Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 43 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
Eine gereizte Stimme zischte vom Fallreep zur Reling empor …
„Seid ihr des Teufels!! Die Ankerwinde quietscht wie ein gestochenes Schwein …!“
Jupp beruhigte mich …
„Nichts Verdächtiges, Abelsen …! Unsere Kerle passen scharf auf …“
Der Buganker faßte, der Motor des Schoners japste noch einige Male asthmatisch[1], und dann lag unser großer Kahn still.
Ich lugte nach den Riffen hinüber. Aber auch das Nachtglas half da sehr wenig, schwarzes Gewölk hing ganz tief, und die kaum spürbare Brise brachte nur den Glutodem aus den Wüsten Arabiens über den träge atmenden Persischen Golf, dessen schwere Dünung genau jede zweite Minute dort an den Riffreihen eine brausende, brüllende Brandungswelle hochsteigen ließ.
Jupp Hubard kam eilends die Schiffstreppe hinab.
„Alles fertig, Abelsen … Sie wissen ja Bescheid … Hier ist die Korkweste …“
Er half mir beim Umschnallen.
„Das Ding wird die gröbsten Püffe abhalten“, suchte er seine eigene Besorgnis zu zerstreuen … „Haben Sie noch was zu fragen?“
Ich mußte lachen, obwohl die ganzen Umstände keineswegs spaßig waren.
Zunächst ankern wir hier nämlich auf verbotenem Gebiet, und die moderne persische Regierung läßt mit sich nicht spaßen.
Die Perlmuschelbänke, die noch Schonzeit haben, dürfen überhaupt nicht befahren werden.
Und zweitens: Wir ankern hier mit unserem Motorschoner ohne jedes Positionslicht, wir hatten uns in der Finsternis wie die Piraten herangeschlichen, zuweilen bemerkten wir im Westen den Leuchtfinger des neuen Leuchtturmes der Hafenstadt Buschir, – die Situation war verdammt kitzlich, und wenn ein Zollkutter auftauchte, dann …, – besser gar nicht daran denken!
Was tut man nicht alles, sobald man auch nur hofft, etwas Besonderes zu erleben!!
Und in dieser Hoffnung schwelgte ich nun seit Monaten, seit Jupp Hubard mich da unten im Süden, wo keine Füchse, sondern die See-Elefanten sich gute Nacht sagen, samt meinem Viehzeug an Bord genommen und nach einiger Zeit erklärt hatte: „Hol’s der Henker, Abelsen, – Sie haben mir gefehlt!! Sie sind der rechte Kerl für die Geschichte, wir beide bringen es ins Reine, – – also – wie ist es, machen Sie mit?“
Damals hatte er mir in seiner Kajüte gegenübergesessen, hatte sein kantiges Gesicht erwartungsvoll hochgereckt und ganz von selbst hinzugefügt:
„Ich sage Ihnen gleich, alter Freund, daß die Sache nicht ungefährlich ist … Aber es gilt, eine alte Schuld wettzumachen, bisher habe ich mich nicht wieder nach Farsistan hineingetraut, es leben noch zu viele von denen, die den ständigen Begleiter des großen Almani Marschallah von der treffsichersten Seite kennen gelernt haben, und die Bergstämme dort sind heute keinen Deut anders geworden, so ein kleiner Meuchelmord – – Spaß, – kein Huhn und kein Hahn kräht danach …!“
Da erst war ich aufmerksam geworden.
„Persien meinen Sie?“
Er nickte und zerwühlte seine graue Haarmähne noch ärger mit der braunen knochigen Hand.
„Ob ich Persien kenne!!“ Seine hellen Augen leuchteten auf. „Hole es der Henker, Abelsen, damals hätten Sie dabei sein müssen!! Wenn die Engländer kaum eine Küstenfunkstation fertig hatten, – in einer der nächsten Nächte knallten ein paar Pfund Ekrasit, und der ganze Krempel wurde Bruch! Das war ein Leben, alter Freund! Was der Oberst Lawrence da in Arabien besorgte, das besorgte der Almani Marschallah doppelt und dreifach in Persien, bis …“ – und da ließ er den Schädel trübe sinken – „bis das verdammte Geld meinem Herrn den Spaß verdarb …“
Ich schaute Jupp Hubard ziemlich verständnislos an.
„Almani Marschallah …?“, wiederholte ich nachdenklich … „Irgendwo muß mir der Ehrentitel schon gedruckt vor die Augen gekommen sein, irgendwo …“
Jupp, Besitzer und Kapitän des Robbenschoners „Zodaide“ (komischer Name für so einen Trankahn, hatte ich längst gedacht!), verzog sein faltiges bartloses Ledergesicht zu einem verächtlichen Grinsen.
„Spaß – – gelesen! Mag schon sein. Obwohl man von meinem Herrn hinterher nicht mehr viel Aufhebens machte …! Wäre der Almani Marschallah ein Engländer oder Franzose gewesen, jedes Kind wüßte heute seinen Namen! Er war ja der große Gegenspieler des Obersten Lawrence, er – – doch davon später, Abelsen …! Machen Sie mit? Zweierlei habe ich dort in Persien zu erledigen, – Ehrenschulden begleichen, könnte man es ausdrücken … Doch ich allein, – das ging nicht … Das wäre sicherer Tod gewesen. Wie ich schon andeutete: Die Bergstämme in Farsistan haben zu viel Blut lassen müssen, nachdem sie zu elenden Schacherern und Verrätern geworden waren, auch mir saßen die Kugeln verdammt locker im Lauf, und den verhaßten Namen Almani Dscheitan habe ich mir ebenfalls ehrlich verdient …“ Ein Zucken grimmer Wildheit flog über sein zerfurchtes Gesicht. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine gedrungene Gestalt schien zu wachsen, – urplötzlich war Jupp Hubard ein völlig anderer geworden, in seinen Augen glitzerte die Erinnerung an tolle Gefahren, tolle Abenteuer, und dann schob er mir die Hand über den Tisch hin …
„Wollen Sie, Abelsen …?“
Ob ich wollte!
Und dann gondelten wir mit der „Zodaide“ nordwärts durch den Indischen Ozean, ließen die Nebelinsel Kerguelenland hinter uns, und nun …
Nun waren wir an Ort und Stelle, nun konnte der Tanz losgehen.
Lächerlich, daß Jupp soeben noch geflüstert hatte: „Haben Sie noch was zu fragen?“, – Und ich hätte stundenlang fragen können! Denn die mitteilsamen Stunden waren bei Käpten Hubard genau so selten, wie bei anders gearteten Leuten, denen die Zunge nie erlahmt, die Ruhepausen es sind. Jupp erklärte mir nur immer wieder: „Er mag es Ihnen selber berichten, Abelsen … Und was die andere Sache betrifft, – das ist eine Familienangelegenheit …“
Und nun war es so weit …
Nun glitt ich ins Wasser, – es war lauwarm, ich schwamm den Riffen zu, in voller Kleidung, eine Woge hob mich, ich schwebte in Bordhöhe der „Zodaide“, und da mußten sie mich entdeckt haben, meine vier Getreuen, – – ihr Winseln verklang sehr schnell, die Woge trug mich fort, ließ mich hinter sich, eilte mir voran und zerschellte an den düsteren Riffen … Weißer Schaum leuchtete durch die Finsternis, flutete zurück, und die nächste Woge kam, faul, träge wie all diese Dünungskinder, fett und aufgemästet, rundlich und harmlos tuend, – – aber da vor mir lauerte der Tod, das wußte ich, und ich paßte scharf auf, spürte auch den Widerstand der Leine, die Jupp von der Reling durch die Finger gleiten ließ, fühlte auch den Druck dieser Hanfleine unter den Armen, betastete nochmals den Knoten, und schwamm weiter.
Aus der melancholischen, stickigen Finsternis wuchsen Einzelheiten hervor. Der breite, mehrfache Riffgürtel besaß einige hohe Zacken, die sich wie schlanke Wachttürme ausnahmen. Zwischenräume gab es übergenug, und dort gurgelte das Meer bei jedem seiner verstärkten Atemzüge wie in ein geöffnetes Schleusentor hinein, dort leuchteten keine Schaumkronen dieser faul heranrollenden Dünung, dort schoß keine Woge steil empor, bog sich nach außen um, spie keinen Gischt, – – dort mußte ich irgendwo hinein, in eine dieser engen Durchfahrten, und – – wieder kam eins der Zwei-Minuten-Ungetüme lautlos herbei, schleichend, protzig, – hob mich wieder empor …
Noch dreißig Meter …
Ich ruckte an der Leine und Jupp verstand, Jupp hielt mich zurück, die Leine straffte sich, und der heimtückische Wasserberg, der mich diesmal unbedingt mit gegen die Riffe geschleudert hätte, zog wütend gurgelnd vorüber, war um sein Opfer betrogen.
Ich wartete ab …
Nun folgte das übliche Schauspiel dort an den Riffen.
Wie ein schwärzlicher gläserner Wall, flüssig und zäh, schob sich die matt schillernde Masse gegen die triefenden Felsen, – die Stille ward jäh unterbrochen durch das Aufbrüllen dieses in seinem Laufe gehemmten Untiers, der schimmernde Wall kroch am rostbraunen Gestein sechs, sieben Meter hoch empor, ein weißer Streifen zuckte unter Zischen und Brodeln und Quirlen für Sekunden auf, bis alles wieder zurücksank, sich beruhigte und mich nun die zurückflutende Kraft packte und mir die dreißig Meter stehlen wollte, die ich so genau berechnet hatte, die ich nicht verkürzen oder verlängern durfte, wenn ich dort das breite Schleusentor rechtzeitig erreichen wollte.
Rechtzeitig …!
Und das hieß nicht nur, überhaupt vor dem Ansturm des nächsten Zwei-Minuten-Ungetüms hineinzugelangen, das hieß auch, der Wucht der aus der Felsenöffnung rückströmenden Wasser zu entgehen.
Spiel mit dem Tode …!
Gewiß, das war es …
Und nicht einer von den acht braven Kerlen des Schoners hätte für solch ein Spiel sich geeignet. Ich kannte sie alle acht, Jupp mit eingerechnet, – und wie kannte ich sie!
Ein Trankahn wie die „Zodaide“ ist eine Welt für sich, man begegnet einander auf Schritt und Tritt, man redet oder schweigt, aber trotzdem fallen die Hüllen von den Seelen, und schließlich könnte man mit aller Sicherheit von jedem einzelnen eine Charakteristik liefern, die bestimmt richtig sein würde.
Nein, – das sahen sie selbst ein: Dieses Wagnis, erst einmal eine feste Hanfleine auf die Riffe hinüberzuschmuggeln, verlangte einen fertigen, gewandten Schwimmer. Ich übernahm es freiwillig, ich taxiere meine Kräfte weder zu gering noch zu hoch, ich gehe bis zu jener Grenze, wo das Risiko fünfzig zu fünfzig steht, und hier war es nicht anders …
– Die Woge flutete zurück, ich schwamm mit kräftigen Stößen, hatte vorher wieder für Jupp das Signal gegeben: Freie Fahrt!, – die Leine hinderte mich nicht, ich gab alles her, was Arm- und Beinmuskeln herzugeben hatten, und ich siegte, der Rückstrom floß vorüber, vorsichtig hielt ich auf die gewählte Einfahrt zu, vorsichtig wartete ich die Entleerung dieses Schleusentores ab, – – ich zählte leise, ich mußte die Zeit genau abpassen, und als ich die erste Minute hinter mir hatte, war ich bis auf zehn Meter heran.
Immer noch stemmte sich mir der Rückstrom aus der Riffeinfahrt entgegen, – – sollte ich mich doch verrechnet haben, sollten diese letzten zehn Meter mehr als die sechzig Sekunden verschlingen, die ich unbedingt brauchte?!
Noch immer feuerte ich den Rest schlummernder Kräfte an, ich biß die Zähne zusammen, ich verwünschte die dicke, hinderliche Korkweste, ich stierte nur immer geradeaus auf das Loch zwischen den beiden Riffen, – harmlos wie ein finsterer kleiner Binnensee bei Gewitterstimmung erschien die mich umgebende Flut, weiße Blasen schwammen da umher, Schaumfetzen, Algen, – glitten an mir vorüber – dem Schoner zu, getrieben von derselben Strömung, die mich gebannt hielt – wie ein schmeichelndes Weib in weichen Armen, das doch nur unser Verderben will.
Ich zählte …
Und das Grauen kroch mir zum Herzen …
Ich war bei neunzig angelangt – neunzig kostbare Sekunden waren dahin, nur noch dreißig blieben mir, und immer noch war ich mindestens fünf Meter von der Einfahrt entfernt.
Das Grauen kroch mir zum Hirn, – ich sah ja die Struktur der Riffe, ihre Oberfläche voller Spitzen, voller Zacken, – das Meer hatte sie nicht abgeschliffen, sie waren Nadeln, Schwerter, Dolche, – – und die nächste Woge würde mich dort oben vielleicht irgendwo hängen sehen – zerfetzt, zerfasert, – – diese Zwei-Minuten-Glasberge kannten kein Erbarmen, sie waren tückische Burschen, desto gefräßiger, verderblicher, weil in ihrer stillen wuchtigen Masse die ungeheure Kraft aufgespeichert war, die erst explosionsartig sich äußerte, wenn die rostbraunen Klippen sich ihr zu widersetzen wagten …
In dieser Weise hier den Tod finden?!
So sterben – so, als ob ein Gigant einen Zwerg gegen eine Felswand schleudert?!
So?!
Und aus dem leisen Gefühl der Ohnmacht, des Grauens, des menschlich so verständlichen sekundenlangen Verzagens quoll überschäumend der nie zu unterdrückende Trieb hervor, der Wille zum Leben!
Ich warf mich auf die Seite, ich stieß noch mächtiger aus, – – das ekelhafte, sinnverwirrende Abzählen der Sekunden hatte ich aufgegeben …
Aus den fünf Metern wurden drei, aus drei Metern zwei, – – und dann hörte ich hinter mir das sanfte Murmeln des neuen Untieres, dann überspannte ich Muskeln und Sehnen, glitt hinein in die drei Meter breite Kluft, hinein in die Riffe, schwenkte nach links, fand eine rissige Zacke, umklammerte sie mit Händen und Füßen …
Und dann war das Ungeheuer über mir …
Doch nicht mit voller Vernichtungsfähigkeit, nicht mit voller Stärke, – – ich hockte ja hinter der einen Riffsäule, ich klebte am Gestein wie ein armes Urwaldtier, das in den Baumkronen zu leben gewohnt ist, an einem Baumast im wütenden Gewitterorkan.
Losreißen, abschütteln, wegsaugen wollte mich die Woge von meinem Anker, – – ich hielt fest, – – ich fühlte die Last des Wasserberges, ich wußte, das Schlimmste kam noch, wenn er zurückflutete, wenn die jetzt nur nach aufwärts arbeitenden Polypenarme ihre Niedertracht im Rückfluten seitlich einsetzen würden.
Und es kam …
Es begann mit sanftem Zerren, Ziehen …
So recht heimtückisch …
Meterhoch stand die Wassermasse über mir …
Meterhoch war der Zwischenraum zwischen erster und zweiter Riffreihe angefüllt.
Atmen?!
Atem schöpfen?!
Nichts davon …
Nur festhalten – – festhalten, den zackigen Stein umspannen, als wollte man ihn zerquetschen.
Und aus dem Ziehen und Zerren wurde ein Reißen und Schütteln und Rütteln und ein grimmes Stoßen, daß ich das Knacken meiner Rippen zu hören glaubte …
Und da – – ließ die Kraft der Rückströmung nach, da tauchte mein Kopf empor, da sog ich Luft, heiße, stickige Nachtluft in die Lungen ein, und mit einem Schlag schwand auch das klägliche Bewußtsein halber Hilflosigkeit …
Das Ungeheuer von Woge hatte das Spiel verloren …
Ich stand auf rissiger Spitze, die in einer schlanken Nadel auslief, hielt diese Nadel mit dem linken Arm umschlungen, verlachte das sich verkriechende Untier und gab mit der Leine das Signal, – – zog die Leine ein, zog mit ihr die Stahltrosse heran, die uns als Schwebebahn für das Herüberschaffen des stämmigen Jupp, der Tiere und des nötigen Gepäcks dienen sollte.
Die Stahltrosse hatte eine Schleife, die dick mit Lappen umwickelt war, damit der Fels die feinen Stahlsträhnen nicht zerscheuere.
Die Schleife glitt über die Nadel …
Wieder ein Signal, – – und die Trosse hob sich aus der finsteren Flut, straffte sich, wurde drüben am Hauptmast vertäut, – und abermals folgte ein Zeichen, abermals holte ich die Leine ein, spürte das Gewicht, das an der Gleitrolle hing, und aus dem verschwommenen Fleck, den der Schoner mit seinem dunkelgrauen Anstrich und seinen fehlenden Lichtern und dunklen Fenstern bildete, schälte sich der hellere Leinwandsack heraus, die Gleitrolle quietschte, die schwere Last pendelte näher, – wenn der Schoner einmal besonders hart in der Dünung taumelte, machte der Sack bedenkliche Sprünge, – und dann hatte ich ihn in Griffweite, löste ihn vom Haken, merkte die Unruhe in dem buckligen Beutel, – – und holte die lebende Fracht hervor, meinen Hund samt seinen drei bereits recht stattlichen Sprößlingen, stauchte die freudige Bande in ein Loch des Riffs, und …
… Eine Sirene jaulte, mein Kopf flog empor, ein weißer Scheinwerfer zuckte auf, – – ein Zollkutter, ein persisches Wachtboot war urplötzlich zur Stelle, blendend grell lag der Lichtschein auf der „Zodaide“, doch Jupp Hubard war nicht der Mann, sich derart überrumpeln zu lassen, sein Schoner lief immerhin mit Motorenantrieb zwölf Knoten, – – bevor noch der Gegner heran war, verschwand die „Zodaide“, hatte wohl den Buganker geopfert, hatte die Stahltrosse losgeworfen, – beide Schiffe glitten gen Westen, die Finsternis verschluckte sie, und ich war allein mit meinem mir so fest ans Herz gewachsenem Getier und mit meiner geringen Habe.
Drüben war die Steilküste mit schmalem, felsigem Uferstreifen. Bis drüben hin zogen sich die Riffe und Klippen …
Ich hatte Glück. Einmal zerriß die Wolkenwand … Der Mond blinkte auf, erlosch …
Sekundenlang …
Drüben auf weit vorspringender Felsennase hatte ich ein Gewirr von Balken und die Reste von Wellblechbaracken bemerkt.
Der nächste Griff in den Sack förderte meine Büchse zu Tage, dazu den Pistolengurt.
Die Reise konnte losgehen. Zunächst ohne die Tiere.
Es mußte sich ein Weg über die Riffe finden lassen, wir brauchten eine Unterkunft, die uns auch am Tage verbarg.
Also abwärts, – die Kletterpartie war nicht gefährlich, in halber Höhe des Riffs konnte ich durch kurzen Sprung die nächste Klippe erreichen, die tückischen Wogen richteten hier nichts mehr aus, – und sehr bald stand ich auf der bewußten Felsennase, die schon mehr einer Küstenterrasse glich, und betrachtete den Trümmerhaufen, der einst bestimmt eine Funkstation gewesen war.
Dornenbüsche, ein paar junge Dattelpalmen und Feigenbäume hatte diese Stätte der Verwüstung freundlich eingerahmt, so daß sie vom Meere her kaum noch zu bemerken war.
Von der Wellblechbude, die in einer Vertiefung hart an der Steilwand einst errichtet worden, existierte nur noch die eine Hälfte. Über der anderen Hälfte lagen Geröll, Eisenstangen, zersplitterte morsche Balken und – ein bedeutsames Zeichen! – noch morschere Reste eines veralteten Senders …
Der Almani Marschallah schien auch hier, als er noch die Bergstämme beherrschte, mit Ekrasit gründlich gearbeitet zu haben.
– Es war noch immer recht finster und vielleicht noch heißer und noch drückender.
Die Felsen schienen Hitze auszustrahlen, meine verwegene Kluft, ein echter Kittel, Hosen und eine Art Weste aus gröbster Baumwolle, den wir vor zwei Tagen von Perlenfischern eingehandelt hatten, jetzt nur noch Lumpen, war längst getrocknet, irgendwo in den nahen Bergschluchten grollte dumpf eines der persischen „trockenen“ Gewitter, die immer wieder Regen erhoffen lassen und doch niemals diesen Regen der dürstenden Erde wirklich spenden, es sei denn im Frühjahr oder Spätherbst, – hinter mir der Persische Golf, eine düstere, träge wallende Flut, – – dicht vor mir der Rest der einstigen Wellblechbude mit ihren dicken Rostschichten und der kleinen, eingeklinkten Tür … Ringsum Trümmer, frisches Grün, Stacheln von Dornen, schlaffe Dattelpalmen, matte Feigenbäume, und in dieser Umgebung urplötzlich ein besonderer Duft, der da aus dem fensterglaslosen Viereck neben der Tür hervordringt …: Feinster Zigarettenrauch, mild, würzig, zart …!
Freilich, in der Baracke war es dunkel …
Doch der Zigarettenrauch bewies, daß dort ein Mensch mit gesteigerten Ansprüchen an Tabaksorten sich aufhielt, – ausgerechnet hier, wo die Engländer einst unter eleganter Nichtachtung persischer Neutralität die ihnen so nötigen Stützpunkte angelegt hatten, damit der Nachschub von Indien her an die Palästinafront gesichert würde.
Not kennt kein Gebot, Krieg zerreißt alle papiernen Verträge, alle internationalen Abmachungen. Krieg kennt nur ein Gesetz: Ringe den Gegner nieder mit jedem Mittel, damit du selber lebest!
Und hier vor mir lagen auf diesem schlau ausgewählten Felsmassiv die sichtbaren toten Zeugen für dieses eherne Gesetz. Hier hatte zweifellos der eine Mann wieder rechtzeitig eingegriffen, der sich von vornherein bewußt war, daß es galt, den rührigen Engländern in Persien zuvorzukommen …: Der Almani Marschallah von Farsistan, – ein stiller Held, ein glänzender Organisator, ein tollkühner Bandenführer, den selbst England schließlich nur mit dem billigsten, ungefährlichsten Mittel erledigen konnte: Durch einen Kopfpreis von einer Million! – Das hatte der Käpten Jupp mir doch bereits mit zornbebender Stimme erzählt: Eine Million!! Schachergeschäft um einen Helden, der anders nicht unterzukriegen war!
Und hier, hier, wo der Almani Marschallah mit seinen wilden Horden die noch wilderen Berge unsicher gemacht hatte, – hier neben der Stätte der Verwüstung die Duftwolken, die auf einen sehr verwöhnten Raucher hindeuteten … Hier stand ich regungslos, horchte nur, hörte das Klatschen und Brausen der Brandungswelle, hörte den fernen Donner des Gewitters, – – bis für Sekunden Stille eintrat, und in diese Stille aus der Fensteröffnung endlich ein menschlicher Ton vernehmbar ward: Ein kräftiges, trotzdem fast melodisches Gähnen!
Ich duckte mich unwillkürlich zusammen …
Nur eine Bewegung der Überraschung war es: – Eine Frau!!
Eine Frau hier an diesem Orte, der sicherlich nur auf gefahrvollen Schleichwegen erreicht werden konnte?!
Und nochmals, nur leiser, dasselbe Zeichen von Müdigkeit …
Noch immer rührte ich mich nicht.
Meine Gedanken zerfaserten die einfache Tatsache: Eine müde Frau, die raucht!
War sie allein? Was tat sie hier? Etwa ein Weib, das mit zur Gilde der heimlichen Perlenfischer gehörte, die nachts die noch nicht erntereifen, verbotenen Perlengründe plündern?!
… Und wieder dröhnen ferne Donner wie rollende Geschützsalven, wieder brüllte der Persische Golf seinen heimtückischen Schlachtruf, wieder trat Stille ein …
Und jetzt … roch ich nichts mehr.
Jetzt schien die Unbekannte dort eingeschlummert zu sein. Mit äußerster Behutsamkeit wagte ich noch drei Schritte, hob den Kopf, brachte ihn neben die Fensteröffnung …
Kein Geräusch – – nichts …
Aber in meinen Nerven spürte ich das feine Kribbeln und Zerren, das so unzweideutig auf die allernächste Nähe eines Menschen hinweist, auf eine unbestimmte Gefahr, auf die Notwendigkeit, noch vorsichtiger zu sein.
Freund Jupp, der Almani Dscheitan, der deutsche Teufel, hätte mich ausgelacht. Der hätte, blinder Draufgänger, einfach die Geschichte auf seine Manier geklärt. Der hätte die Laterne angezündet, die mir da vor der Brust baumelte, und hätte die Tür aufgerissen und gedroht: „Hände hoch!!“, – – oder so ähnlich …
So ähnlich waren nämlich seine Abenteuer verlaufen … Und bestimmt hatte er den Zeigefinger immer sehr rechtzeitig gekrümmt, vielleicht manchmal etwas vorschnell.
Für die Art Taktik bin ich nicht …
Wer sich die allzuspitzen Hörner wie ich in allen Weltwinkeln etwas stumpf geschliffen hat, der – – ja, selbst der ist noch immer nicht gewitzigt genug.
Beweis: Die nächsten Sekunden!
Es waren nur Sekunden … Nur das …
Hinter mir im Gestrüpp ein Geräusch, – ich fahre herum, eine kaum erkennbare Gestalt richtet sich auf, und blitzschnell saust ein keulenartiges Etwas mir gegen die Brust, daß ich wie ein Ball gegen die dröhnende, verrostete Barackenwand fliege, daß mir die Sinne schwinden und ich nur noch eins richtig begreife, bevor Schmerzen und Atemnot mir das Bewußtsein rauben: Daß ich mich um die Frau in der verwitterten Bude allzusehr gekümmert habe, – allzu wenig um den anderen dort im dunklen Gesträuch, und dieser andere hat zugehauen, als wollte er einen Ochsen fällen!
… Aber das Erwachen nach dieser kurzen Betäubung ist dann umso schöner, umso reizvoller und eigenartiger.
Ich schlage die Augen auf, – – erster Gedanke: Traum, Wirklichkeit?!
… Ich liege auf einer Art Bett aus Moos, Fellen und Decken, und neben mir kniet im Lichte dreier verbeulter Petroleumlaternen ein zierliches, überschlankes Mädel, halb Kind, halb Jungfrau, und die großen, verängstigten graublauen Augen starren mich wie flehend an …
„Gott sei Dank, – – Sie leben!“, flüstert die blonde Fremde, die so bestimmt eine Europäerin ist, wie ich selbst es bin.
Mein staunender Blick umfängt diese zierliche Erscheinung mit steigender Neugier. – Ein Wunder das?! Blitzsauberer kann kaum eine frisch aus Old Englands kultiviertesten Gebieten importierte Lady sein, – angefangen von der graubraunen, feinen, halsfreien Wollbluse bis hinab zu den Stiefeln und Schnallgamaschen …
Eine blutjunge Sportlady, – – aber sie spricht deutsch, sie spricht es zwar mit etwas eigenem Beiklang, aber niemals mit den bekannten englischen Quetschtönen.
Ihre Angst um mein Wohlergehen wirkt rührend, – diese Angst weicht erst aus ihren Augen, als ich etwas verärgert lächele, denn mein Brustkasten scheint da irgendwo doch etwas außer Fasson geraten zu sein, jeder Atemzug kostet Schmerzen, und als ich mich aufrichte, will mir ein Stöhnen die fest aufeinandergepreßten Lippen sprengen.
Aber ich lächele, schon dieses Mädchens wegen, dessen Sorgen ich zerstreuen möchte.
Ich stütze die Hände nach hinten, – – ich sitze, und ich rede mir ein, die Rippenquetschung wäre nur ein Kinderspiel, obwohl ich jede Rippe fühle, jede einzelne …
Und all das dieser verängstigten Augen wegen, – all das dieses klaren Zuges tiefster Melancholie wegen, der um den schöngeschnittenen Mund der Fremden wie eingefroren lagert.
Mein Lächeln verliert das Krampfhafte, Unnatürliche, und schon die ersten Worte kommen mir glatt und ohne innere Störung über die Lippen …
„Hallo, – – Ihr Freund schlägt wacker zu, das muß man ihm lassen!! Daß die Bergstämme Farsistans auch mit Keulen bewaffnet sind, ist mir neu …“
Eins erreiche ich so: Flüchtig blitzt es in ihren Augen humorvoll auf, – – auch sie lächelt, und dann erklärt sie, ebenso schnell wieder ernst, zu ernst werdend:
„Mein Freund?! – – Oh, – – diese Art Angriff liegt in seiner Natur … Sie dürfen ihm das nicht verargen … Die Art Keule gab ihm sein Elternpaar mit, – – ein Riesenkänguruh besitzt nur diese Waffe, und Sie sind, Gott sei Dank, sehr glimpflich dabei weggekommen …“
Schmerzen, Rippenbrüche, verknaxter Brustkorb, – alles ist vergessen.
Ich muß mich verhört haben.
„Riesenkänguruh, – – scherzen Sie?!“
„Nein!“ – Sie hat sich aufgerichtet und zieht eine Art Klappstuhl näher und setzt sich. „… Sie sind fraglos ein Neuling in diesem Lande, mein Herr … Sonst müßten Sie wissen, daß ein unternehmender Engländer droben bei Schiras in einer Salzwüste eine Känguruhfarm besitzt … Der Engländer schenkte mir das Tier, als ich noch ein Kind war, vor drei Jahren …“
Sie hat nun das Kinn in die Hand gestützt, und der Ausdruck von Weltschmerz in den leicht gebräunten Zügen tritt so scharf hervor, daß ich unwillig frage:
„Haben Sie so Schweres durchgemacht, – – verzeihen Sie, es ist nicht Neugier, nur Mitgefühl. Für Ihr Alter scheinen Sie mir denn doch überreichlich ernst zu sein.“
Blitzartig verwandelt sich ihr Gesicht, wird kälteste Ablehnung, eisigste Verschlossenheit.
„Meine Vergangenheit gehört mir, – mißverstehen Sie mich nicht, mein Herr: Es gibt Dinge, über die man nicht gerne spricht, Dinge, die … uns immer wieder martern! Ich habe unter all das einen Schlußstrich gezogen, endgültig, ich lebe hier allein, hier und drüben in den Bergen, ganz allein – – nur mit Jupp, meinem Känguruh …“
Wieder ist es mir, als müßte ich sie falsch verstanden haben. Undenkbar doch, daß ein so blutjunges Geschöpf, dazu eine Europäerin, hier in der Einsamkeit hausen könnte!
Und noch etwas, – etwas, das mich aufhorchen ließ.
Jupp heißt ihr Känguruh, – ausgerechnet Jupp!
Und gegen meinen Willen spreche ich es halblaut vor mich hin: „Ein merkwürdiges Zusammentreffen, – – zweimal Jupp!!“
„Zweimal, – – inwiefern?!“
Ihre Augen heischen Antwort … Und diese Augen sind nicht die eines Kindes …
„Weil ich einen Mann kenne, der seinen ehrlichen Vornamen in Jupp umstanzen ließ, – – von seinem Herrn, den er abgöttisch verehrte …“, – dabei setzte ich mich bequemer, beachtete[2] das Mädel nicht, und als ich wieder hinblicke, hat sie den feinen Kopf ganz tief gesenkt und nestelt an ihren Schnallengamaschen, dreht sich dann zur Seite und fragt gleichgültig:
„Wie sind Sie hierher gelangt, mein Herr? Durch Zufall?“
… Wäre ich damals achtsamer gewesen, würde vielleicht so manches eine andere Wendung genommen haben …
Vielleicht …
Das unergründliche Geschick zu meistern, ist schwer, sehr schwer. Wir bleiben Kinder des Zufalls …
War es ein Zufall, daß der Zollkutter den Schoner verjagte, daß ich hier diese Trümmerstätte entdeckte und dazu dieses Mädchen, zu dem ich mich sofort väterlich-kameradschaftlich hingezogen fühlte, nachdem sie mir ehrlich eingestanden, sie lebe ganz für sich?
Verwandte Schicksale, – – steckte auch in dieser Blonden ein gut Teil Abenteurernatur?! Was in aller Welt konnte eine Europäerin dazu veranlassen, in dieser glutheißen Einöde zu hausen und die Menschen zu meiden?! Noch dazu ein so junges Wesen, das ich kaum auf siebzehn schätzte?!
… Inzwischen hatte ich mir ja auch diesen Barackenraum genauer angesehen.
Möbel, dergleichen …?! – Nichts! Nur der eine Schemel mit Ledersitz, nur ein kleiner Brettertisch, dann dieses Bett, auf dem ich saß, und ein Ofen aus Lehm, daneben einiges Geschirr in einer morschen Kiste.
Aber blitzsauber all das, blitzsauber der Fußboden, blitzsauber geputzt die Scheiben der Laternen, drei an der Zahl …
– Ich antwortete ihr … Ich hatte keinen Grund, mit der Wahrheit zurückzuhalten. Ich wollte ihr Vertrauen gewinnen, vielleicht war sie eine wertvolle Verbündete …
„Wir wollten hier heimlich landen, ein Freund und ich“, erklärte ich leichthin. „Mein Bekannter gedachte hier etwas zu regeln, das der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollte …“
… Ich erzählte von dem Auftauchen des Wachschiffes, von meinen auf dem Riff zurückgelassenen Tieren, – schließlich nannte ich ihr meinen Namen.
Er machte keinen Eindruck auf sie …
Sie fragte nur zerstreut: „Und wie heißt Ihr Freund, Herr Abelsen?“
Sie hatte sich erhoben und war an das Fenster getreten, das sie jetzt durch zwei Wolldecken verhängt hatte.
„Justus Hubard, Kapitän Justus Hubard … Ein Robbenfänger, so eine Art Allerweltsgenie, ursprünglich Steuermann, dann Diener, Sekretär und Geheimagent eines deutschen höheren Beamten …“
Sie drehte mir noch immer den Rücken zu …
Aber – täuschte ich mich?! – Lief da nicht ein Zittern über ihre Gestalt hin? War es nur das unruhige Laternenlicht, das infolge des Luftzuges stark flackerte …?!
