ras. „Weshalb wohl hätte ich mich an ihm vergreifen sollen?! Ich kenne ihn nicht!“
Mehemed ben Ursa erhob sich langsam, streckte die Hand wie beschwörend gegen den Fürsten aus und sagte feierlich:
„Ras Bagror! Wenn wir den Forscher in der Schlangenhöhle von Akkassar finden, wirst Du dort gebunden von uns zurückgelassen! – Noch ist es Zeit, die Wahrheit einzugestehen. – Also: Hältst Du ihn dort gefangen?“
„Nein!“ Aber dieses Nein klang zögernd und sehr leise.
Da wandte der Araber sich um, winkte Helmut Mook zu und trat ins Freie hinaus. Hier führte er ihn an die östliche Außenwand des Tempels, deutete auf einen Haufen scheinbar regellos übereinander geschichteter Felstrümmer und sagte leise:
„Sidi, Du bist mein Bruder geworden, seit wir vor drei Tagen an unserem Lagerfeuer den Bund des Blutes geschlossen haben, von dem Allah sagt, er sei fester als das Tor, das die Dschehenna (Hölle) vom Paradiese trennt. Vor Dir habe ich keine Geheimnisse. – Setz’ Dich neben mich. Ich will Dir anvertrauen, was hier im Lande Abessinien über meine Person nur noch ein einziger weiß, und das ist der Kaiser Menelik selbst.
Zunächst muß ich etwas über meine Vergangenheit nachholen. Es ist richtig, daß ich die halbe Welt bereist habe. Den ganzen Orient kenne ich vielleicht besser als Du Dein eigenes Vaterland. Ebenso entspricht es den Tatsachen, daß ich Araber vom großen Stamme der Dschammar bin. Nur eins verschwieg ich vorhin: Meine Mutter wurde in Abessinien geboren, war eine Tochter des ersten Ratgebers des Königs Samalar von Schoa, des Vaters des jetzigen Negus Negesti (König der Könige, Kaiser). Als dieser, bis dahin König von Schoa wie sein Vater, im Jahre 1889 sich gewaltsam des Thrones von Abessinien bemächtigte und so aus einem Vasallenfürsten ein Kaiser wurde, brauchte er Männer, die in aller Stille bald hier, bald dort in geheimer Mission für ihn tätig waren. Ich wurde von diesem Herrscher, den man mit Recht für selten vielseitig, klug und tatkräftig hält, mit manchem Auftrag beehrt, der meinem Hange zu einem aufregenden Lebenswandel entsprach. Niemand an Hofe Meneliks kennt mich. Stets wirkte ich in einer Weise, daß meine Beziehungen zum Kaiser jedermann verborgen blieben. Während des Krieges mit Italien, der die jetzige Kolonie Erythrea und die von den Italienern beabsichtigte Schutzherrschaft über Abessinien zur Ursache hatte, war ich besonders eifrig tätig. Dann führten mich andere Geschäfte wieder in die Hauptstädte europäischer Staaten, bis ich, dieses unruhigen Lebenswandels überdrüssig, mich für mehrere Jahre nach der Insel Java zurückzog, wo ich in diesem wahrhaft paradiesischen Lande mein Dasein ganz nach meinem Behagen einrichtete.
Doch mein abenteuerlüsterner Sinn kam nicht zur Ruhe. Mich packte plötzlich die Sehnsucht nach den weiten Steppen meiner Heimat, nach Arabien, auch nach einem Wiedersehen des von mir hochverehrten Negus Negesti. Nachdem ich ein halbes Jahr bei den Meinen – meine Mutter lebt noch – geweilt hatte, erreichte mich eine geheime Botschaft Meneliks, der mich an einem bestimmten Tage in seinem Palast in irgend einer neuen Verkleidung erwartete, wie er mir schrieb. Dieser Tag liegt jetzt etwa drei Monate zurück. Ich hatte, angeblich als Edelsteinhändler, eine Unterredung mit Menelik, und dieser bat mich, zu versuchen, zu Ras Bagror in nähere Beziehungen zu treten, von dem er argwöhnte, daß er selbst nach der Kaiserwürde strebe, ihn stürzen und vertreiben wolle. Besonders sollte ich auskundschaften, ob Ras Bagror für den Aufstand gegen Menelik im geheimen Waffen und Munition ankaufe und ob er die in seiner Residenz liegenden kaiserlichen Truppen ganz für sich gewonnen habe.
Ich begab mich also nach Braxar. Was mir hier widerfuhr, weißt Du. Nur das ist Dir noch unbekannt, daß ich untrügliche Beweise für Ras Bagrors bereits recht weit vorgeschrittene geheime Rüstungen zum Kampfe wider den Kaiser erhielt. Du wirst Dich besinnen, daß wir damals, als unser kleiner Gefährte, den Du stets Pipin den Großen nennst, und ich Euch beide aus der Gewalt der Kamelreiter befreit hatten, Zuflucht auf einem der im Hochlande von Abessinien so häufigen Tafelberge fanden und daß ich Euch bat, nicht nach den Zugang zu der flachen Spitze dieses Berges zu suchen, auf den ich Euch mit verbundenen Augen hinaufgeleitet hatte. (Vergleiche hierzu den Inhalt des vorhergehenden Bändchens, „Der Gefangene des Ras Bagror“.)
Dies alles hatte seinen guten Grund, denn jener Tafelberg ist – der Waffenstapelplatz des Ras Bagror. Euch sollte dies verborgen bleiben, damit meine geheime Mission nicht durch irgendwelche Bemerkungen Eurerseits gefährdet würde.
So, mein Bruder, nun kennst Du das Geheimnis meiner Person! Nun wirst Du auch leichter verstehen, wie es kommt, daß ich hier in Abessinien so sehr gut Bescheid weiß – teilweise besser als die Einheimischen. Nun wird Dir auch klar sein, weshalb Menelik nicht dafür sorgte, daß ich aus dem Gefängnis in dem Schlosse Ras Bagrors entlassen wurde. Der Kaiser durfte nichts für mich tun, wenn er nicht die Gefahr heraufbeschwören wollte, daß seine Beziehungen zu mir offenbar würden.
Absichtlich habe ich Dich hier an die Ostmauer des Tempels geführt. Gib acht, was ich jetzt beginne. Nicht umsonst habe ich soeben Ras Bagror gegenüber geäußert, er sei ein Christ und wisse nicht alles.“
Mehemed ben Ursa erhob sich, trat an den Felstrümmerhaufen heran und lüftete einen besonders großen, flachen Stein von unregelmäßig viereckiger Form. Darunter wurde ein zweiter, etwas kleinerer Stein sichtbar, der in der Mitte mit einem Eisenring versehen war. Als der Araber auch dieses Felsstück umgelegt hatte, gähnte an dieser Stelle ein dunkles, ausgemauertes Loch, das gerade weit genug war, einen Mann hindurchzulassen.
„Hier beginnt der Weg, den wir jetzt gehen müssen, nachdem die Zedern zerstört sind,“ sagte Mehemed. „Es ist eine Treppe, die in einem natürlichen Tunnel sich durch den Berg abwärts zieht. Ich hätte dieses Geheimnis, das Kaiser Menelik mir für den Fall der Not anvertraute, für mich behalten, wenn die Umstände mich jetzt nicht zu seiner Preisgabe gezwungen hätten.“
Er deckte die Steine wieder auf die Öffnung und kehrte mit Helmut Mook in den Tempel zurück.
Die Sonne neigte sich jetzt dem westlichen Horizont zu. Der Abend nahte. In dem kleinen, alten Heiligtum herrschte bereits ein verschwommenes Halbdunkel. Ras Bagror und der Engländer saßen noch auf den Stufen des Altars, ihnen gegenüber der alte Diener Helmut Mooks, der wunderliche Gottlob Quark, und der kecke, stets heitere August Rulicke, Pipin der Große genannt, weil er für seine Jahre recht stark in die Höhe geschossen war, – wie ein ausgewachsener Spargel, sagte Quark stets, wenn er den übermütigen Knaben ein wenig ärgern wollte.
Mehemed hatte sich nur überzeugen wollen, ob die beiden Gefangenen auch sorgsam genug bewacht würden, und ging jetzt mit Mook abermals hinaus, um sich mit Hilfe des Fernglases seines Blutbruders zu vergewissern, daß am Fuße des Berges noch keiner der Leute des Ras erschienen sei. Er hoffte zuversichtlich, das Gefolge des Fürsten würde trotz der Schweißhunde die Fährte der Entführten Ras Bagrors nicht gefunden haben. Dies äußerte er auch zu Mook, während er vom Rande der platten Bergspitze aus, lang auf dem Bauche liegend, die Umgegend mit dem Krimstecher absuchte.
Helmut Mook hatte sich neben Mehemed gelegt und dachte jetzt über all das nach, was der Vertraute Meneliks ihm vorhin mitgeteilt hatte. Der junge deutsche Millionär beneidete den Araber um seinen abenteuerreichen Lebensweg, wünschte, daß doch auch ihm hier in Abessinien noch weitere Erlebnisse ebenso aufregender Art beschert würden, wie er sie bisher glücklich überstanden hatte.
Da nahm Mehemed das Fernglas von den Augen, sagte kopfschüttelnd:
„Ich begreife das nicht! Ich sehe dort unten etwa dreihundert Meter vom Fuße des Sripada-Berges entfernt in einem flachen Tale eine große Anzahl Pferde und Menschen, auch einige vierzig Kamele. Sollten denn Ras Bagrors Leute wirklich unsere Spur bis hierher verfolgt haben? – Und doch: Es muß so sein! Es können ja nur Kamelreiter und die Dienerschaft des Fürsten sein! Am unangenehmsten ist deren Auftauchen insofern, als der geheime Weg durch das Berginnere gerade unweit dieses Tales mündet, so daß wir vorläufig hier trotz –“
Er brach plötzlich ab. Sein Ohr hatte ein verdächtiges, leises Klirren gehört. Sein Kopf fuhr herum, seine Lippen öffneten sich schon zu einem Warnungsruf –
Zu spät! Ein furchtbarer Hieb mit einem Gewehrkolben streckte Mehemed zu Boden. Und ein zweiter traf Helmut Mooks Nacken, so daß der Deutsche eine lange Zeit wie gelähmt dalag. –
In dem Tempel hatte man von diesen Vorgängen nichts wahrgenommen. Erst als nun sechs Männer durch den Eingang hineinstürmten, schnellte Ras Bagror von seinem Sitze hoch und rief frohlockend: „Herbei, Ihr meine Getreuen, – nehmt diese beiden weißen Schufte gefangen!“ Gleichzeitig sprang er auf Gottlob Quark zu, um ihm die Büchse zu entwinden.
Gottlob war so überrascht, daß er gar nicht an Widerstand dachte. Nicht so der Junge. Obwohl er die Worte Ras nicht verstand, hatte er doch sofort gemerkt, was vorging und was ihm drohte. Er handelte blitzschnell ohne langes Überlegen. Es war wie eine höhere Eingebung, als er sich jetzt lang hinwarf und gleichzeitig auf die dunkelste Ecke des Tempels zuschoß, wo dieser nur noch einen Trümmerhaufen bildete. Hier waren Teile des Dachgebälkes in sich zusammengebrochen und bildeten ein schützendes, unregelmäßiges Gitter von dicken Pfosten. Der Knabe war im Nu dahinter gekrochen, tastete sich nun hier im Dunkeln weiter aufwärts, um vielleicht so das Freie zu gewinnen.
Inzwischen war Gottlob Quark von dem kräftigen Ras zu Boden gerungen worden. Den Leuten des Fürsten unterlief nun jedoch ein böser Irrtum, der für August Rulicke die Rettung bedeutete, da ihm hierdurch Zeit gegeben wurde, sich durch das Gewirr von Steinen und Balken hindurchzuwinden und schließlich durch einen kühnen Sprung draußen ebenen Boden zu erreichen.
Die Untergebenen des Ras hatten nämlich bei der ungewissen Beleuchtung den Engländer für einen der Entführer ihres Herrn gehalten und sich auf ihn gestürzt. Ehe dieses Versehen aufgeklärt werden konnte, hatte Wilkins schon verschiedene kräftige Püffe weg und die Angreifer ebenfalls, denn der Brite verstand sich aufs Boxen und war schnell aus seinem gewöhnlichen Gleichmut in hellste Wut geraten.
Mittlerweile hatte der Knabe sowohl die beiden am Rande des Bergplateaus daliegenden, schwer betäubten Gefährten als auch die drei zu ihrer Bewachung dagebliebenen Abessinier bemerkt und schleunigst wieder die gegenüberliegende Seite des Tempels aufgesucht, um sich hier irgendwo zu verbergen. Es war dies gerade die Ostseite, und so fügte es ein gütiges Geschick, daß der Junge den von den Abessiniern nicht wieder zugedeckten Eingang zu der unterirdischen Treppe erblickte und nach kurzem Zögern darin verschwand. –
Zwei Stunden später erwachte Helmut Mook aus seiner Erstarrung, in die ihn der Nackenhieb versetzt hatte. Als er die Augen aufschlug, schloß er sie sofort wieder, geblendet durch den Lichtschein zahlreicher Fackeln, die das Innere des kleinen Heiligtums in rötliche Glut tauchten.
Dann hob er abermals die Lider. Sah nun vor sich auf den Stufen des Altars den Ras, den Engländer und drei vornehme Abessinier sitzen, während weitere Untergebene des Fürsten eine Art Halbkreis vor dem Altar bildeten, in dessen Mitte aufrecht Mehemed ben Ursa mit auf dem Rücken gebundenen Händen stand.
Ras Bagror hatte gesehen, daß der Deutsche nun bei Bewußtsein war, rief ihm zu:
„Auch Du wirst das Schicksal dieses elenden Arabers und Ungläubigen teilen, wirst das erleiden, was Ihr mir zugedacht hattet: Die Schlangenhöhle von Akkassar wird Euch drei aufnehmen! – Schade, daß der Vierte uns entwischt ist! Wir werden aber auch seiner habhaft werden. – Merkst Du nun, Du Verbündeter eines Diamantenfälschers, daß ich nur so tat, als ob ich Euch fürchtete! Ich wußte ja, meine Leute würden in kurzem hier oben sein trotz der niedergebrannten Baumleiter, wenn sie nur erst auf Eurer Fährte waren. Daß es einen zweiten geheimen Zugang zu diesem Tempel gab, ahntet Ihr nicht. Aber meinem alten Diener Ali, der dort steht, war dies als früherem Mohammedaner bekannt. Und hierauf begründete ich meine klug vor Euch geheim gehaltene Hoffnung. Sie trog nicht! Die Meinen erschienen schnell genug, um Euch zu beweisen, daß man sich nicht ungestraft an dem Ras Bagror vergreift.“
Als Mook so vernahm, daß es August Rulicke geglückt war, den Abessiniern zu entweichen, wußte er auch sofort, auf welch kühnen Freund er und seine beiden Leidensgefährten rechnen konnten. Die Drohung des Ras machte deshalb auf den jungen Deutschen keinen besonderen Eindruck. Und ein Blick nach dem stolz aufgerichtet dastehenden Mehemed hin zeigte ihm, daß auch dieser die Rache des Fürsten nicht im geringsten fürchtete. Ein verächtliches Lächeln umspielte Mehemeds Lippen, und als der Ras nun schwieg, sagte er geringschätzig:
„Sripada ist die Fußstapfe des Glückes! Was hier an diesem geheiligten Ort einem Anhänger des Propheten geschieht, wird nie zum Unheil werden.“
Ras Bagror zuckte mit höhnischem Grinsen die Achseln. „Du wirst anders denken, wenn erst einer der kalten Schlangenleiber Dich umwickelt und Deine Rippen sich biegen unter dem Druck der Ringe meiner hungrigen Henker in der Akkassar-Höhle!“
Dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Die Gefangenen mußten mit gefesselten Händen die endlose Steintreppe im Innern des Berges hinabsteigen. Vor und hinter ihnen gingen die Kamelreiter. Der Ras folgte mit dem Engländer als Beschluß des langen Zuges. –
Am Morgen des zweiten Tages nach den Vorgängen auf dem Gipfel des Sripada-Berges näherte sich eine Schar von zehn Kamelreitern und sechs Männern zu Pferde einem felsigen Höhenzuge, der etwa einen Tagesritt von dem alten Heiligtume von Osten nach Westen zu sich in einer Ausdehnung von einer Meile etwa entlangerstreckte und von weitem wie eine lange, ungeheure Mauer mit Zinnen aussah.
Dieser Höhenzug führte bei den Einheimischen den Namen Akkassar, was soviel wie Brücke des Teufels heißt. Auf versteckten, schmalen Bergpfaden bewegte sich der Reitertrupp dann in der schauerlichen Steinwüste dieser Felsenhügel seinem Ziele entgegen. Als der Ras – denn er war es, der seine drei Gefangenen jetzt an den Ort der Schrecken geleitete – die Spitze einer der kahlen Höhen erreicht hatte, die einen kleinen Talkessel einschlossen, machte er halt. Die auf ihren Pferden festgebundenen Gefährten mußten nun absteigen. Dann bekamen sie jeder eine dicke Decke über den Kopf festgebunden, die ihnen das Sehen unmöglich machte, wurden wie Blinde geführt und schließlich wie armselige Bündel zu Boden geworfen, während der Ras drohend rief:
„Bleibt regungslos liegen, oder ich lasse Euch erschießen.“
Helmut Mook horchte genau auf das, was um ihn her vorging. Als er nun seiner Schätzung nach etwa zehn Minuten lang auch nicht das geringste Geräusch gehört hatte, fragte er leise:
„Gottlob, sind Sie auch da?“
„Jewiß,“ erwiderte der Diener, der den Berliner Dialekt nur zu gern sprach.
Auch Mehemed ben Ursa meldete sich nun. „Sidi Mook, wir liegen hier zweifellos in der Schlangenhöhle von Akkassar. Wir müssen daher schleunigst unsere Bande abstreifen. Ich werde mich so dicht an Deinen Rücken heranwälzen, daß Du trotz der gefesselten Hände den Hacken meines rechten Schuhes loslösen kannst, indem Du den Sporn herausziehst. In dem hohlen Hacken trage ich stets ein kleines Messerchen bei mir, um im Notfalle nicht ganz ohne Werkzeug zu sein.“
Als Mook das Federmesser in den Fingern hatte, war das weitere nicht schwer. Was die ihrer Fesseln ledigen Gefährten in der Schlangengrotte erlebten, wie und wo sie den Forscher Doktor Merwart fanden und wie August Rulicke sich mit ihnen wieder vereinigte, soll im folgenden Bande geschildert werden.
Der nächste Band enthält:
Die Geheimschrift der Steinplatte.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Anmerkungen: