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Die Geheimschrift der Steinplatte

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)

 

Die Geheimschrift der Steinplatte.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Die Affen und der Leopard.

Nachdem im Jahre 1906 bis 1907 der Schweizer Luchsinger und der deutsche Graf Westerholt eine Forschungsreise durch das südliche Abessinien unternommen und als Hauptergebnis dieses monatelangen Aufenthaltes in bisher völlig unbekannten Landstrichen Afrikas zwei neue Völkerschaften entdeckt hatten, war im Herbst 1907 der Deutschbalte Doktor Karl Merwart von Darfur aus mit einer kleinen Karawane in dasselbe Gebiet eingedrungen, um die Kenntnis jener beiden bis dahin von den Gelehrten noch nicht beschriebenen Völker zu erweitern.

Leider räumte jedoch das gefährliche Schwarzwasserfieber unter den Trägern Merwarts derart auf, daß er diese sumpfigen Landstrecken schleunigst verlassen und sich nordwärts wenden mußte, um das eigentliche Hochland von Abessinien zu erreichen, wo er auf ein schnelles Erlöschen der Seuche rechnen konnte.

Bevor er bis an die in der Ferne winkenden Bergrücken gelangt war, hatte sich die Kopfzahl der Karawane bis auf vier Mann einschließlich des Expeditionsleiters verringert. Doktor Merwart sah ein, daß sein Unternehmen gescheitert war und beabsichtigte nun die Hauptstadt Abessiniens Addis Abeba aufzusuchen und von da weiter einen Küstenort am Roten Meere zu gewinnen. Mit den ihm verbliebenen drei Trägern hätte er sich ja nie mehr in jene Gebiete hineinwagen dürfen, wo man sozusagen stündlich mit einem Überfall völlig unzivilisierter Neger rechnen konnte. Das südlichste Abessinien wird zumeist von schwarzen Völkerschaften bewohnt, von denen einige kaum wissen, daß der Negus Negesti (König der Könige, Kaiser) von Abessinien sie zu seinen Untertanen rechnet.

Zwei der Träger lohnte Merwart nun ab und schickte sie nach ihrer Heimat Darfur zurück, die sie als Begleiter einer nach dorthin gehenden Handelskarawane, der man zufällig begegnet war, glücklich zu erreichen hofften.

So hatte Merwart denn nur noch einen einzigen Schwarzen bei sich, den er bereits in Kairo auf Empfehlung eines Freundes als Diener angeworben hatte und der sehr bald mit geradezu hündischer Treue seinem weißen Herrn ergeben war.

Dieser Neger war ein Kind der Westküste Afrikas, ein Kameruner, der sich den hochtönenden Namen Napoleon beigelegt hatte. Seinen eigentlichen kannte er nicht, behauptete aber, aus einer vornehmen Häuptlingsfamilie zu stammen.

Napoleon war ein geradezu riesiger Bursche unbestimmbaren Alters. Er selbst meinte, er würde etwa vierzig Lebensjahre hinter sich haben. Sein pockennarbiges Gesicht war noch verziert durch drei Längsschnitte auf jeder Wange, deren Narben durch irgend ein Färbemittel hellblau geworden waren. Ein weiteres besonderes Merkmal an ihm waren die fehlenden Ohrmuscheln. Über die Art, wie er sie einst in Tunis eingebüßt hatte, erzählte er sehr gern und sehr oft eine in ihren Einzelheiten recht unbeständige Geschichte, an der nach Merwarts Dafürhalten nur das eine wahr sein konnte, daß Beduinen den braven Napoleon zur Strafe für eine kleine Eigentumsverwechslung so verstümmelt hatten.

Napoleon berichtete überhaupt sehr gern wahre Mordgeschichten über Abenteuer, die er glücklich bestanden haben wollte. Tatsache war, daß er Afrika recht gut kannte und eigentlich überall gewesen war, zumeist als Diener und Dolmetscher reicher Vergnügungsreisender, denn er besaß sehr vielseitige Sprachkenntnisse, die er allerdings in sehr komischer Weise durcheinanderwarf, so daß in einem Satz oft England, Frankreich und Deutschland vertreten waren.

An einem Januarmorgen 1908 finden wir Herr und Diener gerade an der Grenze des Sumpflandes vor und zwar in einem kleinen Gehölz, wo sie nach ruhig verlaufener Nacht ihren Morgenimbiß einnehmen.

Napoleon ging jetzt die Aluminiumbecher, aus denen man den Tee getrunken hatte, in einem nahen Bache reinigen, kehrte dann mit der Nachricht zum Lagerplatz zurück, er habe am Ufer des kleinen Wasserlaufes Spuren eines offenbar sehr kräftigen Leoparden gefunden, und fügte hinzu, dieser Leopard hinke auf dem linken Hinterlauf und trage um den Hals eine Eisenkette.

Merwart wußte, daß Napoleon es im Spurendeuten mit jedem Indianer aus den Zeiten der Kämpfe der Farmer mit den Rothäuten hätte aufnehmen können, zweifelte also keineswegs an der Richtigkeit dieser Einzelheiten und prüfte sie durch Besichtigung der Fährten eigentlich nur deshalb nach, um festzustellen, ob man dem Raubtiere, das vielleicht verwundet, jedenfalls aber doch schon einmal in Gefangenschaft gewesen war, nicht folgen und es erlegen könne.

In dem Ufersande des Baches sah Merwart, daß das Raubtier allerdings eine kurze Kette hinter sich her geschleift hatte und erkannte auch, daß die Spuren noch recht frisch, kaum etwa eine Stunde alt, waren.

Deshalb ließ er Napoleon bei dem Gepäck und den beiden Reitochsen zurück, schulterte seine Büchse, einen vorzüglich gearbeiteten Drilling mit zwei Kugel- und einem Schrotlauf, und verschwand in dem Dickicht des hier sanft ansteigenden Geländes.

Bereits nach einer Viertelstunde – die Leopardenfährte war in dem hohen Grase leicht zu verfolgen – bemerkte der Doktor, daß das Raubtier sich wiederholt niedergetan hatte, also ohne Zweifel sehr ermattet war. Hieran konnte vielleicht der lahme Hinterlauf schuld sein, der wahrscheinlich eine frische Verwundung hatte, worauf Merwart daraus schloß, daß der Leopard sich beim Liegen stark zusammengekrümmt zu haben schien, also wahrscheinlich die Wunde geleckt hatte.

Der Doktor, ein kaum dreißigjähriger, hagerer Mann mit rotblondem, langem Vollbart und einer Brille vor den hellen Augen, überquerte dann nach weiteren fünf Minuten eine steinige Lichtung, wo die Spuren sehr schwer zu erkennen waren. Als er sie ganz verloren hatte, schlug er einen großen Kreis, um so die Fährte irgendwo wiederzufinden. Während er nun in weitem Bogen auf gut Glück durch einen lichten Hain von Palmen und Affenbrotbäumen dahinschritt, hörte er plötzlich hinter sich ein klägliches Winseln, gleichzeitig auch ein wütendes Gezeter, das nur von einer Affenherde herrühren konnte.

Vorsichtig schlich er näher, kroch durch ein Gebüsch und blieb dann, gedeckt durch die Sträucher, liegen, da ihn das seltsame Bild vor ihm ungemein fesselte.

Von seinem Platz aus konnte er eine Talmulde bequem übersehen, in der in der Mitte etwa ein kleiner Wassertümpel und daneben ein paar große, bemooste Felsblöcke lagen. Im Schatten dieser Steine hatte sich der Leopard niedergetan, jetzt kaum zwanzig Meter von Merwart entfernt.

Über dem Raubtier aber auf der Spitze der Felsen und auf den untersten Ästen einer vertrockneten Sykomore hockten gegen zwanzig Silberpaviane, auch Hamadryas genannt, bekanntlich sehr kräftige Tiere, die wegen ihrer Angriffslust berüchtigt sind.

Der Leopard ist nun ebenso wie der ihm verwandte Gepard ein großer Liebhaber von Affenfleisch, während die Affen diesem Raubtier jene Vorliebe durch einen Haß vergelten, der etwas Ähnliches in der Tierwelt nur noch zwischen Krähen und Habicht findet. Taucht ein Leopard in der Nähe einer Affenherde auf und wird er rechtzeitig bemerkt, so muß er sich schleunigst drücken, da die flinken Gesellen sofort ein Bombardement mit Ästen, Steinen und Früchten auf ihn beginnen, das, falls die Affen genügend Steine zur Verfügung haben, für die gelbe Katze recht gefährlich werden kann.

Doktor Merwart wurde jetzt Zeuge eines solchen Angriffs. Der matte Leopard, dem im linken Hinterschenkel ein abgebrochener Speer steckte, während um seinen Hals ein starkes Lederband mit Kette befestigt war, vermochte offensichtlich nicht mehr zu fliehen und war dem auf ihn herabprasselnden Steinhagel schutz- und wehrlos ausgesetzt.

Interessant war das Verhalten der Paviane. Die Männchen, weit stärker als die Weibchen gebaut, hatten das Schleudern der Felsbrocken übernommen, während die Weibchen diese eilfertig herbeischleppten.

Der Leopard wurde sehr oft getroffen, blutete auch bereits am Kopf und stieß immer häufiger ein klägliches Winseln aus. Dann raffte er seine letzten Kräfte zusammen und versuchte sich in dasselbe Dickicht zu schleppen, in dem der Doktor lag, kam aber nur eine kurze Strecke weit und war jetzt den Steinwürfen noch mehr als früher ausgesetzt.

Das Ende dieses Bombardements konnte kaum zweifelhaft sein, da die Paviane immer frecher wurden und zwei besonders kräftige Männchen bereits mit langen Ästen als Hiebwaffen auf den Leoparden losgingen.

Dieser hatte sich jetzt, vollständig erschöpft, ganz lang ausgestreckt, hielt die Augen halb geschlossen und ließ ein geradezu menschlich klingendes Stöhnen hören, das Merwarts Mitleid erweckte. Ein gutgezielter Schuß streckte gleich zwei der Affen zu Boden. Die anderen entflohen unter wütendem Gekreisch in die Krone eines nahen Ölbaumes.

 

2. Kapitel.

In der Gewalt des Ras Bagror.

Merwart trat aus dem Gebüsch hervor näherte sich langsam dem Leoparden, der auf den Knall der Schüsse hin sich mühsam halb aufgerichtet hatte.

Er vermutete, hier einen jener Jagdleoparden vor sich zu haben, die für die Hetze auf Antilopen in Abessinien gern abgerichtet und dann recht zahm werden.

In einer Entfernung von drei Meter blieb er vor dem Raubtier stehen, die Büchse schußbereit in der Hand, und rief der gelben Katze nun ein paar Worte recht sanften Tones zu, um zu erproben, wie sie auf den Leoparden wirken würden.

Und wirklich: Das matte Tier begann schmeichelnd den langen Schwanz zu bewegen, stieß auch ein ganz leises Winseln aus.

Jetzt erst gewahrte Merwart, daß der Leopard zum Skelett abgemagert war und daß der Speer in der Wunde eine starke Eiterung hervorgerufen hatte.

Einer Eingebung folgend schnitt er einem der toten Paviane einen Hinterschinken ab und warf ihn dem Leoparden zu, der auch sofort gierig zu fressen begann. Erst als von den beiden Pavianen nur noch die Rümpfe übrig waren, schien er gesättigt zu sein.

Inzwischen hatte Merwart immer wieder zu dem Leoparden freundlich gesprochen, worauf stets ein dankbares Schweifwedeln gefolgt war. Nun ging er einen Schritt weiter, füllte seinen Tropenhelm aus dem Tümpel mit Wasser und schob ihn vorsichtig dem noch immer ausgestreckt daliegenden Tiere mit der Hand zu.

Der Leopard soff ebenso gierig, winselte abermals, soff einen zweiten Helm leer und – kroch dann ganz demütig auf Merwart zu.

Dieser hatte die Büchse weggelegt, seinen gespannten Revolver in die Linke genommen und ließ so das Tier bis dicht an seine Füße heran, wo es nun nach Katzenart den Kopf an den Schenkeln des Doktors zu reiben anfing.

Merwart bückte sich und streichelte dem Leoparden vorsichtig den Nacken, kraute ihn hinter den Ohren und wagte sehr bald dann auch, die Wunde am Schenkel auszuwaschen, wobei das Tier regungslos still hielt. Selbst als der Doktor nun mit einem Ruck das Speerstück herauszog, zuckte der Leopard nur zusammen. Er erkannte eben in dem ihm nicht unbekannten Vertreter des Menschengeschlechts seinen Retter und Wohltäter.

Auch den blutigen Kopf säuberte Merwart dann, riß schließlich sein Taschentuch in lange Streifen und verband die gereinigte Schenkelwunde, auf die er noch einen aus zerstampften Blättern der Rizinus-Pflanze hergestellten, kühlenden und als Wundheilmittel allen Negern wohlbekannten Brei getan hatte.

Als er nun nach dem Lagerplatz zurückwollte und sich langsam entfernte, indem er wieder sanft dem Leoparden allerlei Worte zurief, erhob dieser sich und – folgte ihm langsam. Unterwegs machte der Doktor an einer Quelle halt, erneuerte den Brei, tränkte den zahmen Leoparden abermals und erlebte die Freude, daß dieser ihm nun sogar die Hände leckte.

Napoleons Mund blieb unnatürlich weit offen, als Mensch und Raubtier friedlich nebeneinander gehend erschienen. Die Reitochsen wieder machten verzweifelte Anstrengungen, trotz ihrer eng gefesselten Vorderbeine davon zu humpeln. Aber auch sie gewöhnten sich schnell an die Nähe der großen, gelben Katze, die nach zweitägiger Ruhe nicht nur völlig frisch und kräftig, sondern auch in einem Maße zutraulich wurde, daß Napoleon schon mit ihr spielend sich auf der Erde herumbalgte.

Der Doktor hatte den Leoparden geradezu lieb gewonnen und ihn Cäsar getauft, trotz des Protestes Napoleons, der sehr empört darüber war, daß der Name eines ähnlich berühmten Eroberers wie der große Kaiser der Franzosen (Merwart hatte ihm die Bedeutung dieses Wortes erklärt) für ein vierbeiniges Geschöpf hergegeben wurde.

Nachdem der Leopard wieder zu Kräften gekommen, wurde die Reise fortgesetzt. Am dritten Marschtage traf man auf einen persischen Händler, der einen Maulesel ritt und einen zweiten hinter sich herzog. Der Perser warnte den Doktor vor dem Fürsten des Gebietes, wo man sich jetzt befand, und erzählte, wie der Ras Bagror (Ras, Fürst) ihm alle seine Waren habe wegnehmen lassen und ihn dann noch mit der Todesstrafe gedroht habe, falls er nicht schleunigst die Umgegend der Hauptstadt dieses Gebietes verlasse.

Diese sollte etwa eine Tagereise entfernt im Norden liegen. Der Doktor hatte von ihr bereits als der uneinnehmbarsten Felsenfeste Abessiniens gehört und auch verschiedenes über den Ras Bagror, das zur Vorsicht mahnte. Der Fürst war als der widerspenstigste der Vasallen des Kaisers Menelik berüchtigt, nicht minder als Feind aller Europäer und als sehr gewalttätiger Mensch.

Merwart wollte deshalb dessen Residenz auch in weitem Bogen umgehen. Der Perser schloß sich den beiden an. Am Abend des vierten Tages wurde dann das Lager in einer Schlucht eines felsigen Bergrückens aufgeschlagen, von wo aus man im Westen die Stadt des Ras Bagror, in das rote Licht der untergehenden Sonne getaucht, in der Ferne wie einen riesigen Steinwürfel liegen sah.

Abessinien, das alte Äthiopien, ist in der Hauptsache ein Bergland mit weiten, fruchtbaren Hochebenen, aus denen die so charakteristischen, steilen und oft ganz unzugänglichen Tafelberge, das heißt Berge mit abgeplatteter Spitze, herausragen. Es ist politisch in Fürstentümer und Königreiche geteilt, die eine gewisse Selbständigkeit, so auch eigenes Militär haben, während auch der Kaiser in der Hauptstadt Addis Abeba eine starke Truppenmacht unterhält, die nach europäischem Muster gedrillt, aber nicht allzuviel wert ist, da die Disziplin zu locker gehandhabt wird. Die gesamte Heeresmacht wird auf 200 000 Mann geschätzt.

Merwart wollte nun sehr gern die Residenz des Ras Bagror sich mehr aus der Nähe ansehen und befahl Napoleon daher, in der Schlucht zu bleiben, bis er zurückgekehrt sein würde.

Von dem Perser hatte er sich einige Kleidungsstücke ausgeliehen, durch die er sich so herausputzte, daß er nach Entfernung des Bartes für einen Abessinier gehalten werden konnte.

Als er zwei Stunden marschiert war, gelangte er an den einzigen Zugang, auf dem man nach der Residenz hineingelangen konnte. Es war dies eine hölzerne Zugbrücke, die von dem riesigen Tafelberge, auf dem die Residenz sich ausbreitet, abwärts ins Tal führte.

Er fand die Zugbrücke jedoch durch Soldaten wie stets bewacht, die jeden Einlaßbegehrenden erst genau prüften. Schon wollte er umkehren, als er hinter sich Stimmen vernahm. Es waren Kavalleristen der kaiserlichen Armee. Kamelreiter, die ihre Tiere in einem nahen Flusse gebadet hatten.

Merwart drückte sich tiefer in die Büsche am Wegrand. Aber er wurde von ein paar die Soldaten begleitenden Hunden gewittert, ergriffen und trotz der späten Stunde noch vor den Ras geführt.

Dieser unterwarf ihn einem strengen Verhör. Merwart hielt sich bei seinen Aussagen an die Wahrheit. Er merkte, daß Ras Bagror verlangende Blicke auf den Drilling warf, und fürchtete deshalb, es könnte ihm genau so ergehen wie dem Perser, den der Fürst ja auch vollständig ausgeplündert hatte.

Es kam noch schlimmer. Ras Bagror hatte kaum erfahren, daß Merwarts Begleiter, nämlich Napoleon und der Händler, sowie der Leopard unfern der Hauptstadt lagerten und daß der junge Forschungsreisende seit Wochen mit keinem Europäer oder sonst jemandem zusammengekommen war, dem er Briefe oder vielleicht mündliche Bestellungen hätte mitgeben können, als er auch schon in der Überzeugung, für diese Tat nie zur Verantwortung gezogen zu werden, sich entschloß, Merwart für immer verschwinden zu lassen.

Um jedoch den Schein des Rechts zu wahren, beschuldigte er den Doktor nun, jenen Jagdleoparden gestohlen zu haben.

Es war dies eine so lächerliche Anklage, daß Merwart sofort ahnte, er solle eben um jeden Preis für irgend ein Vergehen bestraft werden, damit der Fürst einen Vorwand hätte, sich die Sachen seines Gefangenen anzueignen.

Scheinbar in höchster Wut verkündete der Ras jetzt dem angeblichen Diebe, er würde ihn zur Strafe einkerkern und zwar so lange, bis Merwart zugeben würde, den Leoparden absichtlich mitgenommen zu haben, und bis er als Sühne tausend Mariatheresien-Taler zahlen würde.

Der Doktor, der diese freventliche Komödie bereits durchschaut hatte, wußte nur zu gut, daß selbst das von ihm geforderte Geständnis – die verlangte Summe konnte er ja hier in der Fremde niemals auftreiben! – nichts an der für ihn so trüben Sachlage ändern würde. Er schwieg daher, ließ sich von drei dem Fürsten offenbar sehr ergebenen Dienern ruhig fortführen und hoffte auf sein gutes Glück und ein Eingreifen einer gerechten Vorsehung.

Er hoffte – leider umsonst! – Noch in derselben Nacht wurde er auf einem plumpen, zweirädrigen Karren gebunden und in Decken gehüllt fortgebracht. Am nächsten Mittag etwa mußte er dann nach Verlassen des Wagens mit verbundenen Augen zu Fuß eine lange Strecke gehen, bis man ihm sowohl die Fesseln als auch die Binde abnahm.

Neugierig schaute er sich um. Er befand sich in einer kaum acht Meter breiten, aber scheinbar recht tiefen Grotte dicht an deren Eingang, durch den das Tageslicht in breiter Bahn in das Dunkel hineinflutete.

Vor ihm aber stand einer der Diener Ras Bagrors und sagte unfreundlich und höhnisch zugleich:

„Dies ist Dein Kerker. Du wirst Dich hier sehr wohl fühlen. Du sollst auch reichlich verpflegt werden, erhältst jede Woche ein Brot und einen Krug Wasser. Es wird Dir sehr gefallen, dieses Felsgemach, zumal Du hier Gesellschaft hast. Diese Grotte mündet nämlich in einem zweiten Ausgang in eine Höhle, die wir die Schlangenhöhle von Akkassar nennen, weil die Riesenschlangen der ganzen Umgegend diesen Ort besonders lieben und immer wieder auftauchen. Du bist also gewarnt! Unternimm keinen Fluchtversuch. Er würde Dich das Leben kosten!“

Dann verschwand er schnell im Hintergrunde der Grotte, ließ ein Brot und ein Gefäß voll Wasser zurück.

 

3. Kapitel.

Die Geheimschrift.

Doktor Karl Merwart war ein Gelehrter, aber keiner von jenen, die allen praktischen Dingen gegenüber ein unmündiges Kind erscheinen. Nein – er hatte von Jugend an allen Erscheinungen des Lebens, sei es, was es sei, lebhaftes Interesse genommen, hatte sich so nicht nur eine Menge wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern auch eine weitumfassende Erfahrung auf anderen Gebieten angeeignet.

Nachdem der Diener des Ras ihn verlassen hatte, hielt er erst einmal genauere Umschau in seinem Gefängnis. Er trat durch den breiten Eingang ins Freie hinaus, das heißt auf eine Art Felsterrasse, die vorn gut achtzehn Meter senkrecht in einen kleinen Talkessel abfiel, während sie im übrigen von einer steilen, glatten Felswand umgeben war, an der nicht einmal ein Turnkünstler von Affe hätte emporklimmen können.

Ein Blick hinab in das von steinigen Anhöhen eingeschlossene Tal zeigte ihm eine grüne Wildnis, auch einen kleinen Weiher, zeigte ihm aber auch auf einem sandigen Fleck die gefleckten Leiber von drei Riesenschlangen, die sich dort sonnten, oder aber worauf ihre unförmig angeschwollenen Leiber hindeuteten, in träger Verdauungsruhe dalagen, die bei diesen Reptilien, denen ein ganzes Reh hinunterzuschlingen möglich ist, oft wochenlang dauert.

Merwart erkannte, daß von hier, von der Terrasse aus, eine Flucht völlig ausgeschlossen war. Er begab sich nun in die Höhle zurück und tastete sich in ihr eine weite Strecke in rabenschwarzer Finsternis vorwärts, kehrte dann aber um, als er merkte, daß sich verschiedene Seitengänge nach rechts und links abzweigten. Er fürchtete, sich zu verirren, in einen dieser Seitentunnels zu geraten und sein eigentliches Gefängnis nicht wiederzufinden.

Auf der Terrasse wieder angelangt, setzte er sich auf ein Felsstück in den klaren, warmen Sonnenschein und überdachte seine Lage. Sie war verzweifelt, ohne den geringsten Lichtblick! Das Ende mußte der Tod sein – ein qualvoller Hungertod! Dann – wie sollte er sich wohl eine Woche lang von einem einzigen Brote ernähren können, wie sollte er es aushalten, ohne jede Abwechslung der Kost dahinvegetieren zu müssen! Und weiter: Würde nicht sehr bald der Wahnsinn sich ihm, dem Einsamen, mit schleichenden Schritten nähern, würde nicht das Alleinsein in einem so engen Kerker angesichts des lockenden Grüns der Sträucher und Büsche dort unten die Sehnsucht nach Freiheit bis ins Krankhafte steigern?!

Merwart saß regungslos da. Aller Mut war von ihm gewichen, alle Energie, alle Lebenslust. Schon spielte er mit dem Gedanken, den ihm bevorstehenden seelischen und körperlichen Leiden durch einen Todessprung in das Tal zu entgehen, als unvermittelt die Erinnerung an seinen treuen Diener Napoleon in ihm auftauchte.

Ja – dieser würde ohne Zweifel alles daran setzen, den Verbleib seines Herrn aufzuklären. Gewiß – der schwarze Napoleon war ein Prahlhans, aber auch wieder ein recht verschlagener, geradezu tollkühner Bursche, sobald es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Das hatte der Doktor während seiner nur zu schnell beendeten Forschungsreise wiederholt beobachten können.

Napoleon! Ja – auf ihn baute Merwart! Wenn der Neger nicht gerade den Leuten Ras Bagrors in die Hände fiel, hatte der Doktor hier im Lande des übelberüchtigten Fürsten einen zuverlässigen Freund, der nicht verabsäumen würde, seinen Herrn zu befreien.

Merwart erhob sich. Die lähmende Mutlosigkeit war verschwunden. Nochmals begann er nun die Terrasse sorgfältiger als das erste Mal in Augenschein zu nehmen. Er legte sich auch am Rande lang auf den Bauch und schaute so mit dem Kopf über dem Abgrund in die Tiefe hinab. Dies tat er an mehreren Stellen der etwa dreieckigen Felsplattform. So kam es, daß er an der rechten Seite dort, wo die Steilwand und die Terrasse einen stumpfen Winkel bildeten, zu seiner schnell hoch aufflackernden Freude etwa zwei Meter unter sich eine Wölbung der Wand nach innen und einige Vorsprünge und Spaltungen des Gesteins wahrnahm, in denen sich ein paar jener zähen Pflanzen angesiedelt hatten, die der Abessinier Sotal nennt und die die Eigentümlichkeit haben, ihre jungen Triebe stets um die alten zu schlingen, so daß die Pflanze schließlich einem dicken Tau gleicht. Die Sotal-Gewächse, die im Urwald eine Länge bis zu 20 Meter erreichen, benutzen die ärmeren Landleute im Reiche des Negus Negesti daher auch als Stricke, die dicksten als Taue, aus denen sie sogar Hängebrücken über Abgründe oder Wasserfälle fertigen.

Merwart hätte am liebsten sofort den Versuch gemacht, ob er nicht mit Hilfe dieser Schlingpflanzen auf die sehr wahrscheinlich unter der seinen befindliche Terrasse gelangen könnte, von der aus es dann vielleicht einen Weg in die Freiheit gab.

Aber die bessere Einsicht siegte. Die Diener Ras Bagrors waren vielleicht in der Nähe, und er konnte durch vorschnelles Handeln vielleicht alles verderben!

So verzichtete er denn zunächst auf diese lebensgefährliche Kletterpartie, ging in die Grotte, legte das Brot in eine Aushöhlung des Felsens, stellte den Wasserkrug dazu und begann darauf Felsbrocken zu sammeln, aus denen er sich in der Grotte dicht am Eingang eine Art Mauer herstellte, hinter der er schlafen wollte. Fürchtete er doch, eine der Riesenschlangen könne sich einmal bis hierher durch den Felsengang verirren. Gewiß – viel schützte diese Mauer nicht! Aber – sie war doch immer besser als nichts!

Erst am Abend als die Magenleere zu arg wurde, brach der Doktor ein Stück Brot ab und verschlang es heißhungrig. Noch nie hatte ihm Trockenbrot so geschmeckt! Dann legte er sich schlafen – auf ein dünnes Lager von Moosen und Flechten, die er mühsam mit einem scharfen Steine von den Felsen losgekratzt hatte.

Als er nach unruhigem Schlummer bei Tagesanbruch erwachte, vernahm er sofort das Rauschen und [sah][1] seine Terrasse förmlich überschwemmt. Er setzte sich also wieder auf sein Lager und wartete auf den Abzug des schwarzen Regengewölks.

Der Himmel klärte sich nach einer Stunde auf. Die Sonne erschien, und alles ringsum gewann wieder ein freundlicheres Aussehen.

Der Doktor erlebte dann eine frohe Überraschung, als er die Grotte verließ. Auf der Felsplattform, deren Vorderseite etwa zwölf Meter breit war, während die Tiefe nur etwa acht Meter betrug, lagen eine Menge Äste, Zweige und Grasbüschel, die der Wolkenbruch oben auf dem Berge, in den sich die Grotte hineinzog, losgerissen und zum Absturz gebracht hatte.

Merwart freute sich über diese Geschenke des Himmels mehr als ein armer Lohnschreiber, der das große Los gewinnt. Stellenweise lagen ja die Zweige und Aststücke so dicht wie von Menschenhand aufgeschichtet. Und – was konnte er jetzt alles aus diesen dünnen Hölzern herstellen! Gerade er, der so viel Fingerfertigkeit und so viel Erfindungsgeist besaß!

Ras Bagror hatte ihm ja sogar die Taschen völlig leeren lassen. Er besaß nichts als das was er auf dem Leibe trug. In solcher Lage ist alles willkommen und zu verwerten, selbst das Unscheinbarste.

Jedenfalls sah der Doktor die Dinge heute schon mit ganz anderen Augen an, als gestern. Er war von Statur ein unverwüstlicher Optimist, das heißt ein Mensch, der alles ringsum stets durch eine rosafarbene Brille anschaute, der so leicht die Hoffnung nicht sinken ließ und selbst dem Ungünstigsten noch eine gute Seite abzugewinnen verstand. Wenn ihn gestern diese frohe Zuversicht verlassen hatte, so lag das lediglich daran, daß er eben durch den Mißerfolg seiner Forschungsreise etwas niedergedrückt war und seine alte seelische Elastizität noch nicht ganz zurückgewonnen hatte.

Nachdem er seinen „Holzvorrat“ nun genügend gemustert hatte, wollte er den Versuch wagen, „eine Etage tiefer zu gelangen,“ wie er halb im Scherz zu sich selbst sagte. Er wußte recht gut: Wenn die in den Spalten der Felswand wuchernden Sotalpflanzen[2] das Gewicht seines Körpers nicht trugen, stürzte er in den Talkessel ab und würde unten vielleicht ein willkommener Fraß für die Riesenschlangen werden. Trotzdem gab er den Gedanken nicht auf, festzustellen, ob seine Vermutung zutreffe, daß die Einbuchtung der Felswand auf eine ähnliche Terrasse wie hier oben hindeute.

Und – er hatte Glück! Die Sotaltaue hielten. Am schwierigsten und gefährlichsten war, daß er sie, über dem Abgrund schwebend, in Pendelbewegung versetzen mußte, um auf dem Rande dieser zweiten Terrasse festen Fuß fassen zu können. Auch dies gelang. Nun hatte er sein Ziel erreicht.

Diese Plattform, auf der er jetzt stand, war in jeder Beziehung von der darüber befindlichen verschieden. Sie war kleiner, hatte die Form eines Halbkreises, besaß sozusagen ein Dach, eben die darüber liegende Plattform, und hatte keinerlei Öffnung in der Hinterwand, keine Höhle oder auch nur einen Felsengang aufzuweisen. Sie wäre also recht uninteressant gewesen, wenn nicht in der Mitte der Hinterwand eine roh behauene Steinplatte an dem von Flechten überwucherten Felsen gelehnt hätte. Sie war viereckig, etwa anderthalb Meter hoch und ein Meter breit. Darin eingemeißelt waren lateinische Buchstaben, von denen nur die unterste Reihe Worte der lateinischen Sprache enthielt, während die oberen lediglich aus wahllos aneinander gereihten Buchstaben zu bestehen schienen.

Die Buchstaben und Worte waren folgendermaßen gruppiert:

H A E B D N I L D C I E V S L R E V S I R O
I T U I U N N I I A V R I T I P M E T P U R
C E S U O O S T N P U A A I B A I N I E M Q
P R E S A S O U E T S T E N E T N I S T T E
                                          S

 D E U S T E C U M H O M I N E P A T E R
 E U S E B I U S .

Merwart konnte die letzte Reihe leicht entziffern. Sie lautete: „Deus tecum, homine! Pater Eusebius,“ – auf deutsch: „Gott mit Dir, o Mensch! Pater Eusebius.“

Also ein Pater, ein Mönch, hatte hier an diesem Orte bereits geweilt! – Das stand unzweifelhaft fest. Was aber bedeuteten nur die oberen Reihen, die doch scheinbar ganz sinnlos waren? Scheinbar! Der Doktor hatte nämlich sofort die Überzeugung gewonnen, daß auch sie sehr wohl zu entziffern waren, wenn man nur erst den Schlüssel zu dieser Geheimschrift gefunden hatte. Er setzte sich also dicht vor die Steintafel auf ein Felsstück und wollte versuchen, die Buchstaben so zu ordnen, daß sie Worte, Sätze und einen Sinn ergaben.

Vielleicht war der Doktor doch etwas zerstreut oder nicht im Vollbesitz seiner geistigen Spannkraft. Jedenfalls vermochte er die eingemeißelte Schrift nicht zu deuten – heute nicht! Später sah er dann ein, wie unendlich einfach sich der Pater Eusebius die Sache gemacht hatte. Aber gerade deswegen hatte Merwart an eine solche Möglichkeit nicht gedacht.

Nachdem er also eine halbe Stunde vor der Steintafel zugebracht hatte, gab er alle weiteren Versuche auf und kehrte nach oben auf seine Terrasse zurück. –

Wenn wir alles das, was der junge Forschungsreisende in seinem merkwürdigen Kerker erlebte, hier im einzelnen schildern wollten, müßten wir dazu viele Seiten dazu verwenden. Es sollen deshalb hier nur die Ereignisse erwähnt werden, die zum Verständnis des glücklichen Ausganges unserer Erzählung nötig sind. –

Merwart hätte mit der ihm von dem Ras Bagror bewilligten Brotmenge niemals auskommen können. Als nach Ablauf der ersten Woche eines Morgens ganz überraschend ein alter, würdiger Abessinier vor dem Doktor stand, sah dieser sofort, daß mit Saribat, so nannte der Alte sich, weit leichter umzugehen war als mit des Fürsten anderen Vertrauten. Saribat schien sogar Mitleid mit Merwart zu haben, und im Laufe einer längeren Unterredung versprach er denn auch, er wolle heimlich mehr Lebensmittel für den Gefangenen liefern, als der Ras gestattet habe; nur müsse der Doktor ihm versprechen, dies unter allen Umständen geheim zu halten. Weiter erzählte er dann auch auf eine Frage Merwarts hin, er habe den Pater Eusebius recht gut gekannt. Der Mönch sei Mitglied einer Missionsgesellschaft gewesen und habe einige Jahre hier im Lande gewirkt. Plötzlich verschwand er. Und erst nach vielen Jahren verbreitete sich das Gerücht, der Vater des jetzigen Fürsten habe den Pater an einem verborgenen Orte eingekerkert gehabt, von wo der Mönch schließlich doch entfliehen konnte. Saribat fügte noch hinzu, er glaube bestimmt, dieser Ort sei ebenfalls die Schlangenhöhle von Akkassar gewesen, das heißt dieser Berg, der von einer ganzen Menge von Grotten und Gängen durchzogen sei. –

So war denn durch den gutmütigen Saribat, den der Ras als dauernden Wächter für Merwart bestimmt hatte, dessen größte Sorge, eben die Beschaffung der Lebensmittel, zerstreut worden. Über die in dem Berge befindlichen Höhlen hatte der Alte sich jedoch nicht aushorchen lassen. Er mochte fürchten, daß der Doktor diese Angaben dann zu einem Fluchtversuch benutzen könnte, wodurch ihm als Wächter nur Ungelegenheiten bereitet worden wären. So mußte Merwart denn schon auf eigene Faust die nötigen Vorbereitungen zur Durchforschung des Höhlensystems des Akkassar treffen.

Nachdem er mit Hilfe seines Holzvorrates die in der Grotte errichtete Steinmauer zu einer kleinen Hütte ausgebaut und nachdem er sich allerlei Werkzeuge und sogar Tisch, Schemel und Bettstatt hergestellt hatte, schmeichelte er Saribat nach etwa fünf Wochen auch eine Schachtel Zündhölzer ab. Die Einführung dieses modernen Massenartikels hatte der Negus Negesti Menelik veranlaßt und daraus eine neue Einnahmequelle für den Staatssäckel gewonnen.

Jetzt fehlte dem Doktor für die beabsichtigte Durchforschung des Berginnern nur noch eine Waffe. Auch die hatte er dann bald in Gestalt eines Beiles mit langem Stiel und einer Steinschneide. Als ihm das Beil so gut geraten war, fertigte er sich noch ein Messer an. Nun fehlte ihm nichts mehr. Der Marsch durch die Finsternis konnte beginnen. Trotzdem wartete er, bis Saribat, der sich ganz regelmäßig an jedem Sonnabend einfand, dagewesen war. Am Tage darauf (wenigstens zeigte Merwarts auf der Terrasse aufgestellte primitive Sonnenuhr die Stunden an!) machte er sich dann auf den Weg, ausgerüstet mit seinen Waffen, einer Menge zu Fackeln geeigneter Holzstücke und ein wenig Mundvorrat.

Welch gewaltige Ausdehnung die Höhlen und natürlichen Felsengänge im Innern des mächtigen Berges hatten, erkannte er erst jetzt mit aller Deutlichkeit. Als er sich dann einmal so sehr in diesem Labyrinth verirrt hatte, daß er den Rückweg zu dem nach seiner Grotte führenden Haupttunnel kaum finden konnte, wurde seine Unternehmungslust dadurch stark abgekühlt, zumal er immer mehr einsah, daß er einen Ausgang in die Freiheit doch nicht entdecken würde. Dies hätte er sich von vornherein selbst sagen können. Niemals würde ja Ras Bagror einen Gefangenen, dessen Flucht ihm große Ungelegenheiten bereiten konnte, hier untergebracht haben, wenn das Entweichen aus der Felsgrotte so leicht gewesen wäre.

Merwart war glücklich, als er erkannte, daß er sich endlich wieder in dem Haupttunnel befand. Mit größerer Vorsicht als bisher untersuchte er nun die zahlreichen Abzweigungen dieses Felsenganges und gelangte dann schließlich auch – in die eigentliche Schlangenhöhle, durch deren sehr breiten Eingang das Tageslicht mit einer Fülle von Leuchtkraft hereinströmte, während der Steinboden stellenweise ganz dicht mit den träge daliegenden Leibern der Riesenschlangen bedeckt war. In dieser Höhle herrschte eine recht hohe Temperatur, wahrscheinlich infolge vulkanischer Einflüsse, wie man dies ja auch anderswo, auf den großen Sunda-Inseln, beobachtet hat. Besonders bekannt ist die Schlangenhöhle von Rabatawa auf Java, in der es gleichfalls sehr heiß ist, so daß die Schlangen der ganzen Umgegend diese Grotte sozusagen als Versammlungsstelle erwählt haben. Auch in Indien gibt es ähnliche Grotten. Schon Jules Verne, der berühmte Verfasser von „Die Reise um die Welt in achtzig Tagen“ erwähnt eine solche. Jedenfalls hat man die Bevorzugung einer derartigen verhältnismäßig engen Örtlichkeit durch das kriechende Gewürm lediglich dem zuzuschreiben, daß Schlangen die Wärme sehr lieben.

Der sehr breite Eingang der Akkassar-Höhle lag ungefähr in gleicher Höhe mit der Sohle des Felskessels, in dem die Schlangen sich sonnen konnten und von dem aus ohne Zweifel ein ohne weiteres nicht bemerkbarer Weg ins Freie führen mußte, da ja eine solche Anzahl von Schlangen nicht gut dauernd nur diesen Ort allein bevölkern, sondern sich außerhalb Nahrung suchen mußten.

Merwart kam einen Augenblick der kühne Gedanke, mit langen Sprüngen über die Leiber der Schlangen hinwegzusetzen und in das Tal vorzudringen, um hier den fraglos vorhandenen Ausgang zu suchen. Nur einen Augenblick dachte er daran, denn noch ehe dieser Plan voll bei ihm ausreifen konnte, ereignete sich etwas, das ihn sehr ernsthaft warnte, die Gefährlichkeit der Bewohner dieser Felsengrotte zu unterschätzen.

Er hatte seine Fackel ausgelöscht gehabt, als er den hellen Lichtschimmer gewahr geworden war. Er stand mithin in dem Gange dort, wo dieser in die Grotte mündete, im Dunkeln, glaubte bestimmt, von den Schlangen nicht bemerkt worden zu sein, und rechnete somit in keiner Weise mit einem Angriff.

Und doch: Nur seine Geistesgegenwart rettete ihn vor sicherem Tode! – Etwa sechs Meter von dem Platze entfernt, wo er stand, lag ein besonders starkes Exemplar von Riesenschlange zusammengerollt da und schien zu schlafen. Dieses Untier, das gut seine zwölf Meter maß, ringelte sich urplötzlich auf, und gleichzeitig schoß die vordere Hälfte seines Leibes wie ein Speer auf den Doktor zu, der sich gerade noch durch einen Sprung nach rückwärts hinter der ersten Biegung des Ganges in Sicherheit bringen konnte. Das Reptil folgte ihm nicht. Der mißglückte Angriff schien seiner Wut gegen den fremden Eindringling genügt zu haben.

Als Merwart seine eigene, bedeutend höher gelegene Grotte wieder erreicht hatte, ging die Sonne gerade unter. Das Ergebnis dieses fast zwölfstündigen Aufenthaltes im Innern des Berges war recht gering: Lediglich die Tatsache, daß seine Wohngrotte mit der eigentlichen Schlangenhöhle in Verbindung stand, war für ihn von Bedeutung.

Während er dann in seiner kleinen Hütte seine recht bescheidene Abendmahlzeit verzehrte, überlegte er sich die Ereignisse des verflossenen Tages nochmals mit allen Einzelheiten. Und da tauchte denn in seinem Hirn auch die Frage abermals wieder auf, die er sich bereits so und so oft gestellt hatte: Wie gelangte Saribat zu ihm hindurch, falls er – und das nahm der Doktor bestimmt an! – jenen zweiten Gang benutzte, der gleichfalls in die Grotte der Schlangen mündete und dessen dunkel gähnende Öffnung Merwart deutlich rechts von sich wahrgenommen hatte?! – Daß hiermit irgend ein Geheimnis verknüpft war, glaubte der Doktor ganz bestimmt. Der alte Abessinier hatte ja stets, wenn er sich verabschiedete, Merwart ausdrücklich davor gewarnt, ihm etwa heimlich zu folgen, war auch immer davongegangen, ohne seine Laterne anzuzünden. Dies tat er fraglos erst später, wenn er die Gewißheit hatte, daß der Doktor ihm nicht nachschlich.

Merwart wälzte jetzt wieder dieselben Gedanken in seinem Kopfe, die er schon vordem oft genug ausgesponnen hatte: Ob es nicht möglich sei, Saribat trotz aller entgegenstehender Schwierigkeiten auf den Fersen zu bleiben und so den Ausgang aus diesem seltsamen Kerker sich gegen den Willen des Abessiniers zeigen zu lassen. – Aber auch heute fand er keine Lösung für diese Aufgabe, die ebenso viel List und Verschlagenheit als auch Rücksichtslosigkeit gegen den freundlichen Alten verlangte.

 

4. Kapitel.

Der Fremde.

Wochen, Monate vergingen. Merwart hauste noch immer in seinem Felsengefängnis. Alle Versuche, die Freiheit zu gewinnen, waren fehlgeschlagen. Jetzt war er müde, noch weiter eitlen Hoffnungen nachzujagen. Sein Verhältnis zu Saribat war auch nicht mehr das alte. Der Abessinier hatte es ihm sehr verdacht, daß er zweimal ihm hatte unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln nachschleichen wollen.

So kam der Mai heran. – In Abessinien wie in allen tropischen Ländern wird unser Winter in gewissem Maße durch die Regenzeit vertreten, das heißt durch jährlich in denselben Monaten stattfindende, überreiche Niederschläge. Ein eigentlicher Winter fehlt also. – Für Abessinien ist nun der Mai der Übergangsmoment vom Winter zum Sommer, gleichzeitig aber auch die Zeit der Übersiedlung der Wandervögel von den heißen Gefilden Afrikas nach dem Norden.

Eines Morgens erlebte Merwart dann ein ganz besonderes Schauspiel. Über Nacht hatte sich in dem Talkessel ein Zug von Störchen niedergelassen, und vier dieser langbeinigen, bei uns so gern gesehenen Gäste hatten den Kampf gegen eine der Riesenschlangen aufgenommen, der mit dem Tode des Reptils endete. Die Störche hatten mit ihren Schnäbeln den Leib der Schlange derart zerfetzt, daß es dann einer noch gut zwei Meter längeren Artgenossin der Besiegten ein leichtes war, sie stückweise sofort nachher als Frühstück zu verschlingen.

Der Anblick dieses erbitterten Kampfes, bei dem die Störche mit größter Gewandtheit allen Vorstößen des Reptils auszuweichen wußten, hatte in dem Doktor einen ganz besonderen Gedanken angeregt. Da er bereits eingesehen hatte, wie gering seine Aussichten auf eine Flucht ohne fremde Unterstützung waren, wollte er jetzt mit Hilfe von Meister Langbein, wie man den Storch gern nennt, auf gut Glück schriftliche Notschreie in die Welt senden, wobei er mit der Möglichkeit rechnete, daß eine dieser Botschaften entdeckt und gelesen würde.

Die Schwierigkeit war nur, eine Anzahl Störche einzufangen. Aber – ein vortreffliches Sprichwort lautet: „Wo ein Wille, auch ein Weg“, das heißt: Bei ernsthaftem Bemühen läßt sich alles erreichen. – So auch hier.

In den folgenden Tagen wurden nämlich die Wanderzüge der Störche immer zahlreicher. Diese Vögel, die wie viele andere eine doppelte Heimat haben, im Norden brüten und im Süden die rauhe Winterzeit verleben, pflegen stets genau denselben Weg bei ihren Luftreisen zu nehmen und auch stets an denselben Plätzen zu kurzer Rast niederzugehen. So kam es auch, daß verschiedene Teile, also kleinere Gruppen der Riesenschwärme aus alter, weitvererbter Gewohnheit gerade das kleine Tal oder die umliegenden Höhen als Rastplätze benutzten.

Merwart hatte sich nun aus der Rinde verschiedener Äste sowie den Ranken der Sotalpflanze[3] leichte, aber sehr dauerhafte Leinen gefertigt, die er dann so einrichtete, daß sie als Lasso zu benutzen waren. Mit diesen Schlingen fing er nachts nacheinander an fünf Tagen nicht weniger als neun Störche von der unteren, der „Pater-Terrasse“, wie er sie zu bezeichnen pflegte, band den Tieren erst die Flügel, befestigte dann an der Innenseite des Oberschenkels mit Hilfe eines selbstgedrehten und durch Harz sehr dauerhaft gemachten Bindfadens kleine, ausgehöhlte Zweigstückchen, in die er kleine, lederartige Blätter eines Rankengewächses hineingeschoben hatte. Diese Blätter ersetzten das fehlende Papier und enthielten in drei verschiedenen Sprachen einen Hilferuf an alle, die eines der Röhrchen entdecken sollten, zugleich natürlich auch die Mitteilung, wo er als Gefangener eingekerkert war. Als Tinte hatte er das Blut einer Schnecke benutzt, das, wie er durch Versuche vorher festgestellt hatte, auf der Blattoberfläche ebenso fest wie Ölfarbe haftete.

Die wieder freigelassenen Störche hasteten sofort in eiligem Fluge davon und verschwanden in der Dunkelheit. Gern hätte der Doktor noch einige der großen Vögel in dieser Weise zu seinen Sendboten gemacht, konnte aber keinen einzigen mehr einfangen. Die Flugzeit ging zu schnell vorüber, und es waren ja auch nur Teile der Storchengeschwader gewesen, die das Tal der Schlangenhöhle sich als Rastplatz erkoren hatten.

Nun begann für Merwart wieder das geisttötende Einerlei seiner furchtbaren Einsamkeit. Die Zeit schlich hin. Die Wochen und Monate brachten keine Abwechslung. Dann trieb eines Tages die Langeweile den Doktor wieder in das Innere des Berges hinein. Sogar bis hinab zu der Schlangengrotte wagte er sich vor und beobachtete das Treiben ihrer scheußlichen Bewohner. Plötzlich gewahrte er dann rechts von sich einen Mann, der, gleichfalls noch halb in einem dort einmündenden Tunnel stehend, zu Merwart hinüberzuschauen schien. Erst hatte der Doktor an einen der vertrauten Diener des Ras Bagror gedacht. Dann aber sagte er sich, jener Mann könne sowohl seiner Tracht als auch besonders seines langen Bartes wegen nur ein Araber sein, wahrscheinlich einer jener Händler des westlichen Küstengebietes Arabiens, die in Abessinien nur ungern geduldet werden, anderseits aber unentbehrlich sind, da die einheimische Industrie im Reiche des Negus Negesti noch recht sehr in den Kinderschuhen steckt.

Merwart fürchtete, der Fremde könnte vielleicht unvorsichtigerweise die Schlangengrotte betreten, winkte ihm daher zu und rief auch ein paar warnende Worte hinüber. Und dies gerade noch zur rechten Zeit. Eine mächtige Schlange nämlich hatte es jetzt offenbar auf den langbärtigen Mann abgesehen, der sich nun aber schleunigst in Sicherheit brachte, das heißt zurück in seinen Gang flüchtete.

Der Doktor war überzeugt, daß der Araber ein Leidensgefährte von ihm sei, eben ein zweiter Gefangener, dem Ras Bagror diesen Kerker angewiesen habe. Aus diesem Grunde begab sich Merwart jetzt auch täglich nach der Höhle der Riesenschlangen hinab. Stets jedoch vergeblich. Seine Hoffnung, den Unbekannten nochmals zu Gesicht zu bekommen und sich mit ihm vielleicht in Verbindung setzen zu können, erfüllte sich nicht. Der Mann blieb unsichtbar. Und nichts deutete mehr darauf hin, daß er sich noch im Innern des von Felsengängen durchzogenen Berges befinde.

Nach diesem Zwischenfall nahm des Doktors Leben wieder den früheren Gang an: eintönig, aussichtslos, niederdrückend und entbehrungsreich! – Wenn er trotzdem sich geistig und körperlich frisch erhalten, wenn die Hoffnung auf Befreiung ihn noch immer nicht verlassen hatte, so lag das lediglich an seiner verständigen Lebensweise und seiner Willensstärke, die ihn nie ohne Tätigkeit den Tag hinbringen ließen. Nein: Müßiggang ist aller Laster Anfang, – ist aber auch der Beginn der Unzufriedenheit und zwecklosen Grübelns. Nur eine geregelte Art der Daseinsführung hilft über Schweres hinweg.

Dies behielt der Doktor stets im Auge. Zu seinem Glück! So fand ihn nämlich die Stunde der endlichen Erlösung genügend tatkräftig und geistig rege vor, um auch die letzten Widerwärtigkeiten und Gefahren wohlbehalten zu überstehen.

 

5. Kapitel.

Vergeltung.

Wir müssen den jungen Forscher jetzt verlassen und uns einige Kilometer nach Westen wenden, wo der Höhenzug, zu dem auch der Berg der Schlangengrotte gehörte, in eine weite, gras- und buschbewachsene Hochebene übergeht und dann wieder einen einzelnen Ausläufer aus der Ebene emporreckt, auf dem ein Heiligtum ganz besonderer Art sich befindet, und zwar ein uralter Tempel.

Dieser kleine, halb verfallene Tempel war soeben der Schauplatz recht wildbewegter Szenen gewesen. Hier hatte derselbe Araber, den Merwart damals flüchtig in der Schlangengrotte erblickt hatte, und dem es geglückt war, dem berüchtigten Ras Bagror mit Hilfe von drei Deutschen zu entfliehen, über den von den vier Gefährten sodann gefangen genommenen Fürsten Gericht abgehalten.

Doch – ganz unvermutet waren dann in dem Tempel Soldaten und Diener des Ras aufgetaucht, die durch einen geheimen Gang auf den abgeplatteten Berggipfel gelangt waren, hatten den Araber, sowie Helmut Mook und einen seiner Begleiter, einen etwas wunderlichen Alten namens Gottlob Quark, überwältigt und auf des Fürsten Geheiß nach der Akkassar-Höhle geschleppt.

Diesem Überfall war nur der dritte Deutsche, ein kräftiger junger Bursche, entgangen, der bei dieser Gelegenheit wieder einmal bewiesen hatte, daß er trotz seines vorher ausgeübten friedlichen, wenn auch messerschwingenden Gewerbes als Barbierlehrling eine ungewöhnliche Schlauheit und tollkühnen Mut in sich vereinigte.

Kein anderer als dieser August Rulicke war es gewesen, der den Landsmann Helmut Mook, einen mehrfachen Millionär, dazu bewogen hatte, der Botschaft des einen, unweit von Wien gefangenen Storches durch eine Reise nach Abessinien näher auf den Grund zu gehen.

August Rulicke, den Mook scherzhaft auf dessen Länge anspielend „Pipin den Großen“ getauft hatte, war von einem Versteck am Fuße des Tempelberges aus Zeuge gewesen, wie der Araber und die beiden Deutschen gefangen weggebracht wurden. (Wir verweisen unsere jungen Freunde und Leser auf die beiden vorhergehenden Bändchen, „Die Schlangenhöhle von Akkassar“ und „Der Gefangene des Ras Bagror“, in denen die hier nur angedeuteten Geschehnisse ganz ausführlich geschildert sind.)

Die Fährte der gegen hundert Reiter betragenden Schar der Soldaten und Diener des Fürsten war in der Steppe so deutlich ausgeprägt, daß es dem Knaben nicht schwer wurde, sie trotz der jetzt hereinbrechenden Abenddämmerung zu verfolgen. Nach einer Stunde etwa konnte der gerade im Spurenlesen recht gewandte Junge dann feststellen, daß der weitaus größere Teil der Begleitung des Ras nach Süden zu abgeschwenkt war und daß nur im ganzen zehn Reiter die anfängliche Richtung beibehalten hatten.

Während August Rulicke noch die breite Fährte des Haupttrupps zu entwirren trachtete, um womöglich herauszubekommen, ob die drei Gefangenen hier oder dort geblieben waren, während er mit dem Rücken nach einem dichten Gebüsch zu stand und auf die Umgebung wenig achtete, hörte er plötzlich hinter sich ein starkes Rauschen in dem Buschwerk. Ehe er sich noch umdrehen konnte, sprang ihm irgend ein größeres Tier auf die Schulter und riß ihn zu Boden. Doch nicht umsonst hatte der Knabe hier im Süden Abessiniens bereits allerhand Abenteuer durchgemacht und sich so eine Geistesgegenwart erworben, die ihn auch jetzt nicht verließ. Bereits im Niederstürzen war seine Rechte nach dem Westengürtel gefahren, hatte das dort steckende Dolchmesser gepackt und holte nun, als der Junge in dem Angreifer einen überaus kräftigen Leoparden erkannte, zum Stoße aus, der vielleicht der gelben, gefleckten Katze für immer das Lebenslicht ausgeblasen hätte, – da – aus den Büschen eine Stimme, eine menschliche, rauhe Stimme, die in einem wahren Kauderwelsch von Deutsch, Englisch und Französisch halb ängstlich, halb bittend rief: „Weg mit Messer – weg sonst wird Napoleon von hier schießen und treffen! Der Leopard nichts tut, wenn Napoleon befiehlt!“

Der zum Stoße hochgereckte Arm sank langsam herab. Und abermals dieselbe Stimme:

„Cäsar – zurück, – hierher! Sofort – sogleich – augenblicklich! Wirst Du gehorchen, Du Sohn der Wildnis, Du Freund meines armen Herrn, Du Besiegter der Affenherde, Du Vielfraß, – zurück!“

Und Cäsar ließ auch wirklich von August Rulicke ab. Der erhob sich, sah sich nun einem herkulisch gebauten Neger gegenüber, dessen Preisringer-Figur in einen bunten Anzug von Fellen gehüllt war.

Sehr bald war zwischen Napoleon und dem Knaben eine volle Verständigung erzielt. Auf beiden Seiten gab es sehr überraschte Gesichter, als man erfuhr, daß der Schwarze der Diener jenes Doktor Merwart war, den Helmut Mook mit seinen beiden Begleitern hatte befreien wollen.

Napoleon vollführte geradezu Freudensprünge, als er so einen Verbündeten gefunden, der ihm über die letzten Ereignisse, somit auch über Ras Bagrors jetzigen Aufenthalt hier in der Nähe, genauen Aufschluß geben konnte. Er selbst erzählte dem neugewonnenen Gefährten, wie er den Häschern, die der Fürst nach der Gefangennahme des Doktors zu seiner Ergreifung ausgeschickt hatte, glücklich durch die rechtzeitige Warnung des Leoparden entronnen und wie er sich dann all diese Monate bis heute stets in der Umgebung der Residenz des Fürsten aufgehalten habe, um seinen geliebten Herrn irgendwo aufzustöbern und zu retten. Heute hatte es dann ein Zufall gefügt, daß er gerade mit Cäsar hier vorübergekommen war, als von der anderen Seite sich August Rulicke der Gebüschgruppe näherte.

Ein kräftiger Handschlag besiegelte jetzt den neuen Bund von Schwarz und Weiß. Nach kurzer Beratung machten die beiden sich dann eilends wieder auf den Weg, um dem kleineren Trupp zu folgen, bei dem sich auch nach Napoleons Ansicht der Araber, Mook und Gottlob Quark befinden mußten.

Die Fährte dieser zehn Reiter führte auf den Höhenzug zu, der auch den Akkassar-Berg mit seinen Geheimnissen barg. Der Knabe hatte kaum gemerkt, daß es auf die nicht allzufernen Berggipfel zuging, als er auch schon frohlockend erklärte: „Der Fürst wird seine neuen Gefangenen ohne Zweifel nach der Schlangenhöhle bringen! Und dort, Napoleon, dort werden wir mit ihm abrechnen, wir beide, die wir gut bewaffnet sind und außerdem noch Cäsar zur Verfügung haben, der drei Männer aufwiegt!“

Die Dunkelheit nahm schnell zu. Aber des Negers treffliche Augen konnten die Spuren selbst bei diesem ungenügenden Licht noch unterscheiden. Und so gelangten die Gefährten, als der Mond gerade über den Bergen hochstieg, in ein langgestrecktes, ziemlich steil aufwärts führendes Tal, dessen steiniger Boden die Hufeindrücke der Pferde zwar nicht mehr angenommen hatte, in dem aber doch hier und da auftauchende, niedergedrückte Gräser die Fortsetzung der Fährte anzeigten.

Diese undeutliche Fährte lief schließlich in eine Schlucht hinein, die links von dem Tale abzweigte. Hier nun fanden die beiden Verbündeten die zehn Pferde, bewacht von zwei Abessiniern, die ihr Wächteramt jedoch höchst nachlässig versahen, – nämlich fest schliefen, so daß ihre Überwältigung nicht gerade schwer war. Nachdem Napoleon sie gefesselt und ihnen auch Knebel in den Mund geschoben hatte, entnahm man den Ledersäcken der drei zu dem Trupp gehörigen Packpferde einige Harzfackeln und drang bei deren Schein in den dunkel gähnenden Schlund ein, der von dem tiefsten Winkel der Schlucht in das Berginnere führte.

Kehren wir nun, liebe Freunde und Leser, zu unserem Doktor zurück. – Am Nachmittag dieses selben Tages hatte er, der Eingebung eines Augenblickes folgend, auch die Steinplatte des Pater Eusebius aufs neue sehr genau besichtigt. Heute zum ersten Male nun dachte Merwart daran, die Geheimschrift auf einfache Weise zu lösen, während er bisher stets mit allerlei ganz schwierigen Lösungsmöglichkeiten sich abgemüht hatte. Und – siehe da! – als er die Buchstaben der Reihen nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten las, erhielt er folgende Sätze:

Hic Pater Eusebius duo annos in solitudine capitivus erat. Via est in libertatem. Invenesti, si petrum torques.[4]

Auf deutsch: „Hier war Pater Eusebius zwei Jahre gefangen in der Einsamkeit. Es gibt einen Weg in die Freiheit. [5]Du hast ihn gefunden, sobald Du den Stein drehst.“

Der Doktor stieß einen Jubelruf aus. Sofort packte er die schwere Felsplatte, versuchte sie zu drehen. Es ging! Und mit ihr drehte sich nun eine zweite Platte, auf der sie in einer Ritze festgeklemmt ruhte. Diese zweite Platte aber gab nun ein Loch in dem Felsenboden frei, in dem eine feste Leiter lehnte.

Merwart faltete jetzt unwillkürlich die Hände. Und ein Dankgebet stieg aus seinem freudig bewegten Herzen zu dem empor, der die Geschicke der Menschen oft auf so wunderbare Weise lenkt. – Dann begab er sich wieder nach seiner Terrasse hinauf, suchte sich ein paar Äste als Fackeln aus seinem Holzvorrat heraus, nahm sein Steinmesser und sein Steinbeil sowie den Rest seiner Lebensmittel mit und – trat den durch den Pater verheißenen Weg in die Freiheit an.

Es war Abend geworden, als er die ersten Sprossen der Leiter betrat und mit brennender Fackel in das Felsloch hinabkletterte, das sehr bald in einen horizontalen, breiten Felstunnel überging, der in vielfachen Windungen das Berginnere durchkreuzte. Merwart bog dann gerade um eine scharfe Ecke des unterirdischen Ganges, als er vor sich mehrere helle, flackernde Punkte wahrnahm, ohne Zweifel Fackeln wie die seine, von Menschenhand getragen. Sofort sprang er zurück, drückte seine Leuchte am Boden aus, beobachtete nun das Nahen der Lichtfünkchen, die größer und größer wurden.

Bald unterschied er fünf Leute, die drei andere, denen die Hände gefesselt waren, durch den sich hier zu einer Höhle erweiternden Tunnel führten. Und unter den fünf Abessiniern befand sich – der Ras Bagror!

Der Trupp dort drüben bog jetzt in einen engen Seitengang ab. Der Doktor schlich hinterdrein, wurde so Zeuge, wie die Begleiter des Fürsten einen schmalen Stein zur Seite rollten und dadurch den Zugang zu – der Schlangenhöhle freilegten. Weiter beobachtete er, daß die Gefangenen dann in einem der von der Schlangengrotte abzweigenden Gänge niedergelegt wurden, nachdem ihnen auch die Füße mit Stricken umwunden worden waren.

Hierauf machten die fünf Abessinier sich auf den Rückweg. Der Doktor blieb hinter ihnen. Abermals betraten sie jetzt durch den steinverdeckten Eingang die höhlenartige Erweiterung des Tunnels, in dem Merwart die Fackeln zuerst von weitem gesehen hatte. Dann aber geschah etwas so Unerwartetes, daß selbst der Doktor vor Schreck zusammenfuhr.

Aus dem Dunkel vor den fünf Leuten schnellte plötzlich ein gelber Tierkörper heraus, riß den einen der Fackelträger um. Dann tauchte ein breitschultriger, fellbehangener Neger auf, schlug mit dem Büchsenkolben zwei weitere Abessinier nieder. Der Fürst und der Fünfte mußten dann, so vollständig überrumpelt, sich auf Gnade und Ungnade ergeben.

Eine Viertelstunde später spielte sich dort, wo die Gefangenen niedergelegt worden waren, eine frohbewegte Szene ab. Mook, der Araber und Gottlob Quark hatten ihre Fesseln bereits abgestreift, als die drei Retter auftauchten. Nach freudigem Hin und Her von Fragen und Antworten saß man dann über den Ras abermals zu Gericht. – Auge um Auge, Zahn um Zahn: Die sieben Abessinier, einschließlich der beiden Pferdewächter und des Fürsten, wurden an derselben Stelle gebunden zurückgelassen, wo sie auch ihren drei Gefangenen den Tod durch die Riesenschlangen der nahen Höhle hatten bereiten wollen! –

Unsere Geschichte ist hiermit zu Ende. Die Deutschen erreichten wohlbehalten einen Hafenort am Roten Meer und schifften sich hier nach Europa ein. Napoleon und Cäsar blieben bei Merwart als treue Gefährten, lernten so auch in Riga die Gestade der Ostsee kennen. Der Araber aber erstattete dem Negus Negesti Menelik Bericht über die verbrecherischen Taten des Vasallenfürsten, den man dann jedoch nicht mehr zur Rechenschaft ziehen konnte.

Die Schlangen der Höhle von Akkassar hatten bereits die gerächt, denen der Ras Bagror das gleiche Schicksal zugedacht hatte. –

Für heute nehmen wir Abschied von Dir, freundlicher Leser. Das nächste Bändchen wird uns nach den Jagdgründen der kanadischen Pelzjäger führen, ist betitelt:

 

Die Wölfe der Parker-Insel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „sah“ ergänzt.
  2. In der Vorlage steht: „Sotapflanzen“.
  3. „Sotal-Pflanze“ / „Sotalpflanze(n)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Sotalpflanze(n)“ geändert.
  4. In der Vorlage (Steinplatte) steht: „Hic Pater Eusebius duo annos in solitudine captivus erat. Via est in liberpatem. Invenisti, si petrum torqes.“
    In der Vorlage (Auflösung) steht: „Hic Pater Eusebius duo annos in solitudine capitivus erat. Via est in libertatem. Invenesti, si petrum torques.“
    Richtig wäre hierbei: „Hic Pater Eusebius duo annos in solitudine captivus erat. Via est in libertatem. Invenisti, si petrum torques.“
    Die jeweiligen Fehler (in der Steinplatte sowie in der Auflösung) wurden im Text so belassen, da sonst bei der Buchstabenfolge der Steinplatte die Formatierung hätte geändert werden müssen. Auch wurde dort auf eine Anmerkung verzichtet, um dem Leser keine vorzeitige Auflösung (Spoiler!) zu geben.
  5. Überflüssiges Anführungszeichen entfernt.