Eine Weile rührte sie sich nicht.
„Ich … ich heiße Zodaide Fars“, sagte sie dann sehr leise … „Sie mögen mich für eine Europäerin halten, und doch bin ich gebürtige Perserin und habe meine Heimat nie verlassen …“
Zodaide?!
Wiederum horchte ich auf.
Seltsam: Das Känguruh hieß Jupp, der Schoner hieß Zodaide, der Käpten hieß Jupp, und nun hier – auch eine zweite Zodaide!
Ich hatte bereits denn Mund halb geöffnet, um eine entscheidende Frage zu tun, als die blonde Zodaide kühl hinzufügte:
„Der Name Zodaide ist bei gewissen Bergstämmen hier sehr häufig, Herr Abelsen … – Bitte, schrauben Sie doch die Laterne tiefer … Ich möchte einmal hinausblicken … Sie müssen doch auch Ihre Hunde und Ihr Gepäck herbeiholen. Jupp ist übrigens an Hunde gewöhnt, und falls es notwendig sein sollte, für einige Zeit in die Berge zu flüchten, womit ich fast rechne, werden die Tiere sich schon vertragen …“
Die Laternen erloschen fast …
Zodaide öffnete die Tür, glitt ins Freie, und schloß die Tür sofort wieder.
Was konnte ich da besseres tun, als meinen zerschundenen, schmerzenden Brustkasten vorsichtig zu befühlen?! Nun, die Rippen waren doch unverletzt, und der erste Versuch, mich zu erheben und mich etwas zu recken und zu strecken, glückte, trotz wütender Schmerzen.
Hauptsache: Ich stand wieder auf den Beinen, – Hauptsache, ich nahm die Sache leicht, – die Schmerzen würden schon vergehen …
Aber Zodaide blieb mir denn doch schließlich zu lange draußen … Sollte sie es etwa vorgezogen haben, selbst meine Gesellschaft als ihr unbequem abzuschütteln?! Sollte sie geflüchtet sein – in die ihr vertrauten Berge, in eine Wildnis, die mir allein verschlossen blieb?!
Und da, – – seltsame Töne leben draußen auf …
Winseln, halbes Knurren …
Die Tür bewegt sich, – vier ungestüme Gesellen fallen über mich her, – Monte wie stets der ausgelassenste, zärtlichste …
Zodaide wirft den Leinensack nieder. Ihre Stiefel triefen, ihr Anzug zeigt nasse Spritzer.
„Wir müssen sofort aufbrechen“, erklärt sie hastig. „Der Zollkutter kehrt zurück … Die Dünung ist ruhiger geworden, – falls der Kutter Beamte landet, sitzen Sie morgen im Gefängnis von Buschir, der neue Schah macht nicht viel Umstände, Herr Abelsen … Der hat das frühere Herrschergeschlecht samt dem ganzen Anhang von Schmarotzern gründlich ausgeräuchert, – das dürfte Ihnen bekannt sein … – Schnell, verteilen wir die Lasten Ihres Gepäcksackes … Wie Sie nun wohl gemerkt haben werden, besitze ich nicht geringe Kräfte, – – nicht weiter wunderbar, mein einsames Dasein ist nichts als beständige Gefahr. – Schnell nur, – – hier ist mein Rucksack, fünfzig Pfund dürfen Sie mir getrost aufbürden, – – nur nicht zögern … nichts fragen, – – ich warne Sie, die Beamten würden Sie unbedingt verhaften …!“ –
– Als wir die Baracke verlassen, deckt noch dieselbe Finsternis den Golf von Persien mit düsteren Schleiern zu.
Ich erkenne unklar ein Schiff, – Zodaides ungeduldiger Ruf zwingt mich, dieses Schiff nur flüchtig zu mustern …
Das Mädchen biegt in eine schmale Schlucht ein, die einem allzu gut genährten Manne niemals Durchschlupf gewährt hätte.
Hinter Zodaide hüpft Jupp, das Känguruh …
Und ich mit meiner Meute bilde den Nachtrab. So geht es hinein in die Berge, in das mir unbekannte Land, über dessen wilde Bergstämme Käpten Hubard sich so abfällig äußerte: Tapfer, aber treulos, tollkühn, aber für Geld käuflich, dazu verlogen und großmäulig wie der schäbigste Armenier …
Die blonde Zodaide ist eine sehr schweigsame, aber ebenso sichere Führerin. Wir sind nun eine halbe Stunde unterwegs, sind schmale Ziegenpfade entlanggewandert, haben zwei schäumende Wildbäche passiert, und nicht ein einziges Mal hat dieses seltsame Mädchen es für nötig erachtet, mir auch nur mit einem einzigen Wort Aufschluß zu geben über ihr sonderbares Verhalten, über all diese kleinen unscheinbaren Dinge, die sie da vor mir flink, gewandt und halb gewohnheitsmäßig betreibt, vielleicht in der trügerischen Hoffnung, mir würden diese Absonderheiten entgehen, ich würde nur einer von den vielen zweifelhaften Abenteurern sein, die als bezahlte oder raublustige Landsknechte überall auch in Asiens endlosen Gebieten und Hafenstädten und Einöden ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen suchen.
Zodaide kennt mich nicht. Ich passe sehr scharf auf, ich weiß meine Augen auch bei dieser Dunkelheit zu gebrauchen, und ich bemerke sehr wohl, daß sie, die vorhin ohne jede Waffe nur mit ihrem praktischen Lederrucksack dahinschritt, urplötzlich wie durch Zauberei zu einem breiten Gurt mit allerhand nützlichen und ernsten Sachen, zu einer kurzen, leichten Repetierbüchse, passend für Frauenhände, und zu einem braunen, mantelartigen Umhang mit Kapuze[3] gekommen ist, – mit schnellem Griff hat sie all dies aus Felslöcherverstecken neben dem sogenannten Pfade hervorgeholt, der im immerwährenden Zickzack weite Umwege macht, als ob wir uns in Schleifen vorwärtsbewegten.
Doch davon ganz abgesehen: Dieselbe Zodaide benutzt heimlich sehr fleißig ein Stück Kreide und bekritzelt ebenso blitzschnell bestimmte platte Stellen der rotbraunen Felsen mit eigentümlichen Zeichen.
In Europa würde man sagen: Gaunerzinken!
Aber Gott sei Dank: Europas Überkultur liegt so fernab nach Westen zu, daß ich diese Zeichen doch anders bewerten muß, zumal sich nur immer drei bestimmte wiederholen.
Für diese Kreidezeichen, die sie stets an versteckter Stelle anbringt, gibt es nur eine Deutung: Zodaide Fars – so nannte sie sich ja – besitzt heimliche Gönner und Beschützer, denen sie ebenso heimlich Nachrichten zukommen läßt!
Schon allein ihr Vorrat an tadellosen Zigaretten, von denen sie mir übrigens vorhin wortlos einige spendete, beweist, daß sie mit Europäern oder Leuten ihres Stammes Verbindung unterhält. Genau dasselbe beweisen ihre Stiefel, Gamaschen, ihre weiten Reithosen und die fast kokette leichte wollene Bluse.
Und was die drei Zeichen angeht, – auch darüber glaube ich nun Bescheid zu wissen: Es sind lateinische große Buchstaben, grob, schmucklos, flink hingemalt: Ein Z, ein O, ein K. – Nur eins begreife ich noch nicht recht: Weshalb diese drei Zeichen scheinbar so willkürlich wechseln, – weshalb Zodaide zum Beispiel soeben beim Abstieg in eine neue düstere Schlucht, aus deren Tiefen der Gestank fauligen Sumpfes empordunstete, dreimal nur das Z auf das Gestein zauberte.
… Und als ob diese drei letzten Z – letzter Buchstabe des Alphabets – die Ankündigung des Endes dieses stummen Marsches gewesen, – als ob ferner das mir unbekannte Persien, ein Land voller Widersprüche, Seltsamkeiten und buntgemischten Völkerschaften, ebenfalls gerade jetzt das Rätselhafte seiner Oberflächengestaltung so recht eindrucksvoll mir vor Augen führen wollte, – – diese Schlucht, an deren Sumpfrande wir dahinschritten, öffnet sich nach Norden zu wie ein Riesenfenster, und im Lichte des soeben wieder vom schwarzen Gewölk freigegebenen Mondes breitet sich zu meinen Füßen eine fruchtbare Steppe aus, auf der dunklere Flecken auf reichen Dattelpalmenbestand und rote Feuerpünktchen auf die Wachtfeuer von Hirten großer Schafherden schließen lassen.
Und nicht nur dies: Jetzt sehe ich, daß das hinter uns liegende Bergmassiv nichts als eine Felskulisse gewesen, die mir die Nähe der Bergketten nur vortäuschte.
Zodaide, dicht neben mir, erklärt beiläufig:
„Nun kennen Sie den südwestlichen Küstenstrich Persiens so etwas, Herr Abelsen. Deschistan heißt er, das Land des Sonnenbrandes, der Hitze … Bis zum Gebirge drüben sind es etwa sieben deutsche Meilen, dies hier ist ja nur Blendwerk, dieser kleine Gebirgszug, auf dessen nördlichstem Ausläufer wir stehen. Ich wünschte, wir hätten den dünnbesiedelten Steppenstreifen dort bereits durchquert. Es brennen da allzuviel Wachtfeuer, und ein Teil meines Stammes ist leider noch immer nicht mit den Schafherden in die Berge zurückgekehrt. – Haben Sie schon einmal in einem Dromedarsattel gesessen?“, schließt sie ganz unvermittelt diese Erklärungen, deren Ton immer ernster geworden ist …
„Sehr oft“, erwidere ich kurz.
„Gut, dann nehme ich Sie mit … Wir müssen hindurch!“ Noch immer beobachtet sie die Wachtfeuer. Mit einem Male lacht sie verächtlich.
„Es stimmt schon, – sie sind wieder hinter mir her, und der Risch e Sefid der Farsleute ist ein geriebener Fuchs, nur ohne viel Erfindungsgabe. – Ahnen Sie, daß das Bergmassiv hinter uns, diese Gebirgskulisse, von Farsleuten wimmelte und daß nur meine Ortskenntnis und die Dunkelheit und die vielen Umwege uns nicht vor ihre Gewehrläufe brachten? – Es ist so, Herr Abelsen. Sie kennen dieses Land nicht, erst recht nicht seine Bewohner …! Und – schauen Sie, dort links die drei scharf ausgeprägten Feuerkreise dicht nebeneinander: Ein Signal! – Mit diesen Scherzen arbeitete der Oberhäuptling der Farsi bereits zu den wildbewegten Zeiten, als noch der Almani Marschallah hier die Fackel der Rebellion von Stamm zu Stamm getragen hatte … – Wissen Sie, wer der Almani Marschallah war?“
„So halb und halb, kleine Zodaide … – Meinen Sie jedoch, daß es ratsam sei, hier etwa untätig zu bleiben, bis der Morgen anbricht?!“
„Oh – wir reiten sofort weiter“, erklärte sie mit erneutem harten Auflachen. „Auch diesmal wird die Razzia nach mir umsonst sein … – Bitte, bleiben Sie an diesem Platze … Beobachten Sie die Schlucht, aus der wir kamen, – – Sie mögen geübte Augen haben, Herr Abelsen, und doch entging Ihnen vieles während der letzten anderthalb Stunden … Die Farsi sind gefährlich, der Leopard kann nicht lautloser schleichen als sie auf ihren Sandalen, und der Schopfadler hat kaum so scharfe Augen wie sie … Aber auch ich bin eine Farsi, und – –, – nun, Sie werden ja sehen, wir müssen durch, müssen!!“
Damit wandte sie sich seitwärts und verschwand hinter hohem, ausgedehntem Dornengestrüpp, vor dem ein kleiner weißer Maulbeerbaum wie ein helles Gespenst träge im schwachen Winde sich wiegte.
Ein leiser Pfiff lockte Monte neben mich.
Zwanzig Schritt – wir standen still, horchten, – selbst Montes Sprößlinge, die sich an meine Beine schmiegten, verhielten sich ruhig.
Wir horchten …
Irgendwo plätscherte ein Bergwasser, irgendwo kläffte traurig ein Schakal …
Er kläffte sehr vorsichtig, denn auch er mochte wohl wittern, daß hier nicht alles in Ordnung sein könnte, daß in diesen zerrissenen Schluchten der Bergkulisse das gefährlichste Raubtier hin und her schlich: Der Mensch! Die Farsi, ein Bergstamm, böse Gesellen, die ein blondes Mädel hetzten, das von Geheimnissen umsponnen war und eigenartige Dinge trieb, Kreidezeichen an die Felsen malte und …
Monte hatte geknurrt …
Dumpf, warnend …
Montes Schädel mit den zerfetzten Ohren war vorgereckt, sein Körper wurde kleiner, er duckte sich, und dann bemerkte auch ich die Gestalt im dunklen Mantel mit dunkler Kapuze, – – blitzschnell tauchte sie in die Finsternis zurück, und blitzschnell hatte ich meine Büchse entsichert, drückte mich hinter ein Felsstück dicht an die Steilwand, erinnerte mich plötzlich, daß gerade an dieser Stelle Zodaide das letzte Z auf das Gestein gemalt hatte.
Meine Augen suchten …
Merkwürdig, – ich fand den Fleck, aber von dem großen Z war nur noch der dicke, halb armlange Grundstrich übrig, die Seitenbalken waren ausgelöscht …
Monte, allersicherstes Barometer für nahe Gefahr, schien sich der flinken dunklen Gestalt wegen keine Gedanken mehr zu machen …
Wenn Freund Monte so nachdrücklich die Hinterpfote zur Flohjagd benutzt, kann man die Büchse getrost wieder sichern. Der Kerl da vor uns war ausgerissen.
Nur deshalb wagte ich es, mich doch einmal zu überzeugen, wie die Seitenbalken von dem Z ausgetilgt worden sein mochten.
Ich hatte nur drei Schritte zu tun, – ich befühlte das Gestein …
Es war naß, – es war dort naß, wo die Seitenbalken in Kreide geleuchtet hatten …
Mit einem sehr feuchten Lappen waren sie weggewischt worden.
Kopfschüttelnd spähte ich die enge, unübersichtliche Schlucht entlang …
… Hinter mir ein leiser Zuruf … Ich wende mich um, und ich sehe gegen das bereits lichtere Gewölk am Schluchtausgang Zodaide mit zwei gesattelten Dromedaren stehen. Sie winkt eifrig, sie winkt ungeduldig, und als ich bei ihr anlange, hat sie die Dromedare bereits niederknien lassen …
„Schnell …!! In den Sattel …! Fort von hier, wir müssen nach rechts durchbrechen, Herr Abelsen … Hören Sie die Schakale …? Auch nur ein alter Kniff des haßerfüllten Shour …! – Vorwärts, ich eile voran, die Burschen haben uns vielleicht schon eingekreist …“
Sie läßt mir keine Zeit, irgend etwas zu äußern … Sie ist nicht verängstigt, nein, der trotzige, harte Zug um ihren Mund prägt sich noch schärfer aus …
Wir steigen in den Sattel, die Dromedare erheben sich, für alle Fälle nehme ich Monte an die Leine, und Zodaide biegt nach rechts ab, wo ein schmaler Felsgrat in die Steppe hinabläuft.
Die Reittiere, beides kleinere, zierliche Stuten, scheinen das Klettern gewöhnt zu sein, tänzeln über hartes Lehmgeröll leichtfüßig hinweg und gehen von selbst den gefährlichen Stachelpolstern der Tragant-Sträucher aus dem Wege, die, meterlangen, runden Igeln gleichend, diesen Abseitspfad dicht bei dicht garnieren.
Sehr bald erreichen wir den graugelben Steppenboden, – gerade jetzt wird der Mond wieder frei, Zodaide hat den Kopf zurückgedreht, ich sehe die ruckartige Bewegung jähen Schrecks, auch mein Kopf fliegt herum, und droben, wo die Steilwand terrassenförmig zurückspringt, bemerke ich eine Reihe huschender Gestalten, erblicke auch die züngelnde Flamme, die an einem vertrockneten großen Dornbusch emporleckt.
Noch mehr erspähe ich: Die kniende Gestalt, die das Signalfeuer schürt, knickt plötzlich zusammen, sinkt in die Dornen, erstickt das Feuer, – dunkle Schattenstriche verschwinden hinter Geröll, und klar und durchdringend ertönt der schrille langgezogene unverkennbare Pfiff eines Falken, – so schrill, daß das Mädchen neben mir ein leisen Schrei ausstößt, – – vor Schreck?, – – ich weiß es nicht …
Im nächsten Augenblick treibt Zodaide ihr Dromedar zu flottestem Trabe an, lenkt in eine tiefe Senkung ein, in eine Regenrinne, wie das angespülte kleine Gestein und der eisenharte dunkle Lehmboden verraten …
Ich fühle das bewußte Rieseln auf der Haut, – wenn die Kerle dort droben schießen und gerade keine Sauschützen sind, putzen sie uns in aller Bequemlichkeit weg, bevor wir noch in Deckung sind.
Nichts geschieht …
Die Regenrinne ist tief, hat viele Biegungen, endet in einem oasenartigen Hain von Dattelpalmen, Feigenbäumen, Maulbeerbäumen und stachligen Sträuchern.
Wir jagen durch die Baumlücken hindurch, wir gelangen wieder auf freie Steppe, vor uns lodern zwei Feuer, wir halten noch schärfer nach Osten, finden ein Tal, sehen am Talrande Hütten, Lehmbuden, Zelte und unendliche Schafherden, sehen gegen den Strahlenkreis des Feuers zwei Hirten, die faul am Boden hocken und ihre Pfeife rauchen, sehen die Silhouetten von Hundeköpfen, – – schon sind wir vorüber, der weiche Sandboden begünstigt diese wilde Flucht, – – wieder geht es in die offene Steppe hinein, zwischen Dattelpalmkulturen hindurch, deren junge Stämme scharf ausgerichtet wie Grenadiere stehen, tief gegliedert, künstlich bewässert, gehegt und gepflegt von den Bewohnern des schlafenden Dorfes, das wir soeben hinter uns gelassen haben.
Eine endlose Schafherde, deren verstreute Einzelfamilien samt zahllosen Lämmlein sicherlich nur vor des Känguruhs Riesensprüngen als vor etwas gänzlich Unbekanntem in Panik geraten und davonzurasen beginnen, wirbelt gewaltige Staubwolken feinsten Staubes hoch, der wie eine Nebelbank mit dem Winde auf die Berge zutreibt.
Helles Hundegebell lebt hier und da auf, – der Mond hat sich wieder verkrochen, Zodaide reitet für meinen Geschmack allzu blindlings darauf los, sie ist stets zehn Meter vor mir, das hüpfende Känguruh neben ihr ist denn doch eine sehr zweifelhafte Zugabe, gertenschlanke, rassige Hundeleiber schießen plötzlich durch die stauberfüllte Luft, Männerstimmen erklingen, ein einzelner Schuß fällt, und als ich in diesem tollen Dahinjagen zufällig nach rechts blicke, wo die Dunkelheit lastet, aber die Atmosphäre noch ungetrübt ist, gewahre ich eine lange Kette von Reitern, die kaum dreihundert Meter seitwärts von uns zweifellos gegen uns vorrückt, – ich habe keine Zeit, sie zu zählen oder viel zu überlegen, ich drücke mein Tier vorwärts, die beste Sorte Reitdromedar ist es nicht, und im Nu bin ich neben dem Mädchen, winke nach links, – dorthin ist die Schafherde ausgebrochen, – rufe Zodaide zu, daß nur die Staubwolke uns retten kann, – – sie versteht, wir wenden scharf, – – ein Hund heult auf, das Känguruh hat mindestens sechs der schlanken Rüden auf den Fersen, aber die gefährlichen Keulen des riesigen Beuteltieres räumen gründlich unter den Verfolgern auf, dickste Staubwolken umgeben uns, ein Lagerfeuer flackert, entschwindet, wütendes Geschrei erhebt sich, eine neue Schafherde prescht auseinander, und urplötzlich glotzen da aus dem beißenden, beizenden, salzhaltigen Staube trübe Lichter hervor, wir sind ausgerechnet in ein Sommerlager irgend eines Stammes geraten, Spitzzelte und provisorische Lehmhütten huschen vorüber, neues Gebrüll, Gebell, neue Schüsse, – – die Hölle ist los, mein Tier stolpert über einen fetten, faulen Hammel, Palmenhaine kommen, entschwinden, und die weißen Schaumflocken meines Dromedars fliegen mir klebrig ins Gesicht, die Augen brennen unerträglich, die ganze Steppe ist in Aufruhr, und diese Steppe wird wieder frei von dem uns einhüllenden staubigen Dunst, der Mond blickt durch dünne Wolkenfetzen, wir können wieder Ausschau halten, wir geraten in streifenartige Dornenbüsche, die wie Hürden durch das dürre Gras und den Sand sich hindurchziehen, jetzt habe ich die Führung übernommen, es erscheint mir doch ratsamer, hier das jugendliche Temperament Zodaides zu zügeln, ein scharfer Ausruf, sie hält, wir sitzen auf keuchenden, überanstrengten Tieren, und von unserer eigenen Gefolgschaft, stelle ich fest, ist nur noch das Känguruh vorhanden.
Monte und seine Sprößlinge scheinen von den persischen Windhunden geschnappt worden zu sein.
Armer Monte, arme Wolfsbastarde, die ihr dort im Süden ganz fern an der Grenze der Antarktis das Licht der Welt erblicktet, – ich fürchte, ich sehe euch nie wieder!
„Absteigen, Zodaide!!“
Ich habe genug von der Umgebung erkannt, einen besseren Platz zu kurzer Rast gibt es nicht, die natürlichen Dornenhecken schützen uns, ich bemerke nichts von Zelten, Herden, Menschen, und ich weiß genau, daß der Staub, der sich allmählich wieder setzt, unsere Fährten verwischen wird, außerdem möchte ich den Hund sehen, der in einer Salzsteppe die Nase längere Zeit dicht über dem Boden halten und wittern könnte, – die Lust dazu würde ihm sehr bald vergehen!
Zodaide wirft sich in den Sand, ich knie neben ihr, halte Ausschau, – das Mädchen ist sehr bleich, sehr erregt, kraut ihrem Jupp nervös den Kopf, dann stößt sie atemlos hervor:
„So schlimm war es noch nie, Herr Abelsen, – diesmal hätte man auch mich beinahe erwischt, – der Risch e Sefid hat noch nie eine solche Heeresmacht aufgeboten …!“
Meine brennenden, tränenden Augen gleiten flüchtig über die kauernde Gestalt hin, über das träge hingestreckte Känguruh, über die keuchenden Dromedare …
Ich ducke mich tiefer … Immer mondheller ist die Steppe geworden, und im Süden, woher wir kamen, bewegen sich unklare eilige Flecke, unklar, verschwommen, – ballen sich zusammen, trennen sich, – ich nehme das Fernglas, es bringt mir das verdächtige Bild näher, und ich erkenne etwa zwanzig Reiter auf tänzelnden Gäulen, Reiter mit noch verdächtigerer, gleichmäßiger Kleidung, – mag Persien mir unbekannter Erdenwinkel sein, von der tadellos organisierten persischen Gendarmerie, die vielfach von beurlaubten Offizieren meiner eigenen schwedischen Heimat ausgebildet wurde, habe ich doch bereits übergenug Rühmliches vernommen …
„Zodaide, – – berittene Gendarmen!“, flüstere ich wenig beglückt.
Sie blickt auf … Ein gereiztes Lachen quillt über ihre Lippen …
„Natürlich, wieder … „er“, – wenn er mich nur in Ruhe ließe, ich habe andere Sorgen, als seine mir peinlichen Aufmerksamkeiten abzuwehren!“
Er?!
… Was die blonde Zodaide da soeben in ihrer Erregung preisgab, ist echt weiblich, ist eine besondere Art Gereiztheit.
Man kennt das …
Und mit einem Schlage flicht sich in den dornigen Kranz dieses Erlebens der letzten sechs Stunden, denn mehr sind es kaum, seit ich den Schoner verließ, etwas noch Zarteres hinein, etwas noch Blütenhafteres, als Zodaides sehnige, schlanke, liebreizende Persönlichkeit es ist …: Er – und mit diesem Er die Vorahnung zarter Beziehungen …
– Das gereifte Mannestum lächelt unmerklich über diese Enthüllung – – und schweigt und beobachtet weiter … Aus dem Reitertrupp löst sich ein einzelner Mann, zwei schwarze, hochbeinige Windhunde am Riemen, trabt näher und näher …
„Zodaide – er kommt“, – und ich lächele ihr zu … „Es dürfte der Ihnen so mißliebige Beschützer sein …“
Sie kraust die Stirn. Der Zug von Gereiztheit weicht, und ich ahne, daß ihre Hauptsorge jetzt meiner Person gilt.
„Sind Sie Deutscher?“, fragt sie schnell.
„So halb und halb, Zodaide … Meine Geburtsstadt ist Göteborg, mein Vater war Schwede, meine Mutter eine sehr frohe, lebenshungrige Berlinerin … Aber mein Vaterland verstieß mich, kleine Zodaide, – seither bin ich heimatlos, ein Wanderer auf Abseitspfaden, vielleicht ein Abenteurer, dessen Dasein weder Sinn noch Zweck zu haben scheint – scheint, – – man kann so oder so darüber denken … – Wie heißt … „er“?“
Ihr Köpfchen sinkt …
„Sven Oordaal“, flüstert sie scheu, als gäbe sie hiermit ein Geheimnis ihres jungen Herzens preis.
Und dann steht sie schnell auf … „Ich werde ihm entgegengehen … Ich …“
Meine Hand zwingt sie sanft nieder …
„Hat dieser Oordaal so helles Haar, daß es fast weiß schimmert, stammt er auch aus Göteborg?“
„Ja …“ – Noch kleinlauter …
„Dann überlassen Sie ihn nur mir, Zodaide, – den Prachtkerl kenne ich … Der wird mich weder verhaften, noch sonstwie lästig werden …“
Ich gehe ihm entgegen …
Wir stehen uns gegenüber …
Jahrzehnte versinken …
Der tolle Sven!! Er ist es …! Der wildeste der Buben aus den unteren Klassen der Schule, die wir gemeinsam besuchten. Gut fünf Jahre jünger als ich, damals mein getreuer Schatten, mein blinder Anhänger, mein kecker Gehilfe bei tausend lockeren Streichen.
– Das Leben spielt mit Menschen wie mit Papierschnitzeln, die der Wind vor sich hin fegt und zerstreut.
… Jahrzehnte versinken …
Vor mir, in der schmucken, knappen Uniform eines Majors der persischen Gendarmerie steht mit nadelscharfen Augen der hellblonde, weißblonde Sven Oordaal.
„Wer sind Sie?!“
Ich blicke an meinen zerfetzten Lumpen herab.
Er – – und ich …!!
„… Ich bin Olaf Abelsen, Sven … – Weißt du noch, als wir damals mit der Feldbahnlokomotive fürchterlichen Unfug anstifteten …?!“
Die Pistole, die er lässig in der Hand gehalten hat, entfällt ihm.
„Olaf – – du?! Bei Gott, – – der Olaf!“
… Die persische Steppe, Deschistan, das heiße Land, wurde Zeuge, wie ein schlanker, tadellos uniformierter, sonngebräunter Mann einen Stromer mit Bartstoppeln und in Lumpen fest an seine Brust preßte.
Der tolle Sven, – – es ist wie ein Märchen! Wir sitzen nebeneinander in einer Bodenvertiefung, Fragen und Antworten fliegen hin und her, die Vergangenheit wird noch lebendiger, aber als das Gespräch allmählich in ruhigere Bahnen einlenkt und die Gegenwart, die doch die wichtigsten Fragen birgt, nicht mehr auszuschalten ist, fühlen wir beide nur zu genau, daß langsam eine Mauer sich erhebt, die uns immer ernster trennt.
Der tolle Sven ist freilich nicht mehr so ganz der wilde Feuergeist von einst. Auch ihn hat das Leben zurechtgeknetet, wenn es ihm auch nicht ganz die alte Form rauben konnte.
„Olaf, – wie bist du denn mit Zodaide Fars zusammengekommen …?“
Schon allein diese Frage bringt die erste Abkühlung nach der stürmischen Wiedersehensfreude.
Er hält mir seine Zigarrentasche hin.
Wir rauchen, und – – ich muß ausweichend antworten.
Ein prüfender Blick streift mich. „Ich will dich nicht zu Indiskretionen verleiten, Olaf … Immerhin: Zodaide ist keine ganz harmlose Bekanntschaft, an ihrer Person ist nichts auszusetzen, nur ihre – wie soll ich sagen – ihr Anhang und ihre Gegner dürften dir sehr unbequem werden. Der Risch e Sefid der Farsi ist ein skrupelloser Gewaltmensch, – hüte dich vor ihm und seinem Neffen, der ein ganz übler Wicht ist … Farsistan ist nicht Göteborg, Olaf, – hier steht nicht an jeder Ecke ein aufmerksamer Polizist, der dir eventuell die blauen Bohnen zuerst abfängt …“
Unsere Augen treffen sich, und in den meinen blitzt es humorvoll. „Anhang oder Gegner, Sven, – – mir gleichgültig …! Ein Zufall führte mir das Mädchen in den Weg, und ich halte mich neutral – in allem, für einen Flirt bin ich zu alt, für jedes andere Abenteuer noch jung genug … Du verstehst mich wohl …“
Er saugt sehr krampfhaft an seiner Zigarre. – Er versteht …
„Hm, – was hat Zodaide über mich geäußert?“, – das kommt sehr zögernd heraus.
Mein Lächeln verstärkt sich.
„Geäußert?! – Weißt du, Sven, ein anderer hätte sich vielleicht bluffen lassen … Weiber reden so und denken das Gegenteil … Jedenfalls darfst du meines Erachtens zufrieden sein …“
Er hüstelt nur … – Also doch ein kleiner, seltsamer Liebesroman, ich habe es ja geahnt … Und wie seltsam mag dieser Roman sein, – ich kenne davon ja kaum ein einziges Kapitel, nur ein winziges Bruchstück aus der Mitte des Buches.
Um uns her starren am Rande der Mulde halbdürre Grasbüschel, Dornenzweige, andere Arten von stacheligen Gewächsen, an denen Persien so reich ist.
Und als ob diese oft fingerlangen Dornen mißgünstig sich zwischen uns drängten, zwischen zwei so vertraute Jugendfreunde: Plötzlich wird Sven Oordaal ohne ersichtlichen Grund etwas sehr dienstlich.
„Olaf, der Bergstamm der Farsi steht bei dem neuen Schah in hoher Gunst, und ich halte mich daher für verpflichtet, dich als Landfremden nachdrücklichst zu warnen, zumal – verzeihe schon – du ohne Paß, ohne Papiere und dazu noch mit einem immer noch laufenden Steckbrief belastet bist. Ich selbst setze mich vielleicht gewissen Ungelegenheiten aus, wenn ich deine Anwesenheit hier aus meinem Gedächtnis streiche. Nicht anders ist es mit Zodaide … Wollte ich meine Pflicht ganz korrekt tun, müßte ich euch beide mit nach Buschir nehmen …“
Der dienstliche Ton ist bereits wieder abgeflaut. Der tolle Sven spricht zögernd, tastend, und ich fühle geradezu, wie schmerzlich ihn dieser Widerstreit der Empfindungen sein mag: Pflicht und … Liebe!
Armer Kerl! Wenn ich dir helfen könnte …! Aber was weiß denn ich von euren Beziehungen, – was weiß ich überhaupt?! Der Schicksalswind blies mich von ungefähr hinein in diesen unvollendeten Roman als neuen Mitspieler, und die mir zugewiesene Rolle ist bisher kaum die eines Statisten.
… „Olaf …“ – seine Stimme klingt gequält, „warne das Mädchen, warne es eindringlich …! Ich … ich habe hier in der Tasche einen regelrechten Haftbefehl gegen Zodaide Fars, Enkelin des Oberhäuptlings der Farsi-Stämme von Farsistan. So darf das nicht weitergehen, – in dieser Nacht wieder drei Verwundete, – – sie treibt es denn doch zu … heißblütig, milde gesagt …! Zum Glück ahnen meine Leute nicht, daß ich dieses doppelte Spiel wage, ich habe sie nach Westen zu ausschwärmen lassen, der Schein muß ja gewahrt werden! Welch eine Torheit von ihr, hier aller Welt den Krieg zu erklären und …“
… Bisher blieb ich verständnisloser Zuhörer. Aber die eine Äußerung des alten Jugendgespielen konnte ich doch nicht unwidersprochen hingehen lassen …
Ich hatte ihn mit etwas schroffer Handbewegung zum Schweigen gezwungen.
„Gestatte mal, Sven, – drei Verwundete?! Wann und wo?! Ich bin mit Zodaide etwa seit halb zwölf nachts, vielleicht schon etwas früher, zusammen gewesen, und in dieser ganzen Zeit hat sie bestimmt niemanden verwundet, auch gar keine Gelegenheit dazu gehabt, das kann ich hier auf mein Wort versichern. Wann also soll sie denn eine Waffe gegen irgend jemand mit Erfolg benutzt haben?! Bitte, erkläre mir das! Ich lege mich für das Mädchen wahrhaftig nur aus reiner Gewissenspflicht ins Zeug, nur deshalb! Also bitte!“
Freund Oordaal blickte mich mit seinen etwas starr-durchdringenden Augen ebenso überrascht wie ungläubig an.
„Ich begreife das nicht“, meinte er kopfschüttelnd und warf gereizt seine Zigarre weg, die er ohnedies in seiner Nervosität übel zerkaut hatte. „Ich habe den alten Zagru vor einer halben Stunde persönlich gesprochen und ihn ernstlich verwarnt, weil …“
„Zagru?! Wer ist das denn wieder?! Entschuldige schon, die Herrschaften hier kenne ich noch zu wenig, und …“
„Zagru ist der Oberhäuptling der Farsi, also Zodaides Großvater … Sein voller Titel lautet Risch e Sefid Shour, also: „Weißbart Wildesel“, um es dir gleich zu übersetzen. Jeder Häuptling führt den Titel Risch e Sefid, und „Shour“ gleich Wildesel ist etwa so viel wie Generalissimus der ehrwürdigen Stammesältesten, denn hier zu Lande, mein lieber Olaf, taxiert man einen Wildesel anders ein als bei uns daheim einen Esel, – unsere persischen Wildesel sind nämlich ebenso schlaue wie tapfere und flinke Tiere, und ein Leopard zum Beispiel wird sich hüten, einen Eselhengst anzugreifen, zumal die Tiere stets in kleineren Trupps weiden. Esel ist eben nicht immer Esel, Olaf … Im Gegenteil!“
„Gott sei Dank“, meinte ich da, aus tiefstem Herzensgrunde wieder aufatmend. „Du hast deinen Humor nicht verloren, Sven …! Auch ich bin beglückt darüber, daß ich ein Land gefunden habe, wo ein Esel kein Esel ist! – Doch zur Sache zurück … Was war es mit dem Wildesel Zagru, dem scheinbar äußerst liebenswerten Großvater der wirklich liebenswerten Zodaide? Du hast ihn verwarnt? Wohl deshalb, weil er Zodaide abfangen wollte? Und wie steht es mit den drei Verwundeten …?“
„Die hatte er bei sich – als Beweisstücke, Olaf. – – leider! Jeder der Kerle hatte wie üblich einen Schädelstreifschuß, – Zagru behauptete, Zodaide hätte die Leute oben auf einer Bergterrasse an der Küste neben einer bekannten Salzsumpfschlucht niedergeknallt … Die drei hätten da oben ein harmloses Feuer anzünden wollen, als …“
„Ah so!!“ Ich pfiff so laut durch die Zähne, daß Svens tadelloses Reitpferd und noch tadellosere Windhunde unruhig wurden. „Ach so – – harmloses Feuer, – – nicht schlecht gelogen …!! Das sollte ein Signalfeuer werden, Sven, – jetzt bin ich im Bilde, aber mein Wort darauf: Zodaide hat die Burschen niemals angeschrammt, wir befanden uns bereits in der Steppe, als ich den ersten Kerl droben auf der Terrasse umsinken sah. Nie im Leben hat Zodaide diese Schüsse abgefeuert, übrigens habe ich überhaupt keine Schüsse gehört, bestimmt nicht, die Entfernung betrug keine dreihundert Meter, ich hätte also etwas hören müssen, Zodaide ritt dicht vor mir, sie schoß nicht, wir hatten Eile, in der tiefen Regenrinne zu verschwinden …“
Sven nickte widerwillig. „Dein Zeugnis ist wertvoll … Aber die Dinge erscheinen nun noch übler, Olaf, denn ähnliche Vorfälle kenne ich schon zur genüge, – – sollte wirklich bei alledem der Almani Marschallah doch beteiligt sein?! Sein friedfertiges Leben dort auf seiner Farm nördlich von Buschir an der Karawanenstraße nach Schiras steht ja zu seinen früheren Taten in zu schroffem Widerspruch, und …“
Er brach plötzlich ab. Ein hastig prüfender Blick streifte mich. Ihm war da offenbar eine Äußerung entschlüpft, die er bereits bereute.
Almani Marschallah!!
Abermals dieser Ehrentitel, dieser Name, der sogar von Jupp Hubard stets so vorsichtig in unsere Gespräche eingeflochten worden war …! Und wie vorsichtig! Der gute Jupp hatte stets wie die Katze um den heißen Brei sich herumgewunden, wenn er sich einmal dazu herbeiließ, das Thema zu berühren.
Und hier bei Sven Oordaal, einem sonst so rückhaltlos offenem Menschen, dasselbe Bild: Almani Marschallah, – – dann fiel gleichsam eine Tür zu, damit niemand Einblick gewänne in ein längst abgeschlossenes Geschehen aus einer Zeit, die durch ihre Ströme von Blut alle Werte menschlicher Charaktere gründlich umgefärbt hatte! Nun sollte dieser fast sagenhafte einstige Kämpe und Gegner Englands sogar mit bewaffneter Hand für Zodaide Partei ergriffen haben?! Als harmloser Farmer sollte er leben und dieses Farmertum nur als Deckmantel benutzen für verschwiegene, nächtliche Taten?! War wirklich etwas Wahres daran?! Hatten Zodaides Kreidezeichen ihm gegolten …?!
… Ich hütete mich, diese Dinge zu erwähnen. Die trennende Wand zwischen Sven und mir war urplötzlich über Augenhöhe emporgewachsen. Sein jähes[4] Verstummen und mein Verzicht auf jede Aufforderung, den begonnenen Satz zu beenden und auf eine eingehendere Erklärung über den Almani Marschallah mochte Sven richtig deuten, er mochte ahnen, daß ich mehr wüßte, als ich zu verraten geneigt war, – kurz, die Entfremdung war da, war nicht mehr zu bemänteln, ich hatte aus strengem Rechtlichkeitsgefühl nun doch Partei ergriffen, ich konnte nicht anders, Zodaide hatte nicht geschossen, das gab den Ausschlag.
In der dornenumhegten Mulde, in der wir saßen, in der Svens flinker Gaul und die beiden rassigen Windhunde geduldig mit ausharrten, blieb es minutenlang still.
Der Gendarmeriemajor, mein Landsmann, mein Jugendfreund, starrte mit verkniffenen Lippen vor sich hin. Der bereits kräftigere Wind – der Morgen nahte ja! – säuselte im Gestrüpp und führte neue finstere Wolkenmassen aus den Bergen Farsistans heran. Der Mond tauchte nur zeitweise auf, immer seltener, – ich selbst war in Gedanken weit mehr dort drüben zwischen den natürlichen Dornenhecken, wo Zodaide mit den Dromedaren und ohne meinen Monte und ohne seine Wolfssprößlinge sich vielleicht bereits vor Ungeduld verzehrte. Wir mußten den Ritt ja fortsetzen, wir durften die Tageshelle nicht abwarten, wir hatten es mit einer Unzahl von Gegnern zu tun, und wie Sven Oordaals Einstellung zu diesen dunklen Vorgängen war, bewies allein schon der für ihn untragbare Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung: Er hatte einen Haftbefehl gegen Zodaide in der Tasche, er hatte seine Leute fortgeschickt, – schon dies war streng genommen Pflichtverletzung, ganz abgesehen davon, daß er Zodaide nicht behelligen wollte!
Armer Kerl, – er tat mir leid, ich hatte volles Verständnis für sein fast finsteres Schweigen. War es nicht richtiger, dieses Beisammensein kurz abzubrechen und ihm über einen Gewissenskonflikt hinwegzuhelfen, unter dem er offenbar schwer litt.
Jetzt schnellen Svens prächtige Rüden mit den unnatürlich eingewölbten Leibern und dünnen Beinen wachsam aus dem Sande hervor, zwischen dem Gestrüpp erscheint ein Kopf in dunkler hoher Lammfellmütze, ein braunes Banditengesicht mit schneeweißem Patriarchenbart will die Insassen der Mulde erspähen, eine innere Stimme warnt mich:
Zagru, der Wildesel!!
Noch hat er uns nicht bemerkt.
Mich darf er auch auf keinen Fall bemerken, und blitzartig wälze ich mich hinter zwei riesige Tragantigel, diese stacheligen rundlichen Polster, krieche eilends davon, gedeckt durch die überhängenden Zweige einiger junger Maulbeerbäume, – mag Sven zusehen, wie er mit dem alten Gauner fertig wird, dem ich kaum die Fähigkeit zutraue, aus unseren Fährten Rückschlüsse auf die Anwesenheit zweier Männer zu ziehen, denn was mir die Farsi-Herrschaften bisher an Leistungen als wilde Bergbewohner vorgewiesen haben, würde jeden Australneger zum Grinsen bringen. Reichlich unbegabt haben sie diese Generalrazzia auf die überschlanke Zodaide angestellt, dort im Süden in dem Bergmassiv, in der schluchtenreichen Bergkulisse hätten sie uns abfassen können, und die große Attacke, die sie dann hier in der großen Steppe in der stauberfüllten Luft gegen uns ansetzten, war genau so verpfuscht …
Nein, allzu viel halte ich bisher nicht von diesen einstigen Verbündeten des großen Almani Marschallah, – die Leutchen haben noch viel hinzuzulernen, – – jedenfalls, ich gelange ungesehen zwischen die Hecken, ich finde hier das Bild der kurzen Rast nur insofern verändert vor, als neben den Reitdromedaren jetzt Monte sitzt und seine blutenden Wunden leckt … Außerdem: Zodaide hat gut aufgepaßt, Zodaide kniet am Rande des südlichen Stachelwalles mit halb erhobener Büchse, – ein Zuruf, kurz und scharf, verhindert Montes Freudenausbrüche, und als ich neben Zodaide kauere und über die dunkle Steppe blicke, sehe ich weit jenseits der Mulde einen beweglichen Fleck, – – Reiter zu Pferde, Farsi, – – und damit mußten wir rechnen, denn Zagru, der Wildesel, der berüchtigte Risch e Sefid Shour, wird kaum allein und zu Fuß hierher vorgedrungen sein.
Zodaide fragt nichts.
Das gefällt mir.
Zodaide reimt sich das Nötige selbst zusammen, dieses Mädchen, Kind der Wildnis und der Berge und doch eine kleine Lady, begnügt sich mit einem prüfenden Blick zum Himmel empor …
Flucht?!
Sobald unsere Dromedare sich erheben, sind wir verloren …
Flucht ist unmöglich …
Und von diesem trügerischen schwarzen Gewölk etwa einen alles einhüllenden Regenguß zu erwarten, wäre hier in Deschistan gänzlich verfehlt … Die Steppe lechzt nach Feuchtigkeit, was helfen ihr die trockenen Gewitter, es bleibt stets nur bei nichtigem Theaterdonner, und dabei ist die Hitze für den, der Deschistan nicht kennt, geradezu grauenvoll, erschlaffend, niederdrückend, schweißauspressend, – meine Lumpen sind schweißnaß gewesen, sind wieder trocken geworden, wiederum vollgesogen, wieder trocken …
Worauf hofft das Mädchen an meiner Seite?!
Ihre Körperhaltung mag angespannt sein, und doch verraten ihre reinen Züge nichts von der lähmenden Angst, daß die Feinde zuletzt doch noch triumphieren könnten.
Jetzt dreht sie das feine Köpfchen …
„Ralla Darfi …!“, flüstert sie nur, und ihre Lippen verziehen sich spöttisch.
Ralla Darfi?!
Damals wußte ich nicht, was der Ausdruck bedeutete … Heute weiß ich es …: Wandernde Trichter!
Wie die Fachgelehrten diesen Farsi-Ausdruck Ralla Darfi „wissenschaftlich“ umgemünzt haben, ist mir unbekannt.
Folgendes geschieht …
Der Morgenwind hat gedreht, kommt von Nordost, fegt also den Steppenstreifen zwischen Golf und Gebirge entlang … Und dieses Farsistan-Hochland schiebt frech und anmaßend seine Vorposten in Gestalt von schmalen hohen rostbraunen Felsennasen in die Steppe hinein – wie die Zinken einer Harke, könnte man es nennen, und zwischen diesen Zinken verfängt sich die immer kräftigere Brise und wirbelt dort die längst angesammelten feinen Sandmassen empor – in Form von Trichtern, die mit der dünnen Spitze über die Ebene tänzeln, die immer zahlreicher werden, immer ihre Form wechseln, immer gen Südost wandern …
Das sind die Ralla Darfi, wie Forschungsreisende sie beschrieben haben als immerhin seltsame Erscheinung: Keine ungeheuren, von Wirbelstürmen emporgerissene Erdsäulen, – nein, spielerisch anmutende Naturscherze, nur daß ihre Menge die Steppenbewohner zur Verzweiflung treibt, weil diese Trichter die mühsam hergestellten Bewässerungsgräben wieder gleichmachen und die Arbeit von Jahren vernichten.
Heute weiß ich: Um diese Sandtrichter in Bewegung zu setzen, um sie überhaupt hervorzuzaubern, dazu bedarf es des Zusammenwirkens verschiedenster günstiger Umstände. –
Zodaide lächelt jetzt noch siegesgewisser … Und ich beobachte mit angehaltenem Atem das seltsame Schauspiel … Die tote Steppe lebt plötzlich … Die tote Steppe schickt ihre Gespensterarmee ins Ungewisse, – überallher nahen sie geräuschlos, still, fast graziös: Sandtrichter in ständig wachsender Zahl, sechs Meter hoch, acht Meter hoch, auch nur drei Meter, – diese wie Kinder vorsichtig jedem Busche ausweichend, die größeren unbeirrt ihren Weg suchend, alles einhüllend, wenn sie auf stärkere Bäume stoßen und wie eine Puderwolke sich auflösen und als Staub davontreiben und als Staub dahinsterben.
Die tote Steppe lebt …
Ein Lachen kommt über Zodaides rote frische Lippen …
So, wie Frauen lachen, die sich längst aus den vielleicht ererbten Fesseln weiblicher Halbheit freigemacht haben, weil all der törichte Spuk von Eitelkeit, Koketterie, Herrschenwollen und sonstigen Nichtigkeiten durch die harte Macht der Umstände eiligst zerstob …
Zodaide hat allen Grund zu diesem aufreizend freudigen Gelächter … Die Berge von Farsistan sind keine halbe Meile mehr entfernt, und vor uns, hinter uns, um uns her ziehen die Sandgespenster von Deschistan geräuschlos ihre Bahn, lösen sich auf, wo ein Hindernis ihr Sterben begünstigt, werden abgelöst von neuen Schwadronen, und was bisher sicherer Tod oder zumindest eine Hetze um Leben und Tod bedeutet hätte, ist nur mehr ein halbes Wagnis …
Von dem Reitertrupp der Farsi ist nichts mehr zu sehen … Feine Schleier von Staub breiten sich immer weiter aus, selbst die Mulde drüben, wo Sven und der Wildesel Zagru sich zu ernster Aussprache niedergesetzt zu haben scheinen, ist kaum mehr der Richtung nach zu erkennen.
Zodaide, Kind der Berge, erhebt sich …
Unsere Dromedare, die inzwischen getränkt worden sind, richten sich auf, schütteln sich, bekommen stiere Augen …
„Festhalten!“, ruft Zodaide …
Meine Stute reißt am Zügel, – ich bin schon im Sattel, – ich muß dem Mädchen die Führung überlassen, und Zodaide reitet im Trab gen Osten – – dicht neben uns schweben drei mächtige Sandtrichter wie eine Schutzwehr. Noch immer ziehen sich hier diese eigentümlichen Dornenhecken entlang, die jeder Uneingeweihte für Erzeugnisse von Menschenhand halten würde. Sie hindern die eilenden, kreisenden Trichter nicht, sie rauben ihnen nur die Spitzen für kurze Zeit, und diese Spitzen werden wieder ergänzt aus sandigen Löchern, und die seltsamen Gespenster wandern weiter, und wir mit ihnen.
Die Dromedare sind sehr unruhig. Wir weichen drei alten, hohen, halb abgestorbenen Dattelpalmen aus, die über und über mit Sandstaub bedeckt sind und zwischen denen ein kleiner Hügel desselben Sandstaubes lagert, in dem wir krampfhafte Bewegungen eines verschütteten Häufleins von Schafen bemerken. Wir sehen noch, daß ein strammer Widder die Freiheit gewinnt, dann sind wir vorüber, dann dürfen wir nach Norden abbiegen, wo grüne Vorberge und dahinter die Wildnis des „Landes der Pässe“ unserer wartet.
Ich bewundere Zodaide, – sie zaudert keinen Augenblick, sie weiß genau, wo ihre Schleichwege in die Einsamkeit der Schluchten münden, und diese Schleichwege mag sie mühsam genug gefunden oder den Tieren der Einsamkeit abgelauscht haben. Ein ewiger Daseinskampf herrscht in diesen so überaus dünn besiedelten Gebirgsmassen: Bergziegen, Wildschafe, Bären, Leopard und anderes Getier ringt hier um die Nahrung und Sicherheit, während vielleicht dreihundert Meter abseits mit unerhörter Kühnheit ein fauchendes und knatterndes Lastauto die sogenannten Paßstraßen zu überwinden sucht.
Das ist Persien, noch heute …
Halbzivilisiertes Land, – ein Teil der Bewohner in Städte zusammengedrängt, handelnd, feilschend, betrügend, alle Vorteile westlicher Kultur genießend, – – und wenig abseits davon der andere Teil der bunt gemischten Bevölkerung, in elenden Steinhütten oder Zelten hausend und zäh an dem Althergebrachten festhaltend.
Die Steppe steigt an, Felsen erscheinen, Felsen werden zu Hügelketten, – Zodaide zaudert niemals, in flottestem Trabe verschwinden wir in einem Engpaß, dessen lange blühende Dornenbehänge kratzend im Winde das Gestein streicheln.
Im Osten ist der Tag heraufgezogen, – wir haben die Wildnis gerade noch rechtzeitig erreicht, selbst der Boden der Schlucht spürt den nahenden Glanz der unerbittlichen Sonne, und sicher und ohne Aufenthalt klettern unsere Tiere einen Steilhang empor, der auf dem ersten Blick kaum dem menschlichen Fuß irgendwo einen Halt zu gewähren scheint. Es sind Naturstufen, und diese Treppe auszuproben, muß tadellose Nerven erfordert haben. Erstaunlich ist dabei, wie schwindelfrei die Dromedare sind, wie sie hier förmlich zu Akrobaten werden und wie Jupp, das Känguruh, wahrlich doch ein Tier der Ebene und für Kletterkünste so gar nicht geeignet, diese Schwierigkeiten überwindet.
Etwa in halber Höhe der Steilwand klafft ein breiter Riß, Zodaide biegt um die Ecke, ist mir urplötzlich außer Sicht, und als ich an den Zugang dieses vorzüglichen Verstecks gelange, schaue ich in eine von Felsblöcken, Dornbüschen und sonstigen Stachelgewächsen ausgefüllte offene Kluft hinein, die sich nach oben zu stark verengert und nur einen schmalen Strich des nun fast wolkenfreien blaßblauen Firmaments sehen läßt.
Seit unserem Aufbruch von der Raststelle zwischen den Dornenhecken mag über eine Stunde verstrichen sein. Eine Stunde hat Zodaide, die Enkelin des Shour Zagru, jede Frage nach dem Verlauf meiner Unterredung mit Sven Oordaal vermieden. Welche Frau brächte das fertig?! Und auch jetzt läßt sie ihr Tier niederknien, steigt wortlos aus dem Sattel, öffnet wortlos den einen großen Lederbeutel, den man als Satteltasche ansprechen könnte, und entnimmt ihm zwei Hammelkeulen, die nicht mehr ganz einwandfrei duften, obwohl sie in die riesigen Blätter einer Sumpfpflanze, ähnlich unseren Wasserrosen, eingehüllt gewesen. Genau so schweigsam und selbstverständlich schreitet sie über ein Gewirr von Steinblöcken und bleibt vor einer Felsspalte der kleinen Schlucht stehen.
Eine Kette klirrt, rasselt, klirrt wieder, und mit einem Male erscheint vor der Spalte der Katzenkopf eines graugelben, schmal gebauten Jagdgepards, bekanntlich ein naher Verwandter des kräftigeren Leopards. – Daß man in Innerpersien den Gepard zur Antilopenjagd abrichtet, war mir bekannt. Was dieses Raubtier hier mit dem Eisenhalsband und der festen Kette sollte, blieb mir zunächst unverständlich.
Monte knurrte natürlich. Aber Monte hatte von den Kämpfen mit den Windhunden der Steppenbewohner noch genügend an frischen Hautwunden zu lecken und beließ es bei diesem Knurren.
Anders der hüpfende Jupp, der offenbar mit dem Gepard längst Freundschaft geschlossen hatte. Jupp schaute aus allernächster Nähe zu, wie das rätselhafte Mädchen, das so viel merkwürdige Geheimnisse zu hüten hatte, den Katzenkopf des Gepards streichelte und ihm dann die leckeren Bissen in die Felsspalte warf, worauf das Raubtier sich kettenklirrend wieder zurückzog. Auch Zodaide folgte ihm, – ein Pfiff ertönte, und die beiden Dromedare, die ich derweil von ihren Traglasten befreit hatte, trotteten genau wie Jupp hinter ihrer Herrin drein und zwängten sich in die Felsspalte und blieben auch dort.
Da erst ging mir eine Ahnung auf, daß Zodaide Fars die Dromedare durch den Gepard bewachen ließ, daß wir den Weg zu einem unbekannten Ziel entweder zu Fuß oder mit geeigneteren Tieren fortsetzen würden.
Ich setzte mich auf ein Felsstück, Monte kauerte zwischen meinen Knien, und versonnen beobachtete ich, wie die Tageshelle immer rascher zunahm und wie selbst in dieser versteckten Schlucht die Konturen der malerischen Unordnung von Gestein und Gestrüpp sich lösten und die Einzelheiten des Bildes mir nähergerückt wurden. Eine fremde Welt, ein fremdes Land umgaben mich, neue Menschen drängten sich in meinen Gedankenkreis, und grüblerisch zerlegte ich die mir wichtigste Frage, ob etwa wirklich der berühmte Almani Marschallah dort im Süden durch drei gedämpfte Schüsse das Aufflammen des Signals in Zodaides Interesse verhütet hatte. Wenn dem so war, dann war die halb verhüllte Gestalt in der sumpfigen Schlucht, die von dem Kreide-Z die Seitenbalken weggewischt hatte, zweifellos derselbe Almani Marschallah gewesen, der nun irgendwo an der alten Karawanenstraße Buschir–Schiras eine Farm besitzen sollte.
Almani Marschallah …
Den Namen vergaß ich nicht, konnte ich nicht vergessen, und nach dem wenigen, was mir der Almani Dscheitan über seinen vergötterten Herrn erzählt hatte, konnte ich kaum annehmen, daß ein Mann von solchem Schlage das wildpulsierende Abenteurerblut gänzlich verloren und lediglich noch darin Befriedigung finden sollte, eine dürre Salzwüste durch eisernen Fleiß zu kultivieren und Schafe zu züchten.
Almani Marschallah …!! Und wie eine Vision tauchten da vor mir die kläglichen Reste der zerstörten Funkstation auf und jene halbe Baracke, in der die blonde Zodaide mir das Herz mit dem lieblichen Reiz ihrer eigenartigen Persönlichkeit erwärmt hatte.
Almani Marschallah – – der deutsche „Marschall“, der deutsche, rücksichtslose Bekämpfer englischer Versuche, Persiens Küstenstädte für kriegerische Zwecke auszunutzen! Und wie hatten stets Jupp Hubards Augen aufgeleuchtet, wenn er so beiläufig doch einmal auf einzelne glorreiche Streiche jener tollen Zeit zu sprechen kam, auf den Waffenschmuggel, der nachts von der arabischen Küste auf schwarz gestrichenen Seglern mit schwarzer Takelung gewagt und auch durchgeführt wurde, – Waffen für die Farsi und andere Bergstämme, die nachher den Almani Marschallah preisgaben – – einer Million wegen, einer Million Fanggeld wegen!! Waffenschmuggel trotz der Wachsamkeit englischer Kreuzer und Zerstörer, ein gefährliches Tun angesichts zahlloser Scheinwerfer, Geschütze und Torpedos …
Gewiß, all das lag viele, viele Jahre zurück. Von dem Almani Marschallah waren nur noch … ein bescheidener Farmer übriggeblieben und die Ruinen seiner Taten. – Wirklich nur das?! Und der unheimlich sichere Schütze, der da die drei Farsi angeschrammt hatte?! Auch derselbe Mann, dem Freund Sven, Gendarmeriemajor, nicht recht traute?! – Wer sonst?! Und die Kreidezeichen und Zodaides verborgenes Leben?! Was hatte Zodaide in die verfallene Baracke am Persischen Golf getrieben?! Nur Unrast?! Hatte des Mädchens gefahrvolles Dasein, von dem ich selbst in dieser Nacht den besten Beweis erhalten, doch einen tieferen Sinn?! – Es mußte so sein … Zwecklos würde sie wohl kaum die Gebirge und die Steppe, ständig umlauert von ihren eigenen Stammesgefährten und sogar noch von den Hütern des Gesetzes verfolgt, durchstreifen und dabei so seltsame Dinge treiben und sich diese Schlupfwinkel auserwählt haben, in denen sie ihre Dromedare verbergen konnten!
Ein unklarer Schimmer von Romantik umwob ihr zierliches und doch so kräftiges Persönchen, – zu alledem kam noch eins hinzu, was mir ebensowenig aus dem Kopf wollte: Zweimal Jupp, zweimal Zodaide, – ein verwegener Draufgänger Jupp, ein Riesenkänguruh Jupp, ein Schoner „Zodaide“, ein blondes Mädel Zodaide, das bestimmt Europäerblut in den Adern hatte!
Etwa des Almani Dscheitans Tochter?! – Ich rechne die Jahre zurück … Die Mädchen hier erblühen früh zur Reife des Weibes. Es könnte sein … Und wäre es so, dann hätte Jupp Hubards Absicht, hier zwei Angelegenheiten zu ordnen, zwei Ehrenpflichten zu erfüllen, eine genügende Erklärung gefunden …
– So sehr habe ich mich in meine Gedanken eingesponnen, daß erst Monte, der vor Müdigkeit und Blutverlust zu meinen Füßen eingeschlafen ist, mit seinen ewig wachen Sinnen den Fremden wittert, der da wie hingezaubert fünf Schritte vor mir steht. Monte ist emporgefahren, er röhrt dumpf, und genau so dumpf und tief klingt die Stimme des blonden Mannes, der, gekleidet in einen bräunlichen Reitanzug aus Khaki und anscheinend unbewaffnet, aus stillen Augen mich eingehend mustert und fragt: „Wer sind Sie?“ – Englisch …
Ich prüfe seine bärtigen Züge, sein eigentümlich müdes, gleichgültiges Gesicht mit den tiefen Falten um die fast traurigen Augen, seine etwas schlaffe, gebeugte Haltung, und ich sage mir sofort, – es ist wie eine Eingebung: „Nur der kann es sein, – das ist der Gegner des Obersten Lawrence, das ist der Mann, den nur Verrat bezwingen konnte und der nun hier in Persien, vergessen von der großen Welt da draußen, angeblich Farmer spielt! Denn diesem Männerantlitz ist eine Seelenregung offenkundig eingeprägt: Enttäuschung, Bitterkeit, die er nie überwand!“
Ich erhebe mich …
„Sind Sie der Almani Marschallah von Farsistan?“
Eine gewisse Ehrfurcht kommt mir ganz von selbst in Ton und leichte Verbeugung.
Die stillen, klaren, ernsten Augen scheinen sich zu umfloren.
„Ich war es, – und Sie?!“
Nun spricht auch er nicht mehr die Allerweltssprache mit ihren für das Britenvolk so wenig passenden Quetschlauten. Er benutzt das Deutsche wie ich, und ein leicht gespannter Ausdruck tritt in die müden Züge …
Als ich meinen Namen nenne – nur das, nickt er befriedigt und streckt mir die Hand hin.
„Dann weiß ich Zodaide gut aufgehoben“, sagt er herzlich. „Hier, – geben Sie ihr diesen Zettel … Über die Vorgänge dieser Nacht bin ich vollständig im Bilde. Ich habe noch acht Stunden schärfsten Rittes vor mir, damit ich daheim bin, wenn Major Oordaal in meiner Farm Nachfrage hält, und das wird er tun, obwohl die drei Schüsse und all die übrigen vordem nicht auf mein Konto kommen. Grüßen Sie das Mädchen, Herr Abelsen, helfen Sie ihr … Ich muß fort … Sie können den Zettel lesen, – vernichten Sie ihn … Vielleicht – – auf Wiedersehen, – – vielleicht.“
Er wendete sich dem Ausgang der kleinen Bucht zu, biegt um die Ecke, ist verschwunden.
Von ihm ist nur der Eindruck eines innerlich gebrochenen Menschen und der Wisch Papier mit den Bleistiftzeilen übriggeblieben:
„Zodaide, Vorsicht!! Besonders vor Oordaal, – – Haftbefehl, – – du verstehst!! Meide am besten das Reich der Toten, auch dort scheint mir deine Sicherheit bedroht zu sein.“
Das ist alles, und es ist übergenug für einen Menschen, der wie ich auch die eine Kunst während seiner Wanderjahre lernte: Aus lose zusammenhängenden Fäden ein Bild zu flechten!
Schritte hinter mir …
Zodaide, zwei gesattelte Maultiere führend.
„Zodaide“, sage ich leise, „dein Vater war soeben hier, der Almani Marschallah … Da, – lies seine Warnung.“
Ihr feiner Kopf ruckt etwas zurück, – eine Bewegung der Ablehnung.
„Er ist nicht mein Vater … Aber er handelt wie ein Vater an mir …“
Sie überfliegt die wenigen Zeilen.
Und mich treibt irgend etwa dazu, eine entscheidende Frage an sie zu richten.
„Zodaide, – ich fand in der sumpfigen Schlucht von Ihrem letzten Kreide-Z die beiden Seitenbalken frisch weggewischt und bemerkte auch eine Gestalt mit einer Kapuze, – wer war der Mann?“
Das Mädchen läßt die Zügel der beiden Maultiere fallen und wird totenbleich, zittert …
Ich gehe auf sie zu … „Zodaide, – wenn ich Ihnen helfen soll, sprechen Sie! Wer war der Mann?“
In den gramerfüllten Mädchenaugen erscheinen große Tränen. Dann wirft Zodaide sich in die dicken Moospolster, krallt die Hände in das Gestein, weint, schluchzt, ist völlig unbeherrscht in ihrer mir unbegreiflichen Verzweiflung.
Kein noch so liebevoller, gütiger Zuspruch hilft, – meine Worte sind zwecklos, bleiben zwecklos, bis sie selbst sich besinnt und ebenso jäh emporspringt und mit verweinten Augen die Zügel ihres Maultieres ordnet.
„Schnallen Sie bitte das Gepäck auf … – Wir müssen weiter, Herr Abelsen.“
Sie kehrt mir den Rücken zu, sie bleibt stumm.
Als wir die Schlucht verlassen, steht der angekettete Gepard vor der kleinen Höhlenöffnung und jault in langgezogenen kläglichen Tönen …
Und als wir den spitzen Kamm des Bergrückens auf den sicher dahineilenden Maultieren erreichen, bemerke ich jenseits des weiten Tales auf dem Parallelkamm des Gebirges eine endlose Kette von Reitern, die auch gen Norden streben und deren Gestalten mir das Fernglas als Farsi enthüllt, als Gegner, als Feinde …
Zodaide hat für die siebzig braunen Kerle mit hohen Lammfellmützen nur ein verächtliches Auflachen. – – Und dies mit Recht … Alle Kniffe des weißbärtigen Shour Zagru und seiner Eskorte kennt Zodaide im voraus.
Zwei Tage später sind wir am Ziel …
– Die Küste Persiens empfing mich ablehnend, aber die rostbraunen Bergschluchten Farsistans und das Reich der Toten nahmen mich gastlicher auf.
… Soeben bringt Dan mir den Morgentee, verneigt sich tief, und seine merkwürdige Glatze ist mit feinsten Schweißperlchen bedeckt. Bei vierzig Grad Hitze in der noch heißeren Küche herumzuwirtschaften, öffnet selbst die Schweißporen einer Negerhaut, – – und Dan ist ein Neger, freilich mehr mit Arabierschlag, nämlich ein Somal von den Gestaden Afrikas, die der Indische Ozean umspült …
Ein Neger namens Daniel, abgekürzt Dan?! – Es ist so, die kleine Zodaide, die mich jetzt bereits zwanglos nur noch Olaf nennt, hat es eben mit der Wahrheit doch nicht ganz genau genommen, und mit ihrer sogenannten Einsamkeit ist es nicht weit her, denn ich bin überzeugt, daß dieser alte Wachtturm hier, der zweifellos noch aus den Zeiten der Eroberungszüge Alexander des Großen von Macedonien stammt, sogar noch mehr Personen beherbergt, die man freilich vor mir sorgsam verbirgt.
Dieser Turm, der aus der Ferne auf seinem Felsenpostament wie eine grüne, bunte Riesenvase wirkt, in die man im Übermaß grüne blühende Ranken hineingetan hat, beherrscht das ganze, endlose, ovale Hochtal, das nichts anderes ist als eine jener Salzsteppen, deren Boden nur dürftige Gräser, Dornen, Büsche und kümmerliche Bäume hervorbringt und lediglich den genügsamen Schafen, Ziegen und Kamelen als Weidefläche dienen könnte, – könnte, – aber die Farsi meiden diese Steppe wie die Pest, und auch das hat seine guten Gründe, daran ist der seltsame Friedhof schuld, der da mitten in der Ebene mit seinen flachen Grabtafeln und seiner niederen Steinmauer auf mäßigem Hügel sichtbar ist, – so erklärte es mir Zodaide, aber auch diese ihre Angaben waren spärlich und vorsichtig und genügten gerade nur, mir eine unklare Deutung für den Ausdruck „Reich der Toten“ zu liefern.
Die meisten Bergstämme in Farsistan sind ein Mischvolk, bei dem das Araberblut in den letzten Generationen immer stärker wieder hervortritt, sie sind außerdem strenggläubige Mohammedaner und dazu fanatische Sektierer, nämlich Schiiten, eine pietätvolle Behandlung ihrer Toten durch Grabpflege ist ihnen unbekannt, und abergläubische Vorstellungen mögen mit dazu beitragen, daß sie diesen oder jenen ihrer Friedhöfe plötzlich nicht nur als Begräbnisstelle aufgeben, sondern sogar dessen weitere Umgebung nie wieder betreten – wie hier! – So hat Zodaide mir die auffällige Tatsache erklärt, daß diese meilenlange Hochlandsteppe, die in einen Kranz wild zerrissener Berghäupter eingebettet ist, auch nicht von einer einzigen kleinen Schafherde belebt ist.
Die Steppe ist leer von Menschen, leer von Haustieren der sogenannten Ilijat, der Bergstämme, von denen die Farsi drüben in den nördlichen Bergen hausen. Mit dem Fernglas kann ich, wenn ich die Ranken von der Fensteröffnung meines Turmzimmers wegschiebe, sogar die Rauchsäulen unsichtbarer Herdfeuer erkennen, und Zodaide hat mir gestern die Richtung gezeigt, wo jenseits der Randhöhen unseres toten Reiches die Sommerwohnsitze ihres Stammes zu suchen seien, – dort, sagte sie, habe sie ihre Jugend verbracht, dort habe sie, schnell heranreifend, immer deutlicher den geheimen Haß verspürt, mit dem ihr Großvater Zagru sie verfolgte, bis dann eines Tages das nur noch sehr dünne Band zwischen ihr und den Farsi gänzlich zerrissen worden sei …
Und mit diesen dürftigen Angaben mußte ich mich zufrieden geben.
Auch Dan, der Somal mit der schimmernden Glatze und dem kreisrunden Rest dünnen weißen Wollhaares, wird sofort schwerhörig, wenn ich an Dinge der Vergangenheit rühre.
Dabei ist der alte Dan kein übler Knabe und für sein biblisches Alter noch sehr frisch und sehr besorgt um meine Person und um Freund Monte. Seine Fürsorge geht sogar so weit, daß er nachts auf einer Matte vor meiner Tür schläft, – das heißt: „Tür“ ist übertrieben, Türen gibt es hier nicht, nur Wolldecken vor den Türöffnungen, und diese dicken, filzartigen Decken wehen beständig hin und her und bauschen sich und erzeugen infolge des nimmermüden Luftzuges, der durch den grünen Turm recht kräftig hindurchbläst, allerlei Geräusche, die mich beim Schreiben stören.
Was soll ich hier auch anderes tun, als das bisher Erlebte zu Papier bringen?!
Zodaide ist zumeist unsichtbar. Wir sind nun zwei Tage hier, und in diesen zwei Tagen genoß ich genau dreimal ihre Gegenwart für je eine knappe halbe Stunde … Dan freilich sehe ich häufiger, Dan bedient mich, und sein wunderbares Kauderwelsch, aus deutschen, englischen und französischen Brocken ist das einzig Erheiternde bei dieser freiwilligen Haft, die wir in diesem uralten Wachtturm vorläufig durchmachen. Gewiß, – an der Verpflegung ist nichts auszusetzen, und da die tote Steppe draußen doch nicht so ganz leblos ist, wenn man scharf achtgibt, bietet mir das Tun und Treiben der verschiedenen Wildlinge da draußen wenigstens eine Zerstreuung. Kleine Antilopenrudel tauchen zwischen den vereinzelten Felsgruppen und Buschstreifen auf, Schakale schleichen ängstlich umher, gestern abend eräugte ich sogar einen strammen Meister Petz und einen ausgewachsenen Leopard, auf den Felshängen der Randberge treiben sich Wildschafe und Wildziegen umher, – – es gibt genug zu sehen, nur – – nur das sehe ich nicht, was ich gern sehen möchte: Meine geheimen Mitbewohner dieser kleinen Festung, die bestimmt Zodaides Dauerwohnsitz ist, während Dan mit dem narbenreichen, zerknitterten Somalgesicht den Schloßkastellan, den Koch, den Wächter und den blind ergebenen schweigsamen Diener seiner Herrin und meiner Wenigkeit spielt.
– Ich habe den Bleistift weggelegt … Dünne Sonnenstreifen fallen durch das dichte Rankengewirr auf das Papier … Um die bunten Blätter draußen summen ungezählte fleißige Bienen …
Und ich grübele … grübele …
Im Augenblick beschäftigt mich nur eine Frage: Wer sind diese Mitbewohner, die ich nicht zu Gesicht bekomme, deren Stimmen ich nur gestern abend hörte, als Dan in der Küche im zweiten Stock beschäftigt war und als ich die plumpen Steintreppen lautlos hinabschlich und unten, wo Zodaide haust, mehrere Stimmen vernahm – – mehrere.
Ganz gedämpft nur, – irgendwoher …
Gedämpft und trotzdem zuweilen auflebend zu leidenschaftlichem Flüstern …
Und wieder ersterbend zu unklarem Gemurmel.
… Ich ließ den Vorhang wieder fallen und stieg nach oben.
… War kaum oben, als der ewig geschäftige Dan bereits mit seiner Matte erschien und sein Bett vor meiner Tür errichtete.
Vielleicht kann man eine derart übertriebene Fürsorge für meine Person auch diskrete Überwachung nennen …
Kleine Zodaide, es wäre besser, du spieltest mit offenen Karten! Du bist ein so liebes, frisches, forsches Mädel, und Freund Sven ist durchaus zu verstehen, daß er hier in Farsistan sein Herz verlor und nun in so böse Gewissenskonflikte geraten ist.
… Ich biege die Ranken zur Seite, und ich überblicke die Hochlandsteppe, ich erkenne mit bloßem Auge den kleinen Friedhof mit der aufgeschichteten Steinmauer und mit den flachen Grabhügeln und liederlich aufgestellten Steinplatten zu Häupten der Gräber … Dreißig mögen es sein … Dreißig Farsi schlafen dort den ewigen Schlaf, und die lebenden Farsi bleiben der Stätte fern, als ob der Dscheitan, der Teufel, dort umginge.
Dscheitan … – Almani Dscheitan, Freund Justus Hubard, – – wo mag er mit seinem Schoner stecken, wie mag er dem persischen Wachtboot entkommen sein?!
So springen meine Gedanken rückwärts.
Und – springen wieder jählings zurück in die Gegenwart.
Täusche ich mich?
… Ein Griff nach dem plumpen Brettertischchen …
Ich stelle das Fernglas ein …
Die Linsen bringen mir den unheimlich verlassenen Friedhof ganz nahe.
Nein, ich täusche mich nicht, – zwischen den Grabhügeln und dem dort wuchernden Gestrüpp kriecht ein Mann entlang, schiebt sich behutsam vorwärts, verschwindet, erscheint von neuem …
Mein Herz pocht in schnellerem Takt gegen die Rippen. Nicht des Mannes wegen, nein, – aber der endlosen Kette von Farsi wegen, die da urplötzlich hinter einer Bodenwelle auf ihren ruppigen und doch so zähen und schnellen Gäulen auftauchen und die der Mann unmöglich bemerken kann.
Gegen hundert Reiter mögen es sein, – ihre langgereckte Linie biegt sich nach innen ein, sie wollen den Friedhof einkreisen, sie haben ihn eingekreist, ihn und den Mann im graubraunen Reitanzug, dessen Gesichtszüge ich nun endlich klar vor das Glas bekomme.
Meine Hände krallen sich unwillkürlich fester um das zerschrammte Fernglas … Der Mann ist bestimmt Jupp Hubard, – nur Käpten Hubard hat solche hageren, kantigen Züge, nur er hat diese gedrungene Gestalt, diese gemessenen Bewegungen, diese von ihm unzertrennliche kurze Holzpfeife, aus der auch jetzt kleine Tabakwölkchen hochsteigen.
Wie ein Panorama liegt die Steppe vor mir, wie von einem Aussichtsturm beobachte ich diese stille Jagd auf den Almani Dscheitan, der nach dem wenigen, was ich von seiner Vergangenheit weiß, bei den Farsi auf keine Gnade zu hoffen hat …
… Jetzt ist er wieder verschwunden, Gestrüpp deckt ihn, – ich möchte ihn warnen, irgendwie, – ich darf es nicht, mir sind die Hände gebunden, mich zwingt Zodaide zur Untätigkeit, denn ein Warnungsschuß etwa, – – unser Versteck wäre verraten …!
Nach den zwei Tagen der Ruhe packt mich wieder das Fieber des Erlebens mit doppelter Macht …
Was nur tun – was nur?!
… Enger und enger wird der Kreis der gut bewaffneten Farsi, – ich erkenne jetzt auch Shour Zagrus weißen Bart, ich erkenne das finstere, grausame Greisengesicht des Großvaters Sefid, vor dem selbst Freund Sven mit all seiner Autorität als Major der persischen Gendarmerie nicht zu prunken wagt …
All die Kerle dort reiten nun im Schritt, halten die Büchsen bereit, nähern sich immer mehr der halb sandverwehten Friedhofsmauer. Ich bin nur ohnmächtiger Zuschauer, mich fesselt das neuartige Bild, bisher kannte diese Steppe keine Reiter, nur Getier der Wildnis, heute an diesem glutheißen Morgen, an dem die Luft über der Hochebene meterhoch flimmert, ist alles so anders, mit einem Schlage hat der stille Frieden dieser Einsamkeit ein verändertes, bedrohliches Aussehen angenommen, Farsistan zeigt mir genau wie auf unserem abenteuerlichen Herritt seinen Januskopf, sein kriegerisches Antlitz, seine Hinterlist, seine weit zurückreichenden dunklen Geheimnisse von Haß und Feindschaft und Unversöhnlichkeit, – – Gestalten wilder Bergbewohner lugen hoch zu Roß über die niedere Mauer, springen ab, springen zaudernd in den gemiedenen Friedhof und schreiten behutsam in immer engerem Kreise weiter, – – suchen den Mann, den sie fangen wollen, durchstöbern das Gestrüpp, werden unruhig, laufen hin und her und finden doch nichts …
Eine Viertelstunde treiben sie es so, – ich lächele mitleidig, – wie töricht sie sich anstellen bei alledem, – sie haben ja selbst die Fährte ihres Feindes zertrampelt, verwischt, und doch bleibt es ein Wunder, daß sie Jupp Hubard nicht finden können, daß sogar die Hunde, die sie mit sich führen, keine Witterung nehmen und völlig versagen. Ich beobachte den Shour Zagru, der alte Bandit scheint vor Grimm vollständig seine erhabene Würde vergessen zu haben, er läuft hin und her, er drischt auf die Hunde ein, seine Leute ziehen sich vorsichtig zurück, sie mögen seinen Jähzorn kennen, – – dann verschiebt sich das Bild, weil zwei Arme plötzlich meinen Nacken umschlungen halten und eine bebende Gestalt sich an mich drängt.
Das Fernglas sinkt, Zodaides bleiches Gesichtchen mit übergroßen, schreckerfüllten Augen lenkt mich ab, und des Mädchens verängstigtes Flüstern dringt wirr und ungereimt an mein Ohr …
„Olaf, was bedeutet das?! Weshalb hat Zagru plötzlich alle Scheu vor dieser Steppe und dem Friedhof des Dscheitan verloren?! Was soll dieses Aufgebot von Farsi, die doch wahrlich allen Grund haben, den Platz zu meiden, wo all die Verräter ruhen, denen das Gold das Hirn umnebelte?! Olaf, was sucht Zagru dort?!“
Im Hintergrunde meines Gemaches taucht nun auch das verstörte, durch die starke Erregung noch mehr zerfurchte schwarzbraune Gesicht unseres Kochkünstlers Daniel auf. Seine Augen sind weit vorgequollen, die Lippen zucken, als ob er leise Gebete murmelte, aber Dan’s Frömmigkeit ist genau so fragwürdig wie seine Märchen über seine Vergangenheit, seine ungewöhnliche Erregung (denn die Somali-Neger sind durchweg äußerst ruhige Naturen) muß schon eine ganz besondere Ursache haben, – – sollte er etwa dasselbe wie ich beobachtet und dann Zodaide herbeigeholt haben?!
Ich blicke schärfer hin, er hat den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, von Wulstlippen kann man hier nicht sprechen, – ich wünschte, daß der „Wildesel Zagru“ so edle Greisenzüge besäße wie unser Dan …! Und seine Augen halten mit den meinen stumme Zwiesprache, seine Augen bitten und flehen, und dann zeigt sein abgespreizter Daumen auf die Fensteröffnung, nach draußen, wird im Gelenk geknickt und verharrt in dieser Stellung. – – Soll diese Geste einen kriechenden Mann darstellen, soll mir angedeutet werden, daß ich über Justus Hubards Anwesenheit auf dem Friedhof zu schweigen hätte?!
… Die Ranken vor dem Fenster sind zusammengeglitten, Zodaide, deren Frage kaum ernsthaft eine Antwort heischte, hat sich von meinem Nacken gelöst und die grünen, bunten Naturvorhänge wieder auseinandergeschoben. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen beleuchten ihre zarten Hände, das fleißige Bienenvölkchen in all den zahllosen Blütendolden erzeugt die einzigen Geräusche, die an unsere Ohren dringen, es ist totenstill in dem für die Ewigkeit ans Felsquadern errichteten Turme, – – nur dieses unablässige Summen und Surren der kleinen geflügelten Honigsammler täuscht vielleicht eine endlos ferne Meeresbrandung vor, – – dann weht uns der Wind urplötzlich aus der Richtung des Friedhofes des Dscheitans verworrenes Gebrüll zu, ich blicke durch die Ranken, hinter mir steht der schwer atmende Dan, seine noch immer gesunden Zähne reiben[5] sich kreischend aufeinander, und dann kommt es wie ein Seufzer der Erleichterung über seine Lippen, nur mir verständlich …:
„Der Almani Dscheitan …!!“
Fast gleichzeitig ruft Zodaide in ganz merkwürdigem Tone:
„Sie fliehen …! – Und wie sie davonstürmen! Wie Zagru sie zurückzuhalten sucht …!! Er tobt, – – und auch Al Madir unterstützt ihn, – – es hilft nichts … sie fliehen, Olaf, – das ist nicht Flucht, das ist Panik, das ist dasselbe Entsetzen, das die Farsi seit Jahren an sich selbst kennen gelernt haben …!“
Ich habe mein Fernglas bereits wieder zur Hand genommen … Die Steppe ist bedeckt mit galoppierenden Reitern, mit dahinstürmenden Hunden, – Zodaide hat mit bloßem Auge richtig beobachtet, nur etwas ist ihr entgangen, vielleicht das Wichtigste:
Auch zwei reiterlose Pferde jagen dort mit über die Ebene, und auf dem Friedhof unterscheide ich an kahler Stelle zwei dunkle längliche Flecken, – es können nur zwei Farsi sein, die dort regungslos liegen wie Tote. Noch etwas zeigen mir die scharfen Linsen, – etwas, was wie ein greulicher Spuk aus einem Schauerdrama, aber bei klarstem, stechendstem Sonnenschein wirkt: Dort auf der Friedhofsmauer ist soeben eine Gestalt erschienen in langem, braunen, sehr weiten Mantel mit Kapuze, – die Gestalt kehrt uns den Rücken zu, ihre Arme sind zur Seite gestreckt, – – wie eine Riesenfledermaus, wie ein Riesenvampir steht die Gestalt da und schüttelt die Fäuste, als wären es breite Schwingen, eine unheimliche, unmißverständliche Drohung liegt in diesen Bewegungen, gleichzeitig ein wildes Frohlocken, als wollte sich die seltsam vermummte Gestalt in die Lüfte erheben und wie ein Todesvogel herabstoßen auf die Flüchtlinge und noch mehr Opfer fordern …
Da – – ein langgereckter schwacher Seufzer rechts neben mir, Zodaide krallt die Finger in die Ranken, reißt die Ranken mit, liegt bewußtlos in meinen Armen …
Der brave Dan tanzt verzweifelt von einem Bein auf das andere, Monte knurrt noch lauter, Monte ist überhaupt ein sehr unliebenswürdiger Gesell geworden, seit er seine drei Sprößlinge einbüßte …
Ich lege Zodaide auf meine mehr als primitive Bettstatt, Dan rennt in die Küche, holt Wasser, Essig, Tücher, aber dieses Kind der Wildnis, das dort mit farblosem Antlitz wie eine Tote ruht, bedarf keiner künstlichen Belebungsmittel, die kräftige Natur hilft sich selbst, Zodaide schlägt die Augen auf, mit einem Ruck sitzt sie aufrecht, ich stütze sie, ihre Augen suchen die meinen, und hastig, scheu und voller Angst flüstert sie:
„Haben Sie es gesehen, Olaf?! Sahen Sie die braune Gestalt? Die, auf der Kirchhofsmauer?“
Überflüssige Frage …!
Doch in dieser Frage, in den Tiefen dieser Mädchenaugen verbirgt sich unsicher und zaghaft eine zweite …
Eine ganz bestimmte Erinnerung ist ja längst in mir wach geworden … Diese Gestalt mit der braunen Kapuze kann dieselbe Person gewesen sein, die in der sumpfigen Schlucht von dem Kreide-Z die Seitenbalken weggewischt hat, so daß nur der Grundstrich übrig blieb … Dieselbe Person kann der lautlose Schütze von der Steppenterrasse gewesen sein, der das Anzünden des Signalfeuers verhinderte …!
Und wer ist dieser Mensch?
Niemals etwa Freund Jupp Hubard! Nein, der scheidet aus, der konnte damals in jener Nacht, als er mit dem Schoner fliehen mußte, unmöglich bereits anderswo gelandet sein! Wer also?! Und weshalb diese Blicke Zodaides, in denen eine so unendlich bange, scheue Frage liegt?! Ob sie den Mann kennt, ist mir noch ungewiß, ich glaube, sie vermutet nur, wer es sein müßte, sie hegt eben einen ganz bestimmten Verdacht, und dieser Verdacht bedrückt sie, treibt sie zur Verzweiflung, trieb sie bereits zur Verzweiflung in der versteckten Felskluft des angeketteten Gepards! – Weshalb? Und weshalb jetzt hier diese zweite stumme Frage in ihren Augen? Wünscht sie von mir eine Bestätigung ihres Argwohns oder eine Befreiung von quälenden Gedanken?
Armes Kind der Berge, – Gewißheit vermag ich dir nicht zu geben, weder so noch so. Ich kann nur deine eiskalten Hände nehmen und abermals bitten:
„Zodaide, der Almani Marschallah sagte mir, ich solle Ihnen helfen, – das wissen Sie! Wie aber soll ich Ihnen wohl irgendwie beistehen, wenn Sie derart verschlossen und unzugänglich bleiben?! Sie meiden mich hier in dem Wachtturm, ich bekomme Sie kaum zu sehen, und all das, was sich an Geheimnissen zwischen uns aufhäuft, wächst immer mehr. – Zodaide, wer ist der Vermummte? Es kann derselbe sein, der …“
… Armes, scheues, verschüchtertes Vögelchen, – ich wünschte, du beließest es nicht nur bei diesem erneuten Tränenerguß und bei diesem zutraulichen Anschmiegen an meine Brust! Damit ist uns beiden nicht viel gedient, kleine Zodaide! – Doch das behalte ich besser für mich und schweige und warte ab, bis die Umstände dich eines Tages dazu zwingen, mir freiwillig die volle Wahrheit zu schenken, die dir jetzt noch irgendwie gefährlich dünkt.
Jedenfalls, – der greise Dan mit den tadellosen Zähnen und dem scherzhaften Haarkranz um die ansehnliche Glatze findet für seine Medikamente keine Verwendung mehr und will sich schleunigst wieder drücken, da er offenbar gegen Weibertränen weniger gefeit ist als einst gegen Messerstiche, Kugeln und ähnliche metallische Liebenswürdigkeiten. Er besinnt sich, bleibt und teilt uns sehr zaghaft mit, daß draußen in der Steppe ein Trupp berittener Gendarmen aufgetaucht sei und daß der kommandierende Offizier – hier zögert er merklich – anscheinend Major Oordaal sein müsse, – einen Rapphengst wie den des Majors gäbe es ja nur einmal …
Keine Essigkompresse, kein Kognak, kein noch so starker Kaffee hätten derart gewirkt wie Sven Oordaals Name. Ich muß insgeheim lächeln, wie flink Zodaide auf den Beinen und am Fenster ist, aber das Lächeln vergeht mir, als das Mädchen mit stockendem Atem berichtet:
„Olaf, – – zwei Tote oder Schwerverletzte. Sie tragen sie abseits in den Schatten … Und Zagru und sein Neffe Al Madir sind auch dabei!“
„Ich sehe es … – Wir müssen uns damit abfinden, Zodaide …“, suche ich sie zu beruhigen, obwohl auch ich die allerernstesten Befürchtungen für unsere Sicherheit hege.
Gewiß, der uralte Turm hier mit seinen meterdicken Mauern und mit seiner ebenso dicken Außenhaut von Dornen und stacheligen Hängegewächsen aller Art ist für einen Uneingeweihten kaum zu betreten, – zu ersteigen erst recht nicht, da überall in dem dicksten Gewirr der ältesten Schößlinge Bienen und Wespen sich eingenistet und ihre verborgenen zierlichen Bauten angelegt haben. Selbst der ursprüngliche Eingang ist längst eingestürzt und vollkommen überwuchert, und ob Freund Sven oder der würdige-heimtückische Shour Zagru nebst hoffnungsvollem Neffen (mir übrigens eine Neuerscheinung, dieser Gentleman Al Madir!) so viel Schlauheit und so tadellose Augen besitzen, die glänzend ausgeklügelte Hängebrücke als Weg zu unserer Räuberburg zu benutzen, möchte ich denn doch bezweifeln.
Immerhin: Die Möglichkeit besteht, und wenn wir hier entdeckt werden, darf Sven in seiner dienstlichen Stellung keine Rücksicht mehr nehmen – – auf nichts, auf niemanden, und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als unsere Verhaftung!
So liegen die Dinge. Sie liegen ernst genug, und daß Zodaide als Mädchen von so verblüffender Selbstverständlichkeit und so erstaunlichem Schneid die Lage nicht anders beurteilt als ich, beweist mir bereits ihre nächste treffende Bemerkung …
Sie blickt mich frei und offen an. „Olaf, fürchten Sie für unsere Sicherheit?“
Ich kann nur die Achseln zucken.
Sie nickt kurz.
„Gut, – dann werde ich den Turm verlassen. Mich fängt man nicht … In diesen Bergen weiß ich besser Bescheid als die Wildziegen. Man soll mich sehen, man soll mich verfolgen, man soll das Versteck der Maultiere finden, – nur so lenken wir Major Oordaals Aufmerksamkeit vom Turme ab. Es muß sein, widersprechen Sie nicht, Olaf, und du, treuer Dan, bereite schleunigst alles Nötige vor, beeile dich, wir haben nicht eine Sekunde zu verlieren, denn bevor wir die Bergfichte mit ihrer Krone genügend weit herabgewunden haben, vergehen ohnedies Minuten …“
Dan verschwindet.
Ich weiß, ich werde jetzt einen schweren Stand mit Zodaide haben. Das Mädel wird sich nicht so leicht umstimmen lassen.
„Zodaide, Ihr Plan ist vortrefflich“, erkläre ich recht herzlich. „Nur eins gefällt mir nicht. Wir wollen die handelnden Personen vertauschen, – ich übernehme Ihre Rolle, kleine Zodaide, und Sie werden hier …“
„Niemals!!“ Dieses ruckartige Zurückwerfen des Kopfes kenne ich bereits an ihr. Heute verfängt das nicht, heute habe ich ein Mittel, sie gefügig zu machen.
Und ich setze meinen unterbrochenen Satz fort, als ob ich niemals ihren Einwurf gehört hätte …
„… und Sie werden hier derweil für Ihre heimlichen Gäste sorgen, Zodaide. Wer sind die Leute übrigens, die Sie vor mir verbergen?“
Brennende Röte flutet ihr bis zur Stirn. Sie weicht sogar einen Schritt zurück und hebt wie abwehrend die Hände.
Ich bleibe hart. „Wer sind die Leute, Zodaide? Keine Heimlichkeiten!! Oder ich gehe schnurstracks ins Erdgeschoß hinab und schaue mir Ihre Gäste selber an. – Also …?!“
Da wird sie verlegen, faßt schnell nach meiner Hand. „Olaf, wenn Sie zu schweigen versprechen. Dann … dann …“
„Ich werde schweigen …“
„Olaf, es sind … es sind die deutsche Gattin des Almani Marschallah und ihre Tochter, – seine deutsche Gattin … Sie wissen wohl, daß die besonderen Verhältnisse ihn zwangen, eine Farsi hier zu heiraten, eine Eingeborene, weil er nur so Shour Zagru für seine Pläne gewinnen konnte …?“
Ich starrte Zodaide entsetzt an. „Und – – er selbst, der Almani Marschallah? Lebt er noch mit der Eingeborenen zusammen?“
„Nein, nein, – die Scheidung ist längst ausgesprochen, nur …“
Der dicke Türvorhang rauscht. Daniels schweißtriefendes Gesicht leuchtet blank im Halbdunkel des Ganges. „Alles bereit,“ meldet er …
Ein sehr vorwurfsvoller Blick trifft seine Herrin, die noch so gar keine Anstalten macht, sich für den eiligen Ausflug zu rüsten.
„Dan, ich werde die Sache übernehmen“, erkläre ich rasch. „Dort liegt mein Rucksack – her damit! Hole einen zweiten, ich muß Monte darin unterbringen …“
Zodaide hilft mir beim Packen, auch das ist bald getan, wir eilen in eins der östlichen Turmgemächer, das bis auf eine einfache Winde aus starken Balken völlig leer ist. Die Winde, am Fußboden durch Bolzen verankert, hat lediglich die Aufgabe, die eine Bergfichte des nahen schmalen Felsvorsprunges eines in die Steppe weit hineinragenden[6] schmalen Bergrückens so tief herniederzuzwingen, daß die Krone die Fensteröffnung berührt …
Und dies hat Dan bereits besorgt. Ich brauche nur in das Geäst hineinzuklettern, – alles Weitere ergibt sich von selbst.
Wir drücken uns stumm die Hände, – dann schwinge ich mich hinaus, und das dicke Tau, das die Baumkrone herabzog, rollt langsam ab, ich hocke im Geäst, allmählich hebt sich der gekrümmte Stamm wieder, und ich genieße nun bei Sonnenschein dieselbe Aussicht, die ich hier bei meiner Ankunft nur bei Mondlicht genießen durfte …
Ganz, ganz langsam richtet sich die niedergezwungene Fichte wieder auf, die hier Zugbrücke spielt, die hier den Zwischenraum von fünfzehn Metern zwischen dem Felsvorsprung und dem weit höheren Turme überbrückt …
Kein Ingenieur hätte diese Anlage besser herrichten können, als der alte Dan es getan hat. Ich kann das als ehemaliger Fachmann beurteilen, ich kann es heute nach all den Jahren eines unstäten Wanderlebens noch richtiger einschätzen, was es heißt, nur mit Axt, Beil, Säge, Hammer und selbstgeschmiedeten Nägeln und Eisenklammern eine Winde herzustellen, die eine derartige Zugkraft liefert, wie hier nötig. Allen Respekt vor dem alten Dan, der sich an diese Aufgabe heranwagte. Nun, ein Dummkopf ist der alte Neger wahrlich nicht, und was er au Treue und Hingabe für Zodaide aus freien Stücken bisher gezeigt, soll mir zum Ansporn dienen. Ich weiß genau, daß mein Vorhaben, die Verfolger nur auf mich zu lenken, ein waghalsiges Unternehmen ist, aber ich verlasse mich auf mein altes Glück und auf meine ebenso alten Erfahrungen. Die Bergwildnis ist mir nichts Neues, – auch Farsistan wird nicht bösartiger sein als das nordamerikanische Felsengebirge oder die kanadischen und südamerikanischen Bergzüge. Man wird mit allem fertig, wenn man will, – mit allem!
… Langsam, ganz langsam richtet sich die persische Fichte mit ihren eigentümlichen Nadeln und ihrem Überreichtum an Harzausschwitzungen wieder auf. Es lebe die Regierung, die diese seltenen Bäume unter Naturschutz gestellt hat – sogar hier in dieser Wildnis! Es lebe die rührige Gendarmerie, die mit allem Nachdruck Übertretungen dieses Gesetzes verhütet, – – dafür sündigen die halbzivilisierten Bergstämme insgeheim gegen so und so viele andere Gesetze …
Ich schwebe mit meinem Monte auf dem Rücken empor, – jetzt bin ich in Turmhöhe, jetzt über den Turm hinaus, jetzt erblicke ich den fernen Friedhof des Dscheitan, überblicke die Steppe …
Sie kommen …!!
In gemächlichem Trab nahen da Freund Sven, neben ihm der niederträchtige würdige Wildesel Zagru, hinterher sechzehn Beamte und der famose Neffe Al Madir! Der Bursche hat es mir besonders angetan. Denn beim Packen vorhin ist Zodaide doch noch ein Geständnis entschlüpft: Sie hat diesen Al Madir heiraten sollen, und deshalb entfloh sie mit Dan in die Wildnis und wurde von ihrem Stamme ausgestoßen, verfolgt und gehetzt.
Nur deshalb?! Sollten da nicht doch noch andere Dinge mitsprechen?!
… Und ich denke an die deutsche Gattin und Tochter des berühmten Almani Marschallah, und eine sehr, sehr lockere Vermutung steigt da in mir auf …
Genau wie ich selbst mit meinem Hunde aufsteige, bis die Bergfichte kerzengerade dasteht und ich nun eilends hinabklettere …
Das dicke Ledertau habe ich vorher noch losgeknotet, Daniel hat es eingezogen, und nur die ausgescheuerte Stelle, wo es um den Fichtenstamm geschlungen war, könnte zur Verräterin dieser primitiven technischen Einrichtung werden.
Diese Gefahr ist jedoch äußerst gering, zumal uns der wichtigste Vorteil bleibt: Das Gelände rings um den Turm ist völlig spurenfrei, nichts deutet darauf hin, daß das uralte Gemäuer bewohnt sein könnte, es ist eben nur eine dicke, hohe Vase, über und über mit Rankengewächsen angefüllt, und nur eine Ladung Dynamit könnte den verschütteten und von innen noch besonders stark verrammelten ursprünglichen Eingang freilegen.
Ich habe den Erdboden erreicht, er besteht aus Gestein, hohe Dornenbüsche decken mich, ich setze Monte auf die Erde, nehme ihn an die Leine und schleiche tief gebückt über möglichst harte Bodenstellen zum schmalen Bergrücken empor, der mit seinen zerrissenen Felsmassen und seiner geradezu üppigen Vegetation als grünes Band gen Osten in die eigentlichen Randberge des Reiches der Toten sich hineinzieht.
Die Schlucht, in der hier die beiden Maultiere genau so sicher versteckt sind wie südwärts die Dromedarstuten in der Höhle des angeketteten Gepards, ist bald erreicht, – auch hier hat Zodaide einen vierbeinigen Wächter für die Tiere an eine Kette gelegt, auch hier stehen die Maultiere in einer schwer zugänglichen Grotte, vor der ich nun halt mache und Monte festbinde und dem prallen Rucksack zwei Hammelkeulen entnehme. Zodaide hat mich noch vor diesem Wächter hier nachdrücklich gewarnt, – nun, ich kenne ihn ja von der Nacht meiner Ankunft her, ich weiß, ein Leopard ist denn doch ein gefährlicherer Bursche als der kleinere, leicht zähmbare Gepard, – das rohe Fleisch fliegt in den dunklen Eingang, und fauchend und geifernd erscheint auch schon die gefleckte Bestie und blinzelt mich tückisch an.
Zureden hilft, – das Raubtier ist freilich an Zodaides weichere Stimme gewöhnt, aber ich gebe mir alle Mühe, den Leopard durch den Ton meiner Stimme zu besänftigen, und die Bestie zieht sich denn auch kettenrasselnd zurück und macht sich über das leckere Mahl her.
„Bleiben Sie ganz rechts an der Grottenwand, bis dorthin reicht die Kette nicht“, hat Zodaide mir eingeschärft.
Gut – wird gemacht …!
Ein ungemütliches Gefühl bleibt es trotz alledem, zumal ich, falls der Leopard doch zuspringt, nicht einmal schießen darf, nur derb zuschlagen, – und wenn gar die Kette reißt, kann das ein sehr unangenehmes Intermezzo werden.
Überflüssige Sorgen …
Ich habe die Laterne angezündet, – der[7] Leopard schielt in den Lichtstrahl, ich drücke mich eng an die Steinwand, die Grotte hat rechter Hand eine Ausbuchtung, hier haben die Maultiere und das Känguruh ihren sauberen Stall, der sogar von oben durch ein paar Ritzen im Gestein Licht erhält.
Zunächst gilt es nun, in aller Geschwindigkeit dieser Ausbuchtung noch das Aussehen einer menschlichen Behausung zu geben. Es soll eben der Eindruck erweckt werden, als wäre dies hier unser Schlupfwinkel. Ich führe im Rucksack alles Nötige mit mir: Wolldecken, ein paar Kochgeschirre, eine Menge Zigarettenstummel – manches andere noch …
Ich komme mir bei dieser Arbeit wie ein Theaterregisseur vor, der dem Publikum ein möglichst echtes Bild einer Art Räuberhöhle aufbauen will. Fünf Minuten opfere ich so, beschaue kritisch mein Werk, bin zufrieden … Sogar eine Art Herd aus Steinen habe ich flink errichtet und sogar Feuer gemacht, damit die Steine geschwärzt werden.
Wildniskunstgriffe, – man lernt abseits vom Alltag so manches, und man lernt immer wieder dazu.
Nun aber ist es höchste Zeit zum Aufbruch. Ich sattele die Maultiere, das eine erhält als Fracht einen großen Ledersack, ich rauche dabei andauernd, auch Absicht, und dann führe ich die Tiere einzeln in die Schlucht, wo Monte mit höchst vorwurfsvollem Gesicht im Moose liegt und grimmig knurrt und vor Ärger über seine Freiheitsberaubung Moos und Steine weggekratzt hat, – – mag er, – ich will hier ja etwas auffällige Spuren hinterlassen, und ich handele ganz danach, als ich nun aus der Schlucht hervorreite und rechts unten in der Steppe vielleicht achthundert Meter entfernt Freund Sven neben Begleitung dicht am Fuße des Turmes bemerke.
Also doch!! Sicherlich war es der alte Gauner „Wildesel Zagru“ oder sein heiratslustiger Neffe, der die hohe Obrigkeit auf den Turm gehetzt hat, – nun, viel Freude werden die Herrschaften dort kaum erleben, soeben beginnt der Herr Neffe Al Madir an den Ranken emporzuklimmen, und ich grinse schadenfroh, ich weiß ja, was folgen wird …
Bienen und Wespen sind unschätzbare Verbündete, ganz abgesehen von dem süßen Honig, den die ersteren unfreiwillig dem gerissenen Dan spenden müssen.
Das Schauspiel dort unten nimmt seinen Fortgang … Der Gentleman Al Madir ist kaum fünf Meter emporgeklettert, als er sich plötzlich herabfallen läßt. Mein Glas zeigt mir seine wild umherfuchtelnden Arme, – gegen einen gereizten Bienenschwarm hilft das verdammt wenig, und auch Sven und Eskorte ziehen sich eiligst von dem gefährlichen Turme zurück. Ich glaube kaum, daß sie noch ein zweites Mal versuchen werden, in unsere Felsenvilla einzudringen.
Meine Zeit ist gekommen. Ich reite den Abhang halb hinab, ich bemühe mich geradezu, eine recht deutliche Fährte zurückzulassen, das zweite Maultier trottet frei hinter mir her, auch Monte tollt sich genügend aus, und dann werde ich erspäht, Sven zieht sein feines Glas aus dem Futteral, im Trab geht es über eine flache Stelle hinweg, – nun wieder aufwärts, und als ich den Kamm des Bergrückens wieder erreicht habe, werfe ich einen Blick zurück und bin zufrieden: Ich werde verfolgt, die Berittenen spritzen auseinander, jagen in zwei Abteilungen unten in der Steppe heran, um mir den Weg abzuschneiden!
Bei der Hitze – und solch ein zweckloses Bemühen …!!
… Dornengestrüpp verbirgt mich, – mir kommt ein glorreicher Gedanke, ich mache kehrt, ich reite wieder den Ausläufern des Bergrückens zu, ich riskiere dabei so allerlei, aber dem Mutigen gehört nun einmal die Welt, und die beiden Maultiere kenne ich, die nehmen es mit jedem Gaule auf, die sind prächtig ausgeruht, die sind beinahe zu übermütig, die halten schon durch, und wenn ich nur erst den Turm als Rückendeckung gegen Sicht habe, werde ich einen so großen Vorsprung erzielen, daß die Herrschaften hinter mir das Spiel wohl aufgeben dürften.
Und so gelange ich denn wirklich wieder in die Nähe der Fichte, habe den Turm wieder dicht vor mir, beginne den Abstieg, sehe, wie sich die Ranken des Gemäuers oben bewegen, – für Sekunden wird Zodaides ängstlich gespanntes Antlitz sichtbar, ich nicke ihr lachend zu, – – weiter hinab, wir sind in der Steppe, im Galopp geht es um den Turm herum, dann nach Nordwesten vorwärts, die Maultiere kommen in Fahrt, das wilde Rennen macht ihnen Spaß, Monte hält die ganze Angelegenheit offenbar für einen besseren Scherz, bellt, rennt einem alten hinkenden Schakal nach, vereinzelte Felsgruppen und Dornenhecken werden umgangen, halbrechts taucht die niedere Mauer des Friedhofes des Dscheitan auf, ich will links vorüber, ich presche einen Hügel hinan, ein Rudel Antilopen flieht vor Montes durchdringendem Kläffen, – und urplötzlich reiße ich mein Reittier hinter ein paar grün umwucherte spitze Felsen, denn nun erst von dieser Kuppe aus überschaue ich die Steppe bis zu den Randbergen, und das, was ich sehe, läßt mich die Zähne zusammenbeißen …
Die bisher anscheinend leere Steppe ist im Halbkreis vor mir unangenehm punktiert, und diese dunklen Punkte bewegen sich, sind Reiter, sind Krieger der Farsi, – nicht wie vorhin bei der Durchsuchung des Friedhofs nur etwa siebzig, nein, – das sind mindestens ihrer dreihundert, die der Wildesel Zagru als Heeresmacht nun auf die Beine gebracht hat.
Gewiß, dieser näherrückende Halbkreis ist noch tausend Meter, vielleicht noch weiter entfernt.
Noch …
Was bedeuten tausend Meter für diese zottigen Gäule und ihre tadellosen Reiter?!
Nichts!
Umkehren also?!
… Ein Blick nach rückwärts …
Zwecklos!!
Sven Oordaal auf seinem famosen Rappen ist seinen Leuten weit voraus, auch der Rückweg ist mir abgeschnitten, und jeder Versuch, etwa seitwärts durchzubrechen, könnte nur unter Anwendung von Gewalt gelingen, ich könnte mit meiner Snidersbüchse[8] mir die braunen Kerle wohl vom Leibe halten, aber das würde Blut kosten, zumindest Pferdeblut, und sogar das darf nicht geschehen, ich kann unmöglich gegen Sven und seine Beamten in dieser Weise auftreten, – finge man mich, dann wäre mein Schicksal besiegelt …
All dies geht mir blitzartig durch den Sinn.
All das tritt trotzdem für Sekunden vor dem packenden Bilde zurück, das mir diese heranpreschenden wilden Reiter darbieten …
Und wie jagen sie über die Steppe, wie brüllen sie und hauen auf ihre Gäule ein und schwingen die Flinten wie bei einem jener berühmten arabischen Reiterspiele, wie bei einer Phantasia! Es sind ja auch dürre Kerle mit wüsten Bärten und kohlschwarzen Adleraugen, es sind leider auch käufliche Subjekte, – das hat Jupp Hubard immer wieder betont, – tapfer, doch hinterlistig, ebenso tollkühn wie grausam und fanatisch! Denen in die Hände fallen, – nein, dann schon besser, sich Sven Oordaal ausliefern …! Gefangenschaft in der Wildnis ist nicht Kerkerhaft, – ein Gefangener kann entfliehen, – ein Toter bleibt tot, und mit ein paar Kugeln im Leibe dahinsiechen, – das erst recht nicht!
Also – – kehrt …!
Mag Major Oordaal mich in Empfang nehmen, Major Oordaal, nicht mehr Freund Sven, Genosse von tausend Lausbubenstreichen! Die einstige Freundschaft muß ich vergessen. Oordaal hat Pflichten, Oordaal hat einen Haftbefehl gegen Zodaide, und das Mädchen soll frei bleiben.
Ich reiße mich los von dem wildbewegten Bilde der heranstürmenden Farsi, ich will zurück, das Maultier dreht sich, mein Geschick scheint vorläufig entschieden, ich muß den vorschnellen Entschluß von vorhin bitter büßen!
„Runter von dem Vieh!“, ruft da eine knarrende Stimme, die etwa so klingt, wie das Knarren des Mastes eines Schoners …
„Runter, Abelsen …! Schleunigst …! Klemmen Sie den Maultieren je einen Stechapfel unter den Schwanz oder eine Dornenkugel! Nur flink!“
Ich stiere in das Gestrüpp, – Jupp Hubard liegt dort, schneidet wütende Grimassen …
„… Die ganze Bande kann uns gestohlen bleiben, Abelsen …! Runter von dem Schinder! Opfern Sie Ihr Gepäck …! Schnell, es geht um Minuten!“
Da hat er recht …
Kaum mehr Minuten sind es …
Ich gehorche … – Es ist grausam, die Maultiere so zu quälen … Es hilft nichts, es muß sein, – – und die beiden Kreaturen rasen denn auch wie besessen davon, während ich Monte beim Genick nehme und mit ins Gestrüpp ziehe, dessen Zweige der Draufgänger Jupp weit auseinanderbiegt …
Er lacht dazu … Sein lautloses, hartes Lachen …
„Dort hinab, Abelsen, – schnell! Eine Felsenrinne, die dick von Dornen überwuchert ist …! Kriechen – kriechen, – und wenn Ihr Köter uns durch Bellen verrät, bekommt er das Messer in die Rippen!“
Im Halbdunkel rutsche ich weiter … Es geht ziemlich steil abwärts, Monte paßt sich wie immer der Situation voll an, hinter mir verwischt Käpten Jupp die Spuren und ordnet die Zweige, dann flüstert er eilfertig:
„Schneller, verdammt! Und wenn Sie auch ein paar Dornenstacheln in die Pfoten kriegen!“
Halbdunkel, grüne Dämmerung herrscht hier in dem Erdriß … Dürre Blätter, Äste, Zweige bedecken den Boden … Steine liegen umher, Unrat von Schakalen, deren Schlupflöcher zu ihren liederlichen Erdhöhlen widerlichen Gestank ausdunsten. Dicht bei dicht erkennt man diese Schlupflöcher, grünrote Lichter der feigen, gefräßigen Gesellschaft blinken im Dunkel auf, ziehen sich zurück … Tierskelettreste schimmern gelbweiß, der halbbenagte Kopf eines Widders stinkt anklagend gen Himmel, – – ein paar große Eidechsen und schwarze harmlose Schlangen verkriechen sich schleunigst, – nur flüchtig, ganz oberflächlich nimmt man diese Eindrücke in sich auf, denn das, was da draußen in der Steppe lärmt und tobt und schnaubt und brüllt, sind die enttäuschten Farsi mit ihren keuchenden Gäulen, – sie sind neben uns, vor uns, um uns, hinter uns, aber dieses grüne Stacheldach ist mit den Blicken nicht zu durchdringen, nur der Sonne gelingt es, einige ganz dünne Pfeile hineinzubohren in diesen unappetitlichen Abseitspfad, der doch trotz all dieser Stacheln und Unrathaufen und Gestankwolken ein Gutes hat: Selbst wenn etwa Major Oordaals prächtige Rüden diesen langen Geheimgang entdecken sollten, wird die Anwesenheit so vieler Schakalfamilien mit dem dazugehörigen scharfen „Parfum“ die feinen Hundenasen betrügen und zurückscheuchen.
Zweimal drehe ich den Kopf, zweimal sehe ich, wie Freund Jupp, der Almani Dscheitan, hinter uns durch vorbereitete trockene Dornenbüsche den engen Erdriß versperrt, – – und dann erstirbt der Lärm draußen ein wenig, die Felsspalte wird tiefer, ich kann mich halb aufrichten, über mir lagert nicht mehr das dicke, stachelige Gerank, sondern dunkler Fels, festes Gestein, und ganz von selbst reibe ich schnell das Feuerzeug an und entzünde die kleine Laterne, die da auf einem Steinvorsprung steht und die noch warm ist …
„Weiter!!“, flucht Käpten Hubard leise und versetzt mir einen unliebenswürdigen Rippentriller. „Sie stehen mir hier im Wege, – denken Sie etwa, daß ich meinen Kirchhof hier unter Ausschaltung meiner Gehirnmasse angelegt habe?! – Nein, alter Freund, von der fachmännischen Ingenieurbuddelei, Tunnelbau genannt, mögen Sie ja mehr verstehen. Aber damals wählte ich dieses schöne Plätzchen nur dieses Erdrisses wegen und der anschließenden Höhle, ich brauchte ein Versteck, und ich habe mir eins geschaffen, aus dem mich nicht mal der leibhaftige Dscheitan herausbuddelt! Also – Schädel weg, Abelsen, die Klapptür fällt zu, – – Achtung!!“
Ich leuchtete ihm. Auch Monte stand sehr interessiert dabei und schaute zu. Käpten Jupp hatte eine dicke Stange ergriffen, hantierte damit dicht hinter dem Höhleneingang an der Felsenecke herum, – irgend etwas klirrte metallisch, und dann senkte sich ein Teil der Decke, der mit Dornengestrüpp sehr geschickt garniert war, langsam als Verschlußtür herab und sperrte uns von der Außenwelt ab.
Schweigend drückte Hubard die Stange als Stütze gegen die Steinplatte, probierte, ob sie auch wirklich festen Halt hätte, und führte mich nun noch etwa zweihundert Meter weiter durch diesen vielfach gewundenen Naturstollen, der allmählich anstieg, bis zu einer fast kreisrunden Erweiterung des Ganges, in der eine große Schiffslaterne an der Decke baumelte und mehr nach Petroleum stank als leuchtete.
Wenn ich schon unseren uralten mazedonischen Wachtturm als Räuberhöhle bezeichnet hatte, wie erst sollte ich diesen Lagerraum für Kisten, Kannen, Tonnen, Fellbündel, Stöße von Wolldecken und Stapel von aufgeschichteten Gewehren, Karabinern und Munitionskisten bezeichnen, zumal hier ein leibhaftiges, eisernes Klappbett, ein Tisch, zwei Schemel, ein kleiner eiserner Herd und ein ganzes Regal voller Kochtöpfe, Teller, Bücher, Zeitungen, Landkarten nur zu sehr an einen Verschwörerkeller erinnerten!
Jupp, breitschultrig, gedrungen, ohne Hut, das grauweiße volle Haar wieder in wüster Unordnung, stand breitbeinig unter der Lampe und erklärte feierlich: „Abelsen, mehr als ein Dutzend Jahre sind hingegangen, seit ich einst dieses Versteck aufgab und mich in friedfertigere Gegenden zurückpirschte, – Sie wissen ja, Niederländisch-Indien. Dort spürte man vom Kriege nicht viel, dort hielt ich mich verborgen … – Abelsen, von diesem Versteck hier rechnete ich mit denen ab, die meinen Herrn und mich verraten hatten, die uns an die Engländer ausliefern wollten … Es waren wilde, aber glorreiche Zeiten, in denen ein Kerl beweisen konnte, ob er wirklich ein ganzer Kerl sei …! Haben Sie Ehrfurcht vor diesem Raume, denn hier, wo ich jetzt stehe, sagte ich dem Almani Marschallah einst Lebewohl … Wir schieden nicht ganz in Frieden, leider, – ich war ein Hitzkopf, und er war ein müder, gebrochener Mann geworden, den es vor dem braunen käuflichen Gesindel ekelte, der sein Spiel verloren sah, und – bei Gott! – es war ein großes, tolles Spiel, Abelsen, unter ständigem Einsatz unseres Lebens, unter unerhörten Strapazen – – für die deutsche Sache! Nein, nicht ganz in Eintracht schieden wir, er wünschte, ich solle ihn begleiten, – – ich … lehnte ab, – – meiner Frau wegen … und meiner Kinder wegen. Und der Sache wegen!“ Sein Schädel, kantig, eckig, der Kopf eines Gewaltmenschen, neigte sich in demütiger Einsicht, damals zum Teil unrecht gehandelt zu haben, und auch seine Stimme verlor den kühnen, selbstbewußten Klang.
Er schwieg eine Weile, deutete auf einen der Schemel und nahm selbst Platz, hielt mir eine halb gefüllte Kiste Zigarren hin, deren Deckblätter verdächtig weiße Stellen zeigten, – Schimmelpilze, – trotzdem waren die Dinger noch rauchbar.
Freund Jupp qualmte und stierte vor sich hin.
Ich fühlte es: Jetzt endlich würde er mit seinen Geheimnissen herausrücken!
Und er ahnte nicht, daß ich durch eine Verkettung seltsamer Umstände weit mehr, weit besser über einige Hauptpunkte informiert war als er selbst …
Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, er ließ den Kopf noch tiefer sinken, er atmete immer hastiger, und dann kam ein ganz eigentümlicher Laut aus seinem mächtigen Brustkasten, ein dumpfes Stöhnen, dem die hastig hervorgestoßene Selbstverurteilung folgte:
„Abelsen, – ich … bin ein Narr gewesen, ein Schuft dazu! Abelsen, ich bin auch ein Feigling, ich hätte Ihnen diese Dinge längst mitteilen sollen, dann würden Sie … mich nie begleitet haben, aber ich brauchte Sie als Begleiter, als Helfer, Sie haben ja selbst gemerkt, daß mein Plan seine gefährlichen Seiten hatte, – gewiß, nach unserem verwünschten Pech mit dem persischen Wachtboot gelangte ich doch noch an Land, suchte Sie, und die braune Meute war sehr bald auf meiner Fährte … Genau über uns liegt hier in der Steppe ein Friedhof, mein Werk … Dreiunddreißig Farsi, die damals die Hauptverräter gewesen, liefen mir vor das Rohr, als der Almani Marschallah so kalt von mir gegangen war. Bei Gott, Abelsen, – ich habe nicht gemordet, nein, jeder der dreiunddreißig hatte eine Büchse, feuerte wie ich, – aber ich hatte die sicherere Hand und ein scheinbares Recht auf meiner Seite. Wie ein Wilddieb schlich ich durch die Berge, und wo ich einen der Burschen fassen konnte, da stellte ich ihn. Die Chancen waren gleich, trotzdem verschwand einer nach dem anderen, und mein rachsüchtiger Übermut baute den Farsi diesen Friedhof vor die Nase, – – seitdem meiden sie diese Hochsteppe. Deshalb nannte man mich den Almani Dscheitan, deshalb wollten die Engländer mich aufknüpfen, falls sie mich fingen, und als mir der Boden hier zu heiß wurde, verschwand ich … Ich war ein Besessener, – – heute bin ich nicht viel mehr als mein verehrter Herr: Fast ein müder Mann, fast! Noch nicht ganz …“
Und das Letzte klang wieder hell und scharf wie ein Peitschenschlag …
„Noch nicht ganz, Abelsen …! Auf dem Wege hierher erwischte ich einen Farsi, der mit seinem Lasttier gen Buschir zog. Der Bursche verlebte eine böse halbe Stunde, er erkannte mich, er war halbtot vor Angst. Er wagte nicht zu lügen. – Ich deutete bereits an, Abelsen, daß ich eine Farsi geheiratet hatte, genau wie auch der Almani Marschallah eine Tochter des Oberhäuptlings Zagru zum Weibe nahm, – er notgedrungen, er der hohen Politik wegen, ich dagegen – und deshalb bin ich vielleicht ein Schuft – nur halb gezwungen und aus reiner Liebe, denn Zagrus jüngste Tochter war schön, war hellhäutig wie eine Europäerin, hatte die wundervoll sanften Augen ihrer Mutter, einer Georgierin, und einen zarten Teint, rosig angehaucht … Urusi hieß sie, – – Urusi, und das bedeutet eigentlich so viel wie buntes Glas, das ist die Bezeichnung für die bunten Glaswände in den Häusern reicher Perser. – Also Urusi, mein Weib, bis heute unvergessen, die mir hier in dieser Höhle ein Kind schenkte, Abelsen, als der Almani Marschallah sich bereits den Engländern gestellt hatte und in ein indisches Kriegsgefangenenlager abtransportiert war. Also Urusi, Tochter des berüchtigten Risch e Sefid Shour Zagru, die nach meiner Flucht aus diesem Lande der Liebe, des Hasses, der Treulosigkeit und der selbstlosen Hingabe mit ihrem, mit unserem Kinde zu ihrem Stamme zurückkehrte … zurückkehren mußte als eine Verachtete, Gemiedene, Angespiene, – – und doch mein Weib, doch die Mutter meines Kindes, doch Zagrus eigenes Enkelkind! – Der verängstigte Farsi, der wohl fürchtete, er solle der vierunddreißigste auf dem Kirchhof des Dscheitan sein, schlug mir blutige Wunden mit seinen Geständnissen … Jahre schimpflichster Erniedrigung hatte Urusi bei ihrem Stamme erlitten, aber unser Kind wuchs heran zu ungeahnter Schönheit, und gerade dies war ihr Verderben. Zagru besitzt einen Neffen, der ein ganz übler Bursche ist, – – dieser Al Madir wollte mein Kind, meine Zodaide, für seinen Harem haben, und Zagrus Niedertracht weidete sich an dem zwecklosen Widerstande meiner Frau, die dem berüchtigten Lüstling ihr Kind nicht ausliefern wollte. In diesen glutheißen Bergen und Tälern reifen die Mädchen schneller heran, – meine kleine Zodaide[9] zählte erst elf Jahre, als die Dinge einer Katastrophe entgegentrieben. Eines Tages war Zodaide mit ihrem ihr treu ergebenen Somalneger namens …“
„Daniel … oder Dan“, warf ich ein …
Jupp Hubard stierte mich verblüfft an …
„Woher wissen Sie das, Abelsen …?! Woher?!“
„Erzählen Sie nur weiter … Nachher rede ich …“
„Sie haben Zodaide getroffen, Sie kennen sie!“, fuhr er auf und griff nach meiner Hand. „Mann, – – antworten Sie!! Wo ist mein Kind, quälen Sie mich nicht!“
„In Sicherheit, Hubard, und noch immer mit Dan zusammen und von hier keine halbe Meile entfernt …“
Er gab meine Hand frei.
„Oh, – ich ahne es, – – der alte Wachtturm, Abelsen …!“
„Ja“, nickte ich nur.
Er holte ganz tief Atem, er strich sich das wilde Haar zurück, und in seine Augen trat dasselbe Leuchten, das nur die Verehrung für den Almani Marschallah bisher hervorgerufen hatte. Allmählich zwang er seine Erregung nieder, und mit einer gewissen Frische und freudiger Gelenkigkeit setzte er sich auf den Schemel und blickte mich versonnen an.
„Gut, Abelsen … Ich will meinen Bericht schnell beenden … Ich will die Empfindungen zurückdrängen, die glutheiß in mir aufsteigen und die das alte Rachegefühl wieder anfachen möchten … Mein Kind ist ja in Sicherheit, wenigstens mein Kind ist mir geblieben, – – denn Urusi, die bunte Glasblume von Farsistan, ist tot …“ – Abermals kam da der gräßlich gequälte Ton aus der breiten Männerbrust, und abermals sank Jupp Hubards kantiger, grauer, selbstherrlicher Kopf nach vorn, und das Weitere war nur mehr ein Flüstern.
„… Zodaide war entflohen … Man suchte sie, man fand sie nicht … Da ließ Zagru mein Weib auspeitschen und jagte sie in die Berge und schickte seine Jagdleoparden hinterher … Sie wurde nie mehr gesehen, sie hatte sich in einen Abgrund gestürzt, Zagru wurde vor Gericht zitiert, aber man konnte ihm nichts nachweisen, – ein Unfall eben! – Das erfuhr ich von dem Farsi. Ich ließ den Kerl laufen, er schwor bei Mohammeds Bart, er würde die Begegnung mit mir verschweigen. Der Schwur eines Farsi ist … ein Dreck, – – verzeihen Sie, Abelsen, – das klingt unfein, das ist aber leider die Wahrheit. Der braune Halunke hatte nichts Eiligeres zu tun als umzukehren und die ganze Bande hinter mir dreinzuhetzen, – – ein Wunder, daß ich hier den Friedhof erreichte … meinen Friedhof inmitten der Salzsteppe, die die Farsi sehr poetisch „Reich der Toten“ getauft haben. – Oh, Erfindungsgabe besitzen sie schon, die braunen, goldhungrigen Kerle. Ihre Sagen und Märchen strotzen von edelmütigen Helden und sonstigem billigem Kram, der bei näherem Hinsehen alltäglichste Ramschware ist … Und außer dieser Erfindungsgabe ist ihnen noch eins unbedingt zuzusprechen: Jene listige Schlauheit, die eng an Teufelei grenzt und die hier in diesen Bergen nur Wert hat, wenn damit glänzende Reiterfähigkeiten und die Lautlosigkeit der Raubtierkatzen im Anschleichen und Anspringen der Beute verbunden sind. Das können sie, – das haben sie in dieser Nacht und an diesem Morgen abermals an mir bewiesen, ich bin doch wohl schon etwas außer Übung gekommen, sie hatten mich schon in den Schluchten drüben eingekreist, sie erschossen mein geliehenes Maultier, sie glaubten bereits, sie könnten nun hier den Almani Dscheitan auf seinem eigenen Friedhof wie einen alten, halbblinden Fuchs abfangen, – – sie irrten sich, der Almani Dscheitan löste sich in Luft auf, war verschwunden, und daß ich mich soweit bezwang und nicht ein halbes Dutzend der Sippe vorher in den Sand kollern ließ, – – ja, Abelsen, – – man ist eben doch ruhiger, überlegener geworden, man ist nicht mehr der Heißsporn von einst …“
Mit einem etwas gequälten Lächeln blickte er mich an … „Ich … hoffte eben, Abelsen, – ich hoffte, daß ich Zodaide finden würde, – – das Vatergefühl war stärker, ich wollte nicht neue Schrecken an meinen Namen heften, ich will selbst ja überhaupt nur noch eins: Mein Kind mit mir nehmen, ihm eine Heimat geben, ihm beweisen, daß nur die Liebe mich hierher trieb, die selbstlose Liebe eines innerlich geläuterten Gatten und Vaters. – Sie werden mich fragen – und mit Recht: Weshalb holte ich Weib und Kind nicht schon früher zu mir, weshalb ließ ich mehr als ein Jahrzehnt verstreichen, bevor ich mich zu diesem Entschluß aufraffte? – Brauche ich Ihnen die Frage wirklich zu beantworten? Sie haben Farsistan nun ja kennengelernt, Sie haben am eigenen Leibe erfahren, wie schwer es für den einzelnen Mann ist, hier etwas gegen eine solche Übermacht auszurichten. Ich will mich nicht verteidigen, ich bitte nur um Ihr Verständnis für die stichhaltigen Gründe dieses vorsichtigen Abwartens, das erst ein Ende fand, als Sie mir begegneten.“ – Und von neuem traf mich dieser forschende, gequälte Blick, der mich unendlich rührte. Jupp Hubard zauderte ein wenig, als er nun die entscheidende Frage an mich richtete: „Abelsen, – wie hat Zodaide mich beurteilt, wie äußerte sie sich über mich? Sie werden Ihr doch mitgeteilt haben, daß wir beide mit dem Schoner …“
„… Das ja, Hubard … Das mußte ich ihr wohl mitteilen, denn Ihre Tochter war es, der ich dort am Steilufer des Golfes zuerst begegnete. Ich will ehrlich sein, Hubard: Ich fürchte, Zodaide trägt es Ihnen bitter nach, daß Sie Ihre Vater- und Gattenpflichten so vernachlässigten, denn sonst hätte sie sich mir wohl als Ihr Kind zu erkennen gegeben. Mehr noch, – sie dürfte ein Zusammentreffen mit Ihnen gescheut haben, denn ihr übereilter Aufbruch aus der verrosteten Baracke der zerstörten Funkstation war wohl nur der Rückkehr des Schoners zuzuschreiben, jetzt sehe ich erst in diesem Punkte völlig klar, jetzt weiß ich: Es war der Schoner, nicht das Wachtboot, den ich in der Dunkelheit bemerkte und den ich nicht genauer mustern sollte, – dafür sorgte Zodaide schon …“ – In kurzen Zügen berichtete ich ihm nun meine bisherigen Erlebnisse mit Zodaide und erwähnte ebenso kurz die Begegnung mit dem Almani Marschallah und den Zweck meines Rittes mit den beiden Maultieren, – nur dreierlei behielt ich für mich: Zodaides Kreidezeichen, die lautlosen Schüsse auf der Steppenterrasse, die das Signalfeuer verhinderten, und die bisher ungeklärte Tatsache, daß hier auf diesem Friedhof zwei Farsi erneut niedergeschossen worden waren und daß auf der Friedhofsmauer ein Geschöpf nachher gesessen hatte, dessen Armbewegungen nur wildestes Frohlocken ausgedrückt haben konnten.
Das alles verschweige ich.
Schweige, weil ich die Frage, wer dieses geheimnisvolle Wesen ist, selbst lösen möchte … Weil ich bisher nur auf Vermutungen angewiesen bin, die in Jupp Hubards Herzen nur trügerische Hoffnungen wecken könnten.
So sitzen wir denn beide stumm und regungslos da, und zwischen uns liegt Monte, leckt seine erst oberflächlich verheilten Wunden und hebt zuweilen den Kopf mit den zerfetzten Ohren.
Meine Blicke gleiten über die Felswände der Höhle hin, über die hier aufgestapelten Waffen und Kisten und Fässer, bis sie an dem Brettertische halt machen und sich festsaugen an einer dort aufgestellten Kreidezeichnung in billigem Rahmen …
Ein Frauenkopf …
Zodaide?! Nein, – und doch finde ich eine gewisse Ähnlichkeit heraus. Unter dem Bilde steht schräg geschrieben ein Name, derb mit Tinte hingehauen:
Zooka.
Bei dem trüben Lampenlicht ist der Name nur schwer zu entziffern …
Zooka?! – Wie war das doch? Hat nicht Zodaide einige Male die blaßroten Blüten einer der Kletterpflanzen, die den uralten Wachtturm umgürten, so bezeichnet und erklärt, es sei das ein Ausdruck der Bergstämme für diese besonders zarte, schöne Blüte? – Ja, es ist so … Ich erinnere mich jetzt. Zodaide war es …
Und ich erinnere mich auch, daß sie den Namen immer so seltsam weich und träumerisch-schmerzlich aussprach.
Zooka …
Mein Hirn läuft plötzlich allerschnellste Tourenzahl …
Allerschnellste …
Aus den Schlünden des Gewesenen steigt die Nacht unserer Flucht durch das Bergmassiv an der Küste wieder empor …
Kreidezeichen, – immer nur drei Buchstaben malte Zodaide so flink und verstohlen, – immer nur einen der drei vertraute sie heimlich dem Gestein an …
Es waren die lateinischen Buchstaben Z, O, K.
Also?!
Aber mein Hirnmotor wird blitzschnell umgeschaltet – genau so blitzschnell, wie Freund Monte emporschnellt, eine rasche Wendung macht und tief geduckt auf eine bestimmte Stelle der Höhlenwand zuschleicht, – etwa wie ein Jaguar, bei Monte kein allzu kühner Vergleich, denn sein geschecktes Fell erinnert farbenfroh an alle möglichen Raubtierarten. Genau so flink ist jedoch auch Freund Hubard auf den Beinen.
„Abelsen, – dem Hund das Maul zuhalten!“, zischt er in einer Erregung, die seine Gesichtszüge seltsam unbeherrscht erscheinen läßt. „Hüllen Sie Monte in Decken, – die Kerle droben haben doch die Grabplatte gelüftet, – – leise, – – binden Sie den Hund besser weit hinten im Stollen an, es geht um unsere Freiheit, die kleinste Kleinigkeit kann uns verraten …“
Monte röhrt ganz leise, er ist überaus ungnädig, als ich ihn wegschleppe, er fletscht sogar die Zähne, der Verlust seiner drei Sprößlinge muß seinen Charakter sehr ungünstig beeinflußt haben, – es hilft ihm alles nichts, er wird angebunden, bekommt eine Decke über den Kopf und einen leisen Jagdhieb, der ihn wieder zur Vernunft bringt.
Ich taste mich in die Höhle zurück, Hubard hat die Lampe gelöscht, ich schiebe vorsichtig die Füße vorwärts, und durch die Finsternis dringen lediglich vier schmale, lange, gekrümmte hellere Stellen, die das Tageslicht hindurchgelassen hat und die genau gegenüber der Stollenmündung an der Felswand sich abzeichnen, deren Festigkeit und Geschlossenheit ich bisher nicht angezweifelt habe.
Freund Jupp empfängt mich mit behutsamem Raunen und Tuscheln. „Abelsen, kein Fuchs legt sich einen Bau mit nur einer Röhre an … Ich hätte Ihnen den zweiten Ausgang ohnedies gezeigt … Man kann ja nie wissen, was geschieht. Da – schauen Sie hindurch … Die Ritzen sind kaum daumenbreit … Sollte einer der Farsi in das Grab hinabsteigen und etwa mit dem Messer in den Löchern herumstochern, müssen wir Steine dagegendrücken, damit der Bursche getäuscht wird.“
Ich beuge mich vor, der Käpten hat mir Platz gemacht, und ich bringe das eine Auge dicht an die stärkste der beiden Spalten, draußen ist es recht hell, ich erkenne eine felsige schmale Vertiefung, auf deren Boden, umgeben von sorgsam ausgebreiteten Steinplatten von verschiedener Färbung, ein mumifizierter Toter liegt, ein Farsi, die Waffen neben sich, in den über der Brust gefalteten Händen einen mohammedanischen Rosenkranz.
Auf den ersten Blick sieht man, daß dieser Tote hier einst von einem Gegner beigesetzt worden ist, der seinen Feind ehren und mit aller Pietät behandeln wollte.
Und dies spricht für den Almani Dscheitan, – wenn man ihm überhaupt einen Vorwurf daraus machen wollte, daß er einst in offenem Kampfe so und so oft Sieger geblieben. Den Gedanken, er könnte jemals einen seiner Gegner hinterrücks abgeknallt haben, wies ich von vornherein weit von mir.
Dieses enge Felsengrab vor mir mit seinem sauberen Mosaikboden und der stillen Mumie wird Ausgangspunkt einer vollkommenen Wendung der Geschehnisse. Ich höre droben am Rande des natürlichen Grabgewölbes Stimmen, eine sehr tiefe, überhastete, die das Englisch mit allerlei anderen Sprachbrocken mischt, und eine sehr ruhige, klare, energische, die einst auf der Schulbank wohl anders klang, deren Besitzer aber noch immer derselbe geblieben: Sven Oordaal, vom Geschick in die Fremde verweht, jetzt belastet mit einem Beruf, der ihn in ärgste Gewissenskonflikte bringt.
„… Ich werde selbst hinabsteigen, Zagru“, erklärt der Major recht eisig. „Gebt eine Leine her … So, das genügt … Festhalten!!“
Zwei Reitstiefel mit Sporen erscheinen, – Sand und Steinchen rieseln herab, Sven Oordaal steht neben dem Toten, bückt sich und ruft nach oben: „Er hat die Kugel von vorne bekommen, Zagru. Das ist nun der vierte Tote, bei dem ich dies feststelle. Außerdem macht dieses Grab genau wie die übrigen auf mich den Eindruck, als ob euer vielgehaßter Almani Dscheitan mit seinen Feinden äußerst rücksichtsvoll umgegangen ist. All euer Geschwätz, das ihr bis zu den höchsten Regierungsstellen getragen habt, widerspricht hier dem klaren Augenschein. Ich werde hierüber ein Protokoll aufnehmen, Zagru, ebenso über dein sehr eigenmächtiges Vorgehen. Desgleichen wird das Verschwinden deiner Tochter nochmals untersucht werden, – deine Jagdleoparden werden wohl nicht nur zufällig sich losgerissen haben …“
Droben hüstelt jemand …
Ich glaube, dem edlen Wildesel Zagru ist zur Zeit nicht ganz wohl in seiner Haut.
Oordaal betrachtet die Wandungen des Grabes … Das zumeist braunrote, von Glimmerstreifen durchzogene Gestein hat überall Risse und Sprünge. Oordaal klettert wieder empor.
Das letzte, was ich von ihm höre, bevor droben die Steinplatte über die kleine Felskluft gedeckt wird, ist die kurze Äußerung:
„Sucht meinetwegen weiter … Aber ich warne euch: Keine Gewalttaten, Zagru! Du kennst mich …!“
… Ein dumpfer, dröhnender Schlag, – das Grab wird dunkel, abermals rollen Sand und Steine hernieder, und hinter mir flüstert Jupp Hubard mit mäßiger Freude: „Wenn Oordaal mit seinen Beamten davonreitet, kann das hier noch einen netten Tanz geben, Abelsen! Zagru kümmert sich den Dreck was um des Majors Warnung, Zagru hat die meisten Bergstämme hinter sich, und die Regierung ist froh, wenn diese auserlesenen Banditen Ruhe halten. Na – warten wir ab, so leicht fängt uns der hinterlistige Alte nicht, der nebenher noch mein Schwiegervater sein will …“ – Ein stiller Seufzer beschließt Jupps dunkle Prophezeiungen, und seiner Stimme merkt man es an, daß bereits wieder die alte Niedergeschlagenheit sich seiner bemächtigen will.
Das darf nicht sein … Hubard soll sich nicht weiter mit Selbstvorwürfen quälen. Unsere Lage ist zu ernst, als daß Freund Jupp nur mit halber Seele bei der Sache sein dürfte. Es gibt nur ein Mittel, ihm die alte Spannkraft zurückzuverschaffen …
Ich hole Monte, derweil hat Hubard die stinkende große Lampe wieder angezündet, wir setzen uns, und ich nehme seine Hand, drücke sie kräftig und sage wärmsten Tones: „Freund Jupp, ich glaube, Ihre Frau lebt noch … Ich glaube es sogar ganz bestimmt!“
So bestimmten Tones erkläre ich dies, daß er sich weit vorneigt und mich prüfend betrachtet und vollkommen meine Handbewegung nach dem Bilde hin übersieht.
„Woraus … schließen Sie darauf, Abelsen?“
Seine Kehle ist trocken, er würgt die Worte nur hervor, sein Ledergesicht erscheint fahl, und die scharfen Augen flackern.
„Daraus! Aus der Unterschrift des Bildes. Das Bild stellt ihre Frau dar …“ Unwillkürlich überstürzen sich meine Worte, ich bin nicht lediglich Zuschauer dieses Schicksalsspieles, ich bin mit hineingedrängt worden in die Reihe der handelnden Personen, und meinen Worten verleiht die ehrliche Anteilnahme die Kraft der Überzeugung. – – Hubard hört ganz still zu, nickt zuweilen … streut kurze Bemerkungen ein, so die eine:
„Das sieht meiner bunten Rose ähnlich …“, – so die andere:
„Lautlose Schüsse, – kein Wunder weiter, Abelsen, – wir hatten ja Schalldämpfer für die Karabiner, und meine Frau benutzte stets einen Karabiner …“, – – so die letzte Bemerkung, als ich von den zwei neuen Opfern hier auf dem Friedhof und von der Gestalt auf der Kirchhofsmauer spreche:
„Und das sagen Sie mir erst jetzt …?! – Sie ist es …!! Schon allein die Kreidebuchstaben beweisen genug, – mein Kosename für sie war Zooka, Holde Blüte, – – mein Kind hat ihre Mutter gesucht, und meine Frau wandelte die gleichen dunklen Rächerpfade wie ich!! Mein Kind wollte die Mutter finden und sie zurückhalten von diesem Tun! – Abelsen, Sie kennen Farsistan nicht … Abelsen, wissen Sie, weshalb Zodaide die Kreidezeichen malte: Als stumme, flehende Bitten!! Und wissen Sie, weshalb mein Weib die beiden Seitenstriche des Z auslöschte?! Weil ein einzelner Kreidestrich hier als Kampfansage, als Kriegserklärung, als ernsteste Todesdrohung gilt! Deshalb also blieb nur der Strich übrig, – das heißt: Ich beharre auf meinem Vorhaben!!“
Er war aufgesprungen, er lief in eine Ecke der Höhle, riß einen Kistendeckel hoch und holte eine Laterne von Mittelgröße hervor, in der eine dicke Kerze steckte. Seine Hände zitterten, – der ganze Mann fieberte vor Ungeduld, vor Erwartung, und ich stand dabei und begriff zunächst nicht, weshalb er die Laterne anzündete und dann noch eiliger im Stollen verschwand …
Ihm folgen?
Im letzten Augenblick verzichtete ich darauf, – ich wußte nun, daß er sein Weib hier in diesem Versteck suchen wollte, das zweifellos noch irgendwo eine verborgene Nebenhöhle besaß.
Aber es kam anders … –
Vielleicht ist das gerade das Wundersamste an diesem ziellosen Abseitswandern, daß nicht nur die Allmutter Natur, sondern auch die Menschen uns allerorten mit ungeahnten Überraschungen aufwarten. Es sind Geschenke, die man gern entgegennimmt, es sind Zaubergaben aus einem unerschöpflichen Füllhorn. Man lernt einen neuen Maßstab für Charaktere anlegen, man hütet sich vor einem vorschnellen Urteil. Ererbte Eigenschaften und Daseinsumstände und Umgebung schaffen Menschen besonderen Schlages. Farsistan, wildes Land, Land der Pässe, der Salzsteppen, der an Talwänden festgeklebten Dörfer, – Farsistan, zerklüftetes Gebirge, belebt von Raubwild, von wilden Schafen, Ziegen, – eingehüllt in die sengende Hitze der Tropensonne, ausgedörrt, lechzend nach Regen, nach Feuchtigkeit, bewohnt von Mischlingsstämmen, in denen das Araberblut überwiegend zur Geltung kommt, bewohnt von fanatischen, kriegerischen, tollkühnen, verräterischen straffen braunen Banditen, deren Ahnen nur immer Banditen waren, – – ein solches Land gebiert Menschen, die dem zivilisierten Europäer fremd, verdammenswert erscheinen mögen, ein solches Land läßt auch das Blut gesitteter Europäer überschäumen vor Leidenschaft und vor blinder Hingabe an ein selbstgewähltes Vorhaben …
So muß man nicht nur den Almani Marschallah, den großen, geachteten Feind der Engländer, sondern auch den Almani Dscheitan, sein Weib, sein Kind … und letzten Endes mich selbst beurteilen. Nicht nach dem landläufigen Maßstab des überkultivierten, kränkelnden europäischen Kontinents, nein, nach der hiesigen Umwelt dieser Berge muß man es tun! Steckt nicht auch im Blute deutscher Alpenbewohner die freilich harmlosere Jagdleidenschaft, die den kraftstrotzenden Menschen zum Wilddieb macht, weil er die Gefahr liebt, weil auch in seinem Blute ein Schuß Abenteurernatur kreist!
– – Es kam anders … Der Lichtschein der Laterne Käpten Hubards war noch im Stollen sichtbar, als ich einen halb unterdrückten Aufschrei vernahm, dem das Klirren von Glas folgte …
Der Lichtschein erlosch …
Monte hatte sich aufrecht gesetzt … Er windete nach dem Stollen hin. Stärkstes Mißtrauen erfaßte mich, ich pflege meine Büchse in so bedrohlichen Lagen wie hier nie aus der Hand zu legen, ich drückte mich sofort an die Steinwand neben dem Stollenausgang, ein sehr deutlicher Wink brachte Monte neben mich, ich horchte in den Stollen hinein, ich hörte sprechen, sehr Hastiges Hin und Her von Frage und Antwort, – zu verstehen war nichts, nur daß das eine unbedingt eine Frauenstimme sein mußte. Das weitere reimte ich mir von selbst zusammen, besonders da ich noch gewisse Laute vernahm, die mehr in das Gebiet eines zärtlichen Lustspiels gehörten. Ich mußte lächeln, mir fiel eine Last von der Seele, ein Ehepaar, dessen Schicksale wahrlich nicht alltäglich gewesen, hatte sich wieder zusammengefunden, aber meines treuen Hundes höchst auffälliges Benehmen und ein fader Geruch von dünnem Qualm, der meine Nase erreichte, sowie das erneute Auftauchen der warnenden hellen Striche an der gegenüberliegenden Wand, also nach dem sauberen Farsi-Grabe hin, weckten meinen Argwohn, der weit schlimmer war als meine erste Annahme, daß die braunen Banditen die steinerne Klapptür geöffnet haben und hier eingedrungen sein könnten.
Jetzt erschienen auch bereits Freund Hubard und die Frau im dünnen, bräunlichen Mantel, – die Kapuze war herabgeglitten, dieses etwas dunkelgetönte Antlitz zeigte mir unverhüllt die Reste vergänglicher Schönheit, das zum Knoten geschlungene Haar war von schneeweißen Strähnen des Leides durchzogen, in strahlendem Braun leuchteten noch immer die großen lebhaften Augen, und die feine Nase und der etwas sinnliche Mund waren fast zu fein geschwungen für die harte grob gemeißelte, überenergische Kinnlinie.
Der Käpten hatte lose den Arm um die Schultern seines Weibes gelegt, in beide Mienen las ich jedoch neben der verhaltenen Glückseligkeit über die Wiedervereinigung eine ernste, nicht wegzuscheuchende Besorgnis …
„Das ist sie …“ flüsterte Hubard mit einem prüfenden Blick nach dem Fenster hin. „Zooka, dies also ist der Mann, der unser Kind dort an der Golfküste im Süden antraf, als sie dir wieder einmal gefolgt war, ohne dich zu ergreifen …“
Urusi Hubard streckte mir freimütig die Hand hin. Ein leises Lächeln kam und verschwand. „Ich sehe Sie nicht zum ersten Male …“ – Ihr Deutsch erinnerte an das der kleinen Zodaide, – dieses Deutsch war zumeist aus Büchern angelernt. „Ich danke Ihnen, Abelsen … Zodaides wegen. Mein Kind sollte nicht mit hineingezogen werden in die dunklen Pläne ihrer Mutter, deshalb hielt ich mich von ihr fern und war ihr doch stets nahe – – wie Ihnen auch in den Tagen ihrer Flucht durch den Küstenstrich und durch die Berge …“
Sie hüstelte, sie gab meine Hand frei, – dickere Rauchschwaden kamen aus dem Stollen, hellbraun und gelblich, – Qualm von feuchten Dornen und frischem Gras …
Hubard blickte mich mit verkniffenen Lippen etwas ratlos an. „Der Major ist davongeritten“, sagte er gepreßt … „Die Farsi wagen nicht zu schießen, nicht anzugreifen, sie wollen uns ausräuchern … Die Burschen sind doch schlauer, als ich es gedacht, sie ahnen die Bedeutung des Grabes da …“
Die Zeit drängte …
„Decken her, Hubard! Verhängt hier den Stollenausgang und verstopft die hellen Ritzen dort. Wenn keine Zugluft mehr den Rauch uns zutreibt, können die Kerle ganze Stöße Holz abbrennen. Beeilt euch, – – ich sehe an der Steinpforte nach dem rechten … Monte bleibt hier, ich binde ihn an …“
Die Kiste, aus der Hubard soeben die Kerzenlaterne herausgeholt hatte, enthielt noch mehr und weit bessere Laternen, enthielt außerdem allerlei andere Dinge, die wohl während der Kriegszeit und während des von dem Almani Marschallah geleiteten Bandenkrieges auf dem Wege über Bagdad und den Golf hierher gelangt waren.
Ich ergriff die drei Kerzenlaternen, – zum Füllen der weit besseren Karbidlaternen war die Zeit zu knapp, ich eilte den Stollen hinab, bisher zogen die Rauchschwaden nur oben an der Decke entlang, ich fand die Klapptür und ihre Stütze unversehrt, aber sie schloß nicht dicht genug, handbreite Spalten klafften hier und da an den Seiten, – es war eben nur eine Steinplatte, die vielleicht mit vieler Mühe hier von der Wandung losgesprengt worden war, oder die Jupp Hubard oder sein Herr hier zufällig gefunden hatten, – all das war ohne Belang, schlimm genug blieb das eine, daß durch die seitlichen Ritzen dickste, gelbe, braune, schwärzliche Qualmschlangen sich wie giftiges Gewürm hindurchwanden und daß draußen ein andauerndes unheilvolles Knistern und Knallen brennender Zweige zu hören war. Zuweilen leckten auch lange Flammenzungen durch die Löcher, – zuweilen ertönten explosionsartige Knalle, – man verbrenne einmal armdicke Dornenäste, und man wird sich wundern, welch kriegerischer Lärm da entsteht. Buchenscheite sind Spielerei dagegen.
Als ich die Steinplatte mit dem Finger berührte, war sie bereits warm. Offenbar hatten die Farsi gar nicht den Versuch gemacht, diese Tür einzudrücken. Der hinterlistige Plan, uns auszuräuchern, schien ihnen weit unbedenklicher …
Nun, – den Scherz wollte ich ihnen gründlich versalzen!
Die Seitenlöcher neben der Platte kamen mir sehr gelegen, – die Herren Heizer da draußen würden sehr bald verduften, ich wählte ein Loch, das etwa kniehoch über dem Boden lag, und schon nach den ersten Pistolenschüssen folgte draußen ein mißtönendes Kreischen, – vielleicht war einem der Banditen sein schönstes Hühnerauge wegoperiert worden …
Dem Geheul nach konnte es nur so sein …
Plötzlich tauchte neben mir die Frau im braunen Burnus auf.
Eine Hand berührte meine Schulter, – ich erhob mich aus meiner geduckten Stellung.
„Abelsen“, sagte Hubards Gattin mit ungewöhnlich farbloser Stimme, „– – Abelsen, soeben hat mein Vater Zagru uns durch das Felsengrab zugerufen, daß er Zodaide und Daniel in seiner Gewalt hat. Und er lügt ausnahmsweise nicht, Abelsen … Der arme Dan wurde ohne Ohren, schwer blutend, an einem Tau in das Grab hinabgelassen als lebender Beweis, – – wenn nur Major Oordaal nicht weggeritten wäre, Zagru muß längst den Turm als Schlupfwinkel meines Kindes beargwöhnt haben, er hat die Bergfichte dort fällen lassen, und der Baum stürzte mit der Krone gegen das Gemäuer. Zagru verlangt nun unsere bedingungslose Übergabe, und wir werden gehorchen müssen, Abelsen, – – ich kann mein Kind diesem Wüstling Al Madir nicht ausliefern, obwohl … obwohl ich Zagrus Versprechungen, uns alle zu schonen und nur dem Gericht in Buschir auszuliefern, nicht traue. Wie sollte ich auch?! Er mag dem Namen nach mein Vater sein, er mag beim Barte Mohammeds schwören, – das tat er auch dem Almani Marschallah gegenüber, – und was geschah?! Als die Engländer, worüber sie sich selbst schämten, den hohen Kopfpreis von einer Million ausgesetzt hatten, da wollte er ihn ermorden, ihn, der doch auch sein Schwiegersohn geworden … – Das ist Zagru, mein Vater …!! Nein, ich traue ihm nicht … Er hat zu viel schlechte Eigenschaften …“
Ob das stimmte, was der edle Wildesel da als Beweis für eine Gefangennahme Zodaides vorgewiesen hatte?! Konnte nicht Daniel, der Somal, sicherlich ein kühner alter Bursche, irgendwo außerhalb des Turmes abgefaßt worden sein?
Ich überlegte blitzschnell … – Auch die Geschichte von dem gefällten Baume klang denn doch zu unglaubwürdig. Zodaide war bestimmt eine vorzügliche Schützin, und einen Baum fällen, der unter Kugelregen steht, das war mild gesagt Münchhausiade. Das konnte nicht wahr sein.
„Bleiben Sie bitte als Wache hier“, entschied ich kurz. „Zagru lügt. Aber vorher zeigen Sie mir bitte die versteckte Seitenhöhle, Frau Hubard, in der Sie sich verborgen hatten.“
Sie blickte mich aus ihren großen sprechenden Augen hoffnungsfroher an …
Wir schritten davon, ich hatte zwei Laternen mitgenommen, hinter dem ersten scharfen Knick des Stollens deutete die Frau im braunen Burnus nach oben auf die unter der Decke schwebende Qualmwolke, die jetzt nur noch unmerklich ihren Weg zur Haupthöhle nahm. Der Luftzug war abgesperrt, und der Rauch fand keinen nennenwerten Ausgang mehr.
„Hier sind die Vorsprünge, an denen man emporklettern kann …“, meinte die Frau mit den weißen Strähnen und dem noch immer anziehendem Gesicht etwas zögernd. „Es hätte wenig Zweck, wenn …“
„Bitte, halten Sie mir die Laterne, nachher reichen Sie sie mir zu“, – für lange Erklärungen war das weder Ort noch Stunde.
Ich schwang mich hinauf, ich tauchte in die Qualmwolke ein, Frau Urusi reckte sich hoch, und ich kroch aufs Geratewohl in das Loch hinein, rutschte jenseits halb hinab und fand die Luft hier völlig rauchfrei.
Ich hatte damit gerechnet.
Vielleicht schenkt das Abseits uns neben vielem anderen auch eine Beobachtungsgabe, die selbst kleinste Kleinigkeiten nicht übersieht.
Und eins hatte ich gesehen, als die Frau im Burnus soeben nach oben gedeutet hatte: Daß dort, wo der Einschlupf sich unter der Felsdecke befinden sollte, der gleichmäßig verteilte und gleichmäßig langsam ziehende Qualm etwas in Unruhe geriet, gleichsam stockte und sich es zu überlegen schien, wohin er sich wenden sollte. Er wirbelte und quirlte dort durcheinander, und dies alles konnte nur eine Ursache haben: Dieser winzige Raum hier, der zweifellos mindestens zwei Meter höher lag als der Stollen nebenan, mußte einen Luftabzug, eine Verbindung nach oben haben!
Ich hielt die Laterne ganz hoch … Diese Nebengrotte war also Frau Urusis Schlupfwinkel gewesen, – dort war eine Lagerstatt, dort ein Schemel, vieles andere noch …
Ich musterte die Steindecke … Der Fels war hier sehr unregelmäßig, sehr zackig, hatte lang herabreichende Zapfen, die die ewig gehetzte einsame Frau, die wenigstens in der Nähe ihres Kindes als heimliche Beschützerin hatte weilen wollen, zum Teil sehr malerisch mit Waffen, Sätteln und Kleidungsstücken drapiert hatte.
Da waren aber auch droben ebenso tiefe, breite Risse, und schärfsten Auges verfolgte ich nun den dünnen Rauchstreifen, der wie ein Nebelhauch in einem dieser Löcher verschwand.
Ich schaute mich nochmals um, hakte mir die eine Laterne vor die Brust und kletterte an einer der Zacken empor.
Es war ein anstrengendes Beginnen, aber eine ungewisse Erwartung auf eine uns günstige Entdeckung verdoppelte meine Kräfte …
Ich zwängte mich schließlich in den Riß hinein, er bog nach Süden ab, erweiterte sich etwas, ich hatte die Laterne in der Hand, ich konnte kriechen, – nochmals eine Biegung, und dann erblickte ich über mir das dicke, dichte Gerank eines stachligen Gestrüpps, keine Dornen, nein, jene dickblätterige Strauchart, die von den Persern gern zu feinen Schnitzereien benutzt wird, weil der Hauptstamm des Strauches ebenso festes Holz wie eine recht eigenartige Maserung besitzt.
Doch nicht die dichte wirre Masse von blattlosen Stämmen, Ästen und älteren Zweigen ließ mein Herz höher schlagen: Da war in dem offenbar recht ausgedehnten Gesträuch ein Loch, eine kleine freie Stelle, und diese zeigte mir ein Stück Himmel, über das rasch ziehendes dunkles Gewölk von Norden aus den Hochtälern kommend, hinwegzog.
Ein trockenes Gewitter also, – ich hörte ja das ferne Grollen, – ich wußte nun, in kurzem würde die Salzsteppe in dunkle Dämmerung eingehüllt sein! Besseres konnte ich mir gar nicht wünschen. Gewiß, wir hätten den edlen Wildesel Zagru auch ohne diese Wolkenmassen bewiesen, daß er und seine Banditen immer noch nicht schlau genug seien, wir hätten die Nacht abwarten können …
So war es besser …
Rasch zurück also, – noch rascher die um ihr Kind besorgte Mutter verständigt, die eilends ihren Gatten und meinen Monte herbeiholte …
Abermals kroch ich empor, schob mich nun vollends ins Freie, der Himmel war inzwischen pechschwarz geworden, ich drängte mich in das Gestrüpp hinein, nachdem ich eine Weile gehorcht hatte, nahm das Messer, säbelte hinderliche Äste ab, schnitt, sägte, säbelte, – – aber diese wirre Masse Strauchwerk schien kein Ende zu haben, mein Messer wurde stumpf, Hubard, der mir helfen wollte, warf mir ein anderes zu, – – die Luft war zum Ersticken heiß, dabei herrschte eine Schwüle, die jede Anstrengung zur Pein machte, Farsistan hatte heute einen seiner bösesten Tage, und an diesen glutofenheißen Tagen pflegen sich sogar die Tiere der Berge in kühlere Felslöcher zu verkriechen, nur uns ward keine Ruhe gegönnt, das finstere Gewölk konnte in kurzem wieder verschwunden sein, Hubard löste mich ab, aber er arbeitete mir zu langsam, und als ich endlich die grünen Zweige und Blüten der Außenschicht vor mir hatte, da war es zu spät, – – fast zu spät …
Es wurde wieder heller … Ein paar Windstöße fauchten über die Steppe hin, sie brachten kühle Luft aus den Bergen mit, das sicherste Zeichen, daß das trockene Gewitter vorüber war.
„Jupp, meine Büchse …!“ Ich hatte mich bereits orientiert. „Jupp, Ihre Frau und Sie bleiben unten … Zu vieren werden wir leicht entdeckt. Geben Sie auf Monte acht …“
Er mochte wohl selbst einsehen, daß meine Anordnungen angesichts der rasch wieder zunehmenden Tageshelle die einzig richtigen waren. Er reichte mir die Sniders zu, ich reichte ihm die ausgelöschte, nur hinderliche Laterne, und dann schob ich mich durch die Außenzweige der südlichen Friedhofsmauer zu, die nur drei Meter entfernt war.
Ich hörte Stimmen, aber in einiger Entfernung. Ich hatte mir auch bereits berechnet, daß der Stollen unten mit seinen Biegungen zunächst nach Westen verlief. Ich befand mich hier nicht in der direkten Gefahrenzone, außerdem wucherten an der nahen Steinmauer gerade an der Innenseite, die den meisten Regen erhielt, falls es überhaupt einmal regnete, eine solche Menge Dornen, Grasbüschel und sogar Kletterrosen, daß ich dort bestimmt unbemerkt vorwärtskommen mußte, falls nicht schon ein ganz besonderer Unstern mein Vorhaben vereiteln würde.
Da war vor mir einer der Grabhügel, der letzte unweit der Mauer.
Er kam mir wie gerufen, er bot Deckung, – Rosendornen zerrissen meine Finger, – ich zwängte mich hinter die Ranken, ich gelangte einige Meter vorwärts, und da sah ich sie … –
Sie, – – des Wildesels Massenaufgebot …
Allein hier auf dem kleinen Friedhof tummelten sich mindestens dreihundert braune Burschen umher … Ihre Scheu vor diesem Orte war gewichen … Haß, Fanatismus, Rachgier, hatten die Bedenken dieser Halbaraber zerstreut.
Und alle, alle tadellos bewaffnet … modern bewaffnet. Das waren keine Karl May’schen Rothäute mit Vorderladerflinten, nein, die Kerle besaßen Militärgewehre oder Karabiner, Pistolen und das unvermeidliche einheimische Dolchmesser in zumeist reich verzierten Lederscheiden. Die Kleidung entsprach freilich nicht ganz der Tradition der Ilijat, der Bergstämme. Europäische Ramschfabriken hatten auch hier schon das einheitliche Bild zerstört. Ich bemerkte so manchen überaus feinen Sportanzug, so manchen zerbeulten Tropenhelm anstelle der hohen Ziegenfellmütze. Fünf Zelte standen bereits, alle aus schwarzem, sehr leichtem Ziegenhaarfilz, – zierliche, schöne, starke Hunde waren in Koppeln zu sechs angepflockt, die meisten Farsi rauchten, standen oder saßen untätig herum, nur ein dichter Halbkreis älterer Stammesangehöriger hatte sich um das offene Felsengrab des mumifizierten Toten niedergehockt, und inmitten dieser auserwählten alten Banditen saß der sehr ehrwürdige, weißbärtige Zagru mit dem listigen, verschrumpelten Gesicht und schien auf die Antwort zu warten, die Freund Jupp auf das Ultimatum hin erteilen wollte.
Das war das Bild vielleicht hundert Meter vor mir …
Und ich kauerte hier dicht an der Mauer, umgeben von dem zarten Duft der Kletterrosen, geschützt durch ihre Blütenfülle und durch Blätter einer bescheidenen Windenart, die ihr Gespinst gleichfalls über die Mauer gezogen hatte.
Wo war Daniel? In einem der Zelte?!
Wo war Zodaide?
… Mein Blick schweifte zur Seite in die Ferne.
Da erhob sich das uralte grüne Gemäuer, betupft mit farbigen Flecken, und über die dicht bewucherte Zinne hinaus schob sich das andere Grün einer deutlich erkennbaren Baumkrone: Die Bergfichte war nicht gefällt worden, Zagru hatte gelogen, der alte Dan war der Bande von ungefähr in die schmierigen Pfoten gelaufen, Zodaide und ihre Gäste waren in Sicherheit.
Ich atmete freier …
Es mochte jetzt zwei Uhr nachmittags sein. Morgens hatte der überstürzte Tanz der Ereignisse in meinem Turmgemach begonnen, – – überschaute ich rückblickend die Vorgänge, so kam es mir vor, als müßten Tage inzwischen verstrichen sein …
Und jetzt, – – was nun?!
Das Bild vor mir war packend, wirkte wie Sekt, war ein kriegerisches Gemälde mit der besonderen Eigenart dieser Bergwelt und ihrer Bewohner.
Ich mußte weiter … Noch immer herrschte eine milde Dämmerung, aber einzelne Bergkuppen im Norden wurden bereits von der Sonne getroffen und erschienen wie in Scheinwerferlicht getaucht. Der stoßweise kühlere Wind nahm an Heftigkeit zu. Die Nachhut des Gewitters, eine pechschwarze Wolke, segelte jetzt tiefziehend aus dem Gebirge heran.
Plötzlich begann es sacht zu tröpfeln. Regen fegte herab, – ein seltenes Glück für diese Täler, – die schwarze Wolke entlud ihren Inhalt, dichte Regenschnüre peitschten hernieder, und der Mann, der soeben noch sich den Kopf zermartert hatte, wie er aus der Nähe der Feinde gelangen könnte, rannte bereits geduckt der Nordmauer zu und fand auch eine eingestürzte Stelle, wo er bequem hindurchschlüpfen konnte.
Den schwarzen Dan mußte ich vorläufig seinem Schicksal überlassen. Ich rutschte in eine der schmalen Rinnen hinab, die ihre Entstehung den Frühjahrsunwettern verdanken, ich trug jetzt Dank Zodaides und Daniels fixer Schneiderfertigkeit eine braune Phantasiekluft und einen alten Filz, den der Somal bereits als Sieb benutzt hatte … Das Ding war gewaschen worden, leuchtete in allen Farben, aber die breite Krempe hielt noch.
Ich näherte mich dem Turme, der Regen hatte aufgehört, mit einem Male war die Sonne und eine augenblendende Helle da, – leider sehr zur Unzeit: Vor mir lag völlig flaches Terrain, und die wenigen Grasbüschel und Dornenhecken nützten mir wenig, da der Dscheitan-Friedhof auf seiner Anhöhe bequemen Rundblick bot und da der Rest der Farsi außerhalb der Mauer auf der Steppe lagerte.
Ich mußte es wagen, ich mußte mir eben Gewißheit verschaffen, ob Zodaide und die Gattin des Almani Marschallah und dessen Tochter wirklich noch unversehrt im Turme weilten. Daniels Ohren waren ja doch nicht mehr zu retten, und vor einem Meuchelmord würde der edle Wildesel Zagru doch wohl zurückschrecken, dazu hatte Major Oordaal ihn zu nachdrücklich gewarnt.
Und dann war noch eins bei alledem, was mir nicht recht in den Sinn wollte: Daß Sven Oordaal tatsächlich mit seiner Beamteneskorte auf und davongeritten sein sollte! – Ich glaubte nicht mehr daran, – ich hatte vielmehr das Gefühl, als ob Oordaal mit seinen Gendarmen sich zahlenmäßig zu schwach dünkte, gegen irgend einen jähen Gewaltakt des Farsi-Oberhäuptlings etwas ausrichten zu können.
Nun – das alte Glück verließ mich nicht … Ich kroch weiter, immer weiter, – ich schob mich um das Gemäuer herum, ich rechnete damit, daß hier vielleicht doch ein Farsiposten stände, ich hätte ihn ohne weiteres niedergeschlagen, gefesselt und droben in die Grotte geschafft …
Im Turme rührte sich nichts. Ich hatte nun Deckung, ich kletterte den Bergrücken empor, überall standen Wasserlachen, in den Sträuchern blitzten im Sonnenschein Wassertropfen, ich wählte absichtlich den Umweg über den Felsenstall der Maultiere, und als ich mich diesem behutsam näherte und in die romantisch-wilde Schlucht hinabstieg, gewahrte ich einen Farsi, der zu einem bräunlichen Reitanzug die übliche hohe Mütze trug. Der Mann drehte mir den Rücken zu, hatte die Büchse nachlässig im Arme und war sehr groß und dürr …
Sollten Sven Oordaal und Zagru vorhin, als sie hier umherschnüffelten, den „Stall“ doch nicht gefunden haben?!
Es schien fast so …
Der Farsi drehte ein wenig den Kopf …
Das Profil kannte ich, das war die verkniffene Mumienvisage des Herrn Thronerben, des Gentleman Al Madir, der durchaus Zodaide seinem Harem hatte einverleiben wollen. – Gewiß, die Farsi sind keine Türken, sind Mohammedaner, aber Schiiten, und sie betrachten daher die Türken, die ja Sunniten sind, halb und halb als Gläubige. Nur die Reichen, und das sind die Häuptlingskamarilla nebst Anhang, leisten sich mehrere Frauen … Al Madirs Verbrauch an junger Weiblichkeit war offenbar sehr groß.
Der Kerl hatte mir schon durch das Fernglas nicht gefallen.
In der Nähe erst recht nicht.
Was würde nun wohl der Leopard tun?! – Falls das Tier noch lebte …
Al Madir kam die Höhle dort nicht ganz geheuer vor. Das merkte ich. Er zögerte, er war vier Schritt vom Eingang entfernt … stand wieder still, schob den Kopf vor, hob halb die Büchse …
… Und fuhr zurück …
Selbst ich hörte das Rasseln der Kette …
Inzwischen war ich selbst dem Burschen dicht auf den Leib gerückt, Dornenbüsche und Steine verbargen mich, – eins war sicher: Al Madir würde von hier als freier Mann nicht mehr zu seinem edlen Onkel Wildesel Zagru zurückkehren!
Wieder rasselte die Kette …
Ich glaubte, der stramme Leopard würde jeden Augenblick vorschnellen.
Mit einem Male löste sich aus der Finsternis des Höhlenhintergrundes eine hohe Männergestalt mit sonngebräuntem, tief ernstem, seltsam packenden Gesicht: Es war der berühmte Almani Marschallah von Farsistan, – wieder ohne Waffe, nur mit derselben schweren Reitpeitsche in der Hand, die ich schon bei unserer ersten flüchtigen Begegnung bei ihm bemerkt hatte.
Die tiefliegenden, melancholischen Augen in diesem durch bitterste Enttäuschungen zermürbten Gesicht besaßen noch denselben ergreifenden Ausdruck wie damals, aber die ganze Gestalt war straffer, nicht mehr so weltmüde, und die ruhigen Bewegungen verrieten verhaltene Kraft, die von neuem geweckt worden.
Als der Almani Marschallah den Farsi-Wüstling nun gelassen musterte, schwand auch all das weltschmerzliche, verbitterte aus seinen charaktervollen Augen.
„Ah, – – Al Madir!“, sagte er nur …
Der Farsi duckte sich etwas.
Jeder hätte sich geduckt …
Denn in des Deutschen Stimme lag ein Ton, der weder drohte noch warnte, – nein, – das war die Sprachweise einer Persönlichkeit, eines Kerles aus einem Guß. Das war so etwa klingender Stahl, kalt, gleichgültig, unerbittlich.
Jetzt begriff ich, daß dieser Mann, dieser blonde Hüne mit dem sehnigen Körper und den harten Augen einst vor Jahren die ganzen Bergstämme gegen die Engländer mobil gemacht und sich zum Freikorpsführer aufgeworfen und Funktürme hatte in die Luft fliegen lassen, Karawanen überfallen und wie ein Kaperschiffskapitän mit seinen Seglern den Persischen Golf trotz der englischen Kreuzer zum Waffentransport benutzt hatte.
Ein Held?! – Nein, – wer dieses Gesicht sah, wußte, daß dieser Mann nur seine Pflicht getan hatte, nur das! Freilich mit einer selbstlosen Opferfreudigkeit, die sogar vor dem Alleräußersten, dem schwersten Opfer nicht halt gemacht hatte: Damals, als er Verbündete brauchte, war er nicht nur Mohammedaner geworden, sondern hatte auch Zagrus Tochter geheiratet – – und … einen Ehebruch auf sich genommen.
Held?! – Nein, den Ehrentitel hätte er von sich gewiesen. Sein Ehrentitel war von den wilden, halbwilden Stämmen geprägt worden:
Der Almani Marschallah von Farsistan!
Das galt mehr …
Unter einem anderen Namen kannte auch ich ihn nicht. Nie hatte Freund Jupp ihn erwähnt, nie Zodaide, nie der arme alte Dan …
– – „Ah, – – Al Madir!“
Weiter nichts … Aber der Farsi duckte sich.
Und stand doch einem Unbewaffneten gegenüber, hatte selbst Waffen.
Doch der Büchsenlauf rührte sich nicht.
„Setze dich, Al Madir …“, befahl der Deutsche und winkte mit der Peitsche nach einem länglichen Stein hin. „Ich habe mit dir zu reden …“
Wieder nur derselbe Ton, – – Stahl, kalter Stahl …
Der Farsi zauderte. Unmerklich straffte sich seine Gestalt.
Der Marschallah lächelte ein wenig. Dann pfiff er leise, und aus der Höhle trottete der Leopard hervor und rieb seinen Katzenkopf an des hochgewachsenen Deutschen Schenkel und setzte sich nieder – wie ein Hündchen. Das Raubtier trug nur noch das eiserne Halsband, keine Kette.
Al Madir gehorchte jetzt.
„Lege deine Büchse bei Seite, Al Madir, – sie würde dir doch nichts nützen …“
Der Farsi tat es …
„… Denn dies ist einer der Jagdleoparden Zagrus, deines Onkels, einer der beiden Leoparden, die er hinter Urusi dreinhetzte, – das weißt du, das liegt etwa drei Jahre zurück …“
Der Marschallah wippte etwas mit der Peitsche …
„… Zodaide erschoß den einen und fing diesen hier – mit meiner Hilfe … Ich verstehe es, mit Bestien umzugehen, mit allen … Auch mit dir.“ – Er hatte sich an einen hohen spitzen Stein gelehnt. Seine Augen schweiften über die Schlucht … versonnen, umflort von den Eindrücken der Vergangenheit, die er nun wieder wachrief.
„… Im August 1914 warst du, Al Madir, zwanzig Jahre alt … Damals saßen ein paar Europäer im Hause des englischen Generalkonsuls in Buschir bei Kartenspiel und Whisky beieinander. Die Unwetterwolken, die sich über Europa zusammengeballt hatten, warfen keinen Schatten auf unsere Zusammenkünfte. An jenem Abend, Al Madir, brachtest du mir, der deinem Onkel befreundet war, die Depesche, daß meine Frau und mein Kind glücklich in Genua angelangt seien … Ich hatte sie heimgeschickt, ich wußte, was kommen würde. Eine halbe Stunde darauf trat der Direktor der englischen Funkstation ins Zimmer und las uns die soeben eingetroffene Meldung von der Kriegserklärung Englands an Deutschland vor. Du besinnst dich … Du warst im deutschen Konsulat dicht am Meere mein Gast, – ich war der deutsche Konsul, und ich erkannte, was geschehen würde. Noch in derselben Nacht verschwand ich aus Buschir, wir beide ritten in die Berge zu Zagru, den ich für meinen Freund hielt … Du besinnst dich, Al Madir …?“
Der Farsi saß tief gedemütigt da und blickte nicht auf.
„… Ihr erhieltet von mir Geld, vorzügliche Waffen aller Art, ich wurde einer der euren, ich wurde Mohammedaner, ich mußte das Band zwischen mir und euch fester schmieden, ich heiratete Zagrus älteste Tochter nach eurer Stammessitte, und mein treuer Begleiter Hubard, der mir gefolgt war, heiratete Urusi … Du besinnst dich … – Der Almani Marschallah von Farsistan tat den Engländern mit seinen kriegerischen Scharen allzuviel Abbruch, und da erschienst du eines Nachts in unserer Bergfeste drüben und glaubtest, ich schliefe längst … Damals, du besinnst dich, kamst du mit der gedruckten Bekanntmachung zu Zagru, daß die Engländer eine runde Million auf meinen Kopf ausgesetzt hatten, – sie haben sich dessen nachher geschämt … Aber, im Kriege ist jedes Mittel recht … – Damals, Al Madir, bezahlte ich euch bereits spärlicher, und du gabst deinem ebenso treulosen und verräterischen Onkel den Gedanken ein, mich noch in derselben Nacht zu überfallen und lebend nach Buschir zu bringen. Zagru war sofort einverstanden. Aber ich wußte bereits von diesem Kopfpreis, und ich belauschte euch, entfloh mit Hubard, ihr verfolgtet uns, wir verbargen uns drüben in der Steppe, in der längst vorbereiteten Höhle, und ihr, die ihr euch um die Million betrogen saht, sperrtet jeden Paß, jedes Tal ab, schwärmtet durch die Gebirge, wolltet uns finden. Du besinnst dich … Du warst einer der eifrigsten, besonders als Urusi, Hubards Weib, ebenfalls verschwand … In der Höhle lebten wir drei wie hungrige Füchse, – wir durften nicht in die Steppe, ihr wart überall, wir dürsteten, hungerten, bis ich dieses Leben satt hatte und einen Durchbruch versuchen wollte. Hubard widersprach, – wir schieden in gereizter Stimmung, – – und sechs Tage darauf stellte sich ein müder, gebrochener, zerlumpter Bettler in Buschir freiwillig den Engländern, die mich voller Achtung behandelten, die eben als Engländer Verständnis dafür besaßen, daß ein Mann seinem Vaterlande bis zum letzten Atemzuge zu dienen hat. Gewiß, sie schickten mich denn nach Indien in ein Kriegsgefangenenlager, aber auch dort blieb ich für sie der Marschallah von Farsistan, dem ihr, und du auch, geschworen hattet, doch eure Treue zerfiel wie Zunder vor dem Pesthauch des Goldes, nur der Feind zeigte sich mir gegenüber von seiner besten Seite, denn als der Krieg beendet und ich frei war, als die deutsche Heimat mich vergaß, da war es derselbe englische Generalkonsul, in dessen Hans ich in Buschir so freundschaftlich verkehrt hatte, der dafür sorgte, daß ich mich hier in Persien niederlassen und ans einem Stück unfruchtbarer Salzsteppe eine Farm hervorzaubern durfte – mit nichts, nur mit meiner Energie, nur von dem Wunsche getrieben, meinem deutschen Weibe und meinem Kinde ebenfalls eine Heimat bieten zu können …“
Der Marschallah blickte jetzt den kläglichen Burschen, der da vor mir wie das verkörperte schlechte Gewissen hockte, düster an.
„Al Madir, auch mit Zagru schloß ich Frieden, meine sogenannte Ehe mit Zagrus Tochter wurde gelöst, und ich bemühte mich, mein Weib und mein Kind für mich zurückzugewinnen, ich schrieb wiederholt an meine Frau, die mir leider Ehebruch und Bigamie vorwarf und nicht begreifen konnte, daß ich mich geopfert hatte, um eure Verräterseelen an mich zu ketten. Ihr Farsi ward ja der zahlreichste der Bergstämme, eure bescheideneren Nachbarn, die Luri, waren anderer Art, nur in der Minderheit und friedfertiger … Ich schrieb von hier aus Briefe, Al Madir, – – nicht einer erreichte sein Ziel. Kennst du den Grund?“
Der Farsi zog es vor zu schweigen.
Und abermals schwoll die stählerne Stimme etwas an.
„Al Madir, du bestahlst die Boten, du hattest Geld, du haßtest mich, du bist von europäischer Fäulnis bereits mit angekränkelt, du hast von Europa nur das Allerschlechteste übernommen, nur. Du wurdest Intrigant, du wurdest ein schäbiger Diplomat, – auf die Weise wolltest du mich ins Herz treffen, keinen Brief ließest du durch, dein Spionagesystem war vollkommen … Erst heute weiß ich dies, – – leider … – Und zwar von Zodaide, deren blühende Jugend deine Gier aufstachelte, und durch die du mich ebenfalls ins Herz treffen wolltest, weil ich in dem Punkte machtlos war … und weil ich das Mädchen wie ein Vater liebte und doch nicht schützen konnte. Dazu hatte sich dein nicht minder hinterlistiger Oheim zu gut bei dem neuen Schah eingeschmeichelt, dazu habt ihr eure eigenen verbrieften Rechte und Stammesgesetze, die keiner antasten darf, es sei denn, euch wird ein Verbrechen nachgewiesen … Bedenke das: Ein Verbrechen!!“
Jetzt drohte der Marschallah, aber er beließ es bei dieser Bemerkung, obwohl Al Madir flüchtig aufschaute und wohl auf nähere Angaben hoffte, die er dann vielleicht zu einer Gegenaktion benutzen konnte.
Der Marschallah hatte dem Leoparden die Linke flach auf den Kopf gelegt und sann eine Weile vor sich hin. Aber seine Züge waren nicht weicher geworden, seine graublauen Augen blieben hart und unerbittlich.
… Ich hier kaum sechs Meter hinter den beiden hielt die Zeit, mich einzumischen, noch nicht für gekommen.
Ich war hier durch Zufall Zeuge einer mündlichen Abrechnung geworden, die mich tief ergriffen und schon deshalb bis zu atemlosester Aufmerksamkeit gepackt hatte, weil mir eins unverständlich blieb: Wie waren die Gattin und Tochter des Marschallah hier in das alte Gemäuer geraten, – sollte etwa die kleine Zodaide hierbei in weit höherem Maße, als ich es bisher ahnte, ihre kräftigen Händchen mit in einem von reiner Herzensgüte diktierten Spiel gehabt haben? Sollte Zodaides Aufenthalt in der Baracke am Golfstrande, also unsere allererste Begegnung, mir den Schlüssel zu dieser Frage liefern können? Wenn das energische Mädchen von Al Madirs heimtückischen Briefunterschlagungen Kenntnis erhalten, – hatte sie dann etwa mit der Gattin des Marschallahs sich in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt, daß Mutter und Kind hier nach Persien kämen? Hatte Zodaide als weichherzige, ehrliche Diplomatin veranlaßt, daß Mutter und Kind heimlich an der Küste landeten und zunächst im alten Mazedonierturm Unterkunft fanden? Der Marschallah selbst hatte ja zweifellos, als er auf seine Briefe nie Antwort erhielt, seine Bemühungen um eine Aussöhnung als zwecklos eingestellt. Und von selbst wären seine Frau und sein Kind wohl niemals herübergekommen, – der kleinen Zodaide traute ich ein solches, reinstem Mitgefühl entsprechendes Eintreten für den Marschallah, ihrem heimlichen Verbündeten, wohl zu. Lag es nicht sehr nahe, daß etwa des Marschallahs Angehörige ebenfalls in der Baracke kurze Zeit geweilt und dort etwas vergessen hatten? Etwas, das Zodaide holen wollte, als mich Jupp, das kampflustige Känguruh, dort auf der Trümmerstätte der Funkstation niederschlug?
… Da hörte ich den Marschallah wieder sprechen, – kurz, hart, stählern:
„Was tue ich mit dir, Al Madir?! Du hast nur eins verdient: Den Tod! Du warst ein Schurke und Verräter und bist es noch heute. Du fingst hier den alten Neger ab, hier auf diesem Bergrücken, du knietest auf seinem Rücken und raubtest ihm die Ohren, du bist auch Bestie: Daniel sollte verraten, wo Zodaide geblieben! – In deinem Hirn spukt nur eine Gier: Zodaide! Ich war keine zwanzig Meter entfernt, als du mit deinem Messer hohnlachend dem treuen Greise die Ohrmuscheln wegskalpiertest, ich[10] konnte nicht mehr eingreifen, – – aber ich werde eingreifen!“
Er trat einen Schritt näher.
„Al Madir, viele Jahre habe ich nun dort auf meiner Farm gehaust, – – der Marschallah von Farsistan in mir war tot, die Rückkehr des Almani Dscheitan hat auch mich wieder auf den Plan gerufen, und was von dem Feuer von einst noch in mir glühte, ist neu aufgeflammt, vielleicht nur ein Flackerfeuer, aber auch das kann gefährlich werden. – Was tue ich mit dir, Al Madir?! Ich könnte Hubra auf dich hetzen, genau wie ihr einst Hubra und Rassi auf Frau Urusi gehetzt habt. Aber Hubra ist mir zu wertvoll, außerdem liebt Zodaide ihn, und letzten Endes wird dich Allah strafen, den du genau so betrügst wie alle, denn du bist ein Trinker und Spieler und Betrüger. Ich lasse dich also wieder laufen, Al Madir, damit du dem Risch e Sefid Shour folgendes wörtlich befiehlst: Wenn ihr Farsi nicht binnen zwei Stunden ohne jede weitere Feindseligkeit diese Steppe verlassen haben solltet, werdet ihr ein Strafgericht erleben, wie ihr es seit dem Jahre 1912 nicht durchgemacht habt, – du weißt, damals hattet ihr die Luri überfallen und hundert Männer, Frauen und Kinder niedergemacht, und die Gendarmerie kam mit Kanonen und Maschinengewehren, und fünf Dörfer gingen in Flammen auf und eure Beute wurde euch wieder abgenommen und ihr selbst mußtet die Hälfte eurer Herden den Luri überlassen. – Al Madir, dies also befiehl deinem Oheim von mir, dem Marschallah von Farsistan, und wenn Zagru nur noch ein Quäntchen Hirn im Kopfe hat, wird er gehorchen, wir haben ja noch eine große Rechnung miteinander auszugleichen, – – und – – du kennst mich!! – Gehe jetzt!“
Ein Blick in Al Madirs haßverzerrte Züge ließ mich vorausahnen, daß diese kleine Schlucht noch Dinge sehen würde, die sich blitzartig abspielen dürften.
Der Farsi, groß, hager, verzichtete auf jede Antwort. Er hätte sie geben können, als seine Hände die Büchse umspannten, aber vielleicht war seine Kehle zugeschnürt vor wildestem Grimm, für den es keine Bezeichnung gibt.
Er trat zurück, Schritt für Schritt, und als er etwa sechs Meter zwischen sich und dem anderen gewonnen hatte, sah ich genau von der Seite her, daß er die Sicherung der Büchse mit dem Daumen zurückschob.
Der Marschallah spielte mit seiner schweren Reitpeitsche, die einen lederübersponnenen Knopf hatte, und der Leopard hatte sich gemächlich niedergetan. – Wer zu beobachten wußte, hätte den törichten Farsi warnen können, denn in den Augen des Marschallahs glitzerte in den Tiefen ein besonderer Glanz.
Zweierlei geschah nur mit einem Abstand von Sekunden, – nein, dreierlei.
Al Madir hatte die Büchse hochreißen wollen, hatte sie bereits angelegt …
Er war nicht schnell genug.
Aus der Hand des Marschallahs fuhr wie ein Blitz die Reitpeitsche hervor – mit kaum merklicher Armbewegung, der Knopf der Peitsche traf den Farsi mitten zwischen die Augen, und der Wurf und die Wurfwaffe mußten so niederschmetternd – im wahrsten Sinne des Wortes – gewesen sein, daß Al Madir mit einem Aufschrei nach hinten überschlug und in einen Dornbusch stürzte.
Mir blieb das Herz stehen …
Der Leopard sprang zu, mit einem einzigen Riesensatz … In der Luft schwebte ein gelblicher, gefleckter Tierkörper, ein schriller Pfiff ertönte, der Leopard Hubra verschwand trotzdem in den Dornen, ein gräßlicher Aufschrei folgte, noch ein Pfiff, und als die gelbe Katze gehorsam von ihrem Opfer abließ und der Farsi sich erhob, war diesem die eine Gesichtshälfte halb zerfleischt und das linke Ohr hing nur noch an einem Hautlappen. Al Madir stand da wie ein Trunkener, schwankte hin und her, und erst des Marschallahs stählerne Stimme scheuchte ihn taumelnd hinweg …
Diese Stimme, die eiskalt befahl: „Gehe, und richte Zagru meine Botschaft aus, – – willst du auch noch das andere Ohr verlieren?!“
Der Farsi entschwand, seine Büchse hatte er liegen lassen, ruhigen Schrittes näherte sich der Marschallah der Stelle und hob beides auf, Peitsche und Büchse, und dann machte er eine halbe Wendung nach meinem Versteck hin …
„Kommen[11] Sie nur hervor, Herr Abelsen … Ich freue mich, Ihnen nochmals zu begegnen, zumal ich hier in dieser Steppe wohl zum letzten Male weilen dürfte, da Freund Hubard seine geliebte Zooka wiedergefunden hat, ebenso sein Kind in kurzem in die Arme schließen dürfte, dieser … dieser treue, aber etwas wilde Draufgänger …“
Er schüttelte mir kräftig die Hand …
„… Ich habe mit dem Fernglas die ganzen Vorgänge auf der Steppe und auf dem Friedhofe des Dscheitan beobachtet, ich hätte rechtzeitig ein bestimmtes Signal gegeben, falls dort die Dinge eine böse Wendung genommen hätten. Ich hoffe, ich werde ohne das Signal auskommen.“ Er sprach diese Sätze ohne besondere Betonung leicht hin wie etwas ganz Nebensächliches.
Mir erschien sein Sicherheitsgefühl übertrieben, – er war jetzt, wie es vielen niedergedrückten und jäh wieder hochgeschnellten Temperamenten ergeht, aus einem Extrem in das andere gefallen. Ich glaubte, warnen zu müssen.
„Zagru hat gut dreihundert Leute bei sich, Herr Konsul … – etwas viel …“
Ich mußte mich auf den früheren Titel Konsul beschränken, – seinen Namen kannte ich noch immer nicht.
„Und wenn er fünfhundert hätte, – die Partie ist für ihn verloren“, erklärte der Marschallah nur. „Bitte, warten Sie hier, ich kette nur Hubra an, und dann wollen wir Zodaide besuchen …“
Minuten waren bereits verstrichen …
Sollte ich untätig bleiben, war es nicht richtiger, Al Madir zu folgen, bis ich freien Ausblick über die Steppe hätte?
Ich rief – rief nochmals …
„Hallo, – – Herr Konsul!!“
Wie das klang!!
Amtstitel – – hier, hier, wo das wilde Farsistan wieder einmal sein wahres Gesicht mir gezeigt hatte – das Gesicht der Berge der Untreue, der Heimtücke, seltsamster Menschenschicksale!
Aus Ungeduld wurde Sorge, aus Sorge wurde Angst.
Ich schritt der Höhle zu, ich drängte mich rechts an der Felswand vorüber, die Kette Hubras[12] klirrte, seine Augen leuchteten rotgrün im Dunkeln, er war angekettet, – ich bog um die Ecke, der Stall der Maultiere lag vor mir, die beiden Maultiere standen in ihrer Ecke, neben ihnen ein prächtiger gesattelter Fuchs mit einer Blesse auf Stirn und Brust, – und auf einem prall gefüllten Grassack saß der Marschallah, schlaff, in sich zusammengesunken, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, in den Fingern etwas Blitzendes, – einen Ring, einen Trauring …
Er schaute auf. Und der, der mich anschaute, war wieder derselbe gebrochene, verbitterte, gleichgültige Mann mit den wehen Augen, den ich als Marschallah in Zodaides anderem Versteck, dem Dromedarversteck, kennen gelernt hatte.
Dieser jähe Rückfall in seine menschenfeindliche Apathie konnte nur einen Grund haben: Den Ring! – Ich sah, es war ein Ring für einen dünnen Finger, ein Frauenring, – – eine merkwürdige Vermutung stieg in mir auf, es war förmlich wie eine Vision: Sollte Zodaide damals in der Wellblechbaracke am Golfstrande diesen Ring gesucht haben, den die Frau des Marschallahs dort verloren haben konnte?
In jedem Falle galt es, diesem schwergeprüften Manne, der nun tonlos fragte: „Wie … wie kommt dieser Ring hierher?“, sofort wieder die alte Spannkraft wiederzugeben.
„Ihre Frau und Ihre Tochter befinden sich als Gäste im Turm bei Zodaide … – Gehört der Ring Ihrer Frau?“
Es war eine sehr kräftige Medizin, die ich dem Marschallah zu verdauen zumutete.
Er verdaute sie. Er starrte mich sekundenlang an, und in diesen Sekunden fand er sich zurück zu der einstigen Größe, die nun wieder sein eigen geworden, weil der Almani Dscheitan die Erinnerungen an die wildbewegten Monate des Bandenkrieges in ihm wachgerufen hatte.
Bezeichnend war es, daß er nicht fragte, daß er nur den Ring in die Tasche steckte, den Zodaide hier wieder verloren haben mochte, als wir nach der Flucht durch die Berge die Maultiere hier untergestellt hatten, – daß er mir nur die Hand drückte und nach Al Madirs Büchse und nach seiner schweren Reitpeitsche griff und mir vorauseilte …
Wir hatten kaum die Schlucht verlassen, als wir von der Steppe her Schüsse vernahmen. Es waren nur dünne, unaufdringliche, etwas blecherne Detonationen, – Pistolenschüsse zweifellos, die bestimmt aus Al Madirs Waffen stammten, nur Signalschüsse, Alarmschüsse, denn ich zählte mit, – es waren zuerst sieben Schuß kurz hintereinander, dann eine kleine Pause, dann abermals sieben.
Der Marschallah wollte auf den Bergrücken vorwärtsstürmen, ich hielt ihn jedoch zurück … „Warten Sie … Das war nur Al Madir. Er hat offenbar von dem Felsvorsprung neben der Fichte die Schüsse abgegeben. Wie kommt der Wind? Noch immer aus Norden?“
„Mehr Nordost, Abelsen … – Weshalb dieser Aufenthalt?!“
„Weil der Knall kaum bis zum Friedhof dringen dürfte … Wir wollen nichts übereilen, Marschallah. Ich kann mir nicht recht denken, daß Al Madir sich hier so ganz allein herumgedrückt haben sollte. Wenn irgendwo hier noch Farsiwachen versteckt aufgestellt sind, kann man uns abknallen, bevor Sie noch Gelegenheit finden, Ihr „Signal“ zu geben …“ Ich drängte ihn zwischen Felsblöcke und musterte sehr mißtrauisch die unübersichtliche Umgebung. Er selbst sicherte nach der anderen Seite hin. Gerade diese Stelle hier war nur zu geeignet für einen jähen Überfall.
Wir standen Rücken an Rücken, – ich fragte schnell:
„Was hat es überhaupt mit Ihrem „Signal“ auf sich?! – Es dürfte bei der ganzen Sachlage notwendig sein, daß besser zwei Männer als einer darum wissen, – einen von uns könnte doch etwas zustoßen, – – sprechen Sie!“
In demselben halben Flüsterton erfolgte die Antwort …
„Und wenn ich es Ihnen sagte, Sie wüßten nichts damit anzufangen, Abelsen … Im übrigen keine Sorge: All die Waldläuferinstinkte, diese Trapperfähigkeiten, die ich mir in diesen Bergen einst unter tausend Gefahren aneignete, sind wieder geweckt worden … Ich bemerke nichts Verdächtiges hier auf meiner Seite … Und Sie?!“
Meine Blicke bohrten sich in das Gewirr von Dornen, Felsen, kleinen Sträuchern und Tragantigeln nochmals wie eine Sonde ein. Ich spürte die Nähe eines Wesens, das nicht hierher gehörte, in den Nerven … Schräg vor mir, sechzig Meter entfernt, war eine breite Felsabflachung, eine schräge kleine Bergterrasse … Sie gehörte zu einem Kamm, der mir den Einblick in die Steppe verwehrte. Gerade auf dieser, in vollstem Sonnenglast brütenden Abflachung gab es mindestens zehn jener stacheligen, runden, großen Polster, die ich als Tragantigel bezeichnet habe und die so kennzeichnend für Persien sind, genau wie die Kakteen für Mexikos nördliche pfadlosen Wüsten.
Das Abseits schenkt viel. Es lehrt auch vergleichen. Acht von den riesigen Stachelpolstern waren für meine bisherigen Erfahrungen denn doch zu gewölbt, zu hoch, zu buckelig, zu sehr aufgetrieben …
„Marschallah …!!“
Er drehte sich um …
„Dort die Tragantkugeln droben, – halbrechts auf der abfallenden Terrasse … Wie denken Sie darüber, Marschallah?“
Vor uns zwischen den Blöcken hingen buntblühende Winden. Des Marschallahs Arm griff über meine Schulter und schob sie mehr bei Seite. „Ah – –, die alte Farsi-List!! Hinknien, Abelsen, – bessere Deckung nehmen!! Los!!“
Er drückte mich nieder, und dabei merkte ich die gewaltige Kraft seiner Muskeln.
Er atmete etwas schneller. „Sollten wir eingekreist sein?! Schon jetzt?! Schieben Sie sich doch einmal an mir vorüber und sehen Sie zu, ob wir nach Süden zu um diese Steine herumkriechen können … Aber Vorsicht, Mann!! Die Luft hier riecht nach Pulver, und …“
Er schwieg … Irgendwo schiepte ein schrilles Vogelstimmchen und endete seine ersten Takte in einen schrillen Triller.
Hinter mir vernahm ich aus des Marschallahs Munde einen ganz eigenen Ton, der wie ein Zeichen ungläubigster Überraschung war.
„Was gibt es, Marschallah?!“ Ich hatte die Felsen bereits halb umkreist und hatte von hier den Höhenkamm entlang freien Ausblick bis zu der Fichte hin.
Aber die schlanke, biegsame, dichte Krone des Nadelbaumes stand nicht senkrecht, war vielmehr nach dem Turme geneigt, – – sollten Zodaides Kräfte genügt haben, die primitive Winde mit der großen Kurbel zu bedienen?!
Auf meine kurze Frage hatte mein Gefährte nicht geantwortet. Ich wiederholte die Frage nicht, – ich hörte zwar dieselbe eigentümliche Vogelstimme nochmals, aber das Bild da weit vor mir war zu fesselnd, als daß ich für andere Dinge noch Interesse gehabt hätte.
Die Erregung, die mich jetzt packte, war Angst, verzehrende Angst um die Frauen, deren Schutz der Turm allein überlassen geblieben.
Über den Rand des Gestrüpps, das mir den unteren Teil der Fichte verdeckte, schob sich ein Kopf hinweg mit einer braunschwarzen Farsi-Kappe, – – es war ein Farsi, die Büchse hatte er umgehängt, beide Arme benutzte er zum Klettern, er kam an den Aststümpfen sehr schnell höher und höher, – hinter ihm tauchte ein zweiter auf, ein dritter, vierter, – wie Ameisen krabbeln sie empor, verschwinden in der Krone, – es mochten im ganzen ihrer zwanzig gewesen sein, ich erkenne sie jetzt als dunkleren, beweglichen Klumpen an den Außenästen, die das alte Gemäuer mit seinem meterdicken Rankenüberzug infolge der starken Krümmung der Krone berühren.
„Marschallah, – – Farsi am Turm!!“, – mir waren die Kehle und die Lippen wie ausgedörrt, die Zunge gehorchte mir kaum …
Keine Antwort … Eine rasche Kopfdrehung, ein Zurückbiegen des Oberkörpers, – der Marschallah war verschwunden, die herabhängenden Windenranken waren noch zerzauster. Ich spähte flüchtig nach den Tragantpolstern hin, sie lagen dort oben im prallen Sonnenschein, wie sie gelegen hatten, – – mochten sie, hier ging es um anderes, wichtigeres, und tief geduckt schnellte ich vorwärts. Ich lief nicht blindlings dahin, ich wußte, was auf dem Spiele stand, ich hatte mir mit den Augen bereits den geeigneten Punkt ausgesucht, ich wollte nicht außer Atem kommen, ich wollte meines Schusses sicher sein, – – da war hundert Meter vor der Kuppe ein brauner Riesenklotz, den Zodaide stets halb im Scherz in seiner absonderlichen Form mit mir verglichen hatte: „Ihr Kopf mit dem Schlapphut, Abelsen!! Der Abelsen-Stein!!“
Und dieser Abelsen-Stein mit der weit überragenden Hutkrempe und dem eingebeultem Hutkopf – alles wüste Felstrümmer – nahm mich gastlich auf, – – wie ich so flink nach oben kam, – – das „Wie“ begreift man später selber nicht.
Ich werfe mich droben zwischen die Steine und mageren Dornen, ich hatte freies Schußfeld, ich sah abermals Farsi an der Fichte emporklimmen, ich sah einen der Kerle des ersten Trupps an der äußersten Astspitze schaukeln, – – ich zielte, und Schuß auf Schuß fegte hinüber, nicht auf die in der Krone eng zusammengeballten Leiber, sondern auf das dicke Ledertau, Kugel um Kugel spie die treue Sniders, die mir im entscheidenden Augenblick noch nie durch unberechenbare Seitensprünge das Ziel verdorben hatte, – – und was kommen mußte, kam auch, was ich vorausgesehen, geschah mit derselben unheimlichen, verderblichen Unmittelbarkeit, die ich erwartet hatte.
Die durch die starke Krümmung übel gequälte Krone des Nadelbaumes schnellte zurück, – ein Birnbaum mit reifen Früchten schüttelte die madigen Birnen ab, ein Dutzend Leiber stürzte mit wildem Kreischen in die Tiefe, und was da von Farsi-Banditen noch kleben geblieben, beeilte sich, den gefährlichen Baum wieder zu verlassen.
Es gab ein förmliches Wettrennen um den Abstieg, – rücksichtslos rutschten die Geschicktesten über die weniger Gelenkigen hinweg, etliche kollerten noch hinab, – – ich hätte die Kerle wie Hasen abschießen können, aber die kreischenden, brüllenden, hinkenden Burschen dort unten, die so wenig sanft gelandet waren, erregten mehr Mitleid als Grimm, – schließlich waren es ja nur Zagrus und Al Madirs verhetzte, fanatische Kreaturen, ich ließ sie laufen, sehr viele liefen nicht, einige wurden von ihren Stammesbrüdern getragen, und wie ein Spuk bei Sonnenschein verzog sich das gesamte Aufgebot nach der Steppe zu und verduftete hinter dem Turme.
Die Erklärung dieser letzten Vorfälle, Al Madirs Begegnung mit dem Marschallah mit eingerechnet, war sehr einfach. Ich überschaute die Sachlage nun vollkommen. Mein Gefühl hatte nicht getrogen: Al Madir und diese vierzig Auserwählten jungen Burschen hatten hier auf dem Höhenkamm auf der Lauer gelegen, Al Madir mochte noch immer geglaubt haben, daß das alte Gemäuer noch bewohnt sei, daß er nur hier Zodaide finden könnte, und als ich dann den Höhenrücken erstiegen hatte, war ich zweifellos sowohl von den gut versteckten Farsi als auch von den Frauen im Turm bemerkt worden, – erstere hatten mich absichtlich unbelästigt gelassen, während die Frauen mich nicht zu warnen gewagt hatten, um ihre Anwesenheit im Turm nicht zu verraten. Doch Zodaides Entschluß, meiner Vorsicht zu vertrauen und mich ungewarnt vorüberzulassen, mußte dann – und hier gab es nur diese eine Deutung! – durch ein Ereignis von ganz besonderer Art umgestoßen worden sein, und dies Ereignis konnte nur das Auftauchen des Marschallahs auf dem Bergrücken gewesen sein. Die Frauen mußten ihn bemerkt haben, und die Gattin des Marschallahs mußte es durchgesetzt haben, daß Zodaide das dicke Ledertau in die Kronen hinüberzog und befestigte, was durch eine doppelte Wurfleine mit Laufschlinge sehr leicht zu bewerkstelligen war. Niemals hätte die Tochter des Almani Dscheitan dies gewagt, wenn sie nicht vorher beobachtet hätte, daß die versteckten Farsi sich weiter nach Osten zu den Höhenrücken entlang entfernt hätten, – niemals wären wir in der Leopardenkluft unbehelligt geblieben, wenn anderseits die Farsi nicht doch ihr Hauptaugenmerk weiter auf den Turm gerichtet gehabt hätten.
Gut, – all das konnte nur so sein …
Nun zunächst einmal Ausschau halten, ob nicht irgendwo ein bösartiger Flintenlauf sichtbar sei … Als ich nichts dergleichen bemerkte, turnte ich abwärts, duckte mich aber sofort wieder, da keine fünfzig Meter schräg vor mir über einem kahlen Hügel mit federnden, schleichenden Schritten ein ausgewachsener Leopard erschien, der jetzt plötzlich ohne ersichtlichen Grund mit allen Vieren gleichzeitig in die Luft schnellte und dann schweifwedelnd stehen blieb.
Es war Hubra, der halbzahme Wächter des Maultierstalles. Ein Irrtum war unmöglich, – am Halse der geschmeidigen Bestie zeichnete sich deutlich die Stelle ab, wo bisher der Eisenring für die Kette gesessen hatte.
Über dem Höhenkamm tauchte da ein zweiter Tierkopf auf, und Jupp, das seltsame Schoßhündchen meiner kleinen Freundin Zodaide, schoß mit langem Satz elegant vorwärts und kam dicht vor Hubra zum Stehen. Der Leopard schien mit Jupp recht gut Freund zu sein, vielleicht wußte er auch, daß mit Känguruhhinterbeinen nicht zu spaßen sei, im übrigen vermehrte jetzt ein drittes Wesen dieses Tieridyll, und wenn mich schon die beiden, so ungleichen Arten angehörigen Vertreter der Tierwelt Persiens und Australiens weidlich überrascht hatten, auf Zodaide Hubard war ich schon gar nicht vorbereitet, zumal das Mädchen allein zu sein schien.
Ich rief sie leise an, sie erschrak[13] nicht, sie ließ nur schnell die schußbereite Büchse sinken, nahm sie in die Linke und eilte mir entgegen. Ihre andere Hand schob sie zutraulich in meinen Arm, und da ich vielleicht allzu prüfend ihr Gesichtchen betrachtete, erklärte sie schnell: „Olaf, ich bin noch tief bewegt von der Wiedersehensfreude zwischen dem Marschallah und Frau und Kind … Aber ich weiß nicht recht, was er vorhaben mag, er ist mit den beiden auf und davon, ich sollte in den Turm zurück … und Sie auch … Ich begreife überhaupt nicht, was er plant … Ich glaubte ihn bedroht, und deshalb verließen wir den Turm … Seine Frau hat nun ja auch eingesehen, daß er ihre Liebe genau so verdient wie einst, und sie wollte zu ihm, – – ich bin doch sonst nicht so leicht in Verwirrung zu bringen oder zu verblüffen, – einmal verstehe ich nichts von alledem, was hier gespielt wird … Ich mußte Hubra freilassen, über die Anwesenheit der Farsi in der Steppe lächelt der Marschallah nur verächtlich, – – aber kommen Sie, – ich weiß, Sie haben das Tau zerschossen, Olaf, wir müssen die Verbindung zum Turm erst wieder herstellen … Nur gut, daß ich Sie sofort getroffen habe, – ich fühle mich unsicher und … einsam, – ja, einsam, Olaf, obwohl ich doch allen Grund hätte, Gott zu danken, der mir meine Eltern zurückschenkte, – – kommen Sie, der Marschallah, mein heimlicher Beschützer, deutete nur an, daß überhaupt keine Gefahr mehr für uns alle bestünde, – – begreifen Sie das?!“
„Nein, – nur eins lehne ich entschieden ab, mich dort in dem alten Gemäuer einzusperren … Hubra ist frei, Jupp ist frei, wir wollen frei sein, kleine Zodaide …! – Schnell bis zur Fichte, – ich will nur einmal nachschauen, wie es unten in der Steppe steht … Also Trab, Mädel, Trab …!“
Zodaide, ich und unsere muntere Begleitung standen gleich darauf am Fuße des hohen Baumes, ich kletterte an den Aststümpfen empor, ich kletterte zunächst höher als nötig, um den Turm überblicken zu können, – ich sah die endlose Steppe, den Friedhof des Dscheitan, die Pünktchen der sich dort bewegenden Farsi, ich stellte das Glas ein, und das kriegerische Lagerbild rückte mir näher, vor den braunschwarzen Zelten schien Kriegsrat gehalten zu werden, von irgendwelchen Angriffsabsichten auf uns war bisher nichts zu bemerken, zweifellos hatte Al Madir die Botschaft des Marschallahs an Zagru ausgerichtet, und der edle Wildesel Zagru mochte seinen einstigen Verbündeten gut genug kennen und wohl wissen, daß der Mann nicht umsonst drohte.
Nur Minuten hatte es gedauert, bis ich wieder unten bei Zodaide anlangte.
„Wo ist Hubra geblieben, Zodaide?“
„Auf und davon, Olaf … Ganz plötzlich … Vielleicht fürchtet er, nochmals angekettet zu werden … Er sollte ja auch frei sein …“
Zodaides Frage, was die Farsi trieben, wurde durch überlauten Hufschlag hinter uns übertönt. Wir sahen die beiden Maultiere, völlig gesattelt, in schärfster Gangart aus der Richtung ihres Felsenstalles über Stock und Stein daherstürmen und weit hinter ihnen gut ein Dutzend Farsi, die nur der Vortrab einer größeren Reiterabteilung des listigen Zagru waren.
Die Maultiere, die infolge der schroffen Wände des Höhenrückens weder nach rechts oder links ausbrechen konnten, mußten ihre Herrin bereits bemerkt haben und kamen noch eiliger auf uns zu.
Zodaide rief nur: „Vorhin waren sie nicht gesattelt, – – Olaf, was bedeutet das nun wieder?“
Eine Antwort verlangte sie wohl kaum.
Wir sprangen zu, packten die Zügel, die Tiere waren sehr unruhig, keilten aus, – die Erklärung dafür war ja ein Distelstück, das lose zwischen Satteldecke und Fell geschoben war, und dessen Stacheln keine ganz sanfte Bürste darstellten.
Ich riß die Distelzweige heraus, dann zeigte ich nur nach links in die Steppe, wohin dieser äußerste Felsenvorsprung sehr flach abfiel.
Wir mußten fliehen …
Gewiß, die Farsi dort hinten näherten sich vorsichtig und mit einigem Mißtrauen, vorneweg war ein Kerl mit einer Art Tartarenschnurrbart, – einer der Baumkletterer von vorhin, ich erkannte ihn wieder, die Sorte Visage prägt sich selbst dem miserabelsten Gedächtnis ein.
„Hinab, Zodaide, – – etwas flink …!!“
Sie war im Sattel, ihr Maultier rutschte ein Stück abwärts, wir mußten nicht nur fliehen, sondern auch Zeit gewinnen, der Kerl mit dem Tartarenschnauzer ritt einen vorzüglichen Gaul, die Entfernung war für einen sicheren Schuß viel zu weit, ich versuchte es trotzdem, der Gaul war zu schade, ein Fleischschuß konnte dem Reiter nicht viel ausmachen, verweichlicht sind diese Bergbanditen weiß Gott nicht.
Ich drücke ab …
Der Farsi zeichnete auf den Knall hin mit einem ebenso blitzschnellen Sprung aus dem Sattel, auch die anderen Kerle dort benutzten den alten Trick, plötzlich standen dort nur noch reiterlose Pferde, und dann kam es herangezwitschert wie ein singender Schwarm übereiliger pfeilschneller Schwalben: Kugeln … Kugeln, die an den Felsen zerspritzten, die die Dornenbüsche beschädigten …
Mehr nicht …
Auch meine famose Kreatur von Maultier rutschte auf der Hinterhand abwärts, ich erreichte die Steppe, … Galopp nun, nach Süden zu, Zodaide war hundert Meter vor mir, wir jagten durch dieselbe Regenrinne, die uns bereits vor Tagen schützend aufgenommen hatte, als wir nach der Flucht durch die Berge den Turm endlich gesichtet hatten, – heute ging es in entgegengesetzter Richtung, heute hatten wir die Verfolger auf den Fersen, – jede Regenrinne hat ein Ende, wir kamen in die freie Steppe zurück, auf einen Hügel, und hielten gleichzeitig an …
Ich starrte geradeaus, dann nach rechts …
Neben mir sagte Zodaide ganz leise, aber mit verbissener Energie:
„Das ist so echt ein Zagru-Stückchen!! Das nennt man Farsistan-Strategie, Olaf!! Aber – – lebend bekommen sie uns nicht, – – niemals!! Nach Norden also, – – das einzige freie Gelände, Olaf, – – zum Dscheitan-Friedhof!“
Auftreten?! – Es klingt wie aus einem Theaterprogramm …
Es soll so klingen. So nannten es auch die Zeitungen Persiens, so nannten es auch die angloindischen Blätter, – – nur bis zu Europas Rotationsmaschinen reichte diese „Kleinigkeit“ nicht heran, möglich, daß einige englische Journalisten in London den Almani Marschallah auch in London erwähnten, um durch ihn die einstigen Großtaten des Obersten Lawrence wieder einmal aufzufrischen …
Möglich, ich weiß es nicht.
Die, die dort in Europas friedfertigen waffenstarrenden ruinierten Staaten leben, werden es besser wissen.
Persien jedenfalls, in dem jedes Kind den Almani Marschallah dem Namen nach kannte, hallte noch monatelang wieder von den Vorfällen auf der Salzsteppe, die den Friedhof der Verräter umgibt. Ein Name, der noch unvergessen war, entfaltete wieder seine kraftvollen Schwingen zu kurzem Adlerfluge, und der Mann, der hinter diesem Namen stand, der eins war mit diesem Ehrentitel, gab ein letztes Gastspiel in den wilden Bergen, die er einst beherrscht hatte, – – um nachher wieder mit Weib und Kind zurückzukehren zu seinem bescheidenen Farmerhause.
Gastspiel?! … Spiel mit Waffen, Spiel mit der Schnelligkeit von Reitern und Rossen, Spiel um’s Leben! Denn der alte Risch e Sefid Shour Zagru mußte uns vernichten, um selbst weiterleben zu können. Das Verbrechen, das er einst an seinem Kinde begangen hatte, als er ihm die Leoparden auf den Hals hetzte und hoffte, sie sei ausgetilgt und sein schändlicher Schurkenstreich gegen sein eigen Fleisch und Blut würde nie ans Tageslicht kommen, war aufgedeckt und erwiesen. Frau Urusi Hubards Wiedervereinigung mit ihrem Gatten und Zodaides erfolgreiche Bemühungen, die jämmerlichen Intrigen Al Madirs zunichte zu machen und des Marschallahs Frau und Kind mit diesem auszusöhnen, hatten nicht nur einen Stein ins Rollen gebracht, sondern gleich eine ganze Steinlawine[14], die sowohl Zagru als auch Al Madir und noch andere Mitwisser und Mittäter vernichten mußte, falls nicht alle hier den Tod fänden, die über diese Dinge etwas auszusagen vermochten. Für dieses Gemetzel würde Zagru später dann schon irgend eine eindrucksvolle Entschuldigung finden, er brauchte nur zu erklären, wir hätten ihn und seine Leute zuerst angegriffen, – – um freche Lügen und Verdrehungen würde dieser ganze Farsi-Stamm nicht verlegen sein!
Das waren so meine Gedanken, als ich die Steppe überblickte und genau wie Zodaide feststellte, daß uns nur ein Fluchtweg offen war: Gen Norden – zum Dscheitan-Friedhof!
Die Sonne stand noch ganz hoch. Es war gegen vier oder fünf Uhr nachmittags etwa. Es war gerade die Zeit, in der die Hochlandsteppen Farsistans eine unwahrscheinlich klare Luft haben, so daß alle Entfernungen verkürzt erscheinen und das Auge von selbst zum Fernrohr wird. Es gab keine flimmernden Luftschichten mehr, die die Umrisse verzerrten … Alle Gegenstände erschienen klar und scharf umgrenzt, jede Kleinigkeit war zu erkennen.
Der alte Wildesel Zagru, ein Stratege dieses wilden, schönen Berglandes, hatte mit List und in aller Heimlichkeit für uns die große Falle aufgebaut. Wir beide, Zodaide und ich, sahen überall die beweglichen dunklen Pünktchen von weit auseinandergezogenen Reiterscharen – überall, – die Steppe wimmelte von eiligen Ameisen, aber all diese bissigen Pünktchen da trugen Büchsen und ritten in tadelloser Ordnung wie auf einem Exerzierplatz.
Eine Rückkehr für uns nach dem Turme war unmöglich, – wenn ich den feindlichen Aufmarsch mit einem Wort bezeichnen will, muß ich „Schere“ sagen. Dort, wo die beiden Schneiden der Schere sich um den Zapfen bewegen lassen, lag etwa der alte Turm, und diese Schere war weit geöffnet, ihre Schneiden waren Reiterlinien, und dort, wo die Spitzen dieser Schneiden am weitesten klafften, befand sich wie ein Miniaturstück eines zerfaserten bunten Lappens einsam und verlassen der Dscheitan-Friedhof.
Dort regte sich nichts, dort war nichts von Gegnern mehr zu bemerken, bis dorthin konnten wir vielleicht gelangen, wenn wir die Reittiere rücksichtslos abhetzten.
Und das taten wir …
Es war die einzige Chance …
Ob es überhaupt eine Chance war, mußte ich bezweifeln. Aber ich durfte Zodaide die Hoffnung nicht rauben …
So jagten wir denn dahin, stumm, nur auf den Boden achtend, nur jedem Hindernis ausweichend, damit keins der Maultiere strauchelte.
Der graugelbe Wüstenboden flog nur so unter uns dahin, – Dornenhecken, Felspartien, kleine Büsche flitzten vorüber wie Telefonstangen für einen Blitzzugreisenden.
Schakale gingen flüchtend auf und davon, Antilopen desgleichen, ein faules Stachelschwein lag im Sande wie ein Stecknadelkissen, – – in Sekunden waren die Eindrücke verwischt …
Und wo war der Almani Marschallah mit Weib und Kind?! Bereits abgefaßt, bereits niedergeschossen? – – Ich drehte mich im Sattel um …
Die Schere klappte zu …
Ganz langsam …
Die Schere drückte uns vorwärts, – – es war eine Schere, und vor uns türmten sich die über den Dscheitan-Friedhof hinausragenden Spitzen bereits nach innen …
Das bedeutete nur eins: Zagru wollte uns auf den Dscheitan-Friedhof zutreiben, – dort sollten wir sterben, wo einst Justus Hubard die Verräter nach ehrlichem Kugelwechsel so pietätvoll beigesetzt hatte …!
Näher und näher kam die Steinmauer mit ihren stellenweise buntbetupften, überwucherten Teilen, näher und näher kamen aber auch die nur im Trab reitenden Farsi, – – wie auf dem Exerzierplatz …
Und die starren, stummen, rostbraunen Berghäupter ringsum spielten die Zuschauer. Sie hatten vielleicht schon ganz andere Dinge gesehen, als diese raffinierte Einkreisung, als diese Menschenjagd …
Unsere Maultiere keuchten, schnoben, schwitzten, warfen Flocken aus dem halb offenen Maule.
Auch Zodaide schaute sich um …
Dann blickte sie mich an, und dieses Kind der Berge mit dieser abenteuerlichen Vergangenheit hatte harte Falten um den jungen Mund und hatte die Augen ganz schmal gekniffen und lächelte verächtlich … Ihre Wangen waren bleich, von feinen Schweißperlen bedeckt, – in dem Blick lag aber noch mehr als nur die Erkenntnis, daß wir verloren seien, – der Blick schimmerte in den tiefsten geheimen Winkeln ein bitteres Verzichten wieder, das aus dem hoffnungsfreudigen Herzen eines liebenden Weibes sich an die Oberfläche drängte.
Arme kleine Zodaide, deine Gedanken gehören dem Manne, den du liebst, und dieser Mann ritt mit seinen Beamten davon und mit dem Haftbefehl gegen dich in der Tasche … – Eine große, große Tragik war das alles, und das Ende der Tragödie nahte nun mit Riesenschritten.
„Zodaide, – – zurück, – – die Mauer ist besetzt, – – dort hinter die Felsen …!“
Drei Felsblöcke standen da dicht nebeneinander, boten zwischen sich Raum für die Tiere, boten uns Deckung, standen auf einem kleinen Hügel etwa hundertfünfzig Meter vom Dscheitan-Friedhof entfernt. Der eine Block, der höchste, mit breiter bewachsener Kuppe, nahm uns schützend auf und ward unser Aussichtsturm … Ich hatte Zodaide emporgeholfen, ich hatte bereits gemerkt, daß der edle Wildesel Zagru auch diese Felsen in seine heimtückische Spekulation mit als Gewinnposten eingesetzt hatte: Rund um die Felsen trockene Dornenhecken, hohe, dürre Grasbüschel und jene fahlgraue, dicke Flechte, die in den Salzsteppen besonders auf den härtesten Bodenstellen am meisten gedeiht und die wie Zunder brennt, denn ihr Name Salpeter ist ja nur ein von den Persern verpfuschtes internationales Wort: Salpeter, – – die Salpetari liebt eben den salpeterhaltigen Steppenteil!
Kein Schuß fiel, nichts …
Aber die Schere klappte zu, und drüben auf der bewucherten Friedhofsmauer winkten höhnisch Flintenläufe … Die Einkreisung war beendet, – was würde werden?! Wollte Zagru uns ausräuchern, in den giftigen Qualmwolken der Salpetari ersticken?!
„Olaf …!! Dort … dort rechts …, unsere Fichte, – – sie brennt …!!“
Zodaide lag verkrümmt neben mir, hatte den Kopf gedreht. Ich schaute hin, – – ja, die Fichte brannte … Die geschmeidige Krone, mit den überreichen Harzkrusten, – – sie brannte bis oben hin lichterloh als qualmende Fackel, und der Qualm sammelte sich über ihr zu einer immer dichteren Wolke, die nur träge mit dem schwachen Winde gen Süden sich langreckte.
„Olaf, – – Zagrus Signal zum Angriff!“, flüsterte das Mädchen heiser und legte die Patronenrahmen für ihre Büchse neben sich. „Olaf, – – worauf warten wir?! Ich sehe dort über der Mauer einen Kopf, und …“
„Schießen Sie nicht, Zodaide!!“
Ich hatte etwas anderes entdeckt … Ich hatte an die Worte des Marschallahs von dem „Signal“ gedacht, und mir schien es, dieses Signal wirkte bereits.
Zagrus gesamte Reitermacht umgab in recht engem Kreise den Dscheitan-Friedhof und unsere Felsen. Aber jenseits dieses Kreises gewahrte ich in der Ferne neue kribbelnde Ameisen, auch einen ganzen Kreis, und zwischen diesen eilfertigen Pünktchen bemerkte ich größere, enger zusammengeballte … Mein Fernglas zeigte mir, daß diese engeren Pünktchen schmale, zweirädrige Wagen mit je einem Anhänger waren …
Ein Schuß zerstörte die atemlose Stille, – die Kugel kam von der Mauer her, – – eine Salve knatterte, – – über uns hinweg fegte die bleierne Saat ins Leere, und dann erstarb das Geknatter ebenso jäh, eine Stimme löste das grimme Bellen der Schüsse ab, – – es war Zagru, der seinen Henkern eiligst Gegenbefehl erteilte.
Edler Wildesel Zagru, wie ließest du damals doch so wunderbar deinen Gaul vor den Deinen tänzeln, wie stiertest du ringsum, als ob dort die Hölle sich geöffnet und all ihre Dscheitans losgelassen hätte, nicht nur wie früher den einen, den Almani Dscheitan, der euch diesen Friedhof vor die Nase baute! Armer Wildesel Zagru, – der Mann, der dort ganz allein aus der Richtung des Turmes auf euch zugeritten kam, den scheint ihr verdammt gut zu kennen, der nahte so im flotten Trab, als hätten die gesamten Farsi statt der Gewehre nur Spazierstöcke in den Händen, und er selbst trug nur wieder die schwere Reitpeitsche, er ritt einen vorzüglichen Hengst, dem man das arabische Blut schon von weitem an den dünnen Fesseln und an dem zierlichen Kopf anmerkte … Den Hut hatte er weit zurückgeschoben, die breite Krempe beschattete nichts von diesem wieder wie aus Stein gemeißelten Gesicht, der Wind spielte mit seinem leicht ergrauten Haar, und die etwas zugekniffenen Augen glitten kalt und gleichgültig über die Reihen seiner einstigen Verbündeten hin.
… Ich reichte Zodaide mein Fernglas … Zodaide hauchte nur atemlos: „Der Almani Marschallah!!“
Sie hatte[15] aber auch genau wie ich hinter dem Marschallah jetzt die kleine Kavalkade entdeckt, in der nicht nur die Uniformen der persischen Gendarmerie, sondern auch die hellen Reitanzüge zweier Frauen ins Auge stachen, – – soeben war dieser Trupp aus einer Regenrinne in die Steppe einbogen, der Marschallah freilich war ihnen um gut fünfhundert Meter voraus, und wenn auch für ihn keine direkte Lebensgefahr bestehen mochte, jetzt nicht mehr, – soeben noch war es ein tollkühnes Preisgeben der eigenen Person gewesen, denn Zagru mußte ja erkennen, daß ihm hier jemand eine Falle gestellt hatte, gegen den er als Taktiker nicht aufkam, und sein Haß konnte in unrichtiger Einschätzung der Sachlage sich zu einer folgenschweren Dummheit hinreißen lassen, – – dazu war es nun freilich zu spät, den Marschallah etwa mit einer Salve zu empfangen, wie sie soeben über uns nur hinweggefegt war.
Zu allem war es zu spät, und der Risch e Sefid Shour mit dem weißen Prophetenbarte und dem hageren braunen Fuchsgesicht raunte dem neben ihm aufgetauchten Al Madir, der mit seinem frisch verbundenen Schädel keine Spur imponierend mehr wirkte, hastig irgend etwas zu, das wie ein Befehl durch die Kette der Reiter bis zur Kirchhofsmauer weiterlief und als erlösenden Freibrief gerade noch rechtzeitig die drei Personen erreichte, die Zagru schleunigst nicht noch fernerhin als Belastungszeugen irgendwie reizen wollte.
… Der Marschallah war heran …
Er war da, er hielt keine fünf Meter vor seinem dereinstigen Verbündeten, und er ließ den Blick hierhin und dorthin gleiten, winkte uns mit der Peitsche zu und wandte den Kopf …
Die Kavalkade nahte jetzt in schnellstem Tempo, und bevor wir beide von dem Felsen herabkletterten, überschaute ich nochmals das kriegerische Gesamtpanorama, das sich inzwischen sehr zu Ungunsten der Farsi verschoben hatte. Der weite Kreis der Farsi-Krieger hatte sich gelockert, war zerplatzt, die Leute bildeten einzelne Haufen, die in aller Eile dem Dscheitan-Friedhof zudrängten, um dem anrückenden gefährlichen Gegner, insbesondere den schmalen Wagen mit den schweren Kugelspritzern der Gendarmerie, zu entgehen. Dabei hielt dieser äußere Kreis der Berittenen, auch alles wilde Berggestalten, musterhafte Ordnung, zog sich immer enger zusammen und ließ nirgends eine Lücke entstehen.
Zagru und Al Madir saßen jetzt mit hängenden Köpfen auf ihren Gäulen. Was für eine Art Strafgericht ihrer wartete, bewies ihnen die Vermischung von Gendarmerie mit den Luri-Kriegern, die ja dem Marschallah stets treu geblieben waren. Zodaide hatte mir es zugeflüstert „… Luri!!“, – und damit war das Rätsel dieser so äußerst wirkungsvoll vorbereiteten Abrechnung bereits gelöst.
Noch drei, vier Minuten verstrichen.
Der Marschallah wartete absichtlich.
Vom Friedhofe her nahten Freund Hubard neben Frau und dem alten Dan, dem man ebenfalls einen Verband angelegt hatte, dazu mein Monte. Von links her nahten Zodaide, ich, das muntere Känguruh. Von Osten preschte die Kavalkade heran, vorneweg Freund Sven Oordaal, der uns schon von weitem zunickte und extra für Zodaide einen besonderen höflichen Gruß spendete, der meine kleine Freundin erröten ließ.
„Zagru!!“
Die Stimme des Marschallahs von Farsistan klang wohl hart, aber nicht drohend. „Zagru, seit Jahren habe ich hier als stiller Beobachter dieses Spiel und Gegenspiel beobachtet, – du hast deine Tochter Urusi und deine Enkelin gehetzt, verjagt! Daß Urusi dem Beispiel ihres Gatten folgte und euch zum neuen Schrecknis wurde, ist eure Schuld. Du hast alles getan, dieses Spiel zu gewinnen, aber das Fatum war gegen dich, und das Auftauchen meines alten treuen Gefährten Hubard zwang mich zum Eingreifen. Major Oordaal war eingeweiht, einmal mußte mit dir abgerechnet werden, und selbst deine fragwürdige Ergebenheit gegenüber dem neuen Schah wird dir nichts mehr helfen. Deine Verfehlungen sind erwiesen, ebenso die Al Madirs. Ihr wißt, wie weit die Strafbefugnis des Majors geht, er könnte euch aufknüpfen lassen, aber ich habe die Zeiten nicht vergessen, wo du so manche Nacht neben mir durch die Berge schlichst und mir dientest. Was später wurde, ist aus meinem Gedächtnis gestrichen. Und so habe ich denn den Major gebeten, damit Farsistan in friedlichem Nebeneinanderleben der Bergstämme ein Land ohne gegenseitigen Haß bleibe, er möge Gnade vor Recht ergehen lassen. Eure Strafe trifft deinen Stamm: Ihr werdet eine gewisse Anzahl Weidetiere abzuliefern haben, und an den Neger Daniel werdet ihr ein Schmerzensgeld zahlen. – Das wäre alles, was ich zu sagen hätte, Zagru … Es wird das letzte Mal sein, daß ich zu dir und den deinen spreche: Beherziget, was ihr aus meinem Eintreten für euch erseht – –: Daß mir der Frieden in diesen Bergen höher ging als kleinliche Rache!“
Vielleicht gab es in einem Winkel der verhärteten Seele Shour Zagrus doch noch einen weicheren Fleck, vielleicht war es nur Klugheit und Heuchelei von ihm, – ich will es nicht entscheiden.
Jedenfalls klangen seine Dankesworte aufrichtig, und vielleicht wäre seine blumenreiche Antwort bis ins Uferlose ausgedehnt worden, wenn nicht urplötzlich mein Monte mit einem wilden Heulen und Blaffen auf einen Farsi losgestürzt wäre, der drei junge, fast ausgewachsene, sehr wolfsähnliche Hunde an der Lederleine neben sich hatte.
Diese lärmende Begrüßung zwischen Papa Monte und seinen Sprößlingen, deren Quieken und Jaulen durch das ebenso jäh auflebende Geheul der diversen Meuten der Farsi und Luri zu einem ohrenzerreißenden Konzert wurde, beendete des edlen Wildesels Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit triefende Rede so plötzlich, daß Freund Sven nachher, als längst die Lagerfeuer die weite Steppe belebten und als wir vor dem großen Frauenzelt in weitem Kreise beieinandersaßen, meinen Monte den Kopf streichelte und dabei lächelnd und vertraulich zur kleinen Zodaide sagte:
„In diesem Hundehirn mit seinen Urinstinkten spiegelt sich die Welt vielleicht klarer und unbefangener als in so manchem Menschenkopfe. Wenn Zagru noch länger geredet hätte, wäre ich vielleicht grob geworden … Wie wäre es, wenn wir Monte und seine Sprößlinge noch durch einen Spaziergang belohnten, Fräulein Zodaide? Die Farsi sind ja längst unterwegs nach ihren Dörfern, und irgend eine Gefahr besteht für uns nicht mehr. – Olaf, du hast doch nichts dagegen einzuwenden, daß wir deine vierbeinige Familie mitnehmen?“
„Seid trotzdem vorsichtig!“, warnte des Marschallahs Stimme von der anderen Seite des Feuers her …
Ich blieb noch eine Weile sitzen. Ich kam mir in diesem Kreise glücklicher Menschen sehr überflüssig vor. So schlenderte ich denn gleichfalls durch das Lager, beobachtete das Tun und Treiben der Luri, die sich äußerlich nicht viel von den Farsi unterschieden, behielt jedoch stets das Paar vor mir und Monte nebst Nachwuchs im Auge und schlug nachher eiligeren Schrittes einen weiten Bogen. Zodaide und Freund Sven strebten durch die mondhelle Steppe dem alten Turme zu, und auch mich zog es zu der verkohlten Kiefer, die der Marschallah als Fackelsignal in Brand gesteckt hatte. Ich wußte ja, daß ich morgen früh kaum mehr Zeit finden würde, diese Stätte zu besuchen, die für mich mit so mannigfachen Erinnerungen verknüpft war. Morgen würden wir bereits unterwegs zur Küste sein, und Freund Hubards Schoner „Zodaide“ würde auch mich mit sich nehmen und irgendwo absetzen – irgendwo in der Einsamkeit … Und dann würden auch diese Menschen, die hier meinen Abseitspfad gekreuzt hatten, sehr bald für mich nur verblaßte Gestalten von Einst sein, bis auf den einen Mann, den man nicht so leicht vergaß: Den Marschallah von Farsistan!
Ich klomm den Abhang hinan, ich stützte mich dabei auf meine Büchse, ich vermied wie stets jedes Geräusch, und als ich schräg über der geschwärzten Baumleiche auf der Höhe des Bergrückens stand und nun die Steppe im milden Mondlicht mit ihren zahllosen roten Feuerpünktchen vor mir hatte, gewahrte ich auch Zodaide und Sven und mein übermütiges Tiervölkchen, das lärmend und lebensfroh denselben pfadlosen Weg emporkam und das sich wenig um den Mann und das Mädchen kümmerte, die längst eng umschlungen durch die stille Nacht einem gemeinsamen Leben entgegenträumten und mir nur wieder zum Bewußtsein brachten, wie wundervoll schön das eine ist: Jung sein, – jung sein und ein Glück zu zweien finden, das restlos alle Sehnsucht befriedigt …!
Jung sein?! Glück finden?! …
Da habe ich wohl gelächelt, – so, wie die Männer lächeln, die sich selbst genug sind, denen die unberührte Natur alles zu ersetzen vermag …
Vielleicht ist dieses Lächeln das der Starken, – oder nur derer, die mit dieser glutvollen Abenteurernatur im Abenteuer einen tieferen Sinn des Daseins entdecken als etwa in einem geruhsamen Alltag, der mit … Gicht, Filzschuhen, Briefmarkensammeln und … Kriegervereinsabenden endet.
… Da standen sie nun neben der großen Fichte, dieses Mädel mit dem tapferen Herzen und dieser mein Jugendfreund, – – und küßten sich … Und sahen nicht einmal, daß plötzlich Jupp, das Känguruh, in komischen langen Sätzen gleichfalls daherkam, um ja nichts zu versäumen, was irgend die geliebte Herrin anging …
Und da sah ich, der im Schatten lehnte, wenige Schritte neben mir eine lautlose Gestalt dahinhuschen mit weißem Verband um den Kopf und mit einer Waffe in den Händen, die von den Farsi nur noch bei der Jagd auf die scheuen Wildschafe benutzt wird, – mit einem langen Bogen aus Antilopenhörnern und einem Köcher voller Pfeile …
Al Madir!! – Schon war er vorüber, flinker als ein Fuchs, heimtückischer als eine Schlange … Gestrüpp und Felsen entzogen ihn mir, und bevor ich noch dazu kam, einen Warnungsruf auszustoßen, erblickte ich zwanzig Meter tiefer den meuchlerischen Schützen mit gespanntem Bogen, riß die Büchse hoch, hob sie, … und irgendwoher flog da eine gelbliche Linie durch die Luft, ein Tierkörper, und Mann und Raubtier versanken im Schatten, – – unten an der Fichte bellte mein Monte in scharfen Lauten, das Liebespaar wandte die Köpfe, und aus dem Schattenkegel der Dornen sprang mit einem einzigen Satze Hubra, der Leopard, auf einen mondbeschienenen Stein, stimmte das unheimliche Konzert seiner Familie an und entschwand nach einem letzten klagenden Abschiedsschrei für immer im Dickicht … Fernher dann nochmals dieser wimmernde, seltsame Ton, – – fernher, – – und da beugte ich mich bereits über Al Madirs Leiche, richtete mich wieder auf und schritt dem Paare entgegen …
„Es war Hubra, kleine Zodaide“, log ich lächelnd …… „Ich will euch beiden nur meine Glückwünsche aussprechen … – – Hallo, Monte, – – hierher!! Nicht herumschnüffeln, Monte …! Du kommst mit …! – Und viel Vergnügen noch euch beiden …!“ Ich nickte dem Paare zu, und die Steppe nahm mich wieder auf … – –
* * *
Das war einmal … – Heute gurgeln die Wogen des Indischen Ozeans an den Bordwänden des Schoners entlang, heute lehne ich mich beim Schreiben zurück, gönne der Feder Ruhe und gedenke der Abschiedsstunde an der persischen Küste, als der Almani Marschallah von Farsistan mir die Hand drückte … – –
Ich habe diesen Weg ins Abseits einem bisher Namenlosen gewidmet.
Der Name des Almani Marschallah von Farsistan lautet: Georg Waßmus.
Er war der große Gegenspieler des berühmten Engländers, des Obersten Lawrence … Er wird nun wieder als friedlicher Farmer dort im bescheidenen Heim an der Karawanenstraße nach Schiras mit den Seinen friedlicher Arbeit nachgehen … Sein letztes Auftreten als Marschallah war bereits ein Werk des Friedens, der Versöhnung!
… Freund Hubard brüllt draußen an Deck, daß es Zeit sei, zum Mittagessen … Ich packe die Blätter weg, – mein Lied ist aus, aber als ich die Tür öffne, stürmt mir eine wilde Horde freudebellend entgegen …
„Ruhe, Monte!! Wollt ihr mich denn zerreißen?!“
… Es hilft nicht viel …
Das Lied ist doch noch nicht aus … Es wird wieder einen neuen Vers finden, und in die Melodie dieser neuen Strophe wird sich wie hier das Freudengeheul meines Getiers als lebensprühende Töne mit hineinweben, – – irgendwo, irgendwann …
Aber: Es wird …!!
Nächster Band:
Anmerkung des Verlages:
Wir möchten darauf hinweisen, daß der einstige Almani Marschallah von Farsistan im Februar 1932 in Persien verstorben ist, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben. Seine letzten Lebensjahre waren abermals reich an Enttäuschungen, sein Farmbetrieb rentierte sich nicht, zuletzt hatte er eine Tankstation und eine Lebensmittelhandlung in seinem bescheidenen Heim eingerichtet[16] und verdiente besonders durch einen Traktor das Nötige. Sobald die Karawanenstraße infolge der Regengüsse für Lastautos unpassierbar wurde, kam er den steckengebliebenen Wagen mit seinem Traktor zu Hilfe. – So endete ein Mann fern der Heimat, dem die anderen Bergstämme außer den Farsi genau dieselbe Achtung und Verehrung zollten wie seine wahren Gegner aus dem Weltkriege, die Engländer, – so endete er: Enttäuscht, verbittert, vergessen … Nur ganz wenige Zeitungen hielten es für notwendig, seines Todes zu gedenken. Die Einzelheiten seines heroischen Kampfes gegen England auf so exponiertem Posten in einem Buche festzuhalten, hat noch niemand unternommen, während über seinen Hauptgegner Lawrence, den geschickten, rührigen und ebenso tollkühnen Aufwiegler der Araberstämme jenseits des Golfes von Persien, eine ganze Literatur entstanden ist.
Anmerkungen: