Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 44 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
Die Luft brodelte vor Hitze, obwohl die Sonne nur wie ein grauer Fleck hinter dünnem Gewölk wie bei einer Sonnenfinsternis am Himmel schwamm.
Die engen Gassen von Blacktown hauchten Pestdünste aus, – aus den Eingeborenenhütten mit ihren fensterlosen Fronten kamen die widerlichen Gerüche von Armut, Elend, Not, – die Häuser selbst schienen in dieser betäubenden Glut stinkenden Schweiß abzusondern, und doch waren die unseligen Bewohner dieser Massenquartiere lebendiger denn je, – wildes Haßgeschrei kreischte in grimmen Fanfaren empor, und der Tempelplatz, auf den diese Elendsgasse mündete, bildete ein einziges Gewoge kämpfender, fanatischer Leiber, gegenüber deren besinnungsloser Wut die Polizei machtlos war.
Spitze Todesschreie gellten, braune Menschen sanken zusammen, Blut färbte das schmutzige Pflaster, hier und dort blaffte ein Schuß …
Aber in stumpfem Behagen saßen droben auf den Dachfirsten die lebenden Wahrzeichen der Riesenstadt Bombay: Nackthalsige Aasgeier!
In stumpfer Ruhe trotteten ein paar heilige Kühe durch die Schwärme der Haßbesessenen …
Und ähnlich gleichgültig lehnte dort an einer Hauswand eine aufreizend elegante Frau, unbekümmert, selbstsicher, etwas hochmütig, und all die geifernden Weiber ringsum und die noch frecheren Rangen entlockten ihren grauen Augen nur einen Blick, vor dem die sinnlose Menge scheu zurückwich …
Sie beobachtete …
Sie studierte den religiösen Fanatismus dieser Ärmsten, die, aufgehetzt durch gewissenlose Priester, wieder einmal aneinander geraten waren, – Hindu und Mohammedaner …
Ein gewohntes Bild für Bombay.
– Die Frau hatte den Tropenhelm mehr zurückgeschoben, und das Bambusstöckchen in ihrer Hand federte spielerisch hin und her.
Wieder gellte einer der aufpeitschenden Todesschreie über den Platz, dessen Mitte der uralte kleine Brahmatempel einnahm, und urplötzlich fluteten die Bekenner Mohammeds fluchtartig zurück vor einem eintönigen Geknatter, – ihre Toten und Verwundeten schleppten sie mit sich, stiere, vorgequollene Augen aus haßverzerrten Gesichtern streiften die Europäerin, der ganze Schwarm bog in die Gasse ein, und wie auf ein geheimes Zeichen packten fünf, sechs Kerle nach der weißgekleideten schlanken Gestalt, prallten zurück, denn wie ein funkelnder Sonnenstrahl fegte etwas Blankes über ihre halbnackten Leiber, und der elegante spielerische Spazierstock zeigte seine Seele aus scharfem Stahl …
Sekundenlang Stille …
Dann ein Gebrüll, daß selbst die faulen Aasgeier erwachten …
Ein Stein knallte neben dem Kopf der Frau gegen die Lehmwand …
Ein zweiter …
Sie duckte sich, eilte in einen Hauseingang, weil eine Stimme, die ihr Vertrauen einflößen mochte, ihr dazu geraten hatte. Sie schob sich an dem Manne vorüber, der die offene Tür deckte, und sie hörte im Vorüberhuschen nur ein hartes, vorwurfsvolles: „Wie leichtfertig!!“
Der Mann, der so ihr Retter wurde, trug einen Anzug und einen Turban, die über seine Rassenzugehörigkeit nichts verrieten, zumal auch Gesicht und Hände kupferrot-bräunlich schimmerten. Vielleicht hätte die kühne Nase dieses Trugbild zerstört, aber der Fremde war in diesem elendsten Elendsviertel der Eingeborenenstadt seit Wochen gut bekannt, sein Zelt stand drüben neben der Basarstraße auf der Wiese neben vielen ähnlichen Schaubuden, und die Bewohner der Gasse fürchteten ihn, da er nie allein war, und achteten ihn, da er für die Kinder und Greise eine offene Hand hatte.
„Laßt die Frau ungeschoren“, sagte er ohne schärfere Betonung. „Wollt ihr aufgeknüpft werden? Geht heim … Ihr seid Narren!“
Als ob des Mannes seltsame Freunde diesen Verweis an die fanatischen Tollhäusler unterstreichen wollten, – –: Mit einem Male hoben sie die Köpfe und stimmten ein langgerecktes Geheul an, das wirkungsvoller war als die Feuerspritze, mit der jetzt die Polizei den Tempelplatz räumte.
Der Mann schloß die Tür des Hauses, das er und sein augenblicklicher Geschäftsfreund gemietet hatten, und folgte samt seiner vierköpfigen Meute der weißen Frau, die derweil durch den Flur sich auf den kleinen Hof getastet und auf dem Rande eines verfallenen Brunnens Platz genommen hatte.
Sie war sehr bleich geworden, sie schaute dem Manne entgegen, und ihre farblosen Lippen zuckten und in ihren Augen stand das Grauen zu lesen vor dem Tode da draußen, dem sie nicht entgangen wäre.
Ihre starken Nerven streikten.
Sie hatte sich zu viel zugemutet, und sie schämte sich ihres Leichtsinns, denn sie war stolz darauf, jede Handlung kühl abzuwägen.
Erst gestern war sie in Bombay eingetroffen, Indien war ihr nicht fremd, sie hatte ihre Jugend droben an der Grenze Nepals verlebt, wo ihr Vater einen hohen Regierungsposten halb als Wissenschaftler, halb als Beamter bekleidet hatte.
Darüber sprach sie nun zu dem Manne, dessen wolfsähnliche Rüden japsend im Grase lagen, und ihre Dankesworte waren ebenso kurz und knapp gewesen, und gerade das hatte dem hochgewachsenen sehnigen Fremden so gut gefallen.
Er liebte keine überflüssigen Phrasen.
„Und Sie selbst?“, fragte Miß Everton genau so ohne Umschweife. „Mein Freund, man darf die Verschlossenheit auch nicht übertreiben. Die letzten Minuten geben mir ein Recht: Wer sind Sie?“
Der Anflug eines Lächelns ging über die braunen hageren Züge des Mannes hin.
„Zur Zeit … Schausteller, Dompteur, Miß Everton. Vor drei Monaten noch – – nun, sagen wir: Abseitswanderer in Persien, in Farsistan … Nach Monaten vielleicht Insulaner oder wieder Weltentramp … Ich lasse mich vom Schicksal treiben. Mein Dasein kennt weder Ziel noch Weg, ich gehöre nur mir selbst und meinen Tieren …“
Ethel Everton hatte sich schnell erhoben.
„Farsistan?! – Es stand in den Zeitungen … Dann sind Sie Olaf Abelsen!“
„Ich bin es, gewiß … Aber ich darf es nicht sein.“
„Ich weiß, ich kenne Ihre Vergangenheit …“ Sie wurde immer erregter. „Könnte ich Sie heute um zwölf sprechen? Abends ist doch der sogenannte Vergnügungspark hinter der Basarstraße bis elf geöffnet, und Sie sind beschäftigt, nehme ich an.“
Dieses Mädchen – etwa Mitte Zwanzig konnte sie sein – hatte etwas eigenartig Bezwingendes in Sprechweise und klarem Blick.
„Hätten Sie denn eine andere Beschäftigung für mich?“, fragte ich mehr der Höflichkeit halber und mit harmlosem Spott.
„Wahrscheinlich … Ich muß es mir erst überlegen.“
„Sie hätten sich heute rechtzeitig eines überlegen sollen: Daß die Eingeborenenstadt nichts für junge Damen ist“, warnte ich nochmals. „Im übrigen, – wo wohnen Sie?“
„Edward Hotel … Ich werde um Mitternacht in den Anlagen dicht vor dem Hotel sein. Ich wünsche nicht, daß unsere Zusammenkunft auffällt. Ich muß jetzt zurück, führen Sie mich bitte nach der Nebengasse, dies ist doch ein durchgehendes Haus.“
Ethel Everton, an Befehlen wohl gewöhnt, hatte sich halb umgewandt.
Sie sah, was ich längst gesehen, und sie gab dem Druck meiner Faust sofort nach.
Wir sanken zusammen, wir kauerten hinter dem Brunnenrand, und ein kurzer Pfiff ließ dafür meine vier Freunde emporschnellen. Monte, gefleckt wie ein Kalb, und seine drei Südpolarsprößlinge hetzten aufheulend über den kleinen Hof, sausten an der Mauer hoch, fielen zurück und knurrten dumpf.
Ethels leicht gebräunte Wangen hatten sich tiefer verfärbt.
„Was war das?!“, stieß sie etwas atemlos hervor.
„Ein Feind, Miß Everton …“
Ich richtete mich auf, und die dürre Palme, die neben dem Brunnen wuchs, und deren Stamm Ethel gedeckt hatte, zeigte noch immer den grünen Fleck, als ob dort ein Büschel Wolle in die Rinde eingeklemmt wäre.
„Bitte …!“
Meine Handbewegung besagte alles.
Das Mädchen lachte hart.
„Galt das mir?“
„Bestimmt, Miß Everton … Der Kerl hatte eine Luftpistole und war ein glänzender Schütze … Früher operierte man in Indien gern mit Giftschlangen, aber die Zivilisation macht auch hier Fortschritte … – Haben Sie Feinde?“
Sie preßte die Unterlippe hinter die weißen Zähne.
„Ja. Aber nicht hier … Weiter im Norden …“
„Nepal?“
„Und China, Mr. Abelsen … War der Mann in der Dachluke ein Nepalese?“
… Achselzucken … „Er war allzu bärtig, Miß … – Kommen Sie nun, es hat keine Gefahr mehr …“
Wir schritten vollends über den kleinen verwahrlosten Hof, ich öffnete die Tür des Hauses, in dem Freund Barralt mit seinen zahmen Kakadus wohnte, und Miß Everton verschwand in der nächsten belebten Basarstraße.
„Hallo, – – Tom!!“
Der kleine Kakadudresseur fuhr von seinem Lager hoch, und eine Wolke Schnapsdunst umwehte mich. Barralts bartloses Mumiengesicht triefte von Schweiß. Er trug einen ganz leichten seidenen, überbunten Schlafanzug, und seine schwarzbehaarte Brust bildete einen blanken Bach für Ströme von Schweiß.
„Schon Zeit, Abelsen?!“, fragte er blinzelnd.
„Nein … Noch nicht ganz …“
Ich zog einen Klappstuhl heran.
Ein Luxus für diese Bude …
Toms Kakadus im Nebenzimmer hatten die geliebte Stimme ihres Herrn vernommen und begannen zu kreischen, mein Viehzeug stimmte mit ein, und Tom lachte Tränen … Nichts vergnügte ihn so sehr wie dieses Konzert unserer Geldverdiener, und je lauter die Bande sich meldete, desto angenehmer war es ihm, – schon der Reklame wegen.
Ich fingerte an meiner Pfeife umher …
Ich machte mir so meine besonderen Gedanken …
Als der Lärm nachließ, war auch Toms gute Laune hin.
„Zum Teufel, weshalb wecken Sie mich denn, Abelsen?! Bei der Hitze!!“
Ich hatte meine Gründe, nichts zu verschweigen. Ganz abgesehen davon, daß Tom Barralt es gewesen, der mir den Vorschlag des Kompagniegeschäftes unterbreitet hatte. Ich mußte ihm noch dankbar sein, daß er mich aufnahm, denn die Polizei war wieder einmal scharf hinter mir her, und der bewußte Steckbrief hatte Neuauflagen erlebt. Hinter dem Schaubudenbesitzer Kaspar Bell suchte mich niemand.
Tom hörte gelangweilt zu und liebäugelte mit der Whiskyflasche.
„Also ein Blasrohrpfeil, und natürlich vergiftet“, gähnte er maulfaul. „Nun, – wenn schon! Was geht Sie die Miß an?! Weiber bringen Unglück … – Werden Sie hingehen?“
„Ja … Abends zwölf Uhr … Das Mädchen ist besonderer Art …“
Barralt grunzte verächtlich.
Damit war die Sache vorläufig abgetan.
Alles, was Europa an alten Karussells und an sonstigen Rummelplatzattraktionen hatte abstoßen wollen, war von einem findigen Unternehmer auf einen uralten Dampfer verfrachtet worden und beglückte nun seit Wochen die Hafenstadt Bombay. Mr. Sam Livingstone, der Obermacher, hatte bei den angloindischen Behörden das weitestgehende Entgegenkommen gefunden. Denn die Polizei hoffte, durch diesen Vergnügungspark die stark erhitzten Gemüter von Blacktown etwas abkühlen zu können.
Dieser famose „Auswanderersteamer“ des Herrn Sam war mir so von ungefähr rechtzeitig in den Weg gelaufen, als ein englischer Kreuzer den Schoner „Zodaide“ allzu neugierig ausgefragt hatte.
Wie gesagt: Steckbrief!!
Wäre die Tropennacht damals nicht so dunkel gewesen, würde man mein kleines Boot erwischt haben, und als die Geschichte wieder brenzlicher wurde, ratterte der Rattenkasten des geschäftstüchtigen Sam herbei, und da auch Tom Barralt noch munter war, wurde die Sache sofort schriftlich festgelegt, und mein Viehzeug, das ich auf der „Zodaide“ aus Langerweile dressiert hatte, öffnete mir den Weg nach Bombay.
Es war eben einmal ein ganz neuartiger Abseitspfad, und ich griff zu.
– Schaubudenmitinhaber …!!
Wer hätte sich das träumen lassen …
Und allabendlich von sieben bis elf Uhr mußten Freund Monte und seine Wolfssprößlinge durch Feuerreifen springen und sonstigen Unsinn treiben.
Nun aber hatte diese mir längst widerwärtige Blamage – das war es! – ein anderes Aussehen bekommen. Meine Tiere und ich, an Freiheit, Weite und Menschenleere gewöhnt und jetzt geradezu deklassiert, würden vielleicht eine bessere Aufgabe finden … –
Tom Barralt löschte die Lichter des Zeltes, packte seine gelehrigen Kakadus in den großen Käfig, und wir kehrten heim nach der Elendsgasse, wo wir das leere Grundstück für einen Spottpreis gemietet hatten.
Tom wünschte mir brummig Gute Nacht, ich betrat meine Baracke, sperrte die Hunde ein und zog mich bei verhängtem Fenster um.
Fenster?!
Ein Mauerloch …!
Die Wolldecke wehte hin und her, flatterte, und nach einigem Überlegen holte ich meinen Monte und schickte ihn auf den kleinen Hof.
Ich hatte den Luftpistolenpfeil gründlich untersucht, ich wußte, was die harte Glasur der nadelscharfen Spitze zu bedeuten hatte, und für irgend eine Art Gift schwärmte ich nur zuweilen … in Form von Alkohol.
Daß meine Vorsichtsmaßregel berechtigt gewesen, bewies mir Montes zweimaliges drohendes Knurren, – – zweimal löschte ich die Laterne, lüftete die Fensterdecke und spähte auf den kleinen Hof hinaus. Ich sah nichts. Ich wunderte mich auch nicht weiter darüber, ich hatte dem Giftschützen durch Monte das Geschäft verdorben, und die Totenstille des im Mondlicht dahindämmernden Hofraumes erhielt lediglich durch die Gestalten der regungslos auf der Mauerkrone schlafenden Aasgeier, die großen Metallfiguren glichen, einen romantischen Schimmer.
Alles andere war nicht Romantik, sondern niederträchtigste Heimtücke, und ich sehnte schon jetzt die Stunde herbei, wo ich mit den feigen Burschen abrechnen könnte.
– Nun war ich soweit, zuletzt schob ich die Brieftasche in den weißen Tropenrock, die prall gefüllt war.
Ich lächelte dabei etwas bitter.
Nicht alle Weltentramps sind arm. Mochte ich das Geld auch verachten, es gab immer einmal eine Gelegenheit, damit Gutes zu stiften, und in meinen Wanderjahren war mir der schnöde Mammon zuweilen förmlich aufgedrängt worden. Tom Barralt ahnte nichts davon, er hätte große Augen gemacht, und mein Lächeln galt ihm und dem Gedanken, daß ich den Rest meines Lebens sehr gut irgendwo als Rentner in einer Villa hätte zubringen können, – als Nichtstuer, irgendwo zwischen den Herdenmenschen, die mir fremd geworden.
Fremd war das ganze Treiben einer Welt, die in allen Fugen kracht, weil ihre Bewohner jeden inneren Halt verloren haben …
Fremd wie die trügerische Reinheit dieses meines Tropenanzuges, in dem ich mich in der sogenannten allerbesten Gesellschaft sehen lassen könnte.
– Ich rufe Monte wieder ins Haus, und da er schon häufiger auf dem Hofe nächtliche Jagd auf Ratten veranstaltet hat, wird der Pistolenschütze kaum argwöhnisch geworden sein.
Ein Blick fliegt über die armselige Behausung … Ein Blick, der sich festsaugt an dem langen dolchartigen Messer, das dort in der Ecke am Büchsenlauf in seiner Lederscheide hängt.
… Eine Pistole macht Lärm, – – auch das Messer schiebe ich in den Rock. Man kann nie wissen … Die Dinge sind hier denn doch allzu fragwürdig.
Kaum eine halbe Stunde später sitzt ein Europäer in tadellos weißem Dreß, dessen Flecke durch Kreide sorgsam übermalt sind, in den prächtigen mondhellen Anlagen vor dem Hotel Prince Edward auf einer Bank unweit der großen, plätschernden Fontäne, deren riesiger Wasserspeier, ein Elefant mit erhobenem Rüssel, sich dem tropischen Bilde der Palmen und anderer Baumarten der heißen Zone sowie der duftschwangeren Büsche geschmackvoll anpaßt.
Der Europäer raucht seine Zigarette und scheint nur den verwehten Klängen der Musik zu lauschen, die von der vornehmen modernen Karawanserei herüberschallt.
Bombays Nachtleben im luxuriösen Europäerviertel ist nach diesem glutheißen Tage erwacht. Vor dem Hotel parken lange Reihen von Autos, – andere Kraftwagen flitzen mit diskreten Hupensignalen über die glatten Straßen, in den sorgsam gepflegten Anlagen schlendern Modeblattfiguren hin und her, heiteres Lachen quirlt wie das Plätschern der Fontäne, – – aber vom Hafen herüber, von den Docks und Werften, ertönt das Pochen der Niethämmer, das Heulen der Sirenen, das Aufkreischen von Polizeibooten …
Der Indische Ozean spendet etwas Kühlung. Die Nachtbrise ist kräftiger, die Palmen schütteln knisternd ihre großen Wedel, und der einsame Mann auf der Bank neben der Fontäne löst kein Auge von den im Mondschatten pechschwarzen Rändern der Gebüsche, die den gelben Promenadenweg zum Hotel umsäumen.
Nichts entgeht ihm … Nichts entgeht mir … In meinem rechten Ärmel steckt längst das entblößte Messer, Spitze nach unten, und mein rechter Arm ruht lässig auf der Lehne der hellen Bank.
Wenn ich mir diese Umwelt wegdenke, wenn ich die aufdringlichen Zeichen der Zivilisation streiche und mir vorstelle, ich kauerte hier hinter einem Busch an der Lichtung eines Urwaldes, dann bin ich wieder der, der ich immer war: Abseitswanderer mit wachen Sinnen, mit Glutodem der Abenteuerlust im Blute, mit geübten Augen, mit einem trainierten Gehör.
… Drüben bewegt sich ein Ast …
Zu auffällig … Zu ungeschickt …
Etwas wie ein matter dicker Streifen verdirbt das freudige Einerlei von Blüten und Blättern.
Zur gleichen Zeit naht vom Hotel her eine schlanke Frauengestalt, um den Kopf einen Schleier gewunden, der bis zur Nasenspitze fällt.
Zur gleichen Zeit erscheint wieder der matte dicke Strich im Blattgewirr …
Elastisch, federnden Ganges nähert sich die Frau, und mein rechter Arm schnellt zurück, schnellt vor, und durch den Mondschein zuckt ein kreisender eiliger Streifen, – die kreisende Bewegung wird schwächer, und ein blanker Blitz fährt in das Gesträuch …
Ein kaum hörbarer Schrei, ein Rauschen von Ästen, – – Stille …, – und die Frau schreitet an mir vorüber.
Es ist nicht Ethel Everton.
Nein, – nur eine andere, die freudig von einem Herrn begrüßt wird.
Mir gleichgültig … Vielleicht ein Flirt, ein kleiner Ehebruch …
Ich warte …
Und als die Zeit verrinnt, als die Uhr fast eins zeigt, stehe ich vor dem Portier. Eine Banknote löst spröde Lippen …
„Miß Everton ist heute abend sieben Uhr mit einer von ihr gemieteten Jacht samt Sekretär und Zofe nach Ceylon abgedampft …“
„Und die Reederei der Jacht?“
„Firma Roß, Sir …“
Ich bedanke mich, schlendere davon, und als ich ein Autotaxi heranwinken will, das mich zu den Kontoren der Firma Roß bringen soll, legt mir jemand die Hand auf die Schulter.
„Einen Augenblick, Mr. Abelsen … Ethel Everton ist nicht nach Ceylon gefahren, sie wollte nur ihre Spur hinter sich verwischen, die Jacht liegt bereits wieder im Hafen, die Dame benutzte den Expreßzug nach dem Norden, nach Agra. – Bitte, kommen Sie in die Anlagen, die jetzt ungefährlich sind, nachdem der Mann entfloh, dem Ihr Messer den Arm streifte. Ein tadelloser Wurf übrigens …“
Vor mir steht ein Gentleman in Khaki, sehr scharfe Züge, sehr blanke lustige Augen …
„Milton heiße ich, Botaniker … Kommen Sie!“
Ich bin etwas benommen.
Bombay schenkte mir zu viel Unerwartetes in den letzten Stunden.
Wir sitzen dann auf derselben Bank.
„Bitte, Mr. Abelsen, hier ist Ihr prächtiges Messer … Der Bursche hat viel Blut verloren, war aber flink wie ein Fuchs.“ Milton bietet mir eine Zigarette an. Auf dem goldenen Etui blitzt eine Krone in Diamanten über einem großen Monogramm.
„… Ich war heute ebenfalls in der stinkenden Gasse, als Mohammedaner und Hindu sich über religiöse Fragen etwas handgreiflich auseinandersetzten. Freilich sah ich anders aus. Ihr geschicktes Eintreten für Ethel Everton überhob mich der Mühe, meine Leute schießen zu lassen. Ich ließ dann Nachforschungen anstellen, Ihr Gesicht erschien mir bekannt, nachher erinnerte ich mich an einen Steckbrief. – Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen …? Hätten Sie Lust, etwas zu sehen, was außer Professor Everton, der längst tot ist, nur gewisse Leute bisher sahen, die darüber ängstlich schweigen? Wie wäre es mit einer Spritztour nach Nepal? Vielleicht sogar nach Tibet? Ein Mann wie Sie wird nicht ablehnen, wenn ihm Vertrauen entgegengebracht wird. Ich kenne mich in den Großstädten sehr gut aus, aber die Wildnis ist mir und meinen Leuten fremd, und wir sind auf der Suche nach einem … Fachmann. – Bitte …!“
Er reichte mir ein Papier in einer Zelluloidhülse:
Sämtliche Behörden Indiens werden hiermit angewiesen, Lord Harry Hamilton Gerverlin, der als Botaniker Harry Milton reist, jede Unterstützung zu gewähren und seinen Anordnungen zu gehorchen. – Abgestempeltes Lichtbild anbei.
Auswärtiges Amt, London.
Rickerson, Staatssekretär.
„Vertrauen gegen Vertrauen“, erwiderte ich ebenso offen, denn der Mann an meiner Seite gefällt mir. „Wie soll ich den Vertrag mit meinem Kompagnon lösen? Außerdem habe ich einen großen Hund und …“
Milton winkt ab …
Kurz, klar entwickelt er seine weiteren Vorschläge. Ein fester Handschlag noch, und wir trennen uns.
Als ich daheim angelangt bin, – was man so „Daheim“ nennt, schlurft auch schon Tom Barralt im schlotternden Schlafanzug herbei und lehnt sich an den Türpfosten, bleibt im Schatten.
„Na, – wie war es, Olaf?!“
„Nichts war, – ausgekniffen ist Ethel Everton gen Ceylon … – Weiberwankelmut!“
Tom grinst verzerrt. Sein mumienhaftes Fuchsgesicht mit der spiegelnden Glatze könnte einem nachts im Traum erscheinen.
„… Aber etwas geschah doch, Tom … In den Büschen kroch da der Giftpfeilschütze umher. Ich schleuderte mein Messer, traf jedoch nicht … – Wollen Sie nicht rauchen? Bitte …“
Er hebt den rechten Arm, läßt ihn wieder sinken, kneift die Lippen zusammen. Dann nimmt er mit der Linken die Zigarre.
„… Auch auf Ceylon wird Miß Ethel kaum sicher sein“, meint er mitfühlend. „Man müßte die Polizei verständigen … Doch – das geht nicht, Ihretwegen, Olaf …“
Ich gähne immer kräftiger, und Tom schiebt ab …
Meine beiden Koffer sind gepackt … Meine Hunde winseln nebenan. Monte schleppt die Koffer auf dem Rücken, und in der elenden Bude auf dem Tisch bleiben fünfzig Pfund und ein Zettel zurück:
„Tom, ich löse die Kumpanei auf … Ich gehe in die Wildnis Füchse jagen.“
Das ist alles. Hoffentlich versteht er es …
Fuchs bleibt Fuchs.
Und als ich dann mit meinem Viehzeug in die öde Gasse hinausschleiche und kaum hundert Meter zurückgelegt habe, erscheinen aus finsteren Torwegen Bombayer Bobbies, und ein sehr feiner Beamter sagt dienstlich:
„Im Namen des …“
Doch mit einem Male stockt er … Ein Auto hält. Ein noch höherer Beamter schickt den polizeilichen Nachtspuk heim, und neben ihm sitzt der Botaniker Milton und lächelt verschmitzt …
„Steigen Sie ein, Kamerad … Der Extrazug wartet.“
Ich drehe den Kopf … Irgendwoher schwirrt eine Bremse gegen das Pflaster, und Milton hebt den grünen Wollbüschel auf und sagt nur:
„Auch für Miß Everton, Kamerad?!“
Ich hatte ihm dies bisher verschwiegen …
„Ich fürchte, Mr. Milton …“
„Kennen Sie den Kerl?“
Ein nadelscharfer Blick trifft mich.
Heikle Frage …
Soll ich auch das preisgeben?!
„Nein, Mr. Milton … Verdacht ist keine Gewißheit …“
„Ach so …! – – Zum Bahnhof …!“
Das Auto ruckt an …
Extrazug: Maschine, Tender, Salonwagen, Beiwagen …
Wir fliegen durch Indiens unendliche Weiten gen Norden … Wir leben wie die Fürsten, wir sind fünf Kameraden, die sich sehr rasch aneinander gewöhnen.
Was Milton da als „seine Leute“ bezeichnet hatte, sind junge elegante Herren, Vollblutengländer wie er, aber – doch keine Herren, – – Kerle wie er, höflich-gemessen, humorvoll, tadellose Gesellschafter.
Nach einer Nacht, die ich bis vormittags elf Uhr durchschlief, sitzen wir fünf beim Frühstück … Vorhin hielten wir mitten im Dschungel, und meine vierbeinigen Freunde durften zehn Minuten umhertollen und das verrichten, was nun einmal notwendig ist.
Unser Gespräch? – Salongeplauder …
Kein Wort über Ethel …
Um ein Uhr mittags sichte ich von der hinteren Plattform ein Flugzeug, das der Bahnlinie folgt und schnell näherrückt.
Milton, der von seinen Leuten mit diskretem Respekt behandelt wird, nimmt sein Glas und beobachtet den Flieger.
„Hm, – was meinen Sie, Abelsen?!“
Auch ich beäuge die Maschine mit den drei Propellern, und ich antworte gedehnt:
„Ich werde meine Büchse holen, Milton …“
„Ich auch …“
Der Zug jagt weiter, der Flieger rückt auf, geht tiefer …
Milton lächelt nicht mehr.
In seinen lebensfrohen Augen glitzert es wie polierter Stahl.
Langsam hebt er seine Büchse …
Schuß auf Schuß jagt er in den Himmel …
Schuß auf Schuß fährt aus meinem Rohr.
Der Flieger dreht kurz ab …
„Aha, – – also doch! – – Das kann heiter werden, Abelsen …“
Es wird heiter … Drei Stunden darauf halten wir auf einer kleinen Station, um den Südexpreß und zwei Güterzüge vorüber zu lassen. Der farbige Bahnhofsvorsteher kommt mit einer Depesche angerannt, und Milton läßt mich mitlesen:
„Vorsicht. Vom Flugplatz großer „Harrison“ gestohlen. Der Gouverneur. Bombay.“
Als wir weiterdampfen, fährt nunmehr vor uns eine Motordraisine. Milton hat meinen Rat befolgt …
In einem langen Tale mit öden Sandflächen fliegt die Draisine samt Schwellen und Schienen in die Lüfte, und die Explosion reißt drei Telegraphenstangen um.
Die beiden indischen Bahnbeamten auf der zerfetzten Draisine brauchen kein Begräbnis mehr.
In der Sonnenglut flicken wir den Schienenstrang aus, und der in den Salonwagen eingebaute Sender funkt eifrig und erhält Antwort.
Spät abends haben wir den Expreß dicht vor uns, wie ein neues Telegramm meldet. Milton geht mit dicken Falten um den harten Mund im Salon der rollenden Luxusbehausung umher.
Wir alle wissen, daß wir gleichsam über Dynamit hinwegsausen. Die Stimmung ist flau.
Milton steht vor mir, Hände in den Taschen.
„Abelsen, an derartige Zwischenfälle hatte ich nicht gedacht … Entschuldigen Sie … Wollen Sie wieder frei sein?“
„Frei von unserer Kameradschaft?!“ Ich streichele Monte den Kopf. „Nein! Niemals!“
Lord Gerverlin schaut mich an.
„Gegen wen hatten Sie Verdacht in Bombay?!“
„Gegen meinen Sozius Tom Barralt …“ – Ich führe dies des Näheren aus, und Milton meint etwas vorwurfsvoll: „Das hätten Sie nie verschweigen dürfen, Abelsen …“
„… Was ich nun selbst eingesehen habe, Milton … Aber ein Kakadudresseur als Gegner einer Ethel Everton, – es schien zu widersinnig!“
Houston Garlt, einer der drei „Leute“, streckt seine Beine noch länger. „Mylord, es kann sich um Professor Evertons verschollenen Diener handeln …“ Er blättert in seinem Notizbuch und liest vor: „Thomas Barralt, Diener und Präparator bei Professor Everton in Kathmandu, Nepals Hauptstadt, damals 22 Jahre alt, verschwand nach Evertons unaufgeklärtem Tode im Februar 1878. – Mr. Abelsen, wie alt schätzen Sie jenen Barralt?“
„Auf höchstens fünfzig, lieber Garlt … Im übrigen ist er sicherlich ein geriebener Schurke.“
Garlt zuckt die Achseln. „Der Diener Barralt müßte heute ein klapperiger Greis sein … Also das stimmt nicht.“
Milton nagt nachdenklich die Oberlippe. „Es kann sich nicht nur um einen einzelnen Gegner handeln“, erklärt er bestimmt. „Hinter alledem arbeitet auch Kapital, Abelsen. Die Kerle sind Ethel nachgereist.“
Ich lehne am offenen Fenster … Urwald vor mir, indischer Dschungel, – Dörfer fliegen im Mondlicht vorüber, – – ich drehe mich um.
„Milton, um was handelt es sich?!“
Ich fordere Aufschluß … Mein Ton verrät es …
Der Lord, der alles andere als Botaniker ist, winkt mir hilflos zu.
„Ob Sie es glauben oder nicht, Abelsen: Wir sind auf Vermutungen angewiesen.“
„Und welche?!“
Er trinkt einen Schluck eisgekühlten Whisky, sein Gesicht umwölkt sich noch mehr. „Vermutungen, Abelsen. Nepal als erste Stufe der Treppe zum verbotenen Tibet ist in vielem noch geheimnisvoller als Tibet selbst. Das Auswärtige Amt konnte niemals Professor Evertons Tagebücher auffinden, obwohl … obwohl uns Engländern sehr viel daran gelegen war. – Wissen Sie, was Tarai ist?“
„Nein …“
Milton starrt vor sich hin.
„Tarai ist soviel wie das Unbekannte, das alle Möglichkeiten in sich birgt … Tarai ist der dichte, bergige Urwaldgürtel zwischen Indien und Nepal, – Tarai sind endlose, fieberschwangere Sümpfe, in denen der Europäer mehr Chinin als nahrhafte Speise genießen muß, Tarai ist das große Geheimnis in Lewis Evertons abenteuerlichem Dasein … Everton liebte das Tarai, das Land der Tiger, Wildschweine, Giftschlangen und fanatischen wildesten Volksstämme, deren Priester dort wundervolle Tempelbauten im 16. Jahrhundert errichteten, bevor der Brahmanismus den Buddhismus und den Lamaismus verdrängte. Gerüchte besagen, Everton hätte dort einen Volksstamm aufgefunden, der ihn als Heiligen verehrte … Aber …“
Milton macht eine Pause …
„… Everton verschwand … Und als jetzt seine Tochter, übrigens ein Kind aus einer sehr späten Ehe, in London insgeheim Vorbereitungen traf, die auf eine Expedition in die Wildnis hindeuteten, übernahm ich die Beobachtung – oder wir, wir vier …“
Ich fühlte immer noch, daß er mit der Wahrheit zurückhielt, – wenn nicht mit der Wahrheit, so doch mit den Hauptpunkten …
Da unser Extrazug soeben in den Bahnhof von Agra einlief, stellte ich keine weiteren Fragen. Der Lord vermied auch fernerhin dieses Thema, und heute, jetzt, wo ich soeben diese Vorgeschichte in unserem Lagerzelt beendet habe, wo die unberührte Wildnis uns umgibt und wir allen Grund haben, beständig wachsam zu sein, ist Milton mit meinem Monte unterwegs – – und immer noch nicht zurück, obwohl drüben in endloser Ferne die weißen Schneehäupter des Himalaja vom Sonnenuntergang rosig gefärbt herüberschimmern und in kurzem die Nacht anbrechen wird, – diese Nacht, die siebente im Tarai, und die dritte, in der wir keine Ruhe finden werden, weil meine Tiere keine Ruhe geben und uns warnen und wachhalten, bis die Sonne erscheint. Dann ist der Spuk verschwunden …
Es ist Spuk … Es sind Ausgeburten der Hölle oder des Fiebers, das bereits in unserem Blute sein Gift ausbreitet …
Und wir selbst sind schweißtriefend, hohläugige Männer, die in verbissener Wut um ihr Leben kämpfen.
… Und Milton ist immer noch nicht zurück.
Ich lege die Feder weg … Der lange Garlt stolpert ins Zelt.
„Abelsen, ich habe einen Kerl erwischt … einen Priester … Ich wußte ja, daß diese verfluchten Ruinen unten hohl sind … Da ist der alte Knabe …!“
Garlt hob die Zeltbahn empor, und zugleich mit dem stickigen Dunst der nahen Sümpfe, der fieberschwanger sich ins Zelt drängt, erscheint neben dem hochgewachsenen, überschlanken Engländer eine gebückte, seltsam unwirkliche Gestalt: In der Tat ein Lama-Priester, in der Linken eine kunstvoll geschnitzte Gebetmühle mit einem rauhen Strick um das Zahngetriebe, das die auf der Walze eingekerbten Gebetsformeln in eilige Umdrehung versetzt und so dem Eigentümer der Gebetmühle die Arbeit des Herunterleierns Jahrhunderte alter Litaneien erspart …
Die Lichtflut der leise zischenden Karbidlaterne trifft ein Gesicht, das eigenartig schreckhaft wirkt, weil diese farblosen Züge geradezu etwas unnatürlich Wächsernes an sich haben.
Nie schaute ich ein Gesicht wie dieses. Selbst der Kopf einer tadellos hergerichteten Mumie konnte nicht so abstoßend und doch zugleich so unbeschreiblich anziehend-lähmend wirken.
Es ist, als wäre die Leiche eines Greises durch ein Lebenselixier für kurze Zeit wieder zum Leben erweckt worden, zu einem flüchtigen Scheindasein, hinter dem der Tod wie eine ungeheure giftige Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln lauert.
Aber diese Fledermaus ist nur die Schwärze der herniedergesunkenen Nacht und die Finsternis der freudlosen Baumgiganten am Rande des Sumpfes.
Und dieser Priester, unter dessen eingesunkenen Augen grünlich-blaue Schatten lagern, lebt wirklich und blickt mich aus milchigen Pupillen an wie … wie ein Nichts, als ob er durch mich hindurchschaute und Dinge sähe, die uns verborgen bleiben.
Uralt muß er sein, – unausdenkbar alt, genau wie die zerschlissene, moderduftende Priesterkleidung. Schneeweiß ist der merkwürdig gestutzte Bart, doch die Züge – unbegreiflich! – sind glatt wie gelber Marmor, faltenlos, trotzdem lagert über ihnen ein Hauch von ungezählten Tagen und unbeschreiblichem Erleben.
Der Mann namens Fred Birk, der drittwichtigste unserer Expedition, der den Lama am Ärmel gepackt hält, läßt plötzlich die Hand sinken und tritt mit jähem Erschrecken schnell zurück, genau wie Garlt …
Und die Zeltbahn fällt zu …
Ich bin mit dem lebendigen Gespenst allein, und ich fühle unter dem Herzen etwas wie einen Eisklumpen, und die grauenhafte Kälte kriecht mir durch den ganzen Körper, und ein Empfinden, wie wenn ich zu Stein erstarre, lähmt selbst meine Gedanken.
Unklar vernehme ich das Winseln der drei Wolfsbastarde, die bisher faul neben meinem Klapptisch gelegen haben, und die nun unter dem Tisch angstvoll keuchen und jaulen.
Ihre Atemzüge sind stoßweise und qualvoll für mein Ohr, denn ich selbst weiß mit aller Bestimmtheit, daß mit dem Erscheinen dieses Lama-Priesters die Geheimnisse der Vorstufe des Zauberreichs Tibet sich um etwas Greifbares vermehrt haben.
Das, was nachts rund um diese Ruinen geschieht, in denen unser großes Zelt aufgebaut ist, hat nichts mit Greifbarem zu tun, ist bisher Spuk und Teufelswerk geblieben … oder Fieberwahn …
Fieberwahn …?!
In meinen Ohren rauscht und singt das vergiftete Blut, und wir haben heute früh die Chinindosis verdoppelt, weil Berty Gull, der fünfte von uns, der kleinste und vielleicht zäheste, beim Frühstück dem armen Garlt ohne Anlaß den lauwarmen Tee ins Gesicht schüttete und behauptete, Garlt sei ein Schurke und täte stets Zyankali in den Tee … Dann war Gull in Raserei verfallen, wir hatten ihn gefesselt, ihm die Zähne mit dem Messer geöffnet und ihn Chinin schlucken lassen. Da war er wieder zur Vernunft gekommen …
… Soweit wir fünf überhaupt noch unsere gesunden Sinne beieinander haben.
Fünf …
In sieben Tagen hat das verfluchte Tarai uns so heruntergebracht.
Mich mit …
Zwei Tage lagern wir hier, und nie habe ich einen Lagerplatz so verwünscht wie diesen trügerischen Felsenrücken, auf dem wir Ethel Evertons Spuren folgten, bis wir festsaßen – – wie in einer Falle.
Davon später.
Ich sitze auf dem Klappstuhl, vor mir steht das Priestergespenst, die Wolfsbastarde winseln, die Lampe zischt, und die milchigen Augen blicken durch mich hindurch, und das wächsern-steinerne-glatte Gesicht dieser Nicht-Mumie zeigt nichts als den völligen Ausdruck der Gedankenleere oder des Weltentrücktseins …
Doch die Eiseskälte in meinem Leibe, die meinen Körper zu etwas Abgestorbenem, zu einer Hülle von toten Knochen, Muskeln, Sehnen und anderem werden ließ, bezwinge ich durch das Aufflackern eines Restes von Energie, den das Fieber mir beließ und das Chinin nicht völlig tötete.
Der Mann rührt sich nicht.
Er steht da wie eine grausige Marionette, und der Modergestank seiner Kleider schüttelt mich vor Ekel.
Es riecht wie Verwesung.
Und da steigen neue Kräfte in mir hoch, geboren durch den Ekel, durch das Grauen, und ich besinne mich auf mich selbst und zwinge mein Hirn, Erinnerungsbilder zu wecken, die mich im prallen Sonnenschein urgesund in der Steppe auf flüchtigem Reitdromedar zeigen …
Mich, der so leicht nicht unterzukriegen ist!
… Das Grauen und die Lähmung weichen, und in heller Wut über die eigene Schlappheit fauche ich das wächserne Gespenst an:
„Wer sind Sie?!“
Englisch … – Was sonst?! Keiner von uns ist der Landessprache mächtig, und die beiden Eingeborenenführer kniffen gestern früh aus …
Englisch also.
Und als ob der Ton meiner eigenen Stimme den alten tollen Draufgänger, dem die Welt des Abseits all ihre Buntheit zeigte, noch kraftvoller wachgerüttelt hätte: Ich springe auf, trete dicht vor den abendlichen Spuk und wiederhole meine grimme Frage.
Wut, Grimm, Tollheit, – – seit vorgestern sind wir nicht mehr normal, wir sind Opfer des Tarai, Opfer des Reiches Nepal, von dem Milton behauptete, die Rätsel Tibets seien bescheiden im Vergleich zu denen dieses verdammten Landes, an dessen Grenze wir bereits die Fußangeln des „Nicht weiter!!“ verspürt haben.
Der Lama, seine Gebetmühle mit der Linken noch immer halb gegen die Brust pressend, neigt eigentümlich ruckartig den Kopf zur Seite, als lausche er fernen Geräuschen.
Das ist die ganze Wirkung meines brutalen Anrufs.
Die ganze?! … Bewegen sich nicht die Lippen, höre ich nicht ein Murmeln? Einen Namen?
Und abermals fühle ich den Eisklumpen unter dem Herzen …
Abermals will das Übernatürliche, Unnatürliche, mir so Wesensfremde mich packen mit eiskalten Zangen …
Will …
„Wer sind Sie?!“
Und diesmal beherrsche ich mich … Ich bitte fast, ich bin höflich …
Murmeln …
Ein Name …:
Lewis Everton …!
Meine chiningeschwächten Beine versagen, ich sinke zurück auf den Feldstuhl, der Schweiß bricht mir klebrig aus allen Poren, und der Rasierspiegel hinter dem wächsernen Gespenst, an der Zeltstange baumelnd, zeigt mir mein eigenes wächsernes Gesicht.
Die Hunde winseln … Und es sind doch Wolfsbastarde, sind Kerle mit furchtbaren Gebissen … Draußen dröhnen Axthiebe … Die Freunde schlagen Holz für die Wachtfeuer, gegen den nächtlichen grausigen Spuk … In den Sümpfen klagen Eulen und Käuze und jault ein Tiger …
All das sind nur flüchtige, nichtssagende Geräusche …
Everton!!
Der Name bringt mich um den Verstand …
Und vor mir steht der Lama mit dem unwahrscheinlich faltenlosen starren, erstorbenen Gesicht und murmelt weiter …
„Was sagten Sie?!“
Ich fahre hoch …
„Sprechen Sie doch lauter!!“, brülle ich ihn an …
Die überreizten Nerven gehen mit mir durch.
„… Entschuldigen Sie, Mr. Everton …“ – Ich schäme mich … „Was sagten Sie von Milton?“
Seine milchigen Opal-Pupillen bewegen sich etwas.
„Lord Hamilton Gerverlin befindet sich in Lebensgefahr“, müht sich die erloschene Stimme zu einiger Kraft. „In höchster Lebensgefahr, Mister Abelsen …“
Und wieder streiken die Nerven.
„Zum Teufel, woher kennen Sie uns, Mister Everton?“
Das Spukgesicht neigt sich nach vorn …
Da sehe ich: Der Mann ist blind!
Und die eiskalten Zangen quetschen mein Herz und Hirn abermals leer.
„Ich … wohne unter Ihnen, Mr. Abelsen … Genau unter diesem Zelt, und die Felsen der Ruinen haben Spalten, und mein Gehör ist vortrefflich. – Lord Gerverlin wird sterben“, sagt dieses grausige Etwas, das einst Professor Everton war, ernst mahnend. „Helfen Sie ihm, Mr. Abelsen … Meines Kindes wegen, die ihn liebt … Deshalb nahm er dies alles auf sich, und deshalb soll er leben, denn die Liebe, der Trieb, Mr. Abelsen, ist und bleibt das Fundament der Mysterien. Beeilen Sie sich … Ihre Wolfsbrut hat scharfe Nasen. Beeilen Sie sich …!“
Seine flackernde Stimme befiehlt jetzt.
Und mit einem Schlage ist das wächserne, blinde Gespenst Mensch geworden, die Marmorzüge beleben sich, die Gestalt richtet sich auf …
Seltsam: Jetzt knurren meine Bestien!
Knurren, recken die Schädel vor, ziehen die Lefzen grimmig hoch …
Als ob der Spuk zerstoben, als ob ihre Angst entschwand, als ob sie nun erst den Fremden, den Lebenden unter diesen stinkenden Hüllen wittern.
Anspringen möchten sie den Fremden.
Ein Fußtritt scheucht sie zurück, und als ich mich wieder umwende, ist der Platz, wo der leichenhafte Professor gestanden hatte, leer … leer …, nur der Gestank schwebt noch in der Luft …
Mir flimmert es vor den Augen. Der Teufel hole den Chinindreck, – – nur der Rasierspiegel verhöhnt mich und grinst mich an mit meinen eigenem verzerrten, schweißblanken Gesicht.
„Hallo, Gull!!“
Ich habe den Zeltvorhang hochgerissen …
Gull versucht gerade, die feuchten Scheite auf der Steinbarrikade anzuzünden. Sein dunkler Schädel baumelt dabei hin und her: Fieber – – Chinin!
„Gull, sahen Sie den Lama aus dem Zelte treten?“
Die Frage ist unsinnig. Ich weiß es …
„Verrückt!!“, schreit Gull heiser … „Ich sah nichts … Ich sehe nur immer tanzende Sternchen, Olaf, und … Gespenster … Haben Sie den alten Schuft auskneifen lassen?“
Mit Gull ist nichts anzufangen. Gull plündert unser Brandyfaß … Er säuft sich Mut an. Seit vorgestern Nacht, da begann der Tanz …
„Garlt, hierher …!!“
Der lange Brite, seines Zeichens Oberbeamter der Abteilung X., A. A., Auswärtiges Amt, torkelt näher. Die Axt ist ihm zu schwer, er wirft sie weg …
„He, was gibt’s?!“
„Garlt, wo erwischten Sie den Lama?“
Ein qualmendes Feuer, um das der geschniegelte Birk sich müht, zischt gerade mit hoher Flammenzunge auf, und Birk wettert … Die Benzinflasche ist ihm in die Glut gefallen.
Alles geht hier schief …
„Drüben!“, lallt Houston Garlt und wedelt mit dem Arm nach Norden, wo die Ruine an die unergründlichen braungrünen Sumpfpfützen stößt und noch so etwas wie ein Turm zu erkennen ist, in dem wir vorgestern dreißig Brillenschlangen totschlugen. „Der alte Schuft suchte … suchte … Pilze …“, stotterte Garlt weiter, weil ihm die Zähne im Fieberfrost aneinanderschlagen und ihm die Worte zerhacken.
Gott im Himmel, – – nur fort von hier!, geht es mir durch den Sinn, und das Grauen preßt mir die Schläfen zusammen, während der Chiningesang in meinen Ohren zum Brandungstoben wird.
Was ist aus Garlt geworden, aus uns allen!!
Halbe Leichen …!
Auch Garlt stinkt nach Fusel …
Sie saufen – – aus Angst!! Das ist es! Und Garlts Augen flackern wie die eines Kindes, das sich in Gespensterfurcht verzehrt, weil läppische Märchen ihm den Kopf verwirrten.
„Ist … ist … er weg, Olaf?“, – – der dürre Garlt zittert.
„Scheint so … – Zündet nur die Feuer an. Ich will nach Mylord suchen, ich nehme nur Trasso mit, er ist der klügste …“
Garlt glotzt an mir vorüber, lacht töricht …
„Sie … Sie … haben ja drei … Köpfe … Köpfe …!“, klappern seine kräftigen Zähne … „Nicht um … um Millionen … suche … ich … den Lord … Der Satan hole ihn … Er … er hat uns … hierher … kommandiert … Das ist … kein Land, kein Sumpf, keine Ruine, – – das ist die Hölle – – Hölle – – – Hölle!!“
Er kreischt es hinaus in die dünnen Nebelfetzen der Finsternis.
Schwarz steht der Urwald ringsum …
Zwischen den Riesenstämmen mit unendlich langen Flechten schillern die Bestienaugen des Vorlandes von Innernepal, die Bestienaugen des Tarai!
… Und wie auf Verabredung brüllen Gull und Birk:
„Hölle … Hölle … Hölle …!!“
Ich flüchte in das Zelt, packe die Flasche, und zugleich mit dem sengenden Brandy schlucke ich noch zwei Chininkapseln …
„Trasso, – – bei Fuß!! Wirst du wohl gehorchen!!“
Trasso liebt weder Halsband noch Leine …
Ich hänge die Büchse über, fülle meine Karbidlaterne, schnalle die Ledergamaschen um, bin fertig …
Als ich ins Freie trete, pflanzt sich der kleine Berty Gull vor mir auf. „Abelsen“, stinkt sein Atem, „Abelsen, – – bleiben Sie! Der Lord und Ihr Monte sind ja doch tot!“ Sein Gesicht zuckt … „Es ist Wahnsinn, Abelsen! Auch Sie werden nie wiederkehren … nie! Und wir?! Wir drei – – verrecken …! Bleiben Sie!!“
Es klingt wie das Flehen eines Kindes, das sich am Rocke der Mutter festklammert.
„Gull!!“ Ich rüttele ihn … „Gull, seid ihr Memmen?! Die Gespenster der beiden verflossenen Nächte kennen wir nun … Es war der Lama. Er haust unten in den Ruinen … Er suchte Pilze, Wurzeln, Früchte, und seine faulenden Lumpen leuchten, – – das war es, Gull!! Nur das! – Reißt euch zusammen …!“
Ich habe Gründe, von Everton zu schweigen. Spräche ich von einem Toten, der hier als Blinder wohnt, würden Gull, Garlt und Birk die Gäule besteigen und alles im Stiche lassen. Sie sind mit ihren Nerven fertig, sieben Tage Sumpfwildnis haben sie krank gemacht.
Gull kichert blöde …
„Das … das glauben Sie ja selbst nicht, Olaf! Der Lama?! Und wer schoß? Wer schoß mit Pfeilen, die wir nur surren hörten, nie fanden, – wer schoß mit diesem Satansdreck, der wie Zunder verbrannte?! He?! Wer?! Die Affen etwa?! Wer?!“
„Gull, seien Sie nicht kindisch … Es waren Rohrpfeile, präparierte Rohrpfeile, – sie verbrannten …“
Mein Herz zittert …
In Gulls Augen flackert der Irrsinn …
Knisternd und knallend fauchen die drei Wachtfeuer, und Birk und Garlt zanken sich um die große Buddel … Haß und Wut erstickt die gröhlenden Stimmen …
Gott im Himmel, – sind es noch dieselben Männer aus dem Extrazug, noch dieselben sauberen gepflegten Gentlemen, von denen jeder berufen schien, das Schlimmste zu ertragen?!
… Ich springe zu …
Birk hat die Pistole herausgerissen …
Ich schlage zu …
Ein Schuß knallt in die Luft.
Birk, schmierig, unrasiert, den Anzug voll Schmutz, beginnt zu weinen …
„Garlt, gebt ihm Chinin und Brom, – – sofort!!“
Der Schuß, dieser unselige Knall, pflanzt sich fort durch die Lücken der nassen Wildnis, und das Satanskonzert einer aufgescheuchten Affenherde macht die Sache noch schlimmer.
Bisher hüteten wir uns, einen Schuß abzugeben.
Vor uns irgendwo steckt Ethel Everton, hinter uns her ist sicherlich die verwünschte Sippe Tom Barralts.
Garlt wird vernünftig.
„Wir … wir sind alle schon verrückt!“, meint er zu seiner Entschuldigung. „Gehen Sie nur, Olaf, – ich sehe hier nach dem Rechten … Hals und … und … Beinbruch …“ Seine Zähne klappern.
Armer Teufel!
Ein Wunder?! Dort kommen sie ja, die Fieberdämonen …
Kommen angeschwebt wie lange weiße Leichentücher …
Ein verfluchtes Land!!
Ich stolpere davon, gen Süden, klettere über Mauerwerk, das einst Tempel gewesen, steige über eine steinerne Buddhafigur hinweg, in deren Augenhöhlen man Opale eingekittet hat – vor Jahrhunderten.
Hinter mir flackert die Röte der Wachtfeuer, und der rote Glanz schillert in stinkenden Pfützen, in denen Gewürm aller Art krabbelt.
… Bis ich die breitere Stelle des Felsrückens erreiche, und unsere kleinen zähen Gäule mir nachstarren, um die wir Dornen angehäuft haben und spitze Äste …
Dicke Moospolster bedecken die Felsen, Trasso zieht am Riemen, und ich folge ihm, mehr Schlafwandler als wacher Mensch … Fieber und Chinin legen einen Eisenreif um den Kopf, und die letzten Tage gönnten mir kaum einige Minuten Schlaf.
Immer breiter wird der felsige Höhenzug, immer wilder die finstere Szenerie, immer mühsamer das Stolpern und Tappen und Suchen nach Miltons Fährte.
Die Laterne habe ich in der Linken, in der Rechten die Bambuslanze mit der armlangen breiten Stahlspitze …
Kürzer nehme ich den Wolfsbastard, – – aus dem Grase fährt ein Kopf hoch, – ein Hieb … – – eine Kobra weniger …
Wenn es nur die wären!
Aber da ist das kleine Volk giftiger Schlangen, kaum daumendick …
Trasso prallt zurück … Trasso schlüpft hinter meine Beine, und die pechschwarze kleine Sumpfotter klatscht im Sprunge gegen meine Ledergamaschen …
Und das geschieht häufiger …
Dann biegt Trasso nach Westen ab, kurz vor dem Engpaß der Felsen, wo die Sumpfwasser kleine Seen bilden und wo der Wirbelsturm vorgestern die ungeheuren Stämme berghoch übereinanderschichtete: Die eine versperrte Tür der Falle, in der wir stecken!
Die andere?!
:… Das Fieber!!
– Weiter geht es … Der weiße Lichtschein tänzelt vor uns her und zerschneidet die Finsternis.
Blendet mich …
Nasse, schwammige Flechten und Ranken streifen mein Gesicht … Ungezählte Blattläuse, weiß mit zwei roten Punkten, groß wie Wanzen, fallen mir auf die Hände … ins Genick …
Sie stinken nicht anders als die europäischen Wanzen, und daß die Nepalesen sie als Salbe gegen Gicht benutzen, tröstet mich wenig.
Ich habe keine Gicht …
Nur Fieber, Ohrensausen und Sehstörungen.
– Milton versprach mir nachmittags so fest, sich mit Monte nicht allzuweit zu entfernen. Er wollte nur ein Birkhuhn erlegen – mit Pfeil und Bogen, die unsere feigen eingeborenen Führer geschnitzt hatten.
Harry Hamilton Lord Gerverlin, das weiß ich nun, ist Chef des Ressorts A der Abteilung X vom Londoner A. A., – also so halb und halb Detektiv, so halb und halb Diplomat. Er hat es mir gegenüber zugegeben, aber über seine hiesige Mission tappe ich noch völlig im Dunkeln.
Außerdem, – – ich tappe jetzt erst recht im Dunkeln, denn nach einer knappen Stunde versagt mein vierbeiniger Freund … Er hat die Fährte verloren. Ringsum starren Dornen, verdächtig fahle Büsche, rissige Baumstämme wie bärtige Säulen, und mitten darin ein spitzer Felsen, dunkelgrün von Moos, braun von dicken Schwämmen, grau von Steinflechten.
Trasso rennt hin und her, schnüffelt, will seinen Eifer zeigen …
Hilft nichts …
– Wo ist Milton geblieben? Umgekehrt?!
Unmöglich!
Trasso hätte das gemerkt.
Gewiß, dieser Platz, umhaucht von lauernden Leichendüften der Fiebermiasmen und der dumpfen Brutwärme durchhitzter fauliger Hölzer, mag da in Gestalt des Felsens, der etwa einer etwas verkleinerten ägyptischen Pyramide gleicht, eine weitere Fortbewegungsmöglichkeit in das scheußliche Reich der Affenherden, der Fledermäuse, Eulen und sonstigen Getiers bieten, das den flachen Boden meidet und im Dickicht der verfilzten Baumkronen sich behaglich fühlt.
Aber dort hinauf?! – Einmal habe ich gestern Ähnliches versucht …
Nie wieder!
Das Tarai schützt seine wahre Kinderstube niederträchtiger Gemeinheit … Und das sind die Baumkronen. Nein, nicht Baumkronen. Das ist eine zweite Welt über dem grünbraunen Sumpfe mit den unzähligen festen Inselchen aus Moos, Stein, Moder und giftigen, blendend schönen Blumen, Riesenpilzen, Schwämmen und dem Zubehör von Ameisen, Blattläusen, Eidechsen, Schlangen, Fröschen und Blutegeln.
Nie wieder!
Das ist der Oberstock einer höllischen Urwaldstätte, in dem die verfilzten Äste mit ihren graugrünen Wucherungen von Flechten und Schmarotzerpflanzen endlose Hängematten bilden: Affenwege!
Packst du da oben einen Ast als Stütze, bist du nie sicher, ob er nicht eine … Riesenschlange ist …
Auch die hausen hier …
Und packst du einen echten Ast, dann zerquetschst du verfl… Narr ein paar Generationen winzigen Ungeziefers, dessen Ausscheidungen schlimmer sind als die berühmten Pflaster von Spanischer Fliege, – – du weißt, Ziehpflaster … Und deine Pfoten werden zu unförmigen Auftreibungen, als hättest du die Elefantiasis. Im Genick und Gesicht ist es nicht besser damit, es brennt nur noch mehr, und halb verrückt gleitest du schleunigst an einem Lianennaturstrick hinab und brüllst Gull zu, dir Alkohol über das zu gießen, was einst Hände waren, denn nur Alkohol hilft, und der wird auch bald von uns Halbbesessenen verbraucht sein, da Gull und Birk und Garlt saufen … saufen, um die Fiebergeister zu ertränken und das Grauen zu ersticken.
Mit den Gedanken belastet soll ich den fünften von uns und meinen Monte retten …
Selbst ein zu Rettender, selbst ein Spielball der satanischen Dschungelgeister …
Da schafft es nur eins: Wollen, – – Wille, – – unerhörtes Aufpeitschen der Kräfte, die noch, schäbiger Rest, gesund geblieben.
Grausam-höhnisch glotzt mich die Umgebung an.
Urplötzlich hat die fast volle Mondsichel ein Loch gefunden, und die Finsternis hüllt sich in das bläuliche Gewand des Nachtgestirns, und diese Umwelt, eine verfluchte Dirne, kokettiert mit gräßlicher Schönheit …
Wo steckt nur Milton?!
Und weshalb hat Trasso, das Mistvieh, mit einem Male Sangesgelüste?
Er jault den Mond an …
Ein Fußtritt …
Nie war ich brutal zu meinen Tieren …
Das Tarai münzte mich um, nahm mir den Feingehalt …
Ich bin Falschgeld …
Nicht mehr ich selbst …
Ich sehe in den ziehenden Nebelschwaden Erlkönigs Töchter splitternackt mit köstlichen Gliedmaßen …
Ethel Everton in der Vervielfachung …
Diese Ethel, die an allem schuld ist …
Des Teufels Großmutter muß ihre Mutter gewesen sein … – Selbst Teufelin, – so stand sie in der stinkenden Gasse von Blacktown und narrte mich … Habe ich all das wirklich erlebt? War nicht auch das Chinintraum?!
Eine wilde Wut schüttelt mich …
Hölle und Teufel: Ich habe es erlebt!! Und ich werde noch mehr erleben …! Wenn Trassos Hundeinstinkt streikt, muß meine Manneserfahrung einspringen!
Ich bin ja ein verdammter Dummkopf!! Hatte nicht Gerverlin die Reithandschuhe am Gürtel hängen und sich einen Kopfschleier zurecht geschnitten?
Er hatte …
Und hängen da nicht so einladend in Griffhöhe einige blumige Taue am Felsen, – – dort, wo …
„Hallo!!“
Schon wieder der Eisklumpen unter dem Herzen …
… Ihr wundert euch, daß ich immer sage: Unter dem Herzen! Habt ihr schon einmal das Grauen in der Form kennen gelernt? – Nein! Renommiert nicht … Redet nicht vom Kriege, vom Leichengestank, von den zerfetzten Leibern in den Drahtverhauen …
Redet nicht davon: Das war ja nur primitive Furcht vor greifbaren Ursachen!
Hier ist nichts greifbar … Hier ist das Tarai, ihr Großmäuler, und das Geheimnis in nicht greifbarer Form …
„Hallo!!“
Meine Stimme klingt wie eine halbtote Kindertrompete …
Ich zwinkere mit den Augen …
Das blaue Mondlicht zeigt mir die Sängerin.
Ganz leise hat sie begonnen … So als kämen die Töne aus der Unendlichkeit …
Droben sitzt sie auf der Pyramide …
„Hallo!!“
Aber ihre perlenden weichen Töne verspotten meine Chininkehle …
Ah – das fehlte noch!!
Trasso beginnt von neuem zu jaulen, mit eingekniffenem Schwanz, das Wolfshaar gesträubt, die Augen verdreht …
Und die sinnlose Wut kehrt zurück, entflammt mein Hirn, und wie ein Affe klettere ich an dem Felsen hoch, rutsche zurück, klettere weiter, weiter.
Wahnwitz …
Die Sängerin ist ja nur Chininprinzessin …
Aber dann – –: Ein spitzer leiser Schrei …
Ich stehe aufrecht, – sie steht aufrecht, im blassen, farblosen Gesicht, dessen Haut wie gewässert erscheint von der Sumpfluft, einen Ausdruck boshafter Freude, – nein, ein tückisches Lächeln, in dem sich ihre Seele wiederspiegelt trotz der Schönheit der zarten Linien dieses unberührten Mädchenantlitzes und trotz der wundervollen Seide, die blank und farbenfroh und fein abgetönt ihre Glieder umbauscht …
Ich stiere in graue Augen … Ich finde Ähnlichkeit mit Ethel Everton – selbst in der Haarfarbe … Ein gefällig geschlungener Turban umhüllt die hohe Stirn nur halb, und mitten auf der Stirn kräuselt sich eine einzelne Strähne zu seltsamer Arabeske wie eine plastische Tätowierung …
All das ist ein Nichts vor diesem schamlosen, tückischen Grinsen …
Lächeln … Lächeln! – Immer gerecht bleiben …! Lächeln!!
„Ah – auch Sie …!“, sagt sie da in einem Englisch, das eigentümlich klingt, vermischt mit Zischlauten der Nepalesen, Tibeter und ihrer östlichen Nachbarn, der Chinesen.
„Was da?! Auch Sie?! Was soll das?!“
Chininwut erstickt mein Gebrüll zum Kreischen.
Trotzdem bin ich seltsam wach.
Und als das Weib einen Schritt zurücktritt, packe ich zu …
Das weitere ist Sturz in engster Umschlingung, und meine Hand würgt einen Hals, der soeben noch perlende Töne gebar.
Sturz, – – zu dreien …
Trasso ist gefolgt …
Die Steinplatte verschlingt uns, und in der Tiefe prallen wir auf dürres Gestrüpp auf, das splitternd zerbricht …
„Hallo!!“
Ich liege still …
„Hallo, Olaf …, – – Sie?!“
Lord Gerverlin lacht schneidend … –
„Immerhin, Olaf … Selbst ein Haufen Skelette ist besser wie Knochenbruch … Wen bringen Sie da mit?“
… Seine Laterne funkt über uns hinweg. Neben mir liegt der Mädchenkopf, zwischen uns ein gelber Totenschädel …
Nicht der einzige hier … –
Im Grunde: Was bedeutet schon ein Berg von menschlichen Gebeinen?! Nur Miltons niederträchtiger Ton ärgert mich …
„Und die Jungfrau ist auch da?! Schau an!“
„Halten Sie Ihr verfl… Mundwerk!!“
Ich rappele mich auf …
Scheußlich!
Ich trete einem Knochenmann die Rippen ein, die mißtönend splittern …
Gerverlin lacht, und das Lachen erfüllt die hohle Pyramide mit irren Schallwellen …
Schallwellen, die dröhnen und kichern, und in die das Freudengeheul Montes sich mischt, der die schwere Wahl hat, wen er liebevoller begrüßen soll, mich oder sein Wölflein Trasso.
„Gerverlin, – – Ruhe!!“
Der Lord sitzt auf einem Steinklotz, schmierig, unrasiert, klebrig von Schweiß, glänzend von Schweißperlen …
Ich atme keuchend …
Die Mauern hauchen Hitze und Pest aus …
Pest … –
Taumelnd wankt das fremde Weib neben mir her, die Augen aufgerissen, noch farbloser als früher …
Taumelnd erhebt sich die Spottgeburt von Lord und reißt sie mir fort, staucht sie zu Boden …
„Dieselbe war es, Olaf!!“, krächzt er und hustet … hustet …
Staub ist aufgewirbelt …
Leichenstaub …
„Zu Erde sollst du wieder werden!“, – – und der Berg Knochen ist staubig wie modernde Lumpen im Sonnenbrand.
Meine Hand tastet nach der Feldflasche, und der aufgeschraubte Becher wird gefüllt mit dem Elixier des Vergessens, dem Gegengift gegen das Grauen … Auch mir würgt der Husten in der Kehle, und das Mädchen mit dem jetzt stieren Blick krümmt sich zusammen, als ob sie den Hustenreiz unterdrücken wollte.
Oder ist es nur Miltons brutale Hand, die ihren Körper so verkrampft, – sind es des Lords lange, einst so gepflegte Finger, die rücksichtslos in ihre Schulter sich krallen?
„… Du warst es, Hexe …!“, zischt er sie an. „Du bist hier der Lockvogel im unbekannten Tarai für diese Massengruft von Unglücklichen!“
Seine Stimme überschlägt sich.
„Wir wissen Bescheid, du …!! Wir fünf sind nicht die ersten, die nach Evertons Tagebüchern gesucht haben und nach dem dreimal verwünschten Dschungelvolke, das er hier irgendwo entdeckt haben sollte! Wir wissen Bescheid, an die dreißig sind es, die niemals zurückkehrten, und etliche zwanzig erschienen unten im Dorfe Tschamandra[1] als halbe Leichen und wurden das Fieber nie wieder los und starben dahin, wie Bäume absterben, in denen der Fäulnispilz wütet. Aber nun habe ich dich, und ob Mann oder Weib: Ich werde dich zu einem Geständnis zwingen, mein Herz kennt kein Erbarmen, da, sieh dir den Haufen Knochen an, zwischen denen die Ameisen umherlaufen, – Ameisen fraßen Engländer, Ameisen werden dich fressen!! Was starrst du mich so an, Hexe verruchte!! Wer tötet, verdient den Tod, – wer mordet, wird aufgeknüpft, – – und ich bin Harry Hamilton Gerverlin, und nicht umsonst hat man mich hinter Ethel Everton dreingeschickt, denn meine lustigen Augen trügen, das merkst du wohl …!! In London Salonpossenreißer – – zum Schein, – aber in Wahrheit kann ich Teufel werden …! – – Rede jetzt, Hexe!! Wo haust ihr hier, ihr Sumpfvolk, ihr Dschungelvolk, ihr Tiger? Wo?! Und wehe dir, wenn du lügst …!! Du bist hier an zwei falsche Adressen geraten, mein seidenes Täubchen, denn der da, Kanaille, der Mann da, der zieht dir das Fell streifenweise ab ohne Wimperzucken …! Rede!!“
… Das Mädchen?! – Sie war zusammengeknickt. Sie lag auf den Knien, ihr Turban hatte sich verschoben, lange dunkelblonde Haare ringelten sich hervor, mit den Händen, die genau so krankhaft blaß waren wie das ausgelauchte Gesicht, stützte sie sich auf den staubigen Boden …
Und schwieg …
Nur ihre schnellen Atemzüge pfiffen durch die geöffneten Lippen wie die einer Fiebernden.
„Milton!!“
Mein harter Ausruf brachte den Wutbesessenen wieder zu sich …
Ich wollte ihn ablenken. Er war Tollhäusler wie wir alle … Das Tarai läßt keinen gesund.
„Milton, – – eine uralte gemauerte Pyramide … Hier innen erkennt man das Mauerwerk. Ist Ihnen bekannt, daß seit langem die Vermutung besteht, Sterndeuter ägyptischer Herkunft, die sich im Gefolge Alexanders des Großen befanden, hätten einen veränderten Isiskult nach Indien verpflanzt und den Buddhismus gegründet oder zumindest beeinflußt …“
Ich ließ meine Laterne rundum spielen.
Die Pyramide war hohl, war leer bis auf den Skelettberg unter der Falltür und bis auf einige Felsbrocken.
Der Lord sagte dumpf. „Geben Sie mir zu trinken, Olaf … Ich bin fertig, ich bin nicht mehr ich …“ – – Er trank nicht … Er soff …
„Ah, – – Labsal, flüssiges Feuer!! – Haben Sie Chinin da …? Ich spüre das Fieber … Schnell, – – zwei Kapseln … Ich verbrenne … – Danke, und nun …“
Er fiel plötzlich auf den Felsklotz zurück … Seine Lippen zogen sich empor wie die eines sterbenden Gaules, und sein Gebiß tanzte wie toll, und sein Unterkiefer flog wie ein Motor. Dann rollte er zur Seite, lag still, nur seine Gliedmaßen zuckten, und Schüttelfrost ließ ihn zittern, als ob er auf dem Deckel einer rasenden Turbine ruhte und deren Vibration mitmachte.
Das Mädchen, den Kopf gesenkt, am Boden kniend wie ein sterbendes Tier, versuchte auf die Füße zu kommen …
Ich half ihr nicht. Ich war nicht dazu imstande, die letzten Anstrengungen hatten auch mir den Rest gegeben, und willenlos setzte ich mich auf den Stein, der soeben noch Milton als Ruhestatt gedient hatte, und sah nur die feurigen Sonnen vor meinen Augen immer wilder kreisen und lauschte tatenlos der Brandung, die gegen meine Trommelfelle wütete, – mein eigenes krankes Blut …
Alles ringsum wurde Finsternis, und nur das Feuerwerk sprühte und glitzerte, und meine Beine waren Bleiklumpen, nichts weiter …
Unklar empfand ich, daß Freund Monte mir die Hände leckte …
Undeutlich hörte ich ein Wimmern, ein heiseres Knurren, und mit einem Male ward es für Sekunden licht in meinem Hirn. Der Wolfsbastard Trasso lag über dem Weibe, und sein furchtbares Gebiß suchte die weiße, ungeschützte Kehle.
„Trasso!! zurück!!“
Brüllen wollte ich es …
Es wurde wohl nur ein Stammeln …
Aber der graue Wolfsleib wich zur Seite, und wie aus fernen Ewigkeiten kam die Stimme der Fremden:
„Da, – – kauen Sie die Blätter … Fieberbaum, der nepalesische Fieberbaum …“
Etwas flog mir in den Schoß, – – Blätter, halbwelk, ein Bündel, mit Wollfäden umwickelt.
„Kauen Sie …!!“
Da setzte bereits wieder die tosende Brandung ein, da erschienen wiederum kreisende Sonnen, da … fand ich mit schlotternder Hand nicht mehr den eigenen Mund …
Sackte zusammen …!
Tarai – – Tarai …!!
Verfluchtes Land …
Tarai – – Tarai, – – da spüre ich warme Lippen auf den meinen, da dringt mir etwas Gallebitteres in den Mund, und ich würge es hinab …
Tarai – – Tarai …!!
Es ist nicht die Süße eines Kusses, es ist Hilfswerk, Atzung, Heilmittel …
Die Lippen sind unermüdlich, zwischen meinen Knien fühle ich den Mädchenkörper, die Fremde kniet vor mir, – – und unvorstellbare Zeiten verstreichen, bis mir aus allen verklebten Poren der Schweiß rinnt und ein beglückendes Gefühl der Erleichterung Körper und Hirn durchflutet.
Da sehe ich sie, die Fremde …
Dicht vor mir, Gesicht an Gesicht, ihre linke Hand stützt mein Kinn, und etwas näher erklingt das fremdartige Englisch, dessen Laute nicht mehr gegen das kochende Blut ankämpfen.
„So wahr er ein Heiliger ist, Sir: Ich habe noch nie einen Menschen gemordet … So wahr er unser einziger Trost: Ich wurde heute zum ersten Male hierher geschickt … Man sagte mir, Sie wollten ihn töten, Sir, ihn!! Und deshalb … deshalb bin ich gehorsam gewesen. Wir sind ja nur die Sklaven, wir Weißen …!!“
Meine Sinne erfassen die Worte …
Nicht den Zusammenhang.
Einiges bohrt sich in meine taumelnden Gedanken wie ein Pfahl, der eine rasende Wasserflut abdämmen soll …
Er?! – Wer denn?!
Er?! Ein Heiliger?! Etwa Professor Lewis Everton mit den gräßlichen Opalaugen und dem fürchterlichen Mumiengesicht ohne Falten?!
„Everton?!“, frage ich ins Leere hinein …
Das Mädchengesicht vor mir liest mir den Namen von den Lippen ab.
„Everton?!“, wiederholt sie … „Everton ist tot … Der Heilige lebt …“ Freudenschimmer verklärt die durchsichtigen Züge …
„Barralt, Sir … Barralt hieß er … Jetzt heißt er …“
Jäh bricht sie ab.
Jäh eine andere Frage: „Sind Ihre Waffen gut, Sir …?! Können Sie kämpfen? Sie werden kämpfen müssen, Sir … Sobald der Morgen naht, werden sie nach mir sehen, und dann wird …“
Ihre Worte gleiten dahin wie ein zackiger Bach, aus dessen glatter Strömung Felsennadeln hervorragen …
Doch der Redestrom meidet die Schwelle meines Bewußtseins, und mein Kopf ist ausgefüllt mit einem einzigen Namen, der in vielfachen Echos durch die Gehirnkammern irrt:
Barralt!
… Tom Barralt …
In Bombay Kakadudresseur, Schaubudenbesitzer, Giftpfeilschütze, mein Kompagnon …
Hier derselbe Name … Niemals dieselbe Person.
Zufall etwa?!
Barralt?!
Und der Lama mit den Opalaugen und dem wächsernen Leichengesicht?!
… Eindringlicher wird die Stimme … Das Mädchen spürt meine Geistesabwesenheit …
„Sir, so hören Sie doch!! Sir, geben Sie Ihrem Freunde die Fieberbaumblätter …!!“
Freunde?! – Freundespflicht ruft …
Gerverlin liegt still, die Augen verdreht, die Beine an den Leib gezogen …
„Zerkauen!“, mahnt das Mädchen.
Gut – – zerkauen …!
… Monte blafft kurz, warnend …
Und dicht an meiner Wange vorüber schwirrt es hinein in den Knochenberg und fährt einem Totenschädel zwischen die Zahnlücken. Eine schwache Dunstwolke und Rauchwolke steigt hoch … Im Nu ist der heimtückische Pfeil nur noch Asche …
Im Nu spuckt mein Gürtelzierat spritzendes Blei gegen die Spalte droben.
Die Falltür schließt sich …
Aber in der hohlen Pyramide toben meine Tiere mit wutheiserem Kläffen, und urplötzlich löst sich droben aus dem Dämmer der Höhlenspitze ein Körper und schlägt schwer wie ein Sandsack auf das prasselnde Gebein derer, die ausgezogen waren, Professor Lewis Evertons geheimnisvolles Tarai-Volk zu suchen.
Tot mit Kopfschuß liegt da der braun-gelbe Bursche, klein von Statur, seltsam von Gesicht …
Sein Gesicht gleicht weder dem der Nepalesen noch sonst dem eines indischen Völkergemisches. Es ist Kopf- und Gesichtsform eines abschreckend häßlichen reinblütigen Südchinesen ohne jeden Mongoleneinschlag.
Das Mädchen hebt die Laterne und beleuchtet die Gestalt und sagt völlig gleichgültig:
„Tumi, der Bonze …!“
Ein Priester also … Eine Art Mönch.
Monte und Trasso winseln heiser …
Ich kaue halbwelke Blätter, und das Mädchen hebt Lord Gerverlins Kopf. Nach fünf Minuten ist Freund Gerverlin genau so frisch wie ich, schwitzt wie ich, hustet wie ich, bis der Leichenstaub sich wieder gesetzt hat und wir drei beieinander hocken und fragen und antworten und immer wieder fragen, – – wir, das Mädchen, das so garnichts beichten kann.
Ihr Leben kennt keine großen Denksteine am Wege ihrer vierzehn Jahre. Das Wenige, das sie uns erklärt, ist Aberwitz, ist Sagenschatz, ist verzerrte Gegenwart, wie sie ein solches Kind sieht ohne jede Kritik, ohne jeden Maßstab.
Und das Ganze ist ein winziger Ausschnitt aus Tarai, Tarai …, – aus dem Leben im Dschungel hinter der Grenze der Vorstufe zur Treppe zum unfaßbaren Grauen …
Grauen …!
Immer wieder: Grauen!!
Das Hirn sucht nach Abwechslung im Ausdruck …
Entsetzen? Furcht? – – Nichts da …!
Tarai – – Tarai, – – das Grauen, – – und Tarai – – Tarai: Das Fieber!!
… Der kleine Berty Gull, rasiert, gewaschen, lacht mich aus, und die wieder ebenso geschniegelten Kameraden Garlt und Birk lächeln nur zweifelnd, weil sie mehr Respekt vor Milton und weniger Alkohol im Leibe haben.
„… Erst muß ich es sehen, dann glaube ich, Abelsen … Sie als alter Weltenbummler sind schlimmer als ein pensionierter Kapitän – – im Lügen …!“
Eine Frechheit das, wo doch Gerverlin mit dabei im Frühsonnenlicht vor dem Zelte sitzt und immer wieder zustimmend nickt.
Eine Frechheit vom kleinen Gull. Aber entschuldbar. Der wieder erwachte Lebenstrieb und die maßlose Freude, nicht mehr diese Eisenbänder des Fiebers um die Schläfen zu haben, hat Gull aus dem Häuschen gebracht, hat eine Reaktion herbeigeführt, die törichte Auswüchse der Daseinsfreude hochschießen läßt.
Berty Gull, den Teebecher in der Linken, erklärt nochmals mit bissiger Ironie: „Also nachher, Olaf, – nachher gehe ich mir die Pyramide ansehen … Wetten, daß ich nichts finde?! Mylord und Sie sind Opfer von Wahnvorstellungen geworden …“
Er deutet auf das Bündel Fieberbaumblätter.
„Auch Ihre sogenannte Hexe, Olaf, – – alles Selbsttäuschung! Wir hier allerdings, wir erlebten Wirklichkeit. Ich betone: Der Lama war plötzlich wieder da, gab uns die Blätter, kaute und schluckte davon in unserer Gegenwart, damit wir nicht dächten, er wolle uns vergiften … So wurden wir gesund. Gewiß, der Alte verschwand dann wieder … War uns gleichgültig. Es ist ein berauschendes Gefühl, einmal wieder einen klaren Kopf zu haben, einmal wieder das verdammte Ohrensausen los zu sein …“
Hamilton Gerverlin blickte den vorlauten Gull merkwürdig an. „Logik ist nicht Ihre starke Seite hier in Nepal, mein guter Gull … Sollen wir auch im Fiebertraum von einem nicht existierenden Geschöpf die heilenden Blätter erhalten haben?! Würden wir ohne diese Blätter genau so frisch sein wie ihr hier?! Sie spinnen sich in Widersprüche ein, und für die Gesamtheit der Geschehnisse bedeutet es nichts, daß wir nachher in der Pyramide einschliefen, erwachten, das Lianentau fanden, emporkletterten und daß der tote Chinese und das Mädchen nicht mehr da waren. Man hat sie eben geholt, Gull, – und das taten nicht die Zwingherren der armen Unterdrückten, sondern einige dieser weißen Sklaven … – Denken Sie logisch, Gull, und geben Sie Ihrer Lebensfreude nicht durch lächerliche Zweifel Ausdruck. Vorläufig bin ich noch Ihr Chef, Berty Gull …!!“
Der kleine sehnige Gull stammelte eine Entschuldigung.
„… Ich habe niemand verletzen wollen, Mylord. Darf ich einmal hinüber und mir die Pyramide …“
„Nein!“
Auch ich war von den Fieberdämonen befreit, und dieses „Nein!“ ließ keinen Widerspruch zu.
„Die Gefahr ist zu groß … Jetzt am Tage brauchen wir einen Angriff nicht zu fürchten. Trotzdem rate ich dringend, Wachen aufzustellen, besonders nach Süden hin, wo von dem felsigen Höhenrücken der Seitenarm in die Wildnis nach Westen sich hineinzieht. Vergessen wir nicht, – wir sind nach wie vor Gefangene, und die unheimliche Kolonie von gelben Kerlen, die hier irgendwo haust, wird uns niemals entkommen lassen, wir wissen bereits zu viel von ihnen! Wir wissen mehr, als uns guttut.“
Gerverlin nickte sehr ernst. „Ganz meine Ansicht! – Und der Lama? Der blinde Priester? Ihn werden wir suchen … Er muß helfen … Kommen Sie, Olaf, durchstreifen wir die Ruinen. Garlt und Gull nehmen Ihren Trasso und beziehen im Süden einen Posten, – gebt scharf acht! Ihr brecht sofort auf!“
Der Lord hatte eine sehr unangenehme Art, gewissen Hitzköpfen eine abkühlende Dusche zu verabfolgen.
Gull und der endlos lange Garlt sprangen auf.
Das Gleichgewicht an Respekt und Übermaß an Daseinsfreude war wieder hergestellt.
Ich pfiff Monte, dann standen Milton und ich neben den Turmresten, die, auf bemoosten Felsen zerbröckelt, auch gen Süden sich in den Schlammpfützen des furchtbaren Sumpfes widerspiegelten.
Dicht vor uns ragten aus den trockenen Stellen die unschönen Riesenstämme empor, – Baumarten mit dicken Lederblättern, mit üppigstem Schmarotzerpflanzenbehang, deren leuchtende Blüten so wenig in dieses Bild hineinpaßten, – Stämme mit heller Rinde, in deren Ritzen die endlosen Flechtenbärte wehten, – Stämme, die zuweilen so umwuchert waren, daß sie der nach außen umgeklappten faserigen Schale einer Kokosnuß glichen … – Gerverlin kletterte zwischen den Turmresten umher … Zweckloses Beginnen. Dornen, Büsche, Stachelgewächse fanden hier überreich Feuchtigkeit und Nahrung. Steinklötze türmten sich zu phantastisch umrankten Säulen, Mauertrümmer täuschten künstliche Grotten vor. In den fauligen Gestank des Sumpfes mischte sich der Duft von Blumen und war noch widerwärtiger als der fade Dunst des in der Sonne brodelnden Moores.
„Monte, such’ …!“
Der alte treue Freund so vieler Wanderfahrten schnüffelte und lief hin und her, und endlich schoß er wie ein Blitz mit blaffendem Laut in ein Gestrüpp dicht am Ausläufer der Felsen hinein, zwängte sich durch die Zweige, prallte zurück, gesträubten Haares, und ein Hieb mit dem Schlangenspeer vernichtete giftiges Gewürm.
Wieder eine Kobra …
Ein Wunder, daß die eklen Brillenschlangen hier in Unmenge hausten? Wasserratten gab es hier zu tausenden … Leichte Beute … Nachts hatten wir das angstvolle Quieken gehört, wenn eine Kobra solch ein Wassergeschöpf zerquetschte …
Das Gestrüpp, übermannshoch, hatte im Innern seiner undurchsichtigen Fülle einen sauber freigeschnittenen Gang und endete vor einer uralten, nur angelehnten Steintür in Bronzegelenken. Ich hielt die Pistole bereit, aber Monte zeigte eine Gleichgültigkeit, die mich nichts Böses ahnen ließ.
Wir kamen in die Keller des einstigen Buddhatempels, in sauber ausgehauene Gänge und Kammern, die sich gut hundert Meter weit nach Norden erstreckten. Unsere Laternen waren kaum nötig. Überall hatte die ursprüngliche Decke breite überwucherte Ritzen. Eine fahle grüne Dämmerung herrschte hier, dazu eine überraschende Trockenheit und Sauberkeit. Die Keller waren leer bis auf drei.
Gerverlin knipste seine Lampe an.
Staunend standen wir vor einem Buddhabild aus gebranntem rotbraunem Ton, das über und über mit Smaragden, Diamanten und Opalen bedeckt war.
Ein sinnverwirrendes Leuchten sprühte uns entgegen.
Einsam stand der plumpe Götze in einer der größten Kammern, und dicht vor ihm auf dem rauhen Felsboden erblickte ich dieselbe Gebetmühle, die Professor Everton bei sich gehabt, als er mir seinen Namen nannte.
„Halt!!“
Der Lord wollte näher heran. Verwundert über meinen harten Griff schaute er mich unsicher an …
„Denken Sie an die Falltür der Pyramide!“ warnte ich nur und stieß Monte zurück, nahm die Lanze und betastete stark drückend den Boden.
Die Gebetmühle Evertons warnte mich.
Ich schob sie beiseite, sie kippte um, und genau an der Stelle, wo sie gestanden hatte, zeigte sich ein harmloser Buckel im Gestein, der niemandem auffallen konnte. Ich bückte mich …
Milton hüstelte …: „Also doch!“
Ich schob mich näher, während der Lord meinen Jackenschoß festhielt.
Gerverlin-Milton, Chef vom Ressort A, sagte leise: „Tun Sie es besser nicht, Olaf … Diese bautechnischen Künste der alten Buddhisten haben es in sich …!!“
Ich beäugte den Steinbuckel. Es war ein nachträglich sauber in den Fels eingefügter Riesenknopf.
Nein, – ich wagte es nicht, daran zu rühren.
Ich kroch zurück.
– Das war die erste nicht leere Kammer.
Die zweite lag genau unter unserem Zelt und hatte Everton zur Wohnung gedient.
Hier erst brach ich das dumpfe Schweigen, das uns diese Unterwelt aufgezwungen hatte.
„Gerverlin, angesichts dieser erbärmlichen Wohnung sollen Sie hören, wer der Lama ist. Er nannte mir seinen Namen: Lewis Everton!“
Der Lord nickte kaum.
„… Sie beschrieben mir sein Äußeres … Ich habe Bilder von ihm, das letzte aus dem Jahre 1877 … Sehr lange her … Es ist Everton, obwohl er heute über hundert Jahre alt sein müßte. Doch in diesem Lande Nepal spielen Jahrzehnte keine Rolle. In diesem Lande sollen – sollen! – tausende leben, die ihre Jugendjahre nicht mehr zählen können. – Und wo ist Everton geblieben?“
Seine Frage klang zaghaft.
Die Antwort war im Grunde überflüssig.
Die bescheidene Felsenkammer bot ein Bild wüstester Unordnung.
„Weggeschafft, entführt, Gerverlin.“
„Scheint so!“, preßte er zwischen den Zähnen hervor. „Vor uns in Sicherheit gebracht, Olaf … Der Teufel hole das Tarai!! Soll ich ohne Ergebnis umkehren?! Und – wie schaffte man ihn weg?! Etwa mit seiner Einwilligung? Wie konnte er uns durch die Gebetmühle warnen, wenn Gewalt angewandt wurde?! – Verdammte Bande, diese Schlitzaugen dort drüben! Machtlos sind wir … machtlos …!“
Kein Wort fiel über das Nebensächliche, über das Boot, das durch die Sümpfe herangeschlichen sein mußte.
Gerverlin, dem bereits wieder die Augen verdächtig flackerten, machte vor der dritten Felsenkammer halt. Dieser Raum, ein Fünfeck mit genau gleichen Maßen, enthielt nur einen ungeheuren Harzklumpen, der etwa die Form und Größe eines kauernden Menschen hatte. Das Baumharz war zweifellos absichtlich um irgend einen großen Gegenstand in flüssigem Zustande in einer eingefetteten Form herumgegossen worden.
Wir blieben dem unheimlichem Dinge fern, wir trauten diesen Kellern nicht, und als ich mit der Speerspitze gegen den Klumpen stieß, splitterte das Harz wie Bernstein, Stücke fielen zu Boden, und in der Mitte des Klumpens war ein Loch entstanden, durch das wir Teile einer vertrockneten Menschenhand erkannten.
„Mein Gott!! Prasma!!“, rief der Lord heiser und rannte blindlings davon, als ob ihm alle Dämonen der Unterwelt auf den Fersen säßen.
Prasma?! Prasmati?!
Wie war das doch nur gewesen damals abends, als wir hier an diesem verhexten Platz angelangt waren, und als Ethel Evertons Fährte uns in die Falle gelockt hatte? Wie war das doch? Da hatten unsere beiden eingeborenen Führer aus dem Dorfe drunten in den Vorbergen auf der indischen Seite die ersten Anzeichen von Furcht verraten … Und hatten scheu und verängstigt miteinander in ihrer Sprache geschnattert, und dabei waren die Worte Prasma und Prasmati immer wieder über ihre Lippen geschlüpft …
So war es …
Und dann kam das Gewitter, der Wirbelsturm, und der nasse Dschungel hatte ein satanisches Höllenkonzert erlebt …
Deshalb die Mauer geknickter Bäume. –
Also Prasma …! – Und Gerverlin kniff aus, – ich brüllte ihm nach: „Kauen Sie Blätter, das Fieber kehrt zurück …!“
Keine Antwort …
Aus dem Harzblock schimmert die Totenhand.
Prasma?!
Hat Prasma etwas mit dieser fürchterlichen Art Einsargung zu tun?!
Mein Schlangenspeer stößt abermals zu.
Höher …
Wieder Splitter, Stücke …
Monte winselt …
Urplötzlich löst sich ein größeres Stück, und die Hälfte eines Gesichts grinst mich an, daß ich zurückfahre, so entsetzlich ist dieses Männergesicht mit dem schillernden Opalauge und den glatten Zügen aus Wachs, – aus Fleisch, das zu Wachs geworden, genau wie das Antlitz Professor Evertons …
… Monte heult …
Zwei, drei Tiere heulen, – – eine schauerliche Melodie.
Montes Sprößlinge sind da, nur Trasso fehlt.
Der feine Instinkt für Gefahr treibt mich die Gänge hinab, – dort ist die Steintür in den breiten Bronzegelenken, – – weit offen, und blitzschnell bellt meine Pistole grimmig auf, und die Spukgestalten draußen tauchen im Gestrüpp unter: Chinesen von derselben abscheulichen Bauart, Kopfform, Kleidung wie der eine drüben, der auf die Totengerippe klatschte.
Der mächtige Riegel der Tür greift in die Klammer, und aufatmend, schweißgebadet, aufgerührt bis ins Innerste lehne ich an der Steinwand.
Meine drei Getreuen, die Schwänze eingekniffen, schleichen trübselig näher, als ob ihnen jeglicher Mut genommen wäre.
Fernher erklingt jäh eine Stimme …
„Abelsen … Abelsen …!!“
Ein Höllengelächter antwortet.
Meine Tiere drängen sich an meine Beine …
„Abelsen … Abelsen!!“
… Ethel Everton etwa …?!
Aber da nochmals dieses infernalische Lachen.
In dem schnurgeraden Kellergang, in dem fahlen Grün der unterirdischen Dämmerung eine helle Gestalt …
Sie fliegt auf mich zu …
Ich fange sie auf.
Es ist Ethel – jene kecke, überkecke Ethel aus dem Elendsviertel von Bombay …
Schlaff hängt sie in meinen Armen. Aber dieses Mädchen hat die ungeheure Energie strengster Selbstzucht, und bald steht sie vor mir, bleich, hohläugig …
„Abelsen, – – es ist das Ende … Ich bin die letzte von acht Personen, – das war meine Expedition, Abelsen, – sie sind tot, alle: mein Sekretär, meine Zofe, die eingeborenen Führer. Sie starben – – dort!“, – und sie zeigte etwa in Richtung der Türöffnung der Kammer des Buddhabildes.
… Und abermals spüre ich da Eisesklumpen unter dem Herzen. Die Kehle ist mir ausgedörrt, die Zunge gehorcht kaum …
„Alle starben?! – – Und – – Ihr Vater, Miß Everton?!“
Sie drückt die Hände vor das verzerrte Gesicht und schüttelt sich …
„Mein Vater?! Hielten Sie den, der hier hauste, für meinen Vater?! Log er es Ihnen vor? – – Es war Thomas Barralt, der größte aller Schurken … Und jetzt – – werden auch wir sterben, Abelsen … Noch nie verließ ein Europäer das Tarai, nachdem er auch nur einen einzigen Teil dessen gesehen hatte, was niemand wissen darf … – Kommen Sie, sehen Sie …!“
Schleppenden Ganges schritt sie mir voran …
So schleppend, als hingen an ihren Füßen die Zentnergewichte der düsteren Geheimnisse des Tarai …
Und Tarai ist das Grauen.
Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.
In der Felsenkammer Buddhas war vor dem glitzernden, funkelnden Standbilde, dessen Gesichtszüge das sphinxhafte Lächeln Asiens, das heilige Lächeln zeigten, im Steinboden ein großes Quadrat samt dem von mir so verdächtig befundenen Buckel versunken, und aus der schwarzen Tiefe quollen mephitische Düfte und das trübe Licht einer Öllampe empor.
Die Tochter des Residenten am Hofe des Königs von Nepal, die Tochter des Mannes, der in der Hauptstadt Kathmandu gestorben sein sollte, beugte sich hernieder und glitt in die Öffnung hinein, eine schlüpfrige Steintreppe hinab und blieb stehen.
Dieses zweite, tiefere Stockwerk der Keller mußte bereits in einer Höhe mit der Oberfläche der schillernden Sumpflachen da draußen liegen und durch Ritzen im Gestein der verderblichen Nässe Zutritt gewähren.
Zwischen dem holperigen Auf und Ab des flüchtig behauenen Felsens ruhten Schlammkrusten als Nährboden schwindsüchtiger Pilze und desto fetterer Flechten.
Auf der zweituntersten Stufe glomm die Laterne. Es war eine Öllaterne, anstelle der Gläser hatte sie dünne Häute wie durchscheinendes Pergament, und ihre plumpe Rundung erinnerte an einen Mond, der hinter Wolkenschleiern hindurchgrinste.
Meine Laterne, zischend, grell, gespeist durch Karbid, beendete das Zwielicht mit jähem Aufblitzen und zeigte mir die Abmessungen der Grotte und ihre steinernen Stützpfeiler und ihre Felsenboxen und kriechenden Rankengewächse, die von draußen sich hineingeschlängelt hatten und nun bleichsüchtig, lichtlos ein kümmerliches Dasein führten und trotzdem der runden, niedrigen Hall, das ernste Gepräge einer Gruft mit modernden zerrissenen Kränzen verliehen.
Der Eindruck dieses Gewölbes war bedrückender als der jener oberen grünen Keller mit dem ungesunden Zwielicht.
Das Mädchen stand am Fuße der Treppe, und ihre Züge waren weißgelber Stein. Ihre Hand wies auf die einzige größere Öffnung in der Wandung, vor der das faulende Gemenge von Ästen, Baumstümpfen und Dornen und blaßrosa Schlinggewächsen als verwesende Barrikade lagerte, – trotzdem voller Leben, da Armeen von Ameisen in den dünn einfallenden Tagesstrahlen geschäftig hin und her liefen.
Ethel Everton sagte leise, und jedes Wort war eingehüllt in schreckliche Erinnerungen seelischer Pein:
„Abelsen, als wir die Ruinen erreicht hatten und merkten, daß der felsige Höhenrücken eine Sackgasse gewesen und wir daher umkehren wollten, erschien der Lama … Es war Nacht, Mondschein … Er sprach zu uns als einer, der helfen wollte. Wir zündeten alle Laternen an, und urplötzlich prasselten die Pfeile hernieder, – Brandpfeile, Abelsen, ohne Eisenspitzen, nur gehärtete Holzpfeile mit Dornen …“
„Ich weiß …“, – ich wollte ihre Pein verkürzen, denn die Erinnerung schüttelte sie wie im Fieberfrost …
„… Hals über Kopf flüchteten wir hier hinab, und der Lama blieb oben, und die Öffnung schloß sich. Er war ein Verräter … Alle außer mir hatten leichte Wunden erhalten und starben dahin – – wie Blumen verwelken, ohne Klagen, Abelsen …: Gift – – Gift!! – Das Sterben wurde ihnen leicht, aber mir, der Hilflosen, wurde der Anblick der Toten ein unerträgliches Bild … Ich war hier eingesperrt, ich schloß kein Auge, am zweiten Tage warf ich die Toten durch die Dornen dort in den Sumpf, und sie versanken still unter der Moderdecke, wie sie still gestorben waren. Ich wurde ohnmächtig, Fieber wütete in meinem Leibe, ich muß sehr krank gewesen sein, irgend jemand pflegte mich, aber ich lag im Finstern, und ich könnte nicht angeben, wer mir half. Der Lama? Ich glaube es nicht … Schließlich war ich so weit bei Kräften, daß ich dort aus der Kammer drüben dem Laternenlicht auf der Treppe zuwankte. Das mag viele Stunden her sein, denn die Anstrengung warf mich nieder und nahm mir auch jede Schätzung für Zeitläufe, weil mein Hirn noch jetzt leer und träge. Dann erwachte ich, öffnete die Falltür, – dort ist der einfache Mechanismus, stieg empor und sah Lord Gerverlin wie einen Gehetzten den Kellergang entlangeilen. Ich wurde schwach und matt bei seinem Anblick, denn Hamilton und ich waren einmal in London gute Freunde, und sein Auftauchen hier bestärkte nur den schändlichen Argwohn, daß er mein Vertrauen von jeher getäuscht habe und mir gefolgt sei. Ich lehnte an der Buddhafigur und tilgte Hamilton in Gedanken aus der Reihe derer, die mir etwas bedeutet hatten. Dann eilten Sie in derselben Richtung vorüber … Gerade Sie!! Und da rief ich nach Ihnen. – Abelsen, in Bombay floh ich vor Hamilton … Ich konnte unsere Verabredung nicht einhalten. Hier sind Sie mein letzter Trost, Ihnen traue ich, Sie retteten mir zweimal das Leben, und dieses Leben, das nur noch durch die Aufregung als Strohfeuer flackert, lege ich in Ihre Hände, Abelsen …“
… Längst hatte sie sich auf die Treppe gesetzt, da die Beine ihr den Dienst versagten.
Beide Hände hob sie, zitternde, kranke Hände, eiskalt, und ich legte meine lebenswarmen Finger um diese hilflosen flehenden schmalen Händchen, die durch das Grauen des Tarai noch dünner und schemenhafter geworden waren.
Unsere Augen waren, als sie sich so vertrauensvoll mit so verschiedenem Ausdruck trafen, nur ähnlich in dem einen ehrlichen Schimmer: Kameradschaft!!
Ich hielt den Blick Ethels fest, hielt ihre Hände …
„Nannten Sie dem Priester Ihren Namen, Miß Everton?“
„Nein … Es war wie Spuk, – es ging zu schnell, – – Ankunft, Überfall, … zu schnell!“
Da wich mein Blick zur Seite.
„Und Ihre Fieberphantasien, – – sollten Sie da nicht …“
Jetzt senkte sie ihre Augen, und die Röte stieg ihr bis zur Stirn.
„Fieber, Abelsen … Fieber?! Ich fürchte, ich habe nur Hamilton in meinen Delirien bekämpft.“
„So war es also … – Nun gut, – ich stütze Sie, wir müssen hier heraus, Ethel, – diese Luft ist Gift, ich werde die Falltür schließen, droben im grünen Dämmerschein wird Buddhas heiliges Lächeln uns schützen … – Kommen Sie, – – so, – – Schritt für Schritt, Ethel … Monte und seine Söhne sind zutraulich“, scherzte ich, obwohl ich an das Ärgste dachte, „und Monte wird bei Ihnen bleiben … – – So, nun schließt sich der Felsboden, die Unterwelt ist abgesperrt … Setzen Sie sich auf die Stufe des Postaments … – Monte, – – hinlegen!! Mich entschuldigen Sie, ich möchte mich etwas umtun nach Lord Gerverlin. Keine Angst, Ethel: Montes Zähne können böse Wunden schlagen … In kurzem bin ich wieder bei Ihnen.“
Eilenden Fußes suchte ich des opaläugigen Lamas dürftige Felsenkammer auf, die in der geborstenen Decke die breitesten Ritzen hatten. Ich horchte und hörte über mir, wo das Zelt stand, das schwere Stöhnen eines todwunden Menschen.
Eisig überlief es mich …
Tarai – – das Grauen!
Immer dasselbe …
Tarai, die Stätte der Finsternis bei Sonnenschein.
Meine Laterne beleuchtete die wüste Unordnung der Kammer. Da war ein Tisch, elendes plumpes Machwerk, schwer, an die Wand mit Holzpflöcken festgekeilt.
Meine Augen schätzten Höhe des Tisches und Höhe der Felsendecke.
Mit einem Satz war ich oben, reckte die Arme hoch …
Ich hatte nicht vergessen, daß Everton, Professor Lewis Everton (denn er war es, der mit mir gesprochen hatte), so urplötzlich aus dem Zelte verschwunden war.
Meine Fingerspitzen fühlten, tasteten.
Oh – es ist so viel über Indien, Nepal, Tibet geschrieben worden. Mein Landsmann Sven Hedin errang seinen Weltruhm durch Tibet, aber niemals schaute er die geheimen Gelasse unter den Felsenpalästen der Oberpriester in der verbotenen Stadt Lhassa, wo sicherem Vernehmen nach Milliarden an Juwelen aufgehäuft sind und weiter noch aufgehäuft werden. Niemals ist das Gerücht ernsthaft widerrufen worden, daß 1920 vier aus Europa stammende Feinmechaniker mit riesigen Patentschlössern, kompliziertester Art insgeheim zur Heiligen Stadt geleitet wurden und … dort verstarben. Ihren Angehörigen (es waren Italiener) verstopfte man den Mund mit Geld, der findige Reporter, der diesen „Wohltätern“ auf die Spur kam, ward nie mehr gesehen, und wenn einmal politische Verwicklungen, so meinte Freund Hamilton, Lhassa mit Waffengewalt in fremden Besitz brächte, würden wohl auch die Patentschlösser entdeckt werden: In den Schatzkammern von Lhassa, die mit Blut gesichert wurden.
Auch dies ging mir durch den Sinn, als meine Fingerspitzen in eifrigem Spiel, angetrieben durch das qualvolle Stöhnen über mir, die auch hier bestimmt vorhandene Falltür suchten.
Bronze, das ist bekannt, war eine der ersten Hartmetallegierungen verflossener Zeiten. Bronze findet man bereits bei den ältesten astronomischen Instrumenten der Chinesen, und die enge, engste Verbindung von China, Tibet und Nepal ist durch den Buddhismus gegeben.
Was mein Zeigefinger in der engen Ritze spürte, war körnige Bronze, – ein Druck, und ein Steinstück senkte sich, ich schwang mich halb empor, und mitten im Zelte lag Lord Gerverlin mit einer bösartigen[2] Stirnverletzung. Das Blut war noch nicht geronnen, der Lebensquell schoß hervor im Takte des Herzschlages, und nur eins gab es hier, Hilfe zu leisten, die wirksam wäre: Ich ließ die Reiseapotheke in die Tiefe hinabgleiten, ich packte Hamilton, und … im Zelteingang erschien ein taumelnder Schatten.
Es war Gull …
Neben ihm Trasso, ebenfalls blutend wie Gerverlin.
Berty Gull triefte von Schlamm … Sein Gesicht war grünbraun von dem eklen Morast, aber fest verkrampft hielt er in der Rechten die Pistole …
„Gull, wo sind Garlt und Birk?“
Er schnitt eine abschreckende Grimasse.
„Tot, Olaf, natürlich tot!“
Er wischte sich mit dem Lauf der Pistole den Schlamm von den Wangen, als ob er sich rasierte.
„Natürlich tot … Wir kamen gar nicht zum Schuß … Es waren mindestens fünfzig von den Schlitzaugen, und sie fielen uns an wie … wie tolle Bienen … Natürlich tot …!!“ Er lachte heiser. „Nur mich erwischten sie nicht … Pfui Deubel, war das eine Schwimmtour!!“
Er schüttelte sich …
„… Ich tauchte, – – drüben, Olaf, – – letzte Rettung, und mit einem Male faßte ich in ein Gesicht … ein Weib … tot … Leiche … – pfui Deubel!! Wo ist der Whisky, Mann …? Ah – – dort, – – gut, – – was mühen Sie sich nur noch um den Lord …?! Wir müssen ja doch alle krepieren – – hier, im Tarai, hier, in den Ruinen! Sie wollen es, die verdammten Gelbgesichter, und … – –“
… Er spuckte einen kleinen Blutegel aus …
„Brr…r…r…, – Schnaps, nur Schnaps, – – da, Olaf, stärken Sie sich … Ich … ich werde wieder Mensch, – ich helfe Ihnen, – armer Lord … – Warten Sie, – dort ist ein Strick … Wir seilen ihn an … So … Nun werfe ich Ihnen das Gepäck zu … Fangen Sie es auf … Achtung, der Spirituskocher …! – Achtung, – – jetzt Ihr Trasso, – – die Schufte haben krumme Messer, Olaf, Wurfmesser … – – Ah, – – da ist die Bande wieder …! Wartet nur …!“
Schuß auf Schuß jagte er aus der Pistole …
Dann sprang er hinab, – – der Tisch krachte zusammen, und die Felsplatte schwang empor.
„Absteifen, Gull! Absteifen!!“
„Wird besorgt …!“
Ich wusch Gerverlin die Wunde mit Spiritus und klemmte die spritzende Arterie ab.
Gerverlin erwachte.
Ein wilder Blick ringsum …
„Ah, – – Olaf, Sie …! Auch Gull!! Und Garlt und Birk?“
Der kleine Gull murmelte grimmig:
„Im Himmel, Mylord! Sie haben’s besser als wir – – ein Trost!! Denn dies hier ist die Hölle … Ich selbst, – – wie ein Schwein sehe ich aus!! – – So, die Steinplatte ist abgesteift, und … – hallo, – – verzeihen Sie, Miß …!“
Ethel Everton war neben Hamilton in die Knie gesunken …
„Hamilton!!“, hauchte sie … „Freund Mil, – – dieses Wiedersehen!!“
Gull konnte mich gar nicht schnell genug in den Gang hinausziehen.
„Olaf, – – die beiden: Zeugen überflüssig!“
Wir saßen auf den Stufen des funkelnden Buddhas, die Hunde kauerten neben uns, und ich drückte Trassos Schädelwunde zu und fühlte im Kopf die Leere des zurückkehrenden Fiebers …
„Gull, – wo sind die Fieberbaumblätter?“
„Weg … weg … gestohlen … Weiß nicht, wo sie sind … Müssen ja doch krepieren …“
… Über uns lächelte das Haupt des Gottes sein ewiges, unergründliches, heiliges Lächeln …
Das Schmunzeln eines Satans …?!
Das lautlose Kichern eines Mörders und Seelenfängers …?!
In all der trostlosen Benommenheit meiner pochenden Schläfen arbeitete sich doch ein Gedanke an die Oberfläche: Unten neben Ethels Lager hatte ein kleines Bündel Blätter gelegen!
Ein Druck mit dem Fuße auf den Steinbuckel, und der Zugang öffnete sich.
Gull trat schnell zurück …
„Was ist das, Olaf?“
„Nur ein tieferes zweites Kellergeschoß …“
„Der Gestank!!“
Ich schritt hinab, und als ich wieder droben war, als ich bereits die gallebitteren Blätter kaute, fand ich neben dem blitzenden Heiligen Lächeln nur noch meine vier Getreuen vor.
Dann ein Ruf aus der Nähe: „Hölle und Teufel, – – das ist ja der alte Barralt!“
Ich lief in die Felsenkammer des riesigen Harzklumpens, wo Berty Gull bereits mit dem Pistolenkolben die Bernsteinschicht über dem Gesicht des Eingeschmolzenen weiter zerhämmerte.
„Olaf, – – das ist Barralt!“, triumphierte er. „Da, – – hier die Narbe … quer über dem Kinn … Wir haben im Ressort eine genaue Beschreibung des Kerles … Es ist Thomas Barralt, der Präparator, Diener und Sekretär Evertons … Er verschwand nach der Einäscherung des Maharadschas[3] Dschang Bahadur von Nepal. Evertons Schwester hatte den Maharadscha geheiratet und ließ sich damals mit verbrennen, das dürfte Ihnen bekannt sein …“
Keine Ahnung hatte ich davon …
„… Es war dies der letzte Fall von Witwenverbrennung in Indien und in den Nachbarstaaten, und die Geschichte erregte ungeheueres Aufsehen[*1], wurde jedoch von London aus schleunigst widerrufen und totgeschwiegen, – Sie kennen ja die Art und den Wert dieser Regierungsdementis. Für England war es natürlich unerträglich, etwa zugeben zu müssen, daß eine zum Brahmanismus[4] übergetretene Britin diese fürchterliche Todesart freiwillig auf sich genommen hätte. Evertons Name wurde gleichsam aus dem Buche der englischen Kolonialgeschichte gelöscht, aber sehr bald hatte das Kolonialamt und das A. A. doch alle Ursache, die Dinge gründlichst nachprüfen zu lassen – – ohne Erfolg. Der Lord mag Ihnen die notwendigen Ergänzungen liefern, ich bin dazu nicht berechtigt.“
Der kleine Gull hatte sich in Eifer geredet und hämmerte noch wütender auf das leicht absplitternde Harz, so daß das Loch immer größer wurde.
Nerven hatte Berty Gull erst hier im Tarai kennen gelernt, und nachdem das Fiebergift bei ihm zurückgedämmt worden war, bewies er seine fast abschreckende Gleichgültigkeit gegenüber Erscheinungsformen einer gewiß höchst bedrohlichen Umwelt.
Schreckerregend, abstoßend und unsagbar grauenvoll schimmerte das wächserne Gesicht des toten Barralt in dem zackigen Rahmen der Harzschicht, die gut acht Zentimeter dick war. Die Augen waren wie große Opale, es fehlten Augenbrauen und Wimpern, und der Bart, der dem fürchterlichen Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Everton gab, war gebleicht und zerfetzt und zum Teil waren Harzstücke haften geblieben.
Gull ließ die Pistole sinken.
Er lachte leise.
„Sie sind ja zweifellos ein weitgereister Strolch“, witzelte er in seiner bedenklich kecken Manier. „So was wie dies nennt man Prasma, mein Lieber … Glaube Ihnen, daß Sie keinen Schimmer davon haben. Wir ja! Denn bevor Gerverlin mit uns drei Elitedraufgängern seines Ressorts diese Reise antrat, unterrichtete er uns über all das, was in den Geheimakten sicher begraben liegt und was von der exakten Wissenschaft natürlich mit dem berühmten hochmütigen Achselzucken der geistig Blinden abgetan wird … Eine solche Harzleiche nennt man Prasmati, das heißt etwa „den Gebannten“, und die Zeremonie heißt Prasma, und „Prasma“ ist ganz harmlos gleich Harz der Nepalkiefer.“
Er bückte sich und hob die größten Harzstücke auf, die außen rauh und halb blank erschienen, auf der anderen Seite aber die Eindrücke der Gesichtsformen zeigten. Wortlos paßte er die Stücke in das Loch, bat um meine Laterne und blies die Flamme gegen die Berührungsstellen der einzelnen Stücke, bis die Risse leicht aneinanderschmolzen.
Allmählich füllte er die Öffnung, und als so das entsetzliche Wachsgesicht verschwunden war, meinte er nur: „Ethel Everton könnte Anfälle bekommen, wenn sie dies gesehen hätte … Man muß rücksichtsvoll sein …“
Ich hatte mir derweil diesen fünfeckigen Raum genauer betrachtet, und sogar Montes Sprößlinge schnüffelten höchst neugierig in allen Ecken umher. Monte selbst hatte ich als Wache an die Haupttür geschickt, obwohl sich über uns nichts mehr regte, und die Schlitzaugen nicht einmal mehr den Versuch unternahmen, durch eine der zahllosen Deckenspalten uns zu belästigen.
Gull beobachtete mich und stopfte bedächtig seine Pfeife. Zuweilen blickte er nach oben, wo das Tageslicht durch die Ritzen Zutritt fand.
„Ich sehe wie ein Schwein aus, Olaf“, murrte er ungeduldig. „Gerverlin brauchte die Begrüßungsszene mit seiner Londoner Freundin auch nicht so ins Unendliche auszudehnen … Ich will mich umziehen … Unser Gepäck ist geborgen …“
Er wischte einen Taschenspiegel blank und beschaute sich kritisch.
Schön sah er nicht aus. Der Schlamm auf seinem Gesicht war getrocknet und blätterte ab, sein Haar war eine Niggerfrisur, sein Sportdreß gehörte in die Bütte. Aber sein kühnes Habichtsgesicht blieb, wie es stets gewesen: Das eines Menschen, dem nur das Fieber das Grauen in die Adern gepreßt hatte!
„Olaf, weshalb zeigen Sie so viel Teilnahme für diese fünfkantige Felsenkiste?!“, begann er von neuem. „sollen Sie hier den armen Garlt und den Schwätzer Birk feierlichst bestatten? Ich fürchte, die Gedanken sind überflüssig … Bilden Sie sich etwa ein, daß die Gelbgesichter uns hier lebend herauslassen? Die lauern droben in den Ruinen, und die Schufte haben nette Pfeile mit Dornenspitzen, die nachher restlos verbrennen … Das wissen Sie.“
„Ich bin Ingenieur von Hause aus, lieber Gull …!“
Mein besonderer Ton machte ihn stutzig.
„Warten Sie hier bitte … Ich will nur einmal in die untere Kelleretage hinabsteigen, um etwas nachzuprüfen … – Trasso, – – nieder! Ihr bleibt hier!“
Gull qualmte und kratzte die Schlammreste vom Gesicht …
„Mich brächte niemand in den nassen, stinkenden Keller! Aber bitte, nur zu!“
Als ich die Felsenkammer des heiligen Lächelns betrat, fuhr ich leicht zurück …
„Sie hier?! – Wie das?!“
Auf den Stufen saß das bleiche schöne Geschöpf, die Hexe von der Pyramide, und ihr seidenes Gewand war naß und fleckig und schmierig, und zu ihren Füßen schwamm eine Pfütze. Ihre großen grauen Augen hatten einen trostlos leeren, völlig geistesabwesenden Ausdruck, und mein Erscheinen machte auf sie keinerlei Eindruck. Sie blickte starr geradeaus, links neben ihr gähnte die geöffnete Falltür, und einige frische Blätter von Sumpfpflanzen, die ihrem Gewande anhafteten, zeigten mir den Weg an, woher sie gekommen war.
Ich kannte ihren Namen noch immer nicht, ich wußte nur das von ihr, was sie Gerverlin und mir in vorsichtigen Andeutungen mitgeteilt hatte, und ich wunderte mich trotzdem, daß es ihr gelungen, den schlitzäugigen Sklavenhaltern zu entgehen und hier auftauchen zu können.
Sie glich für mich wie damals in der Pyramide einem Geschöpf aus einer fremden Welt. Sie war nicht einzureihen in irgendeinen bekannten Kreis von Personen, sie war „die Fremde“ geblieben, und jetzt war sie fremdartiger denn je. Ein gewisser harter Zug einer unendlichen Verzweiflung, die bis zu fatalistischem Aufbegehren sich gesteigert hatte, lagerte trostlos um den bleichen Mund.
„Sind Sie entflohen?“, fragte ich lauter und berührte leicht ihre Schulter, um ihre erschreckende Starre zu lösen.
Ihre nassen Gewänder, dünne Seide, waren fast an den formvollendeten Leib in schmutziger Nässe angeklebt und zeigten die Konturen ihres Körpers mit verwirrender Deutlichkeit.
Sie hob etwas den Kopf.
Der Blick verlor das Weltentrückte.
Sie erkannte mich …
„Ah – – Sie, – – Sie leben!!“
Ein Schimmer von schwacher Freude durchleuchtete die blassen Züge.
„… Ich hoffte, daß sie sich gerettet hätten, Mr. Abelsen … Zwei Ihrer Freunde sind weggeschleppt worden … Ich werde Sie führen, wenn es dunkel ist. Ich kam in einem Nachen, und ein Zufall ließ mich die überwucherte Öffnung da finden. Ich wagte alles … Aber unsere Peiniger sind in Angst, und Angst macht blind. Ein Mann kam zu ihnen nebst vier anderen, ein Europäer …“
Sie senkte mutlos den Kopf.
„… Ich begreife nichts mehr von alledem, nichts … Wir hielten Barralt für den Heiligen, – – es kann nicht sein! Der Mann, der zu den Dschungali kam, heißt auch Barralt, und …“ – eine ungewisse Handbewegung folgte … „Nein, wir begreifen nichts mehr …!!“
Meine Hand lag auf ihrer Schulter.
„Mädchen“, sagte ich leise, „Sie hätten Gerverlin und mir alles mitteilen sollen … alles! Dschungali, – sind das die Schlitzäugigen?“
„Das Sumpfvolk, ja …“
„Und wie zahlreich ist es?“
„Es mögen fünfhundert sein …“
„Und ihr Weißen, ihr Sklaven?“
„Vielleicht siebzig – mit den Kindern …“
Ich wußte vorläufig genug. Viel war es nicht. Immerhin löste sich das Dunkel, und einige Lichtpunkte wurden sichtbar.
„Ich bin sofort wieder bei Ihnen … Wie heißen Sie nun eigentlich?!“
„Bißmi … Bißmi heißt Schwalbe …“
Sie versank bereits wieder in die frühere starre Gleichgültigkeit. Sie war erschöpft, unter ihren Augen lagerten bläuliche Ringe. Nur die seltsam geformte Stirnlocke war trotz der Nässe genau so scharf gekrümmt zu einer wunderlichen Arabeske.
Unten, wo die Schlammpfützen in den Felsenritzen stanken und die bleichsüchtigen Ranken den Boden mit trügerischem Grün schmückten und ganze Pilzfelder wucherten, wandte ich mich nach rechts. Der Laternenschein tanzte vor mir her, und der runde, niedere Felsendom mit den Seitenboxen sah mich in einer dieser offenen Kammern verschwinden, die meiner Berechnung nach unter der Kammer des Harzblockes lag. Ich beleuchtete die Decke und die Wände und den Boden, hier war das Gestein trocken, und die Decke zeigte merkwürdige Rillen, ebenso die Wände. Ich nahm das Messer, fuhr mit der Klinge eine der Rillen entlang, und Metall kratzte auf Metall. Unermüdlich suchte ich weiter. Die Buddhisten sind seltsame Baukünstler gewesen, es liegt schon im Wesen des Orients, das Versteckte zu lieben, und wer das Werk des englischen Architekten und Ceylonforschers Sir Leslie Sommersett gelesen hat, staunt über nichts mehr.
Ich suchte mit jener Verbissenheit, die hier einen sehr triftigen Grund hatte, denn gerade diese offene Kammer war fünfeckig, und ihre Größe entsprach dem oberen Raume mit dem Harzblock als Kennzeichen.
Meine Messerklinge wurde schartig, aber die zähe Energie ward belohnt …
Wenn die europäischen Erfinder der Fahrstühle sich auf ihr Genie sehr viel einbilden, mögen sie bescheidener werden. Mit Elektrizität, Motoren und so weiter läßt sich leicht etwas Hervorragendes konstruieren. Aber mit primitivsten Mitteln etwas herstellen wie hier, – das ist ein ander Ding …
Urplötzlich senkte sich die Decke über mir, ich sprang zurück, und knirschend und kreischend schob sich die gesamte Kammer des Harzblockes nach unten – ganz allmählich, – – ich hörte Gull rufen, ich hörte Ethels Stimme, – – aber die Kammer versank wie ein Steinkasten, der Boden, den ich soeben noch abgefühlt hatte, versank mit, und dann packte Gull meinen Arm …
„Teufel, – – was ist das?!“
Die offene Kammer dieser stinkenden Unterwelt hatte ihr früheres Aussehen wieder angenommen, und auch eine Felsendecke war wieder vorhanden …
Nur – – der Harzblock war hinabgetaucht samt seinem Gelaß in unbekannte Tiefen.
Ethel, die den Lord stützte, stand hinter Gull, und noch weiter zurück geisterte des Mädchens Bißmi farbloses Gesicht.
Gerverlin fragte schroff: „Olaf, wozu das?!“
„Einen Augenblick …!“
Ich hetzte die Treppe empor, rannte in die Felsenkammer des Prasmati Barralt, die Kammer schien unverändert, aber sie war leer.
Wieder jagte ich zurück zu den Freunden, wieder knirschte mein Messer am Rande der Scheidewand der offenen Kammern in der breiten Ritze, und die Bronzefeder gab nach, und mit demselben Kreischen und Kratzen und Scharren hob sich das Felsengelaß, glitt empor – – langsam, – – so langsam, daß ich die Wand abklopfen konnte: Der Ton bewies, daß es dünne Steinplatten waren!
Ein Ruck, – – Stille …
„Nach oben!“, befahl ich …
Gerverlin, zitternd vor Schwäche durch den Blutverlust, keuchte in Ethels Armen hinterdrein.
„Olaf, – – der Buddha!!“, mahnte er.
„Gerade das wollte ich ja, Gerverlin …“
Wir Gesunden packten zu … Wir stöhnten vor Anstrengung … Zum Glück war die Tonfigur mit ihrem Übermaß an funkelndem Zierat[5] hohl. Wir stellten sie neben den Prasmati Barralt, ich lief hinab, abermals tauchte die Felsenkammer in die Tiefe, und die Millionen an Edelsteinen waren geborgen.
Gull wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Es war nicht Schweiß, es war Sumpfschlamm.
„Ich werde mich waschen und umziehen …“
Er nahm ein Kochgeschirr, um drunten durch die überwucherte Öffnung Wasser zu schöpfen, und zog mit einem Bündel Kleider davon.
Wir anderen saßen in Evertons Wohnkammer im grünen Dämmerlicht, und Ethel Everton schaute das fremde Mädchen Bißmi unverwandt an. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unverkennbar. Nur daß Professor Evertons einziges Kind reifer und kräftiger erschien. Wir schwiegen, und Gerverlin trank in kleinen Schlucken Brandy und Tee und kaute einen Zwieback.
Über uns durch die schrägen Ritzen und Spalten fiel sehr gedämpftes Licht herab, über uns stand das Zelt, dessen Vorhang offen sein mußte.
Ethel Everton, die jetzt aus ihren Herzensempfindungen kein Hehl mehr machte, lehnte an Gerverlins Schulter.
In die Totenstille hinein flüsterte sie Bißmi zu:
„Du bist meine jüngere Schwester … Du bist eine Everton. Genauer gesagt: Meine Halbschwester …“
In die Totenstille hinein erscholl von oben ein rauhes, freches Organ:
„Kommt heraus – ohne Waffen!! Hier ist Tom Barralt! Kommt heraus, oder ihr alle werdet bei lebendigem Leibe in Harz eingeschmolzen und …“
… Ein Schuß knallte …
Bleispritzer flogen umher …
Droben brüllte Barralt: „Das sollt ihr mir büßen …!“
Dann wimmerte er vor Schmerzen, – – und alles wurde wieder still.
Ich ließ den Patronenrahmen der Pistole in die Hand gleiten und schob eine neue Patrone in den Rahmen. Die Feder des Rahmenkastens knackte, und Gerverlin lachte schadenfroh …
„Etwas hat er doch abbekommen, Olaf …!!“
Ethel war neben Bißmis kauernde Gestalt geglitten und umfing sie und küßte sie …
„Meine Schwester …!! Meine Schwester!!“
Sie kämpfte gegen die Tränen an …
„Meine Schwester, ich habe dich auf den Knien geschaukelt … – Wo ist unser Vater?“
… Fernher durch die Felsengänge kam Montes wütendes Kläffen …
… Es legte sich wieder …
„Tot!“, sagte Bißmi trostlos … „Tot …! Ich habe ihn bewußt nie gesehen …“
Und da war es urplötzlich wieder gegenwärtig, dieses dumpfe, namenlose Grauen vor dem Unheimlichen, vor dem verfluchten Tarai mit seinen Giftdünsten und giftigen Geheimnissen …
Aber trotzdem lebte Everton …
Ich wußte es.
Ich schwieg …
Ich schwieg, weil ein schneller Blick zur Verständigung mit Gerverlin genügt hatte. Auch der Lord hatte über Lewis Everton zu Ethel nichts geäußert, und ich konnte diese Taktik nur billigen, denn wir wußten bisher zu wenig von alledem, was hier Vergangenheit und Gegenwart zusammengebraut hatte an seltsamen Widersprüchen und Ungereimtheiten.
Über uns lastete das Finstere des Tarai als schwere Gewitterwolke, mochte auch droben die Sonne scheinen und der Dschungel wieder brodeln in schwelender Hitze.
Es gab kein Mittel gegen dieses Grauen, es war eine Krankheit, die nur die Zeit heilen konnte. Wir hatten zu viel durchgemacht in diesen acht endlosen Tagen und Nächten, zu viel für die kerngesündeste Natur.
Ethel und ihre Schwester flüsterten leise miteinander.
Gerverlin blickte Berty Gull entgegen, der wie aus dem Modeblatt entsprungen im Türrahmen aufgetaucht war.
„Hallo, Flaute?!“, meinte er anzüglich … Ethel tupfte gerade die Augen trocken.
„Wir müssen umziehen“, erklärte ich kurz. „In die Kammer des heiligen Lächelns, dort hat die Decke weniger Risse! – Anpacken, Gull, – – etwas fix!“
Gull kniff das linke Auge zu.
„Wer schoß?“
„Später, – tragen Sie den Spirituskocher!“
Es kam wieder Leben und Bewegung in unsere kleine Gesellschaft.
Nachdem wir uns drüben häuslich eingerichtet hatten, – was man so „häuslich“ nennt, – nachdem wir den schachmatten Lord weich gebettet und seinen Stirnverband erneuert hatten, spielte Berty Gull den Koch.
Konservenbüchsen entleerten ihren Inhalt in den größten Kessel, – – ich war hier jetzt überflüssig, und lautlos schlich ich durch die Felsengänge und Kammern, hinter mir her schlichen Trasso nebst Brüdern, und Monte begrüßte uns ziemlich faul vor der verriegelten Haupttür unseres Fuchsbaues, hob kaum den Kopf, wedelte kaum mit der Rute. Seine treuen braunen Augen waren tief eingesunken, und irgend etwas in seiner sonderbaren Körperlage ließ mich sehr schnell stutzig werden, mit einem jähen Gefühl der Angst beugte ich mich über ihn und fand auf dem scheckigen Fell an der Schulter zwei schwärzliche kahle Stellen, in denen etwas graue Asche mit eigentümlich silberigem Glanze – etwa wie zerriebener Bimsstein – zu bemerken war.
Diese Asche kannte ich nun von zwei Nächten her, in denen das schlitzäugige Dschungelvolk uns heimtückisch mit ihren eigenartigen Pfeilen überschüttet hatte. Keiner dieser Rohrpfeile ward von uns je gefunden, – sie kamen angeschwirrt, sie schlugen irgendwo auf, begannen zu glühen und zerfielen in Asche.
Als damals die ersten dieser Giftgeschosse uns belästigt hatten, standen wir vor einem Rätsel. Mir gelang es, eins dieser niederträchtigen, schlau präparierten Geschosse zum Teil durch Begießen mit Wasser zu bergen, und die Untersuchung des fingerlangen Stückes ergab das, was ich bereits angedeutet habe: Die Pfeile waren chemisch präpariert, waren hohl, waren mit einem brennbaren Gemenge gefüllt, – all das kein Wunder, wenn man berücksichtigt, daß die Chinesen geradezu Künstler im Herstellen von Feuerwerkskörpern von jeher waren, und daß dieses unheimliche Dschungelvölkchen, das sich selbst Dschungali nannte, zweifellos fast reinblütige Südchinesen waren. –
Mein Monte starb …
Ich sah es … Er starb, ohne zu leiden, genau wie mir Ethel Everton dies von ihren armen Gefährten erzählt hatte.
Und woher die Schüsse?
Nur ein Blick zur Felsendecke empor … Da war eine breite Spalte, gerade breit und schräg genug, den Platz vor der Steintür mit Pfeilen zu bestreichen.
Schnell nahm ich meinen sterbenden Freund in die Arme und trug ihn ein Stück zurück, legte ihn wieder auf den Boden, und gerade da entrang sich seiner breiten Brust ein fast menschliches Stöhnen.
Ein Zucken noch, ein allerletztes Aufbäumen, und Monte war tot.
Ich kniete neben ihm, – neben ihm standen seine drei Südpolarsprößlinge, sie schnüffelten, schnupperten, und dann setzten sie sich nieder und reckten die Wolfsköpfe hoch, und Trasso, der kräftigste der drei, begann das Totenlied, in das die beiden anderen einfielen. Ein schauriges, langgerecktes Geheul scholl durch die Felsengänge, steigerte sich zu schrillem, mark- und beinerschütterndem Jaulen und fand so und so viele Stellen, wo die Steinkammern und Ecken diese Totenklage als Echo verzehnfachten.
Mich berührte dieses fürchterliche Konzert nicht weiter. Ich hielt Montes Kopf in den Händen, sah, wie die treuen braunen Augen immer mehr verglasten, und blitzartig huschten vor meinem Geiste Erinnerungsbilder vorüber, die weit in die Vergangenheit zurückgriffen.
Die Gegenwart war im Augenblick tot für mich …
Ich sah Monte an Bord der weißen Jacht in der farbenprunkenden Lagune an Madagaskars Ostküste, – ich sah ihn in unendlich vielen kritischen Sekunden als meinen einzigen tapferen Freund und Begleiter, und mein Herz wurde mir schwerer als bisher in dieser neuen düsteren Umwelt des mörderischen Tarai.
Nun war auch er hinüber … Nicht das erste Tier, das auf meinen ziellosen Fahrten fern vom Abseits mir Weggenosse gewesen, aber sicherlich der treueste, hingebungsvollste, tapferste von allen.
Die Gegenwart, die versunken, erschien in Gestalt des fixen kleinen Gull.
„Hallo, Olaf, was ist …“ – da stoppte er, da ward ihm die Wahrheit klar, da patschte er mir derb auf die Schulter und sagte gepreßt:
„Mein Beileid, Olaf … – Die verfluchten Gelbgesichter und Giftmischer!! Wenn ich die Bande erst mal vor der Büchsenmündung hätte!!“
Nach ihm näherten sich zögernder die Halbschwestern. Es gab ein großes Klagen um meinen Monte, denn gerade Ethel Everton hatte meinen vierbeinigen Monte sehr in ihr Herz geschlossen und machte aus ihrem Schmerze kein Hehl.
Brutal, frech und roh drang da von oben Tom Barralts Stimme höhnend zu uns hernieder.
„Ihr werdet alle krepieren – – alle! Noch keiner verließ das Tarai, der hier allzuviel zu sehen bekam …! Auch Sie, Abelsen, – – und für Sie habe ich ein Extravergnügen bereit … Wartet die Nacht ab, und ihr werdet winseln wie eure Bastardköter! Wir finden euch und fangen euch – – lebend – – für die erwärmende Prozedur des Prasma, – – ihr … Narren!“
Da hob Bißmi, die bleiche Schwalbe, den schmalen Kopf und rief mit einer Tonstärke zurück, die mich in Erstaunen setzte:
„Barralt, ich erkenne deine Stimme … Du bist ein Betrüger, ein geldgieriger schamloser Mensch! Du hast uns alle getäuscht, du spieltest den Heiligen, du wolltest nur finden, was du nie finden wirst! Jetzt kenne ich dich! So wahr ich eine Tochter Evertons bin, – – mein Vater wird dich strafen, denn ihm ist mehr Macht gegeben, als jemals einem anderen Menschen, – – weil er glaubte, weil er Buddhas heiliges Lächeln in seine Seele einsog! Hüte dich, Tom Barralt!“
Da war nichts von schwülstigen Drohungen in diesen Worten zu spüren, und wer dazu noch wie wir das Antlitz dieses Mädchens beobachten konnte, das vor innerer Erregung noch farbloser geworden war, während die grauen Augen ungeahnt hart und stählern blitzten, der mußte wohl ahnen, daß hinter diesen überlaut hervorgestoßenen Sätzen noch weitere Offenbarungen dämmerten, die nur der Betrüger Barralt begriff.
Auffällig genug auch: Er erwiderte nichts!
Droben blieb alles still …
Nur hier unten hielten die drei Wolfsbastarde die Köpfe schief und knurrten mit funkelnden Lichtern zur Höhlendecke empor. Dann tat Gull – in diesem Falle das einzig richtige – einen so scheinbar abgeschmackten, unpassenden Ausspruch, der doch das eine zuwege brachte: Wir lernten das Lebensnotwendige vor die seelische Erregung stellen.
„Das Essen ist fertig“, sagte Berty Gull trocken. „Wer weiß, wann uns wieder eine warme Mahlzeit beschert wird.“
Mein toter Monte wurde mit einer Jacke zugedeckt.
Ein scharfer Pfiff, und seine drei Sprößlinge folgten mir.
Nacht im Tarai …
Sturm im Tarai, Gewittergrollen, Regengüsse ., .
Um neun begann die Finsternis der schwarzen Wolkenberge, sehr bald prasselte der erste Guß hernieder, und droben in den Ruinen mußten sich ganze Seen gebildet haben, denn durch alle Risse und Spalten der Kellerdecke plätscherte die Nässe herab und überflutete die Kellergänge.
Kurz vorher hatten wir Monte im unteren Keller begraben, still, ohne viel Worte.
Und als das Loch ausgefüllt und die Steinplatte darübergedeckt war, dröhnte in der Ferne der erste Salut der Himmelsbatterien.
Nacht im Tarai …
Fluchtbereitschaft für uns … Jeder trug ein Bündel Gepäck, nur Gerverlin wurde verschont.
Im Dunkeln standen wir vor dem überwucherten Loche, und Bißmi, die bleiche Schwalbe, schob sich durch das Gestrüpp und suchte nach dem Tau des versenkten Nachens, den sie mit Felsstücken beschwert hatte.
„Hier, Abelsen …!“
Ihr Flüstern war nur ein Zischeln, ihre Stimme paßte sich dem Keuchen der Sturmstöße an …
„Gull, mit anpacken!!“
Berty Gull und ich hockten halb im Freien.
Der Regen schlug uns in die heißen Gesichter, und das Aufflammen der Blitze hinderte unsere heimliche Arbeit, Dornen zerkratzten uns die eifrigen Hände, und keuchend holten wir die schwere Last des Flachbootes aus der Tiefe hervor, wo der Morast mit tausend Armen seine Beute festhalten wollte.
Der Kahn kippte schließlich, der Steinballast glitt heraus, und die Spitze des Bootes tauchte empor, nur das Heck blieb unter der trüben Flut.
„Gull, – – ich klettere hinein … Hinten muß sich ein Stein verfangen haben …“
Der Regen ließ etwas nach, aber die Finsternis war wie ein pechschwarzes Tuch …
Ich rutschte ins Wasser, der Boden des Bootes war schlüpfrig von feinem Schlamm, und meine Hand erfaßte etwas … und fuhr zurück …
Ich hatte eine andere Hand gespürt, und ich ahnte, wem sie gehörte.
Unser Boot hatte einen der Toten nach oben befördert, einen der Gefährten Ethel Evertons, die sie notgedrungen hinabgestoßen hatte in das unergründliche Moor.
Ich biß die Zähne zusammen, ich hockte im Wasser, rutschte noch weiter, tastete von neuem umher, ergriff ein Kleidungsstück, weichen Stoff, und hob und zerrte und zog …
Ein neuer Blitz fuhr hinter den Bäumen nieder, und für eine Sekunde erblickte ich ein geisterhaftes Frauengesicht, dann sank die Tote zurück in den Sumpf, und das Boot richtete sich auf. Ich fand auch die festgebundene Schöpfkelle, vorsichtig entleerte ich den flachen, breiten Kahn, immer zu den Ruinen emporspähend, wo die Gefahr lauerte.
Abermals ein Blitz, dessen Helle durch die Baumkronen abgeschwächt wurde.
In den Ruinen, wo unser Zelt stand, huschten Schatten hin und her …
Der Regenguß verstärkte sich wieder, – – und Gull kam mit dem großen Kochkessel, und wir arbeiteten im Eiltempo. Der Gewittersturm heulte, Baumstämme brachen nieder, und wir brauchten nicht mehr so behutsam zu sein, – bei diesem Lärm wurde jedes andere Geräusch erstickt.
Berty Gull, naß wie ich, naß wie eine Katze, wischte mit seiner Jacke Schlamm, Blutegel und faule Blätter aus dem Nachen, der nach Möglichkeit entlastet werden sollte. Daß das Boot uns alle und die Hunde niemals tragen könnte, wußte ich längst. Es würde, selbst wenn ich mit Trasso zurückblieb, ohnedies schon überlastet sein.
Wir verstauten das Gepäck, wir hatten noch die Zeltbahnen des Reservezeltes zur Verfügung, und so konnten denn auch die Frauen im Trockenen sitzen.
Gull, Gerverlin und ich berieten leise. Ich bestand darauf, daß ich mit Trasso zurückbliebe. „Ich finde mich schon durch“, zerstreute ich die Bedenken der Freunde. „Ich nehme den Dschungalis einen ihrer Kähne weg. Ethel wird euer Boot führen, sie kennt das Tarai ja, und besser als Bißmi … Ethel entfloh von hier, wenigstens dies ist uns nun bekannt. Das „trockene“ Land der Schlitzäugigen soll genau im Nordwesten zu suchen sein … – Redet nicht viel, es geht nicht anders, und macht, daß ihr verschwindet … Das Boot ist zu klein für uns alle, und wer von euch beiden übernähme es, diesen gelben Halunken einen Streich zu spielen …?!“
Händedrücke, – – das Boot stieß ab … Gull und Bißmi, erkannte ich trotz der Finsternis, handhabten die Stoßstangen, die mit Eisenhaken versehen waren.
Ein neuer Blitz … Sekundenlang gefährliche Dämmerung … Gull und Bißmi hatten sich geduckt, – – und wieder versank alles in Dunkel und Regenflut, und ein langer Schatten glitt über die offenen Stellen des Sumpfes und verschmolz mit der lauernden Nacht in eins.
Brav, kleiner Gull! Er hatte sich die Richtung gut gemerkt, wo das Moor von braunem Wasser wie von einem Bach durchzogen wurde.
Der nächste Blitz zeigte mir nur mehr die matt schillernden Stellen und die zahllosen Inselchen mit ihren sturmgepeitschten Riesenstämmen … Die Flucht war geglückt, und nun lag es an mir, auch für Trasso und mich eine Möglichkeit zu erzwingen, die Ruinen unbemerkt zu verlassen.
Mein Wölflein und ich krochen in den feuchten, schlammigen Keller zurück. Ich hatte Trasso kurz an der Leine, denn mit seiner Dressur war es nicht weit her, er war noch zu jung, zu ungestüm, er war nicht der alte erfahrene Monte, und ich mußte auch auf ihn scharf achtgeben.
Ich schob die Blende von der kleinen Laterne, schulterte mein Bündel, hakte es fest und hing die Büchse über die Schulter. Ich trennte mich nur schwer von diesen geheimnisvollen Ruinen, die ein Stück meiner selbst zurückbehielten: Monte!
Mit halb verdeckter Lampe trat ich an sein bescheidenes Grab. Schlammwasser quirlte überall, die Steinplatte war halb davon bedeckt, – – sollte ich mich freuen, daß Moorwasser jeden Kadaver überraschend gut konserviert, würde ich je Gelegenheit haben, meinem Monte droben im Sonnenlicht ein besseres Grab herzurichten?!
„Lebe wohl, alter Monte …!“, – – und abermals da das dröhnende Schmettern einer elektrischen Entladung, – – kaum verhallt, eine zweite Explosion, deren Luftstoß ich bis hier hinab spürte. Teile der Decke polterten hernieder, der Boden zitterte, und ein spöttisches Lächeln verzog meinen Mund.
Barralt, du hast die Steintür fünf Minuten zu spät gesprengt!!
Ich packte Trasso, schob ihn durch das umrahmte Loch ins Freie, kletterte hinterdrein, kroch die zackige Böschung des Felsenrückens bis zum Turmrest hinan, und schlich gen Süden an der anderen Seite entlang.
Aus den Kellern erscholl das Kreischen wütender Enttäuschung der Genarrten. Sie fanden das Nest leer, und hohnvoll musterte ich beim Aufflackern einer neuen Zickzacklinie droben auf den Mauerresten die Wachen der Sumpfbewohner, die uns hatten abfangen sollen, falls wir den Durchschlupf durch Evertons Felsenkammer benutzt hätten.
Das Zelt war verschwunden, – – aber anderes war da, – – dicht neben mir, in einem buchtartigen Einschnitt zeigte mir das rasch erlöschende Himmelslicht eine Anzahl von Flachbooten.
Daß dort ebenfalls fünf Wachen unter ihren wollenen Umhängen kauerten, ließ mich ziemlich kalt. Die Kerle hatten übergenug auf ihrem Schuldkonto, und die schönen Phrasen von Rücksicht, Nächstenliebe und Ähnlichem mögen vor festlichen Versammlungen von Herren im Frack und dekolletierten Damen wunderschön klingen, – – ich möchte einmal einen dieser mit Versöhnlichkeit bis zum Platzen geladenen und sicherlich tadellos ernährten Gents beim Wickel nehmen und so mit einem Schwung aus der Zivilisation in dieses Abseits befördern und ihm zuflüstern, daß die Giftpfeile der Kerle dort unbedingt töten und daß hier der Ort sei, den härteren Grundsatz zu erproben: „Not kennt kein Gebot“, – – was würde die weiße, pralle Frackweste dann wohl tun?!
Ich fürchte, der Gent würde mir stotternd erwidern, man müßte hier doch unbedingt ein Schiedsgericht anrufen, – – und im nächsten Augenblick würde er, wenn wie jetzt wieder einer der Dschungelriesen krachend kentert und andere mit sich reißt, schleunigst sich verbessern und mich anflehen: „Stehlen Sie ein Boot, schlagen Sie die Schufte tot …!!“
Ansichten ändern sich … Im Handumdrehen!
Du brauchst nur die flache Hand auszustrecken und dann urplötzlich die Innenhand zu zeigen, wo irgend ein kleiner schwarzer Kugelspucker, Kaliber 6,3, verborgen ruht, – – und dein Gegenüber wird sich der überzeugenden Kraft einer im Lauf befindlichen Patrone und eines Patronenrahmens von weiteren acht blanken Dingern derselben Güte niemals verschließen …
Das so nebenbei.
Hier bei mir im Tarai nur Nacht und Regen und Sturm und Lärm, – – keine Frackbrüste, keine Abendkleider, unten lang, oben zu kurz, – – hier nur das eine, was Geltung hat: Mann sein!!
Fünf Wachen, – immerhin etwas viel …
Schlägt einer von den Kerlen Lärm, habe ich die ganze Horde auf den Fersen …
Lassen wir ihnen also ihr schäbiges Leben und vertrauen wir der Finsternis …
Dort, wo der Naturhafen ein paar Felsblöcke in den Sumpf schiebt, liegt ein einzelner Kahn, so eine Art Einbaum …
Auf den bin ich scharf.
Ich gelange zwischen die Felsen, und ich warte.
Habe Zeit …
Wenn Barralt mit seiner Bande aus der Unterwelt wieder auftaucht, wird es ein großes, grimmiges Palaver geben, und die enttäuschten Herrschaften dürften kaum die Möglichkeit in Erwägung ziehen, wir hätten eins ihrer Boote uns ausgeliehen, und die fünf Wachtposten dort werden zweifellos ihre schuftigen Schlitzaugen nach der Landseite richten.
Immer gemach, – – nichts übereilen! Nur nicht!
… Das Gebrüll der Genasführten in der Tiefe ist verstummt … Plötzlich taucht eine brennende Laterne als matter Fleck in Richtung des Turmes auf, eine zweite … Barralts Stimme dröhnt durch das Toben der Elemente …
Eine gute, kräftige Stimme … Die eines Ausrufers einer Schaubude. Ob Tom auch seine zahmen Kakadus mitgeschleppt hat? Wohl kaum.
Die Wachen starren auf die Laternen. Ein Griff, Trasso ist im Einbaum, der federleichte Kahn, obwohl halb voller Regenwasser, saust zwischen die Inselchen, und mein wütend pupperndes Herz, dem das viele Chinin sehr schlecht bekommen ist, wird wieder vernünftig …
Nerven …
Tarai-Nerven …
Entschuldbar …! – Oder nicht?! – Bitte, – – da bläst der Gewitterorkan gerade nochmals mit letztem Fanfarenstoß seines Finale über die Riesenstämme hin … Da neigt sich irgendwo einer der Giganten, unsichtbar für mich, aber dem Prasseln der Äste nach ganz in der Nähe, zum Todessturz … – Trifft mich die Baumkrone, ist alles aus …
Zehn Meter vor mir saust die grüne Riesenbombe in den Sumpf, und Schmutz und Schlamm und Zweige und ein paar kreischende Affen überschütten mich mit unwillkommener Last.
Mit kläglichem Winseln, das dem Plärren eines hilflosen Säuglings gleicht, liegen da irgendwo im Einbaum die halb zerschmetterten Affen – unsichtbar für mich.
Trasso knurrt mordgierig.
Wie ein Blinder schiebe ich den Nachen weiter.
Hindernisse türmen sich auf, unendliche Umwege fressen kostbare Zeit …
Und – es regnet …
Regnet …
Vor mir winseln die sterbenden Affen …
Über mir rauscht des Dschungels Wipfelmeer … Ferne Blitze fahren nieder, – – weit, ganz weit. Das Gewitter zieht gen Osten …
Ich sitze hinten im Einbaum, keinen trockenen Faden am Leibe, zwischen meinen Knien hockt das Wölflein, und mechanisch benutze ich die Stoßstange, den Eisenhaken …
Um meine Schläfen liegt wieder ein Ring, – nur von Gummi … Bald von Eisen … Her mit den köstlichen, gallebitteren Blättern, die das Blut entgiften. Ich kaue … kaue, und schleppe den Einbaum streckenweise über buschreiche Inseln. Die Affen? – – Armes Getier … Ich habe ihnen die Qual verkürzt: Menschenpflicht!
Es regnet … regnet … Gewiß, die Finsternis ist nur noch wallender grauer Schleier … Wenn nur der Mond käme, etwas Licht!! – Es ist jetzt kurz nach Mitternacht …
Abermals schulterte ich den leichten Nachen, da die Wasserwege des Sumpfes alle nach falschen Richtungen laufen. Trasso trabt voran, die Insel hier hat hohe Ufer, hohes Gras, steinigen Boden und unzählige weißblühende Dornenbüsche, deren Blütenfülle seltsame Gespenster vortäuscht.
Trasso steht – – urplötzlich … Ich renne gegen ihn … Er rührt sich nicht.
Ich horche …
Irgendwoher trägt der abgeflaute Wind merkwürdige Töne herüber …
Aus Trassos Brustkasten kommt ein ähnliches Heulen … Er antwortet nur seinen Blutsverwandten, der Wolfsmeute, die da im Tarai vielleicht ein Wildschwein hetzt …
Ein anderer Ton erklingt, kraftvoll, hoch anschwellend: Ein Tiger jault!
Die Wolfsbrut verstummt …
Trasso schreitet weiter, aber auch ihm ist es nicht ganz geheuer zu Mute … Mit einem Male zerreißt die Wolkendecke, mit einem Male glänzt über uns die breite Mondsichel, und die beleuchteten Wolkenränder täuschen Scheinwerferlicht vor, das von unten über sie hinweghuscht …
Ein Blick auf die Uhr … Zwei Uhr morgens?! Sind wirklich bereits wieder zwei Stunden verstrichen?!
Eiliger trabt Trasso, munterer, schüttelt den letzten Regen aus dem Pelz, und pfadlos wandern wir über die unbekannte Insel des Tarai hin, pfadlos, Abseitswege, und doch ein Ziel im Auge, das uns der Kompaß anzeigt: Nordwest!
Der Einbaum drückt. Ich mache Rast mitten im echten Dschungel an kahler, steiniger Stelle, lege das Boot nieder, setze mich hinein und hebe auch Trasso zwischen die schützenden Holzwände. Es wäre zu gefährlich, sich dem Steinboden anzuvertrauen. Das häßliche Zischen einer Kobra, die blitzschnell in ihrem Loche wieder verschwand, hat mich gewarnt. Ich schnüre mein Bündel auf, – ein gutes Zeichen, ich verspüre grimmen Hunger, und der Inhalt der Konservenbüchse wird ehrlich geteilt, nur daß Trasso diese Kunstnahrung nicht ganz schmeckt. Frisches Fleisch wäre ihm lieber.
Seine spitze Wolfsschnauze ruht auf meinem Knie, und seine spitzen Ohren sind nach vorn gestellt, ein ganz leichtes unmerkliches Erschauern und Zittern geht durch seinen Leib …
… Er hört die Seinen wieder, – sein Blut meldet sich, sein Wolfsblut …
Das Mondlicht bleibt … Die Wolkendecke zerreißt immer mehr, Sterne blinken, Duftwellen leben anstelle des Regens auf, und das Tarai zeigt mir sein besseres Antlitz … Eine träumerische Stille liegt über der weiten Wildnis, die Baumkronen drüben säuseln nur, mein Kopf wird wieder klar, und die traumhaft-schöne Umgebung der weißen Dornen und üppigen Büsche drängt mir Bißmis Worte über die bebauten Felsenhügel des schlitzäugigen Dschungelvolkes wieder in die veränderte Gegenwart zurück.
Eine feuchte, qualmende Zigarre facht die Lebensgeister wieder an, und sinnend spüre ich all dem Verworrenen nach, das, nichts Halbes, nichts Ganzes, sich um das heilige Lächeln spinnt in grellsten und düstersten Farben.
Aber der alte Weltentramp mit dem nimmermüden Mißtrauen selbst gegenüber einer Umwelt, die wie hier bis auf das giftige Gewürm harmlos erscheint, bleibt wach trotz der spürenden Gedanken, die in die Vergangenheit eindringen möchten.
Das ferne Heulen der Wolfsmeute ist nicht der einzige ernstere Laut, der zuweilen auflebt.
Wieder jault ein Tiger …
Ein zweiter antwortet …
Affen kreischen erbost, beruhigen sich wieder.
Meine Zigarre fällt in einen nassen Grasbüschel, zischt, erlischt …
Trassos Nackenhaar, dicker, wolfsmäßiger als das Montes, hebt sich zu straffer Bürste.
Meine Hand faßt die Büchse, mein Daumen schiebt die Sicherung zurück.
Da …
Wieder aus den Büschen drüben das verdächtige Kratzen, Scharren … Ein einzelner Baum steht dort mit riesiger, kugelrunder Krone, in der schwarze flache Flecke auf Nester hindeuten.
Trasso zittert …
Es ist doch nicht das Wolfsblut in ihm, das diesen stillen, lautlosen Grimm auslöst, doch nicht die Sehnsucht nach der Freiheit der frei jagenden Brüder.
Meine Augenlider schließen sich halb …
In der Baumkrone bewegt sich etwas …
Eine blitzschnelle Linie fährt hernieder, wie ein glühender, eilender Funke, der einen gleißenden Strich vortäuscht …
Und da – urplötzlich – ein dumpfes Fauchen, ein so urkräftiges, fast dröhnendes Fauchen, wie es der Mensch im Alltag nur zur Brunstzeit vor dem Gitter eines Tigerpärchens hört … in einem sicheren zoologischen Garten, gegen Eintrittsgeld.
Hier kostet das Schauspiel nichts …
Höchstens das Leben …
Und wer das eigene Leben etwa gleich bewertet mit klingender Münze, wer nie daran denkt allezeit, daß auch im Alltag der Sensenmann jede Sekunde hinter ihm lauert, mag im Alltag seines Daseins froh werden …
Im Abseits nie! Die, die den Tod als schicksalshaften Abschluß unseres Lebens betrachten und nicht davor bangen, ob er früher oder später kommt, – nur die schöpfen des Daseins Füllhorn auf ihre Art voll aus. Wohlverstanden: Auf ihre Art! Und das werden stets diejenigen sein, die mit dem heiligen Lächeln berechtigten Selbstbewußtseins und maßvoller Selbstsicherheit ihre Straße wandeln.
… Wie der da drüben auch, der Mann im Baumwipfel, der Tigertöter, dessen endlos lange dünne Beine plötzlich an einem grünen Naturtau herabgeglitten, samt dem Tau hin und her schaukelten und noch tiefer glitten.
Derartige Stelzen besaß nur Houston Garlt, Beamter der Abteilung X, A. A., Ressort A, Chef Lord Gerverlin.
Aber dieser Garlt mit dem schmalen Britenkopf und den eigentümlich verschleierten Augen, sicherlich ein Mensch von überreichen Erfahrungen, schien die Wirkung des Giftpfeiles doch überschätzt zu haben, stoppte plötzlich seine Abwärtsbewegung und suchte seinen werten Kadaver wieder in Sicherheit zu bringen.
Er tat es mit beängstigender Beschleunigung, und da leider bereits auch seine ganze ausgemergelte Gestalt sichtbar geworden, wäre dieses Zwischenspiel zweifellos böse abgelaufen.
Ich hatte mich schnell erhoben.
Ich hatte die Sniders bereits im Anschlag, als dort über die Büsche eine braunrote Linie elegant emporfedernd hochschoß und mit den vorgestreckten Pranken nach Garlts Wade schlug, – soweit dieser Federgewichtgentleman überhaupt Waden besaß.
Das Mündungsfeuer fuhr aus der Büchse, und der Tiger, ein Riesenexemplar seiner gefährlichen Familie, fiel sofort zurück.
Der Schuß war notwendig geworden, aber er war Leichtsinn … Leichtsinn für Flüchtlinge im Tarai, das sie nicht kannten, das ihnen all ihre Heimtücke entgegenstemmte, weil diese Niedertracht von unsichtbaren Feinden ausging.
Ich eilte durch die Büsche, es waren kaum zwanzig Meter, ich fand eine Lichtung, den von den Krallen des Tigers fast gänzlich abgeschälten Kugelbaum, und ich sah die tote Bestie regungslos neben einem zur Hälfte bereits verspeisten Wildschwein liegen: Kopfschuß!
Garlt kletterte herab. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Houston Garlt, der im Klubsessel des Salonwagens des Extrazuges sich gerekelt hatte. Er war ein schmieriger, nasser Strolch mit einem Bogen als Waffe und einem Lederköcher mit noch dreien der in Nichts sich auflösenden Pfeile.
„Danke, Olaf …!! – Solch ein Vieh!!“, sagte er etwas kleinlaut.
Er gab mir nicht die Hand, denn diese Hand war dick geschwollen durch den Giftsaft der infamen nepalesischen Blattläuse.
Das heißt: Ich nenne sie Blattläuse. Die Wissenschaft mag dafür eine vornehmere und unverständlichere Bezeichnung geprägt haben. Die Tatsache bleibt bestehen: Diese Sorte Insekten sind widerwärtig und höchst unangenehm!
„Vieh?!“, sagte ich, und meine Laune lag nahe dem Gefrierpunkt. „Vieh?! Wer?! Der Tiger?“
Er verstand.
„Also grob können Sie also auch werden, Olaf … Gut, ich mag mich töricht benommen haben, und …“
„Dumm …!!“
„Danke …! – Aber der Tiger lag ganz still …nach dem Pfeilschuß!“
„Und da zeigten Sie ihm Ihre Stelzen, – ein Wunder, daß er feststellen wollte, was an Ihren Waden Knochen oder Fleisch?! – Aber lassen wir das. Der Schuß wird die gelbe Bande alarmieren, und jetzt verwünsche ich das Mondlicht!“
Houston Garlt nickte ehrlich.
„Bin ausgekniffen, doch die drei Kanus mit zwanzig Eigelbvisagen sind sicherlich noch in der Nähe … Wieviel Patronen haben Sie?“
„Genug, – – kommen Sie, wir müssen verschwinden, diese schöne trockene Insel ist der ungeeignetste Ort, den Burschen eins auszuwischen.“
Als Garlt meinen Einbaum und den darin festgebundenen Trasso erblickte, hüstelte er nur, – schweigend schulterten wir den Kahn, schweigend trabten wir gen Nordwest durch diesen urechten Dschungel, und als das Gelände sumpfiger wurde und die ersten Baumriesen auf ihren Inselchen und die erste blanke große Pfütze sichtbar wurden, vernahmen wir rechts von uns einen so miserabel nachgeahmten Schrei einer großen Waldeule, daß Garlt geringschätzig flüsterte:
„Bambusflöte!! – – Da – – die Antwortsignale!“
Wir horchten …
Ringsum, bald ferner, bald näher, ertönten dieselben heisernen Rufe, und sehr bald stimmten aufgescheuchte Affenherden ein, die voller Empörung endlos lange zeterten, – immer noch, als unser Kahn still dahinglitt, stets den tiefsten Schatten suchte und Garlt mit meiner Büchse in die trübe Dämmerung der Wasserwildnis hineinzufunken bereit war …
Still und lautlos handhabte ich die Stange mit dem Haken, Trasso saß mit spitzen Ohren da, windete, – – unangenehm helle kleine Teiche, auf deren Spiegel das Nachtgestirn Silberglanz streute, waren die gefährlichsten Durchschlüpfe, und als wir gerade einen dieser erweiterten Kanäle passiert hatten, erscholl hinter uns der verhängnisvolle Eulenruf, – – so nahe, daß ich mir sofort sagte, es läge Absicht in dieser feinen List, uns erst einmal vorüberzulassen …
Der Rückweg war uns abgeschnitten.
Vor uns wuchs aus dem Sumpf eine senkrechte Felswand empor, zu beiden Seiten des schmalen, freien Wasserstreifens wucherte am Fuße der Baumgiganten undurchdringliches Dornengestrüpp, – – noch zwei Stöße mit der Stange, und ich bremste den Kahn, damit er nicht gegen das bemooste und von Ranken überwucherte Gestein stieße.
Zum Glück war es hier dunkel. Die Baumkronen flochten sich ineinander, die Flechtenbärte waren dichter als anderswo, die Schmarotzerpflanzen in den Rissen der Rinde üppiger und zahlreicher.
Eine brutwarme Treibhausluft, vermischt mit dem fauligen Odem des Sumpfes, lagerte über dem braungrünen Wasser.
Aus finsteren Winkeln des Gestrüpps schimmerten helle fahlgrüne leuchtende Gebilde: Faulende Baumstümpfe, durchsetzt mit kleinen Leuchtkäfern …
Und hinter uns, – dort, woher wir gekommen, schauten wir durch die Finsternis dieses Kanals in das Mondlicht des letzten breiten Beckens, – – Schatten glitten dort an den Ufern hin und her, alles Flachboote, alle besetzt mit den affenartigen schlitzäugigen Burschen, deren verborgene Heimat nach Ethel Evertons und ihrer Halbschwester ungewissen Angaben nicht mehr allzuweit entfernt sein konnte.
Houston Garlt kaute kaltschnäuzig Fieberblätter …
„… Falls Sie mit dem Leben davonkommen, Olaf“, meinte er undeutlich, „– ich habe eine Mutter in London … Die Adresse „Auswärtiges Amt, Abt. A“ genügt … – Hätten Sie mich lieber von dem Tiger fressen lassen, Olaf …! Der Schuß hat alles verdorben. Was liegt an mir?! Nichts! Das heißt …, – – eine alte Frau in London hätte geweint … Aber auch der Schmerz wäre vorübergegangen …“
Er spie die ausgelauchten Blätter über Bord und hielt den Kopf horchend still.
„Da – – Signale!!“
„Ich höre …“
Ich betastete mit der Stoßstange das Steilufer, die Eisenspitze erklang dumpf infolge der Moospolster, – – aber meine Hoffnung, daß die senkrecht herabhängenden Ranken eine Felsspalte verdeckt haben könnten, die uns das Erklimmen der schroffen Wand erleichtert hätte, war trügerisch.
Derweil paßte ich genau auf die Signale auf. Vor uns auf der Anhöhe, die von Baumwipfeln in grüner Üppigkeit umkränzt wurde, blieb alles still …
„Garlt, wir müssen an der Wand empor! Der Baum dort ist der einzige, der in Betracht kommt … Ich schnüre mir Trasso auf den Rücken, Sie nehmen das Gepäck, viel wiegt es nicht …“ Die Worte stolperten mir über die Zunge … Jede Sekunde bedeutete Zeitverlust.
Ich drückte den Kahn näher an das Gestrüpp. Ein paar Ranken benutzte ich als Taue. Der Kahn lag fest.
„Schneller, Garlt …!! Sie zuerst!!“
Houston Garlt kletterte trotz der geschwollenen Hände wie ein Affe. Als er droben in der Krone verschwunden war, nahm ich die Büchse und spähte in den hellen Halbbogen des offenen Gewässers hinüber.
Trasso war vernünftig genug, sich in seinem Zeltsack auf meinem Rücken still zu verhalten. Die im Schatten gleitenden Flachboote[6] waren näher gerückt. Plötzlich knurrte mein Wolfsbastard, und aus den Dornen halbrechts von mir flogen drei leuchtende Streifen heraus, die mich nur deshalb verfehlten, weil ich mich rechtzeitig duckte.
Meine Sniders spie Schuß auf Schuß …
Schreie, Brüllen, Plätschern von Wasser jenseits des Dornenwalles war die Antwort.
Nun wußte ich es: Parallel zu diesem dunklen Kanal lief ein zweiter, und dort lag ein Flachboot, das sich lautlos herangeschlichen hatte. Nach dem Gebrüll zu urteilen, hatten die Bootsinsassen vorläufig genug mit sich selbst zu tun, und wenn ich diese günstige Gelegenheit nicht benutzte, würde ich niemals entwischen. Also hochgereckt, einen Aststumpf gepackt, – ein Klimmzug, und – – gerade zur rechten Zeit …!!
Glück gehabt …!
Eine ganze Wolke von leuchtenden Strichen sauste über meinen Kahn hin.
Mich deckte jetzt der Stamm des Baumes, und der brave Garlt, dem ich eine meiner Pistolen gegeben hatte, griff mit wütendem Bellen von Schnellfeuer von oben ein, – – ich turnte höher und höher, dann packte mich eine Faust, ich stieß mich mit den Beinen ab und kollerte zwischen Grasbüschel und Steine.
Garlt riß mich hoch …
„Galopp, Olaf … Die verdammten Schweine hocken auch in den nächsten Bäumen!“
Wir rannten durch dünnes Gebüsch, – der Felsboden stieg an, dunkle Baummassen, zumeist harzduftende schlanke Stämme, nahmen uns auf, und nach einer letzten äußersten Anstrengung erklommen wir eine neue Steinwand, deren zerklüftete Rückseite zahllose Schlupfwinkel bot.
In Schweiß gebadet, keuchend, nach Atem ringend warfen wir uns in die hier wuchernden Thymianpflanzen …
Ekelhaftes kleines Viehzeug, Andenken an die Sumpfgiganten, klebte uns an Gesichtern, Händen, im Genick, war uns zwischen Hemd und Haut gerutscht und brannte wie Feuer.
Garlt stöhnte unterdrückt …
Ein Mondstrahl traf seine Hände: Rote Klumpen!
Und derselbe Mondstrahl zeigte mir meine Hände: Sie waren dick – – dick wie die Houston Garlts, der in den Fingern der Rechten noch die Pistole hielt, weil er den Zeigefinger nicht mehr aus dem Abzugsbügel herausbekam.
Wie eine eingekerbte dicke Wurst lag dieser Finger in dem Bügel … – –
Tarai, – – Tarai, – – die Hölle …!!
Tarai, – – Tarai?! – – Und weshalb all dies Grauenvolle?! Weshalb?!
Weil Professor Evertons Tagebücher verschwunden waren, weil der uralte spukhafte Lama, der einst Lewis Everton hieß, wahrscheinlich in diesen Tagebüchern zu viel geschrieben hatte von – –, ja, – – wovon?!
Tarai – – Tarai …!!
Garlt stöhnte leise …
Tarai!!
Der nepalesische Thymian duftete betäubend. Seine Blüten waren noch feucht von dem Gewitterregen, und die Wärme der Hochsommernacht förderte die Ausstrahlung der etwas scharfen, aber ebenso würzigen Gerüche.
Trasso, den ich aus seinem Leinensack befreit hatte, wälzte sich voller Behagen in den kräftigen Stauden, und da der tierische Instinkt uns abgestumpfte Menschlein immer wieder um beträchtliche Nasenlängen selbst auf dem Gebiete zumeist angemaßter Intelligenz schlägt, sah ich sehr bald in diesem anscheinend sehr übermütigen Treiben des Wolfsbastards mehr als nur den Ausdruck eines besonderen Wohlbehagens: Auch Trassos Pelz war voller Läuse, und der Blütenstaub, das beobachtete ich bei Mondlicht, verjagte das kleine Gesindel in eiliger Flucht.
Ein Versuch konnte nichts schaden. Meine Hände, mein Gesicht, mein Nacken, Rücken und Brust brannten mörderisch, es war kaum zu ertragen. Ich riß ganze Bündel der Pflanzen aus, und schon allein diese für geschwollene Finger peinvolle Arbeit wirkte in kurzem wunderbar. Das Brennen ließ nach, und Garlts unwillige Frage, was ich denn da eigentlich täte, war höchst unangebracht.
„Tun Sie dasselbe, Garlt, – – Trasso ist klüger als wir beide zusammen …“
So erlebte denn dieses abgelegene Plätzchen des Tarai das ungewöhnliche Bild, daß zwei Europäer sich all ihrer Kleider entledigten und dem Beispiel eines drunten an der Südpolargrenze geborenen Wolfsbastardes folgten und nachher ihre schmierigen Lumpen – denn viel mehr war von unseren Anzügen nicht übrig geblieben – einer ähnlich gründlichen Desinfektion oder Entlausung unterzogen.
Derweil verschwand die dicke Mondsichel so allgemach, und ein kühlerer Wind, der über die Sumpfwildnis hinstrich, kündete den nahenden Morgen an.
Bisher hatten wir nichts von den Schlitzaugen gespürt, wir durften auch hoffen, ihnen endgültig entwischt zu sein, denn in dieser Felsenwildnis eine Fährte verfolgen, war mehr Sache eines gewiegten Jägers als dieser kleinen scheußlichen Kerle, die nach allem, was Ethel und die Schwalbe Bißmi über sie erzählt hatten, ein angesprochenes Faulenzerdasein[7] führten und ihre weißen Sklaven für sich arbeiten ließen.
Im Osten dämmerte also der neue Tag herauf.
Garlt war vor Erschöpfung eingeschlafen, ich hatte mein sehr fragwürdiges Kostüm wieder übergestreift, und aus alter Gewohnheit pirschte ich mich so etwas über diese unregelmäßige Felsenhügelterrasse höher empor, während Trasso meinen Freund Garlt bewachen mußte.
Bisher hatten wir nach Westen zu so gut wie keine Fernsicht gehabt. Ich war einen Felskamin emporgestiegen, und so lautlos hatte ich mich bewegt, daß mir eine Überraschung zuteil wurde, die mit dem ersten Aufblitzen der Sonnenstrahlen zeitlich zusammenfiel.
Die Felswand war erstiegen, vorsichtig hob ich den Kopf, – vorsichtig wie immer, denn das Abseits dämpft den Übereifer.
Ich zog den Kopf schnell wieder zurück.
Ich hatte mit einem Blick das Vorgelände überflogen, und mein Chininherz stieß vor Erregung in harten schnellen Stößen gegen die Rippen.
Tarai-Nerven …!
Fieberschwäche …
Es ging vorüber … –
Von Sehtäuschung konnte keine Rede sein, das sagte ich mir zu meiner Beruhigung.
Und weiter sagte ich mir, daß meine Vermutung sich bestätigt hatte: Wir hatten die Felsenhügel erreicht, in denen die Dschungali hausten.
Abermals reckte ich den Kopf hoch, wählte dazu eine Stelle, wo ein Busch mich schützte.
Vor mir dehnte sich eine flache, aber tief eingekerbte und von zahlreichen schmalen Bergrücken durchzogene Hügellandschaft aus, die, zum Teil kahles Gestein, zum Teil noch buschreich und mit Palmenhainen geschmückt, gerade deshalb so erstaunlich anmutete, weil überall die wirklich flachen, bebaubaren Stellen mit Reisfeldern unter künstlicher Bewässerung bedeckt waren.
Und all diese hohen, leicht wogenden Reisfelder waren erntereif … Schwere Kolben krümmten die hohen Stauden, gelblich schimmerten diese sauber angelegten Pflanzungen, und das Wunderbarste und zugleich Erschütterndste dabei war der lange Zug von Menschen, der soeben zwischen den beiden nächsten Feldern sichtbar geworden war.
Von Menschen …?!
Nein …!! – Jugenderinnerungen wurde lebendig … Jeder Knabe hat wohl einst, wenigstens in meinen Kindheitstagen, mit fieberheißen Wangen jene berühmte Geschichte aus dem südstaatlichen amerikanischen Sklavenleben verschlungen, die seiner Zeit mit den Anlaß zur Bekämpfung der Negersklaverei gab: Onkel Toms Hütte! – Ein raffiniert schlichter Titel für ein derart aufpeitschendes Buch, in dem vielleicht einiges übertrieben war – vielleicht.
Und hier im Hochmoor des Tarai, in diesem so unbekannten Grenzstrich zwischen Indien und Nepal schoß mir das Blut abermals zu Kopfe wie einst – – vor wilder Empörung!!
Gegen dreißig Menschen näherten sich dort, Frauen und Männer, alles Europäer, alles …
Beladen mit Ackergeräten, bewacht von etwa ebenso vielen schlitzäugigen, kleinen, vertierten Affen, in deren breiten Gurten über blendend weißen Anzügen pompöse Pistolen drohten, während diese Schufte in den Händen Lederpeitschen schwangen und mit der ganzen höhnischen Bestialität der Gewalthaber zuweilen auf die schlanken, dürftig bekleideten blonden Gestalten in dem verächtlichen Sadismus ihres widerlichen Rassenhasses dreinschlugen – – wie auf Vieh …
Wie auf Vieh …
Ich biß die Zähne knirschend zusammen …
„Halunken!“, wollte ich brüllen …
Wollte … – Der kühle Verstand siegte. Ich habe damals selbst kaum begriffen, wie ich es fertig brachte, diese flammende Wut zu ersticken und nicht die Büchse hochzureißen und diese schwarzhaarigen Gelbgesichter nicht abzuknallen!
Denn eine Einzelheit, gerade ein Mann in diesem Zuge der Geprügelten ließ Funken vor meinen Augen aufstieben. Ein Greis war es, – ich habe das wächserne faltenlose Gesicht mit den opalisierenden Augen und mit diesem Ausdruck von Weltentrücktheit bereits beschrieben, – – es war Professor Lewis Everton.
Ein Greis schritt dem Zuge voran, er, der geheimnisvolle, längst totgesagte, und was mir am meisten zu denken gab, war die Sicherheit seiner Bewegungen und die verhaltene Kraft eines Leibes, der fast ein Jahrhundert – so mußte es sein! – die Bürde des Daseins geschleppt hatte.
All der erbärmliche Haß dieser kleinen, affenartigen Kreaturen schien sich auf Everton und den neben ihm befindlichen Europäer zu vereinigen. All die grundlosen, brutalen Peitschenhiebe fing dieser zweite hochgewachsene Mann ab, – – Everton sollten sie treffen, ihn trafen sie, und er hatte dabei um die bartlosen Lippen nur ein Lächeln unsagbarer Geringschätzung.
Und Everton selbst?!
Er … lächelte auch, und da ich das Fernglas an den Augen hatte, gefroren mir plötzlich die flammende Seele und das wild pochende Herz zu Eis. Es war das Lächeln Buddhas, das über diesem unheimlichen und trotzdem so seltsam vertrauenerweckenden Antlitz lagerte, das sphinxhafte, unergründliche Lächeln uralter Weltklugheit und sanfter spöttischer Nachsicht für die Schwächen anderer …
Kein höhnisches Mörderlächeln, kein pharisäerhaftes Grinsen: Das heilige Lächeln war es, in das die Buddhisten, Lamaisten und ihre ungezählten Millionen von Gläubigen sich eingewöhnt haben wie in ein notwendiges, selbstverständliches Attribut ihres religiösen Bekenntnisses.
Aber die Hauptsache vielleicht, nicht mehr anzuzweifeln jetzt: Everton war nicht blind!
Everton wich ganz von selbst den Hindernissen aus, Everton betrachtete zuweilen die in alberner, niederträchtiger Geschäftigkeit hin und her trippelnden Wächter mit Blicken, deren Bedeutung schwer zu enträtseln war.
Nur die Wirkung spürte man: Wohin diese Augen, heute nicht nur tote Opale, sich wandten, wichen die Gelbgesichter zurück, und die Scheu vor Everton war trotz der ihm zugedachten Schläge so groß, daß es dem neben Everton schreitenden Weißen, der auch bereits silberne Schläfen hatte, ein Leichtes war, rechtzeitig die heimtückischen Hiebe abzufangen.
Der Zug der weißen Sklaven machte dreihundert Meter vor mir halt.
Ich wollte meine Nerven, deren leichtes Vibrieren ich spürte, doch erst völlig zur Ruhe zwingen und mich ablenken, bevor ich mich für diese oder jene Art Taktik entschied. – Taktik mag zu kühl überlegt klingen: Nur eiserne Ruhe konnte hier helfen und nützen, denn ich durfte nie vergessen: Wir wurden selbst gehetzt!
So drehte ich denn den Kopf nach Norden …
Dorthin, wo das „Dach der Welt“, die weißen Riesenmauern des Himalaja, den fernen Horizont abschließen mußten.
In den tieferen Schichten lagerte noch trüber Dunst. Doch über diese grauen, bereits von der Sonne bestrahlten Gebilde ragten scheinbar endlos langgereckte, ganz helle Wolken hinaus. Nur scheinbar. Blickte man genauer hin, so unterschied man genau die Umrisse der ewigen Gletscherhäupter, deren höchste Spitzen immer mehr in der klaren Morgenluft ihre gigantischen Konturen und ihre spiegelnden Eisflächen vorwiesen und schließlich die gesamte Bergkette mir als eine im Äther schwebende Fata Morgana zeigten …
Trotz der schier endlosen Ferne wirkte dieses Bild für alle Ewigkeit erstarrter Schneehäupter geradezu bedrückend, denn ihre herrliche Morgenschönheit, gleichsam soeben erst geboren, mußte den Gedanken an die eigene Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit wecken. Was war ein Mensch, ein Menschenleben im Vergleich zu diesen Ewigkeitszeugen?! Ein Nichts?! Weniger als das! Und in dieser Stunde hier auf dem Felsengelände des Hochmoores des Tarai begriff ich, weshalb die Tibeter, das Volk jener Schneehäupter, den Buddhismus umgeformt hatten in den Ewigkeitsglauben an ihr geistiges Oberhaupt, denn der Dalai-Lama stirbt niemals! – Wer darüber nicht genügend unterrichtet ist, kann es leicht nachholen: Stichwort: Inkarnation …! –
Nur schwer riß ich mich los von diesem Zaubergemälde.
Noch schwerer schüttelte ich den Gedanken ab, daß ich weniger sei als ein Nichts, ein Staubkörnlein kaum im Weltgeschehen. Und doch hier in diesen harten Gegenwartsfragen ein Kämpfer, einer, der ein Ziel hatte.
Mein Fernglas schwenkte herum.
Das Bild der weißen Sklaven und ihrer feigen, frechen Wächter tauchte von neuem auf …
In langer Linie arbeiteten sie an der Ernte der Reisfelder, Sicheln erklangen, zwischenein das Klatschen der Lederpeitschen, zwischenein das Brüllen dieser schwarzhaarigen, vertierten, anmaßenden Schlitzäugigen, die sich im Bewußtsein des Besitzes der Macht so sicher fühlten und sich so anmaßend gebärdeten.
… Jemand berührte meinen Fuß …
„Olaf, zurück …!!“
Es war Houston Garlt.
Ich rutschte rückwärts.
„Was gibt es?!“
Er hat Trasso an der Leine, hält in der Linken die Pistole.
„Olaf, soeben …“ – er zögert, er hat weiße Flecken auf den Wangen, und die Lippen zittern – „soeben war ich nach dem Sumpfe hin so etwas auf Kundschaft … Olaf, die Schufte haben unsere Freundin abgefangen, – Ethel, ihre Halbschwester, den Lord und den kleinen Gull … Vor wenigen Minuten marschierte die Bande, an der Spitze dieser Tom Barralt mit noch ein paar Kerlen, die die Bezeichnung Europäer nicht verdienen, nach Westen zu in einem Tale entlang … An die sechzig Gelbgesichter waren dabei, einige lagen auf Baumastbahren … Einige werden wohl im Sumpf liegen. Hamilton Gerverlin und Gull werden, schätze ich, Blei gespuckt haben …“
Im Grunde kam mir die Unglücksbotschaft gar nicht so überraschend. Daß das Sumpfgebiet voller Feinde gesteckt hatte, war anzunehmen gewesen. Trotzdem bedeutete die Nachricht eine sehr bittere Enttäuschung. Ich hatte doch insgeheim auf Gull und den Lord und die Mädchen als Verbündete gerechnet. Nun waren nur wir drei übrig, Trasso als dritter, und das war herzlich wenig gegenüber der Anzahl der Schlitzaugen.
Garlt, der äußerst niedergeschmettert erschien, nahm mein Achselzucken als das hin, was es besagen sollte.
„Sie hoffen trotzdem, Olaf?!“
„Ja … So lange wir drei frei sind, ist nichts verloren. Barralt, der hier wohl tonangebend ist, dürfte am gefährlichsten sein. Nur Mut, lieber Garlt! Letzten Endes kommt es nicht auf die Zahl, sondern auf die persönlichen Eigenschaften der Einzelnen an … – Frühstücken wir … Sahen Sie übrigens Trassos Brüder?“
„Nein …!“
Also auch die treuen Tiere waren hinüber, waren sehr bald ihrem Vater Monte gefolgt. Der heiße Schmerz, der mich für Sekunden diesen Verlust wie ein körperliches Gebrechen empfinden ließ, verlor sich.
Diese Gegenwart verlangte Männer, nicht Gefühle … Das Tarai machte mich hart, – – und ich war hart geworden …
Das Klatschen der Lederpeitsche hatte Chinin und Fiebergift gründlich beseitigt.
Bei unserer bescheidenen Konservenmahlzeit erzählte ich, was ich geschaut hatte, und der lange Garlt stierte mich mit aufgerissenen Augen an und fragte heiser:
„Auch die Frauen, Olaf, – – auch die?!“
„Auch die wurden gedemütigt … Geschlagen! Weiße Frauen, Garlt!! Mit der Peitsche!! Das wollen wir nie vergessen, nie und danach werden wir uns richten … und selbst richten! Es kommt die Stunde der Vergeltung, Garlt!!“
„Sie kommt!!“, nickte der Engländer ernst, ohne Haß, ohne Erregung.
Aber so eiskalt sprach er dieses „Sie kommt!“, daß ich als Agent einer Lebensversicherung Tom Barralt als zu Versichernden mit einer vielsagenden Handbewegung abgelehnt hätte.
Wir aßen. Garlt hatte meinen Zigarrenvorrat, noch sechs Stück, in die Sonne zum Trocknen gelegt. Wir sprachen nicht viel. Unser Versteck hier war sicher, und Trasso hielt Wache. Nachher schlief ich ein paar Stunden. So lange es Tag war, konnten wir doch nichts unternehmen. Wir hatten auch wieder Fieberblätter gekaut. Unsere roten Schwellungen waren zurückgegangen. Nur unsere Kostüme blieben reichlich strolchmäßig. Trasso in seinem Naturpelz sah am anständigsten aus.
Freund Garlt hatte sich derweil, als ich endlich einmal mich wieder ausschlafen konnte, äußerst rührig gezeigt. Gegen mittag erwachte ich. Garlt berichtete sofort, daß er das Reisfeld droben und die Sklavenhalter beobachtet hätte, vor einer Stunde seien drei Schlitzaugen als Boten von Westen her erschienen, und daraufhin habe sich der ganze Trupp eiligst entfernt.
„Angst vor uns, Olaf!“, fügte er grimmig hinzu. „Was halten Sie übrigens von dem einen Weißen, der immer in Evertons Nähe blieb?“
Der lange Garlt hatte die Angewohnheit, mit bestimmten Fragen, für die er die Antwort schon halb bereit hatte, so etwas „hintenrum“ herauszurücken. Es war dies von ihm ein sehr diplomatisches Auf-den-Busch-klopfen, und diese Art Fragestellung war wohl mit in seinem Beruf begründet. Streng genommen war er ja höherer Kriminalbeamter, und seine Verwendung im A. A. stellte eine nicht geringe Auszeichnung dar.
„Der Mann“, fügte er nachdenklich hinzu und sog an der noch immer nicht trockenen Giftnudel, „bereitet mir einige Kopfschmerzen …“
Ich merkte, – er hatte inzwischen weit mehr beobachtet als ich am frühen Morgen.
„… Eine stattliche Erscheinung, Olaf. Ohne jedes Brimborium sozusagen … Sie verstehen: Ein schlichter, ganzer Kerl! Und verteufelt klug …“
Er hüstelte, die Zigarre stank wie alte Lumpen …
„… Es gab da manches zu sehen, Olaf, – – Tatsache! Gerade der eine Mann und der alte Everton brachte die Bewässerungsgräben in Ordnung, die unter dem Gewitter gelitten hatten.“
Ich wurde ungeduldig. „Garlt, – – also was zum Teufel gab es zu sehen?!“
„Hm … Ich wurde wirklich nicht recht klug daraus … Mir schien es, als ob der Mann meine Nähe spürte. Er benahm sich seltsam, Olaf … Und als der Trupp nachher abzog, ließ er seinen Spaten zurück … Es ging allerdings etwas hastig dabei zu – – Galopptempo, Angst …! Die Schlitzaugen rannten wie die Hammel durcheinander, die geschoren werden sollten …“
Er gähnte diskret …
„… Mein Hirn funktioniert nicht ganz … Müde, sehr müde … Es mag an der Zigarre liegen …“ Er warf sie weg. „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich jetzt ein wenig Ihr Bett benutze …“ Er grinste vergnügt, er hatte überhaupt sehr fidele Augen, aus denen ein letzter Schimmer von Heiterkeit nie verschwand. – – „Bett“ war gut gesagt …!!
„Schlafen Sie getrost, lieber Garlt, – – Wiedersehen …!“
Er kroch zwischen die Felsen, und während ich für Trasso noch eine halbe Büchse Fleisch spendete, schnarchte er bereits wie eine alte Kaffeemühle.
Der Spaten ging mir nicht aus dem Kopf.
Mein Wächteramt konnte ich auch droben am Rande der ersten bebauten Terrasse ausüben, und die alte, nimmerschlummernde Abenteuerlust tat auch das ihrige: Trasso und ich pirschten uns aufwärts.
Immer mit der nötigen Vorsicht … Noch vorsichtiger als morgens … Denn ich konnte mir nicht recht denken, daß diese Chinesenhorde, die sich hier seit vielen Jahrzehnten in der Verborgenheit eingenistet hatte und mit einer nur ihrem Volke eigentümlichen Hartnäckigkeit zweifellos in dieser ganzen, fast ein Menschenalter umfassenden Zeit nach etwas ganz Bestimmtem gesucht hatte, nicht auch mit derselben Zähigkeit versuchen würde, uns drei hier aufzustöbern und zu vernichten. Wenn Houston Garlt, dessen Erfahrungen und Kenntnisse auf etwas gefährlichen Pfaden doch nur auf die Großstädte sich bisher beschränkt hatten, mir vorhin auch versichert haben mochte, nichts Verdächtiges bemerkt zu haben, so besagte das noch wenig, war mir sogar halb und halb der Beweis dafür, daß die Schlitzaugen den vernichtenden Schlag gegen uns mit äußerster Gerissenheit führen würden, eben so heimtückisch, so überraschend, daß sie keine Verluste an Menschenleben zu fürchten brauchten.
Darum: Dreifache Behutsamkeit! Darum die Beachtung jeglicher Kleinigkeit, die das friedliche Bild ringsum irgendwie störte oder auch nur irgendwie auffiel. Darum schließlich mein Zögern, als ich nun die mit Reis bebauten Flächen vor mir hatte und als ich die Stelle unschwer mit dem bloßen Auge fand, wo der Spaten des[8] silberschläfigen Weißen neben dem Bewässerungsgraben liegen geblieben war.
Trasso zeigte keinerlei Argwohn. Hätte ich mich auf den für einen Wolfsbastard außerordentlich kräftigen vierbeinigen Freund verlassen, wäre dieser Tag unser letzter gewesen …
Seltsamerweise hatte ich damals nicht jene mehr instinktmäßige „Witterung“ einer nahen Gefahr. Nein, es war ausschließlich eine Folge kühlster Überlegung, daß ich mit einer Teufelei rechnete. Meine Nerven, mein Chininherz, mein fiebervergiftetes Blut hatten mit dieser „Witterung“ nichts zu tun und blieben davon unberührt. Der Schlaf hatte[9] mich erquickt, ich fühlte mich auch geistig vollkommen frisch, und das Bewußtsein, so völlig in allem Herr meiner selbst zu sein, steigerte angelernte Fähigkeiten und naturgemäße Leistungen der Sinnesorgane bis zum Äußersten.
Ich war, um ein abgenutztes Wort anzuwenden, eisig kühl, – kühl bis zum Hirn hinan.
Ich lag wie im Morgengrauen im Felsgeröll hinter dem Strauche und ließ die Augen ringsum gehen.
Vom Dschungel her, dessen Baumkronen die Uferhügel überragten, nahte eine Affenherde. Die grüngrauen Gesellen kamen ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit am Tage zum Vorschein, – von den Baumkronen aus mußten sie den Abzug der Erntearbeiter beobachtet haben. Vorneweg schritt der Leitaffe, hinter ihm noch drei stramme Männchen: Die Vorhut!!
Die flinken Vierhänder bewegten sich rechts von mir durch eine Felskluft auf die bewässerte Terrasse zu, sie mochten bereits mit dem Plündern der Reisfelder sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben, denn sie benahmen sich trotz ihres Eiltempos außerordentlich vorsichtig, und der Leitaffe hatte dann kaum das flache Vorgelände erreicht, als er urplötzlich stehen blieb, die Fäuste auf den Boden stützte und sich ganz hoch aufrichtete.
Der Affe verharrte sekundenlang regungslos, indem er den Kopf immer mehr nach Norden wandte, – dann ein schriller Schrei, und die ganze langschwänzige Räubergesellschaft war im Nu wieder in der Kluft verschwunden …
Ich hatte sehr wohl die ruckartige Bewegung des Kopfes des Leitaffen bemerkt, als das stämmige Tier nur einen Augenblick drüben im Norden zwischen den Felsen irgend etwas erspäht haben mochte, das ihn zu dem Rückzugssignal bestimmt hatte. Jene Stelle nahm ich nun ebenfalls aufs Korn, – es mußte dort etwas Verdächtiges, Gefahrdrohendes vorhanden sein, mir blieb es vorläufig verborgen, – – vorläufig, aber auch ich hatte das Sehen gelernt auf all den bunten, verschlungenen Abseitspfaden, und ich wußte ja, daß diese Gelbgesichter mit dem schwarzen, glatten Chinesenhaar und den grausamen dünnen Lippen niemals nachlassen würden, uns drei abzutun. Ihr Geheimnis, ihr geheimes kleines Sklavenreich war in Gefahr, und sie hatten jetzt auch wieder den Mann unter sich, der zweifellos ein schlauer, brutaler, vor nichts zurückschreckender Schurke war, genau wie seine Begleiter, – alles Europäer, Weiße, und deshalb doppelt und dreifach zu fürchten, denn wo sich die Chinesenbrut, diese raffiniertesten Schacherer des fernen Ostens und der Randgebiete des Stillen Ozeans, mit der weißen Farbe gegen Weiße zusammentun, da muß man auf alles, auf das Allerärgste gefaßt sein.
Ich richtete mich danach.
Tom Barralt, dieser Fuchs mit der Hyänenschnauze, dieser kleine Kahlkopf mit dem Benehmen des echten Jahrmarktbudenbesitzers, hatte mir in Bombay bewiesen, wozu er fähig war. Giftpfeile, – darauf verstand er sich genau so gut wie auf den Reklamerummel für seine dressierten Kakadus, die er durch Hunger, nicht durch Geduld und Verständnis für die Tierseele dressiert hatte.
Was also war dort drüben im Anzuge?!
Gefahr! Das ja …! Und welcher Art?!
Sollte ich Freund Garlt wecken?! Hatte ich nicht Trasso neben mir und in mir – die Hauptsache! – jenes Gefühl von Frische und Kampfesfreude und Wagemut und kühler Ruhe, das den Sieg gleichsam garantiert?!
Und dann, – – ja, dann geschah das Unglaubliche, Widersinnige und Unbegreifliche: Drüben tauchten aus einem Felseinschnitt zwei Menschen auf, scheinbar behutsam näherschleichend, scheinbar ohne eine Ahnung von meiner Anwesenheit, scheinbar nur darauf bedacht, sich zwischen den Felsen zu decken und zu flüchten – – irgendwohin …
Es waren Ethel Everton und Lord Gerverlin, beide sichtlich erschöpft, beide sichtlich bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Gerverlin stützte Ethel, und beider Gesichter, das zeigte mir das Fernglas, hatten einen Ausdruck, der ebenso schwer zu beschreiben war wie die Farbe der Wangen, denn die Blässe, diese hektisch roten Flecken waren kaum auf natürliche Ursache zurückzuführen.
Ich stutzte.
Da stimmte irgend etwas nicht …
Da war etwas mehr gefühltes Theatralisches bei alledem, – – und dann fand ich des Rätsels Lösung …
Wer schlau sein will, Mr. Tom Barralt, würdiger Sohn eines zweifelhaften Vaters, den man in Harz eingeschmolzen hatte, – – also wer schlau sein will, der muß seinen Trabanten gründlichst klarmachen, daß Sonnenschein Schatten wirft …!
… Soeben waren da hinter dem vorsichtig schleichenden Paare auf einem glatten Felsstück die Schattenrisse zweier Schlitzaugenschädel aufgetaucht!
Also das war es …!
So gedachte Tom Barralt uns zu greifen – mit lebenden Schutzschilden!
Im Nu war mein Entschluß gefaßt.
Ja …!
Ich selbst lag tadellos gedeckt …
Ein Steinchen flog, – – noch eins …
Und unten im Geröll unseres Schlupfwinkels richtete sich der dürre Brite auf, war im Augenblick munter, verstand meine Winke, schulterte das Gepäck und kam behutsam nach oben …
Houston Garlt war doch nicht nur in den Häusermeeren der Riesenstädte als besondere Art von Jäger zu gebrauchen. Das bewies er jetzt … Er schlug einen Bogen nach Süden, meine Handbewegungen hatten ihm die drohende Gefahr als im Norden befindlich angezeigt, und der hagere Engländer mochte ganz von selbst erst einmal feststellen wollen, ob denn auch links von mir die Luft rein sei.
Inzwischen hatten Ethel und Gerverlin sich mir weiter genähert. Die Tochter Professor Evertons, der hier in Nepal irgendwie eine so undurchsichtige Rolle bei gewissen halb politischen Vorgängen gespielt hatte, war dem Umsinken nahe. Der Lord – und sicherlich tat er es sehr gern – hielt sie noch fester umschlungen und konnte sich trotzdem selbst kaum aufrecht halten.
Nochmals blickte ich durch das Fernglas …
Die Augen der beiden Ärmsten da, die wie Betäubte kaum noch Verständnis dafür haben dürften, daß hinter ihnen, ganz dicht hinter ihnen, der Tod als schreckliche Drohung und Strafe für Ungehorsam lauerte, – – diese Augen waren unnatürlich geweitet, tief umschattet und starr wie die von Hypnotisierten.
Tarai-Fieber war es, keine Hypnose!
Noch hundert Meter trennten mich von dem lebenden, doppelten, liebenden Kugelfang, hinter dem jetzt bereits in aller Frechheit ganz offen vier, zuweilen fünf der sogenannten Dschungali sich zeigten. Daneben noch mehr Schattenrisse auf den Felsen, und nach diesen Silhouetten zu schließen, hatten wir es mit etwa vierzig der Schlitzaugen zu tun.
Ein schneller Blick nach Houston Garlt hin …
Garlt kauerte tief geduckt wie ich am Rande der hier beginnenden Terrasse und hatte den Kopf nach Osten gedreht. Seine Hand mit meiner Pistole war auf einen Stein gestützt, und schon allein die Richtung des Kopfes und der Waffe bewiesen mir, daß auch dort die kleinen Gelbgesichter mit ihren großen Schurkereien lauerten.
Garlt mochte von mir hundertfünfzig Meter entfernt sein. Urplötzlich spuckte die Coldpistole, die in einer sicheren Hand auf fünfzig Meter ihren Mann umlegte, einen blechernen, kurzen Knall in die fast totenstille Luft. Gleichzeitig brüllte mir Garlt, ohne den Kopf zu wenden, seine eindrucksvolle Warnung zu:
„Abelsen, – – eingekreist!! Wir kommen nicht durch – – unmöglich!!“
Ich sah sehr wohl trotz des Sonnenlichtes die seltsamen funkelnden Streifen: Brandpfeile, gleichzeitig Giftpfeile – – eine ganze Wolke!
Und der dürre Brite lag dort sehr ungünstig im Geröll.
Links neben sich hatte er eine zackige Steinwand, die von Felsbrocken gekrönt war. Dort steckten diese kleinen Bestien. Was half es da, daß Garlt voreilig jetzt seinen ganzen Ladestreifen verfeuerte?!
„Garlt, – – in die Felder, – – Richtung der Wassergraben, der Spaten …!“
Zur Vorsicht brüllte ich es dem Leidensgefährten in deutscher Sprache zu. Ich wußte, er beherrschte sie …
Hinter uns war die Hölle los.
Schüsse belferten, – – bissige Kugeln surrten, – – aber wenn der lange Garlt rennen konnte, ich konnte es wahrhaftig noch besser …
Und ich hatte den kürzeren Weg …
Zum Spaten!
Den Spaten mußte ich haben …
Mußte …
Im Sprung nahm ich den Graben, packte den Spaten, war enttäuscht: Das Spatenblatt war Holz, war mehr eine Schneeschippe, war dreckig und mit Erdkrumen bedeckt.
Neben mir jagte Trasso in das Reisfeld hinein, bellend, übermütig, erfreut über den tollen Lauf … Zehn Schritt weiter flog Garlt in die hohen Stauden, die, da künstlich bewässert, nicht überall gleich dicht standen.
„Nach rechts!“, keuchte ich …
Garlt war dicht hinter mir …
Rechts schloß sich das nächste kultivierte Stück Boden an, rechts lief dieser Pfad ins Abseits die Terrassen der Hügel hinan, – – ein Pfad?!
Ein Weg blinder Eile …
Aber – – die Bande blieb zurück …
Unsere Rechtsschwenkung und ihr eigenes Unvermögen, Fährten zu lesen, brachten sie ins Hintertreffen.
Ich mäßigte das Tempo … Der Boden stieg etwas an. Zwischen diesem und dem nächsten Felde war eine Böschung von Gestein vorhanden. Nichts konnte uns gelegener kommen, als dies. Hier verschnauften wir, – dann wieder hinein in die schützenden Riesenhalme, zwischen denen übrigens an den ganz trockenen Stellen, wo sogar Grasbüschel wucherten, eine Unmenge von Zwergwildschweinen sich sonnten und kaum von uns Notiz nahmen, wirklich zwergenhafte Wildschweine, wie sie nur die nepalesischen Wälder kennen, ebenso die des benachbarten Staates Sikkim.
Eines aber überraschte mich nun: Der Holzspaten, gefertigt aus irgend einer sehr harten, kurzfaserigen Baumart, war von mir während der Flucht erst oberflächlich und dann gründlicher gesäubert worden, und auf seinem sehr bald fast blank schimmernden Spatenblatt hatte ich indessen auch die ersten Spuren eines Federmessers entdeckt, das allerlei Kerben in das Holz geschnitten hatte, – – Kerben wie eine Skizze, – nichts anderes!
Auf den ersten Blick erkannte ich das grob eingemeißelte Geländebild. – Landkarte, Terrainkarte, – nein, das klänge zu hochtrabend.
Das waren lediglich Schnitte …
In höchster Eile und insgeheim hingeworfen wie Bleistiftlinien.
… Wir hatten schon das dritte Feld durchquert …
Jetzt nicht blindlings, jetzt in strengster Beachtung einer vorgezeichneten Richtung, die auf einem Spaten klar und übersichtlich für den, der die Terrainformation wie ich vom Sumpfrande überblickt hatte, eingekerbt war.
Vor uns lag nun eine zerklüftete Hügelkette mit breiten Bändern von Gebüschen, die etwa wie farbenfreudige Seidenschleifen eines riesigen, tief nachgedunkelten Erntekranzes sich ausnahmen, bei dem die Ähren durch Felszacken dargestellt wurden. Eine dieser grünen, rot und blau betupften Gestrüpphalden zeigte unten, wo sie fast an das Feld stieß, einen scharfen Winkel, der auch unverkennbar samt dem Hügel auf dem Spatenblatt vermerkt war.
Ich schlüpfte als erster in das Gebüsch hinein und fand hier zu meinem Erstaunen eine Art Steintreppe, die den steilen Anstieg erleichtern sollte. Sie war schmal und bestand zumeist aus Felsplatten, die man durch Felsgeröll abgestützt hatte. Sie war durch die dichten Gestrüppstreifen zu beiden Seiten gut verdeckt, und ein Unkundiger hätte in diesem dornengespickten grün-bunten Band niemals einen so bequemen Zugang zur Kuppe vermutet und auch wohl kaum entdeckt.
Garlt machte aus seiner Überraschung kein Hehl …
„Was lesen Sie denn da aus der Skizze noch heraus, Olaf?“, fragte er etwas erregt, während er im Emporsteigen dicht hinter mir blieb.
„Warten Sie ab, – ducken Sie sich mehr, Sie sind hier der einzige dürre Baum, und wenn die Bande Ihren Schädel erspäht, …“
Garlt lachte trocken. „Mann, dem Himmel sei Dank, – Sie versuchen, faule Witze zu machen! – Aha, – – eine Biegung, – – noch eine, die reine Wendeltreppe! Donnerwetter, – – was ist das?!“
Wir hatten den Gipfel fast erreicht, und dicht vor uns öffnete sich eine Art Felskanon, der jedoch bereits fünf Meter weiter durch ein Flügeltor aus tiefdunklem Holz mit Eisenbeschlägen und zwei Schlössern gesperrt war, während die Kanonwände gerade hier in der Höhe sich eng gegeneinander wölbten.
Es sah aus wie der Zugang zu einer altertümlichen Grabkapelle.
Garlt stelzte rasch in den Tunnel hinein. „Worauf lauern Sie, Olaf?! Hier droht keine Gefahr. Ich werde das Tor schon …“
Nein, – das Tor würde er niemals aufgebrochen haben oder dergleichen.
Er selbst war ein Tor, ein unvorsichtiger Draufgänger, und wenn er nicht Dank seiner langen Beine die niederträchtige Steinplatte nur flüchtig berührt hätte und zum Glück sehr rasch außer Reichweite der teuflischen Einrichtung gewesen wäre, hätte einer der drei plötzlich herabsausenden Felsbrocken ihm sicherlich den Schädel eingeschlagen.
Diese Satanskerle von Schlitzaugen!! Wieder einmal ganz raffiniert schlau hatten sie diese Menschenfalle hergerichtet, dabei sehr primitiv, mit den einfachsten Mitteln. Die Felsstücke waren an fettgetränkte Baumfasertaue gebunden und pendelten nun in Kniehöhe über dem Boden. Fast geräuschlos hatten sie sich vor der Steindecke gelöst, – die Taue liefen oben durch unsichtbare Ösen und dann links in einer Spalte der Wandung nach unten, wo sie um Pflöcke geschlungen waren. Die Auslösevorrichtung dieser Schlagfalle war genau so einfach.
Der gute Garlt war bei dem Geräusch herumgefahren, und seine stets so lustigen Augen wurden recht groß und starr, als er sich die Bescherung anschaute.
„Bande!!“
Das war alles, was er vorbringen konnte.
„Helfen Sie, Garlt …!! Etwas fix! Wir müssen die Steine wieder emporziehen … – – Überlassen Sie mir die Steinplatte und den Draht und den Hebel droben … Ich klettere Ihnen auf die Schultern … – – So, fertig, – – halten Sie die Trosse fest … Und jetzt kommt das Tor heran. Bitte, schauen Sie sich die Spatenskizze an. Hier weist ein Pfeil auf den Kanon und ein kleinerer nach rechts – dicht vor dem grob angedeuteten Tor …! Nach rechts, old Boy!! Es sollte mich sehr wundern, wenn hier nicht das Versteck der Schlüssel zu finden wäre … Da haben wir es, – – gute moderne Schlösser sind es mit recht komplizierten Schlüsseln …“
Ich hatte in eine ganz unauffällige Ritze hineingefaßt, und der lange Houston bekam wieder fidele Augen.
„Abelsen, die Dinger hätte ich ebenfalls gefunden! Dafür bin ich ja so eine Art Edeldetektiv. – Was, glauben Sie, steckt hinter dem Tore?“
„Die weißen Sklaven …!“
Ich probierte bereits den einen Schlüssel.
Dann öffnete ich behutsam den Torflügel, er drehte sich ganz geräuschlos, und schwärzeste Finsternis gähnte uns entgegen. Der Felsengang hinter dem Tore lief ziemlich steil abwärts, es handelte sich um einen natürlichen Felsenstollen von sehr unregelmäßiger Weite, er war leer, nur neben dem noch geschlossenen Torflügel hingen zwei chinesische Papierlaternen mit dicken Talgkerzen.
Garlt trug noch immer unser Gepäck auf dem Rücken. Ich nahm die kleine Karbidlaterne aus dem Rucksack heraus und leuchtete hier drinnen die Wände ab. Die Schlösser waren zu stabil, um etwa mit einem Sperrhaken die Riegel vorschieben zu können. Eine sehr einfache Überlegung sagte mir, daß auch hier irgendwo zwei gleiche Schlüssel versteckt sein müßten.
Ich beleuchtete den Holzpflock, an dem die Papierlaternen hingen. Er war in eine Ritze des Gesteins hineingetrieben worden, und er war scheinbar eben nur ein keilförmiges Stück Holz. Nur – er war denn doch zu dick für die beiden Laternen, deren Kerzen noch nie gebrannt hatten.
Das Pflockende in dem Felsriß war genau zu erkennen. Ich zog das Stück Holz heraus, es saß recht lose, und als ich es dicht vor die Scheibe der Laterne hielt, sah ich auch, daß es ein äußerst geschickt geschnitztes Schubkästchen war. Ich schüttelte es kräftig, zog an dem Deckel, und eingewickelt in einen Stoffetzen lagen da die beiden Duplikatschlüssel.
Garlt pfiff leise. „Alle Teufel!! – – Diese schlauen Satanasse!!“
Das klang so komisch, daß der lange Garlt in mein Lachen mit einstimmte.
Wir schlossen das Tor ab, die anderen Schlüssel hingen wieder draußen, und alles war so weit in schönster Ordnung.
Ich schritt voran. Ich kümmerte mich nur um den Boden des Stollens, – wenn irgendwo Gefahr lauerte, war es hier, wo der Lichtschein über das rissige Gestein hintanzte.
Dann die erste Biegung … Der Gang verlief nun wagerecht, wurde noch breiter …
Trasso röhrte dumpf …
In der Ferne blinkte es hell: Tageslicht!
Wir blieben stehen …
Das Tageslicht fiel durch zackige lange Risse in die Finsternis hinein, – ich zählte davon ein Dutzend dieser Risse …
In den fernen Lichtstreifen bewegten sich anscheinend winzige Gestalten hin und her, verschwanden wieder, tauchten von neuem auf …
Die Entfernung bis dorthin mußte sehr groß sein.
„Die weißen Sklaven“, hauchte Garlt atemlos.
Ich beobachtete. Ich nahm das Fernrohr und stellte es ein. Nun sah ich Einzelheiten. Dort vor uns lag eine sehr große Höhle, deren eine Außenwand nach Westen zu infolge der langen Spalten als Lichtquelle diente. Ich erkannte jedoch außer den schlanken, hochgewachsenen Weißen auch eine Anzahl Schlitzaugen, und diese schienen ihre Gefangenen zu größter Eile anzutreiben. In kurzem war die Höhle leer, die Finsternis, die linker Hand über der niederen Grotte lastete, verschluckte Sklaven und Sklavenhalter.
Nichts zeigte sich mehr.
Ich hörte nur noch einen Ton, als ob eine Tür dröhnend in weiter Ferne zugeschlagen wurde …
Houston Garlt atmete keuchend.
„Olaf, eine ziemlich unheimliche Geschichte …!“
„Unheimlich?! – – Angst vor uns, mein lieber Garlt …! Suchen wir ein Versteck … Es muß in wenigen Stunden draußen finster werden.“
Trasso knurrte leise …
Garlt hatte doch nicht so ganz unrecht: Gemütlich war es hier nicht!
Wir fanden einen dunklen Winkel und setzten uns nieder. Vor uns türmten wir Steingeröll auf. Wir waren kaum mit dieser Schutzmauer fertig, als ich von Osten her, woher wir gekommen, einen grellen Punkt aufblitzen sah.
„Garlt, – – Trasso das Maul zuhalten!! Bedecken Sie ihn mit Ihrer Jacke!“
Der Lichtschein wurde zur grellen Lichtbahn …
Vier Männer schälten sich aus der Finsternis heraus …
Stimmen erklangen …
Und ich kannte Tom Barralts ausgeschrienes Organ nur zu gut.
Ich schob die Sicherung der Büchse zurück …
„Ganz still, Garlt!!“
Meines ehemaligen Schaubudenkompagnons heiserer Baß, der so oft zu Fisteltönen überschnappte, spie einen grimmen Fluch aus.
„… Wir haben Everton!! Er wird reden müssen! Die Hölle war bisher mit ihm! Jetzt wird er den Höllenkessel siedenden Harzes kennenlernen!“
Es waren drei Weiße, und außer Barralt erkannte ich noch zwei ebensowenig sympathische Besitzer von Schaubuden von Bombay her. Der vierte war ein Schlitzauge.
Und die etwas quäkende Stimme dieses kleinen alten Kerls meldete sich nun.
„Everton wird niemals etwas verraten, niemals! Er wird dich auslachen. Hast du denn die beiden Flüchtlinge erwischt?! Selbst das nicht!“
Barralts Antwort ist wortgetreu nicht wiederzugeben.
„… Ihr kleinen Affen seid Dummköpfe, und du der größte, Ming!! Feige seid ihr auch …!“
… Die Stimmen erstarben.
Die vier waren vorüber, und die Dunkelheit verschlang auch sie, – – eine Tür dröhnte und Garlt flüsterte rauh:
„Dachte ich es mir doch!! Es geht um den Schmuck, den die Maharani[10] von Nepal trug, als sie sich verbrennen ließ: Witwenverbrennung, zusammen mit ihrem Gatten! – Lord Gerverlin ahnt es wohl oder weiß es bestimmt. Olaf, der blanke blitzende Dreck soll ungeheuren Wert gehabt haben, und die Fürstin war ja Evertons Schwester …!“
Das war wieder etwas ganz Neues.
Freund Garlt, bekam plötzlich Schüttelfrost … Seine tadellosen Zähne klapperten …
Er fluchte und kaute Blätter …
Es wurde drüben an den Fenstern immer dunkler. Dieser urplötzliche Lichtschwund konnte nicht auf das Hereinbrechen der Abenddämmerung zurückzuführen sein.
Die Finsternis wurde vollkommen.
Keine der Felsenspalten war mehr zu erkennen.
Wir drei fühlten nur unsere Nähe …
Hörten unser schweres Atmen …
Selbst der Wolfsbastard japste …
Dann draußen irgendwo eine Feuersäule, ein ungeheurer Donnerschlag … Ein Gewitter tobte über uns, ein echtes Tarai-Gewitter … Wir hörten eine Kanonade, die alles bisher Erlebte übertraf. Sturmstöße heulten in den Felsspalten, die Höhle war erfüllt von dem Aufruhr der Natur, die dort draußen höhnend ihre Allgewalt zeigte.
„Bleiben Sie sitzen, Garlt!!“
Beim Schein der Blitze drückte ich mich an der südlichen Wand entlang.
Ich fand auch die Tür, die vorhin zweimal zugefallen war …: Ein Steintor!! Nur Dynamit hätte es geöffnet.
Die Erregung verscheuchten die heranziehenden Fieberdämonen … Auch die heilkräftigen Blätter halfen.
… Da war die erste der Fensterspalten. Soeben ein neues Bündel Blitze, – – der Regen hatte aufgehört, – – draußen an der Felswand hingen regennasse Ranken, Dornen, bunte Winden, armdicke Wildefeuäste …
Ich hatte die Augen zugekniffen, ich hatte den Eindruck, als stürzte das Himmelsgewölbe brennend auf das grauenvolle, geheimnisvolle Tarai hernieder …
Ich öffnete sie wieder, und der Eindruck blieb. Nur daß ich die Ursache nun kannte, erkannte.
Vor mir lag ein Tal, vielleicht fünfhundert Meter breit, – drüben die Anhöhen waren mit Bergkiefern dicht bewaldet, und diese harzreichen Bäume brannten an verschiedenen Stellen, mehrere davon waren vom Sturme brennend in das Tal hinabgefegt worden und lohten dort weiter, bildeten riesige Berge, hatten die auf der Talsohle stehenden Häuser mit entzündet, und der von Nordwest durch das verborgene Reich der sogenannten Dschungali fegende Gewittersturm fachte diese Brände immer gewaltiger an und schuf so eine Beleuchtung, die ebenso grausig schön wie gespenstisch wirkte …
Es war das Reich der Dschungali, der Schlitzäugigen, der bissigen kleinen Schimpansen, – – Haus an Haus stand dort unten, alles Holzgebäude, alle mit Steinunterbau, alle mit geschweiften Dächern, alle sofort die chinesische Bauweise verratend …
Gärten mit phantastischen Zäunen umgaben die einzelnen Gehöfte, in den Gärten schillerten künstliche Grotten aus blankem Gestein und zierliche, bunte Brücken über künstlichen Teichen und Bächlein, – auch chinesische Spielereien.
Das Spiel dieser Nacht war bitter ernst …
Schlitzaugen rannten dort unten hin und her, – Männer, Weiber, Kinder …
Aber der Sturm verlachte heulend ihre Anstrengungen, ihre Habe zu retten.
Neue Blitze, – – neue Donnerschläge …
Pechschwarzes Gewölk …
Aber kein Tropfen Regen mehr …
Taghell die Stätte der Vernichtung …
Ein jaulender Orkanstoß, – – und vier brennende Riesenkiefern, entwurzelt von dem allmächtigen Luftwirbel, schwebten wie ein lodernder, gasgefüllter Ballon als eine einzige gigantische Glutwoge durch die qualmerfüllte Luft und senkten sich spielerisch-harmlos auf die Pagodendächer, verfingen sich in den verzierten Dachrändern und umtänzelten mit ihren Feuerzungen selbst die höchste Spitze, die metallschimmernde Drachenfigur.
Diese kleinen Burschen da – die Weiber wohl moralisch nicht viel höher zu bewerten – sanken vor der einzigen, aus dem Tempel geretteten Buddhafigur in die Knie, und im Nu gab es dort nur am Boden liegende Gestalten, – Männer, Weiber, Kinder, die in dem regennassen lehmigen Boden ohne jede Rücksicht auf ihre freilich schon durch Rauch und Funkenflug übel zugerichteten Kleider von dem lächelnden Gotte Hilfe erwarteten.
Aber das heilige Lächeln Buddhas galt nicht ihnen, die seine reinen Glaubenssätze so schamlos verachtet und aus der Religion einen Artikel des täglichen Bedarfs gemacht hatten.
Das heilige Lächeln galt auch nicht Tom Barralt und seinen Begleitern, die nun plötzlich aus irgend einem Grunde in zügelloser Wut zwischen diese Panikbesessenen sprangen, wilde Armbewegungen vollführten und irgend etwas forderten, das ihnen wohl recht dringlich erscheinen mußte. Sie hatten wenig Glück damit.
Gerade da merkte ich, daß Freund Garlt und Trasso dicht hinter mir waren. Gerade da blitzte ein Gedanke in mir auf, der mir Houston Garlts Anwesenheit wertvoll machte.
„Garlt, halten Sie mich einmal fest … Ich will mich zur Felsspalte hinauslehnen … – Fragen Sie nichts! Ja, ich sehe, daß diese Höhle nur der Arbeitsraum der weißen Sklaven war … Ich sehe im einfallenden Lichte der Feuersbrunst die Tische und Bänke und die einfachen Webstühle und all das andere, was jetzt so unendlich gleichgültig ist! – Halten Sie mich fest! Los doch!! Diese Gelegenheit muß benutzt werden!!“
Der lange Brite packte zu.
Durch die Felsenfenster fiel rötlicher Lichtschein der vernichtenden Feuersbrunst in unsere Dunkelheit.
Ich schob mich vorwärts, ich wollte nur eine Vermutung bestätigt haben, – – und sie wurde mir bestätigt …
Das Rankengewirr, das mich gegen Sicht leidlich schützte und das hier in allen Ritzen der Talwand wucherte, war links von mir, also dort, wo die versperrte Nebenhöhle lag, restlos auf etwa hundert Meter Breite entfernt worden. Nur kahles Gestein gab es da, – – und erst weit gen Süden zeigte der Abhang dasselbe Bild wie hier: Eine Unmenge von Dornen, Lianen, Winden, Efeu, – eine grüne, bunte Kulisse!!
Weshalb dieser freie Zwischenraum?!
Nur ein Grund: Damit die weißen Sklaven nicht an diesen Ranken hinab ins Tal oder nach oben zur Berghöhe flüchten könnten – – nur das!!
Also lagen links von mir die Schlaf- und Wohnräume dieser Ärmsten, also mußte auch dort die Steinwand wie hier Öffnungen haben, Fenster, Spalten, Risse!
Ich bog den Kopf zurück …
„Garlt, Ihre Pistole her! Nehmen Sie meine Büchse! Mit der Steintür dürfen wir uns nicht lange aufhalten, – ich will zusehen, ob ich die Eingesperrten retten kann …!“
Des hageren Engländers scharfe Züge blickten finster und unwillig.
„Was Sie können, werde ich wohl auch schaffen, Abelsen!! – Behalten Sie Ihren Schießprügel … Ich folge Ihnen, Trasso binde ich fest. Zwei Mann sind allemal besser als einer, und Houston Garlt hängt nicht an Mutters Rockzipfel, wenn irgendwo die blauen Bohnen sich melden! – Vorwärts!! Seien Sie zufrieden, daß ich Ihnen den Vortritt lasse!“
… Die Art Sprache gefiel mir.
Ich schwang mich nach links, probierte erst jede Staude, ob sie mich auch trüge.
Gelangte an die kahle Felswand …
Bisher waren die jetzt zurückgelegten zwanzig Meter ein Kinderspiel gewesen.
Die Schwierigkeiten begannen erst.
Falls dieser Ausdruck „Schwierigkeit“ hier überhaupt für das genügte, was mir bevorstand.
Niemals wäre ich mit den Tücken dieser fast glatten Steilwand fertig geworden, wenn nicht zweierlei mich begünstigt oder angefeuert hätte: Urplötzlich gewahrte ich da zehn Meter vor mir einen Kopf, der aus dem Gestein herauszuwachsen schien.
Es war Ethel Everton …
Und das zweite war eben das Feuer mit seinen hier gedämpften Lichtfluten, das mich die Stellen finden ließ, wo die tastenden Füße und Hände einen Halt entdeckten.
Und Ethel sah mich …
Dieselben Augen sahen mich, die mir damals in Bombay dankbar-ernst zugelächelt hatten, als auf dem Hof des Doppelhauses der Elendsgassen der grüne Giftpfeil in die armselige Palme klatschte.
Ethels Mund öffnete sich … Ethels weiße Zähne blinkten … Aber Ethel schrie nicht, nein, – ihr Kopf verschwand blitzschnell, und an seiner Stelle erschien der Lord Hamilton Gerverlins … Ein Stock wurde mir zugereicht, – – ich brauchte ihn nicht mehr, die letzten zwei Meter waren mit Hilfe einiger Felsbuckel leichteste Arbeit, und als ich mich in die Spalten hineinschwang, hörte ich nur noch Gerverlins kreischende, rostige Stimme – in einem Übermaß der Erregung zu hoher Fistel anschwellend:
„Ihre Pistole, – – Olaf, Ihre Pistole …!!“
Sein verzerrtes Gesicht geisterte dicht vor mir.
Und hinter ihm, ganz hinten, wo verschwommen wie Monde ein paar Papierlaternen brannten, flitzten kleine Kerle herbei, bissige Schimpansen mit Schlitzaugen und dünnen, grausamen Lippen …
Vier … fünf …
Sklavenwächter …
Gerverlin riß mir die Waffe weg …
Wie eine Silhouette stand er hinter der Felsspalte, den Arm warf er hoch, eisern stand er da, Herr seiner Nerven, Herr der Fieberdämonen, und aus seiner Hand spuckte die Waffe Blitz um Blitz, und Gerverlin war kein Sauschütze …
Was sich da übereinanderkugelte, erhob sich nicht mehr …
Und was dann kam, war die Vollendung gerechter Abrechnung.
Ich war mit einem Satz in dem durch eine Holzwand abgeteilten Höhlenraum … In diesen Brettern wehte ein Vorhang aus dunklem Stoff. Der Vorhang flog zur Seite, in der Türöffnung drei weitere der gelben Dschungelaffen. Die Partie war gleich, die Kerle hatten ebenfalls Pistolen, – – meine Sniders lag im Anschlag, – – da erschien hinter den dreien ein seltsam unwirkliches wächsernes, faltenloses Greisengesicht:
Everton!
Die Opalaugen, die mir Blindheit vorgetäuscht hatten, strahlten in unheimlichem Feuer.
Der bleiche Mund tat sich auf, und der rätselhafte Gelehrte, der so lange als tot gegolten, sprach mit aller Klarheit und Schärfe nur ein Wort:
„Prasma!!“
Prasma?!
Also der uralte nepalesische Brauch eines nie aufgeklärten Geheimkultes, Leichen in Harz zu konservieren! – Was alles hat die Gelehrtenwelt über „Prasma“ zusammengeschrieben, abgestritten, behauptet, vermutet! Unendlich viel! Europäische Mystiker erfanden andere Bezeichnungen, – den Kern des Ganzen kennen wenige. Aber Everton kannte ihn.
Drei Pistolen senkten sich, drei Chinesenköpfe flogen herum …
Gerverlin nahm den dreien die Pistolen ab, – eine Anzahl weißer Männer war urplötzlich um uns her, und der Lord rief befehlend:
„Zur Treppe …!“
Fünf Holzverschläge passierten wir, – dann ein kahler Felsenraum mit einer kurzen Treppe, nur fünf Stufen … Dahinter eine Steintür …
Unzählige Arme halfen … Steine, Felsbrocken, Möbelstücke, Bettladen, Tische, Schemel häuften sich auf, – – Papierlaternen leuchteten, in fieberhafter Eile wurde das Tor verrammelt, in fieberhafter Eile wuchs die Barrikade bis zur Höhlendecke …
Männer drückten mir dankbar die Hand, die in den Gesichtern die Spuren qualvoller Jahre trugen. Frauen umringten den langen Garlt, der seinen Freund Berty Gull lachend an die Brust drückte.
Der Wald droben brannte noch immer.
Der Sturm hatte nachgelassen.
Die ganze wahnwitzige Menge dieser Gelbgesichter stand jetzt unterhalb eines sanft abwärts geneigten Felsvorsprunges, aus dem eine Quelle in dünnem Rinnsal ins Tal hinabfloß.
Den lächelnden Gott hatten sie dicht vor der Stelle aufgestellt, wo diese Quelle auf dem Talboden einen schwärzlichen Fleck erzeugt hatte.
„Das heilige Lächeln“ wurde Zeuge, wie soeben ein menschlicher Körper, von Stangen gehalten, unter das Rinnsal geschoben wurde …
Es war Tom Barralt, mein Kompagnon …
Ob er noch lebte?!
Ich überlasse die Beantwortung dieser Frage denen, die wert darauf legen.
Und die Quelle?!
Kein Wasser …
Zäh und dick floß sie, – – es war Harz, siedendes oder doch flüssig-heißes Harz, es war die Ausschwitzung all der Riesenstämme da droben, es war eine Harzquelle, und langsam, zäh und dick floß diese schnell erkaltende Masse über den nackten Körper hin, hüllte ihn ein, – – es währte keine drei Minuten, dann war aus einem Menschen ein unförmiger Klumpen geworden, den die Kerle, die die Stangen hielten, nun rasch in einen nahen Teich tauchten und wieder herauszogen und liegen ließen.
Derweil hatten andere ein ähnliches Spiel begonnen, – mit dem zweiten Manne, – – und die Harzquelle floß, träufelte, bildete im Nu einen Panzer um den Körper und schwoll an zu einem … Klumpen.
Klumpen, Mensch genannt …
Das Ganze: Ein Prasmati!
– Neben mir stand Everton, der leichenähnliche Greis, – Everton, immer noch das große Rätsel.
„Aufbruch!! Nehmt mit, was ihr notwendig braucht … Nichts mehr! Es wird Zeit!“
Einer der drei Chinesen, die wir vorhin entwaffnet und gefesselt hatten, trug den Schlüssel zu dem Steintore bei sich, das in die Arbeitshalle führte.
Ein Zug von sechzig, siebzig Menschen setzte sich in Bewegung. In der Arbeitshalle nahm ich den ungeduldig knurrenden Trasso zu mir.
Der Zug glich fast einer Karnevalsprozession mit den zahlreichen Papierlaternen …
Der Weg zum sogenannten Hafen der Dschungali war unbesetzt, und die Bucht des Sumpfes wimmelte sehr bald von bemannten Kähnen. – All die Boote, die überflüssig waren, wurden zerstört.
Axthiebe dröhnten, Steine flogen in die wracken Kähne, – – sie versanken …
Fackeln loderten und tropften …
Eine ganze Flotte setzte sich in Fahrt … Im ersten Nachen saßen Everton, Ethel, der Lord, Garlt, Trasso und ich. Die Stoßstangen arbeiteten, Everton gab die Richtung an, und die Flotte der Befreiten verschwand in den geheimnisvollen Windungen der schmalen Wasserstraßen des großen Tarai.
Eine abenteuerliche Fahrt … Eine Bootsfahrt, umwoben von wilder, urwüchsiger Romantik.
Ein Dichter hätte dieses nächtliche Bild schildern müssen, – die lange Schlange von qualmenden Fackeln und Booten, die da durch das Labyrinth von Kanälen glitten, – die frohen Zurufe, die Freude der Freiheit unserer erlösten weißen Sklaven …
In dicken Wolken lagerte der Rauch der Fackeln unter den dicht belaubten, untersten Ästen, – – kreischende Rieseneulen, empört über die Verpestung der Luft, verließen ihre Baumhöhlen und schwebten wie hellgraue Fabeltiere durch den Dunst.
Stunden verrannen wie Minuten …
Es gab hier keine Langeweile, keine Ermüdung. Es gab stets Neues, Überraschendes, zumeist Erfreuliches.
Da war in dem Boot hinter uns der silberschläfige Mann, dem wir die Spatenskizze und dadurch das Gelingen des Rettungswerkes zu danken hatten. In demselben Boote saß Ethels Halbschwester Bißmi, und daß Freund Garlt gerade ihr immer wieder irgend eine Bemerkung zurief, zauberte um Ethels Lippen ein verständnisvolles Lächeln.
Ethel hatte Gerverlins Hände in ihrem Schoße, – die beiden machten aus ihren Gefühlen gar kein Hehl mehr, die beiden waren durch den Genuß der Fieberblätter wieder zu beseelten Menschen geworden und erinnerten in nichts mehr an jene hohlwangigen, hohläugigen Geschöpfe, die als Kugelfang hatten dienen sollen.
Überschaute ich in Sekunden der Selbstbesinnung die rückliegenden Ereignisse, dann drängte sich zweierlei in den Vordergrund, – beides vielleicht doch so eng zusammengehörend, daß es nur eine einzige Gesamterscheinung sein mochte: Das heilige Lächeln Buddhas und das, was „Prasma“ sein sollte und das ich ebensowenig voll begriff wie etwa – um den Punkt herauszugreifen – die wahre Herkunft der weißen Sklaven.
Es waren Europäer von zumeist ausgesprochen englischem Typ. Es waren auch sämtlich Menschen, die dem Professor Lewis Everton mit ausgesprochen kindlichem Respekt und familiärer Vertraulichkeit begegneten, – das alles hatte ich bereits gemerkt. Es war wie eine große Familie, es war auch wie ein allerengster Kreis gleichartiger Naturen. Alles duzte sich, alles betonte das Zusammengehörigkeitsgefühl ganz ungewollt.
Aber ich wies das alles auch wieder von mir, – ich habe mich nie zur Unzeit mit zwecklosen Gedanken belastet, ich habe nie den Gedanken, das Grübeln vor den Genuß so romantischer, so abenteuerlicher und deshalb so aufrüttelnder Ereignisse gestellt, die mir Natur, Menschen und besondere Umstände im Abseits bescherten … –
– Stunden flogen dahin … Die Nacht wich, und die Morgendämmerung kam … Die Fackeln erloschen … Fahle Helle lagerte unter den Baumkronen des Tarai, – da bogen wir in die kleine Bucht ein, links wurde auf der Ruinenstätte des Tempels der eingestürzte Turm sichtbar, wir landeten …
Everton, der wächserne Greis mit dem ehrwürdigen, faltenlosen Gesicht, war eingenickt. Erst als das Boot an das Ufer stieß, erwachte er. Seine Opalaugen öffneten sich ganz weit, – ein Blick des Erkennens glitt über seine farblosen Züge, und die Augen bekamen Leben und Ausdruck und eine innere Kraft, die die greisenhafte Verfärbung der Pupillen zu beseitigen schien.
Er erhob sich ohne Hilfe, stieg an Land und sagte mit höflicher Entschiedenheit zu mir: „Abelsen, lassen Sie den blinkenden Buddha und den Prasmati Barralt, meinen Diener, in den oberen Keller emporsteigen. Die Stunde ist da, wo die letzten Hüllen fallen sollen. Jedem soll Gerechtigkeit widerfahren, jedem …!“
Gerverlin, Garlt und ich, Trasso neben mir, stiegen hinab in die weiten Keller des einstigen Buddhatempels.
Nichts hatte sich hier verändert, vertraute Räume begrüßten uns, und die drei Brillenschlangen, die von obenher sich hier eingeschlichen hatten, büßten ihren Leichtsinn oder ihre Frechheit mit dem Leben.
Ich setzte den so einfachen und doch so sinnreich konstruierten Mechanismus des schweren geheimen Aufzugs in Betrieb.
Nun standen die beiden so ungleichen Naturen vor uns.
„Das heilige Lächeln“ trug noch denselben überreichen Schmuck an Edelsteinen, – nichts war davon geraubt worden, und der Harzblock mit der oben zerschlagenen Deckschicht des Gesichts, die notdürftig wieder eingefügt war, hatte an dieser Stelle noch dieselben Risse und Sprünge und ließ dahinter das ebenfalls so seltsam unwirklich-wächserne Antlitz des ehemaligen Dieners Professor Evertons zum Teil erkennen.
Gerverlin trat fröstelnd zurück.
„Scheußlich!!“, meinte er beklommen. „Was wird werden, Olaf? Ich wünschte, alles wäre vorüber. Ich bin nicht so neugierig auf Evertons letzte Aufschlüsse, wie Sie vielleicht annehmen. Wir im Auswärtigen Amt in London haben die Dinge hier seit Jahrzehnten scharf im Auge behalten, ganze Bündel Geheimakten sind entstanden …“
Er zögerte etwas …
„… England hat kein Interesse an einem Haufen Juwelen, Olaf!“, – und das erklärte er mit einer wegwerfenden Geste. „Unsinn!! Was uns Engländern die Köpfe heiß machte, war etwas ganz anderes … Evertons Tagebücher wollten wir haben, weil …“, – er hüstelte, – draußen im Gange war Everton selbst erschienen, geführt von dem silberschläfigen Manne und von Ethel, während hinter ihnen Ethels Schwester Bißmi einen der Klappstühle unseres Lagerzeltes trug und ihr wieder die gesamte Menge an Befreiten folgte.
Everton setzte sich.
Seine Opalaugen hingen an dem riesigen Harzklumpen, der so schwach nur menschliche Konturen verriet.
„Legt das Gesicht und die Brust frei!“, befahl er völlig geistesabwesend.
Garlt und ich zerhämmerten mit Steinen die Harzstücke, – die anderen Männer[11] hielten sich zurück.
Langsam wurde der Kopf des alten Barralt freigelegt … Langsam ein Teil der Schultern.
„Genug!“, sagte Everton laut.
Der greise, wächserne Professor erhob sich ohne Hilfe und trat dicht neben den Prasmati.
Niemand rührte sich …
Man hörte nur hastige Atemzüge.
Ethel hatte Gerverlins Arm umklammert, und er hatte sie zärtlich umschlungen.
Lewis Everton, selbst zum Glauben Buddhas übergetreten, selbst völlig eingeweiht in so vieles, das die Wissenschaft in ihrer nüchternen Exaktheit belächeln mag, strich mit der wächsernen Hand über seines einstigen Dieners Stirn hin und zog dann dessen Unterkiefer herab. Was er mit den Fingern aus der Mundhöhle hervorholte, sahen wir nicht.
Urplötzlich bewegten sich die Augen Thomas Barralts, und Everton setzte sich wieder.
Dann hob ein pfeifender, schier endloser Atemzug diese bisher harzgepanzerte Brust, und in das Antlitz des Prasmati trat ein klarer Ausdruck wahnsinnigen Entsetzens. Seine Augen hingen an denen Evertons, und wir alle wichen zurück, als diese lebende Mumie heiser flüsterte:
„Erbarmen, Everton …!! Erbarmen!!“
„Fürchtest du den Tod, Barralt?“, erwiderte der Greis anscheinend ohne jedes Gefühl. „Fürchtest du plötzlich den Tod, den du andern so skrupellos zugedacht hast?! – Bekenne, was du gefehlt und begangen, und das heilige Lächeln wird drüben vielleicht barmherzig sein …“
„Ich … will … gestehen …“, sagte Thomas Barralt mit aller Anstrengung.
„Beginne und vergiß nichts, Thomas!“, mahnte Everton noch milder. „Du weißt, deine Stunden sind gezählt … Die meinen wohl auch … Was mich dem Leben erhielt, war … die Hoffnung! Die Menschen unterschätzen gerade das Hoffen als Lebensimpuls. Sie kann zum stärksten Triebe werden … – Sprich also und … hoffe … Buddha lächelt dir zu. Wer bereut, findet stets Gnade.“
Thomas Barralt sog wieder pfeifend die Luft ein, – – ein Ton, der uns frösteln ließ. Sein Brustkasten dehnte sich, die Augenlider schlossen sich, und wie unter fremdem Zwang sprach der farblose Mund Satz auf Satz, – eintönig, scheinbar ohne jede innere Anteilnahme … – Satz auf Satz, – – und die Hammerschläge dieser Beichte ließen uns zu Bildsäulen erstarren.
„… Kathmandu, Nepals Hauptstadt, beherbergte drei Menschen: Meinen Herrn, dessen Schwester Viktoria und mich, der dem jugendlichen Professor und Residenten am Hofe in Kathmandu an Bildung wenig nachstand. Mein Herr wurde Buddhist, ich wurde es, seine Schwester ward von dem Maharadscha umworben und ich liebte sie … Aber ich verheimlichte meine Gefühle, und als Viktoria Everton die Gattin des Fürsten wurde, heiratete ich aus Verzweiflung eine arme Engländerin. Meine Verzweiflung wurde Haß …“, fuhr der Prasmati fort. „Aus Haß verband ich mich mit Bir Schamscher Dschang, dem Haupte der dem Maharadscha feindlichen Partei, der sich eine Leibwache aus Südchinesen zusammengestellt hatte. Als Dschang Bahadur, der Maharadscha und Gatte Viktoria Evertons Ende des Jahres 1877 starb, half ich das Volk aufwiegeln, damit es verlange, die Witwe des Fürsten solle sich mit der Leiche ihres Gatten lebendig verbrennen lassen …“
„Es war so!“, murmelte Everton tief gesenkten Kopfes …
„… Das Volk forderte die Mitverbrennung, und Schamschar Dschang, damals schon nach der Fürstenwürde strebend, sorgte dafür, daß Everton, mein Herr, gefangen gesetzt wurde, da er es nicht dulden wollte, daß seine Schwester den Scheiterhaufen bestiege. Man verbreitete das Gerücht, Everton sei im Gebirge umgekommen und verschollen, und die uralte Zeremonie der Witwenverbrennung fand wirklich statt, bevor England irgendwie eingreifen konnte. Aber meine eigene Gier nach der Frau, die den Maharadscha mir vorgezogen hatte, sann auf Mittel, das Volk zu täuschen. Ich wollte die Maharani Viktoria retten, ich gedachte, sie für mich zu erringen, ich wollte eine andere Frau verbrennen lassen. Mein Verbündeter Schamschar Dschang, der dann auch wirklich zum Regenten sich aufschwang, vereitelte mein Vorhaben und ließ auch mich, genau wie Everton, wie dessen Gattin und Kinder durch seine Leibwache in aller Stille in das Tarai bringen, damit wir nie mehr seine Intrigen aufdecken könnten. Trotzdem war es mir und meinem Anhang gelungen, die Juwelen der Maharani beiseite zu schaffen und sie gegen wertlose Stücke zu vertauschen. Ich nahm sie mit in das gebirgige Gebiet des Tarai, das unsere neue Heimat wurde, aber auch für meinen Herrn, seine Kinder, seine Gattin und seine europäische Dienerschaft, die Schamschar Dschang mit verschwinden ließ, ein Kerker, aus dem es kein Entrinnen gab …“
Lewis Everton unterbrach ihn.
„Meine Frau starb durch das Fieber“, warf er bedächtig ein, als hätten diese Erinnerungen für ihn jeglichen Gefühlswert verloren. „Mein ältester Sohn, der dort …“ – und er deutete auf den silberschläfigen Mann, „war damals vier Jahre alt. – Du hast eins vergessen, Barralt: Meine Tagebücher!“
Der Prasmati erklärte etwas hastiger, als wollte er nicht den Eindruck aufkommen lassen, mit der Wahrheit irgendwie zurückzuhalten: „Ich hätte auch dies erwähnt … – Meines Herrn geheimer Auftrag als Gelehrter lautete, im Grenzgebiet nach Indien hin nach Steinkohlenlagern zu suchen, für deren Vorhandensein gewisse Anzeichen sprachen. Wir waren von Kathmandu aus viel unterwegs, und wir fanden auch in entlegenen Bergzügen leicht abbaubare Steinkohlenflöze …“
Wieder ging das grausige Zucken über die wächsernen Züge des Sterbenden, – denn er war ein Sterbender … – Nur für Sekunden … Dann beichtete er weiter, und wir Zuhörer spürten aufs neue den Einfluß des Unheimlichen, Rätselvollen, das sich nicht näher bezeichnen läßt.
Es war wie Tarai-Fieber, wie Fieber-Phantasien.
„… Mein Herr verlangte von mir die Geländeskizze … Er hatte sie in eins seiner Tagebücher eingeklebt, er hatte einen kurzen Bericht an die englische Regierung eingeschickt, der sehr viel daran lag, gerade in Nordindien reiche Kohlenlager zu besitzen. Ich verweigerte die Herausgabe, ich log, ich sagte, die beiden Bücher seien verloren gegangen … – Jahre verstrichen derweil. Mein Herr hatte abermals geheiratet, eine der weißen Frauen … Mein Weib war gestorben, mein Sohn lebte. Ich sann andauernd auf Flucht, denn ich war reich, unermeßlich reich durch die Juwelen, und eines Nachts versuchten mein Sohn und ich die Flucht. Aber mein Herr vereitelte unser Entkommen, und dann … dann wurde ich in derselben Nacht das, was ich bis heute blieb: Ein Gebannter des heiligen Lächelns Buddhas, ein lebendiger Toter, denn mein Herr kannte alle Geheimnisse uralter Zeiten und war Buddhas Liebling …“
Everton schaute das wächserne Gesicht des anderen seltsam durchdringend an.
„Du wurdest Prasmati, – dein Sohn entwich, Barralt …! Aber die Juwelen mußte er mir überlassen … Er hat bis gestern danach gesucht, Thomas Barralt. Er wird nie mehr suchen … nie mehr …“
Seine Stimme wurde härter.
„Thomas Barralt, dein Sohn, ein Jüngling damals, hatte alles Schlechte aus deinem Blute geerbt. Er war schlau und hinterlistig wie du, er war später, als eins meiner Kinder, Ethel, flüchten konnte, bereits ein reifer Mann und ein hartnäckiger Betrüger … Auch ich hätte flüchten können, ich wollte nicht, ich blieb hier in diesen Ruinen, denn die Welt hatte mir nichts mehr zu geben, und mein Vaterland, England, beargwöhnte mich. Es ist doch so, Lord Gerverlin?“
„Leider“, bestätigte Hamilton mit schwerer Zunge. „Unsere Annahme, Sie könnten als Buddhist das Interesse für Großbritannien verloren und die Zeichnungen absichtlich …“
Everton winkte schwermütig ab.
„Übergehen wir diese Dinge, Lord Gerverlin. Wollte einer die Geschichte dieses seltsamen Landes der Dschungali schreiben“, – sein Blick streifte mich ganz flüchtig –, „dürfte ihm doch noch so manche Einzelheit fehlen, die besser nicht berührt wird. Die Menschen berauschen sich wohl sehr gern an dem, was man Romantik nennt, aber ihre Zweifelsucht und ihre pedantische Art, Kritik zu üben und die Sonde der Wissenschaft an Dinge zu legen, die keine Operation dieser Art vertragen, sind ebenso groß. – Nur etwas könnte[12] man mir zum Vorwurf machen, Gerverlin, und es ist zweckmäßig, diese Frage sofort richtigzustellen. Weshalb – die Frage wird jedem aufstoßen – weshalb rettete ich, der ich so viele Jahre hier in den Ruinen einsam hauste, nicht all die weißen Sklaven vor der zunehmenden Brutalität der Chinesen, der sogenannten Dschungali? – Weshalb, – – weil die Last meiner Jahre, und ich rede nur von Last, nicht von Weisheit, mir zusammen mit der Lehre des heiligen Lächelns der Weltentsagung jeden, aber auch jeden gewaltsamen Eingriff in bestehende Dinge verbot und …“ – kurze Pause – „weil ich wußte, daß Menschenschicksale sich von selbst entwirren sollen und daß der Tag der Abrechnung bestimmt käme. – Ist er nicht gekommen? – Er ist da … Er brach damals an, als die Dschungali, die diese Ruinen schauten, gegen Sie, Gerverlin, und Ihre Begleiter hier den Kampf eröffneten. Das war der Anfang vom Ende …“
Seine Worte waren immer langsamer geflossen, genau so, als ob ein Quell allmählich versiegte.
Inzwischen hatte ich bereits die bedrohliche Veränderung wahrgenommen, die mit den Gesichtszügen Thomas Barralts und fast in dem gleichen Maße mit denen Lewis Evertons vor sich gegangen war.
Die Gesichter beider wurden erst vollkommen farblos, verloren die wächserne, erschreckende Durchsichtigkeit der Haut, und ein bräunlicher Ton, fast ins Grünliche spielend, breitete sich über die urplötzliche faltige und schlaffe Haut hin.
Dann droben ein Schuß, noch einer …
Dazu Stimmen, Rufe, – – und dann wieder Stille.
Ich hatte nach oben stürmen wollen, ich unterließ es …
Der kleine Gull brüllte durch eine der Felsspalten herab:
„Es war nur ein Boot der Schlitzaugen mit dem Oberhaupte der jetzt friedlichen Kerle, dem Herrn Ming … Herr Ming schickt einen Harzklumpen …“
In das Schweigen hinein tropften Evertons befehlende Worte:
„Bringt den Prasmati! Ich wußte, daß er kommen würde … – – Thomas Barralt, dein Sohn kehrt zu dir zurück!“
Thomas Barralts Opalaugen hingen an der Harzstatue, die nun dicht vor ihm stand.
Seine Lippen zuckten …
Diese Harzstatue, ein unförmiges Gebilde, ließ die Formen eines darin eingeschmolzenen Menschen immerhin erkennen. Die Schicht über dem Gesicht war durchsichtig wie heller Bernstein, und diese Schicht verzerrte die Züge des Sohnes Thomas Barralts bis ins Menschenunähnliche.
Eine wilde Fratze grinste uns an …
Und wie vorhin, als wir alle das Gleiche empfunden haben mußten, – wie vorhin, als das Unheimliche uns alle mit hirnumnebelnder Gewalt in Bann schlug, schien nun abermals das Grauen des Tarai uns zu packen, als Lewis Everton noch langsamer, fast Silbe für Silbe sprach:
„Lebt wohl … Es ist vorüber … Geht alle nach oben … Und das heilige Lächeln sei mit euch! Lebt … wohl!“
Wir gehorchten …
Wie … wie eine Schar verängstigter Kinder.
Wir kamen nach oben, wo die umrankten bunten Ruinen und das Sonnenlicht uns grüßte.
Und urplötzlich fühlten wir die Müdigkeit nach dieser Nacht wie einen Schlaftrunk. Wir saßen beieinander, und ganz umsonst war mein Kampf gegen eine Erschöpfung, die jeden Willen tötete. –
Abendrot färbte die fernen, fernen Gletscherspitzen des Daches der Welt, als eine kalte Wolfsbastardschnauze mich durch kräftige Stöße weckte.
Trasso war munter, und sein Herr versuchte sich zu ermuntern. Ich saß in unserem Lagerzelt, das die Dschungali mit geraubt gehabt hatten, und in dem Zelt war nichts verändert, nichts … Auf ihren Mooslagern schliefen Gerverlin und die anderen drei Gefährten, der Zelteingang war offen, und draußen in Sichtweite standen unsere zottigen Gäule, unsere Waffen waren wieder da, – nichts fehlte, gar nichts.
Es war, als ob Zauberhände hier die Geschehnisse der letzten Tage weggewischt hätten.
So war es … –
Mit etwas schwerem Kopf erhob ich mich, trat ins Freie … Neugierig, ob etwa auch die Menschen verschwunden seien, die die Mitspieler oder Zuschauer des Ausgangs des „Heiligen Lächelns“ gewesen. Aber sie waren da, sie schliefen eng nebeneinander im Schatten der Ruinenblöcke und Ethels Wangen zeigten das zarte Rot eines tiefen, gesunden Schlafes.
Leise stieg ich mit Trasso in die Kellerräume hinab.
Dort ganz unten ruhte mein Monte. Ich wollte Abschied von ihm nehmen, denn ich ahnte, daß Lewis Evertons Worte „Es ist vorüber“ weit mehr zu bedeuten gehabt hatten, als irgend jemand vermuten mochte.
So kam ich in den Kellerraum, der vor Stunden den blinkenden Buddha und Vater und Sohn und Professor Everton … und uns beherbergt hatte.
Er war leer.
Bis auf zwei Bücher, die in einem geöffneten kleinen Zinkkasten lagen.
Ich stutzte …
Strich mir über die Stirn …
Ich wollte in den tiefen Keller hinab, obwohl Trasso angstvoll winselte.
Was fand ich?!
Nur Sumpfwasser: Der Raum, in dem mein treuer Hund begraben worden war, war bis oben gefüllt mit braunem, schlammigen Naß. –
Und dann?!
Als die anderen erwachten, als wir einsehen lernten, daß Lewis Everton niemals mehr uns sichtbar werden würde, als Ethel Everton neben dem Platze, wo sie geschlafen hatte, den Lederbeutel mit den Juwelen der Maharani von Nepal fand, sind wir sehr bald bei Fackellicht aufgebrochen und zurückgeritten in fluchtartiger Eile, geritten und marschiert, – ein Heerestroß, der nur einen Wunsch hatte, aus dem Tarai herauszukommen und andere Menschen zu sehen und uns zurückzufinden in die Wirklichkeit des Alltags … – –
– Tschamandra heißt das Dorf, und auf dem Hügel im Norden steht der Bungalow, und hier sitze ich auf der Veranda und will den Schlußakkord dieser Sinfonie des Geheimnisvollen hinzufügen.
Drunten im blühenden Garten schreiten Ethel und Freund Hamilton eng umschlungen dahin, und dann taucht plötzlich der lange Garlt auf, schleicht näher …
„Störe ich?“
Er schleicht, er will mich nicht ablenken.
„Nein, Garlt, – – setzen Sie sich …!“
Er hat sehr ernste Augen, der verliebte Garlt.
„Olaf, – – hm, … eine Frage …“
„Bitte …“
Er zaudert sehr lange …
Dann platzt er heraus: „Olaf, es gibt nur eine Erklärung für einige Punkte des Erlebten, über das niemand sprechen mag. Wir alle hatten Fieber … Es waren zum Teil Fiebervisionen …“
Ich greife wieder zur Feder, die ich weggelegt hatte und schreibe groß und deutlich, so daß Garlts Blicke jeden Buchstaben mitlesen können:
Das Abseits, vielgewund’ner Pfad,
Wächst über Menschengeist und Tat
Zuweilen zu den dunklen Höhen,
Wird dort zum Nichtverstehen,
Wird zu geheimer Kräfte Fächeln
Durch Buddhas sphinxhaft heil’ges Lächeln.
Garlt seufzt, zuckt die Achseln …
Dann kommt doch wieder der blanke lustige Schimmer in seine Augen.
„Lächeln, Olaf …!! Stimmt, – – meiner kleinen zärtlichen Braut reizendes Lächeln ist mehr wert als …“ – er stockt …
Er erhebt sich schnell, geht davon …
Tarai-Erinnerungen …?!
…Wohl doch!!
Nächster Band:
Verlagswerbung:
Tropenglut und Leidenschaft
Eine Reihe einzigartiger tropischer Erzählungen
Weiße Frau auf Borneo
von
Gino F. v. Moellwitz
Aus dem Leben der vornehmsten Londoner Gesellschaft heraus folgt die stolze Regina Bradley ihrem Bruder auf die Station Tampilong auf Borneo. Bald herrscht sie unumschränkt über die Herzen aller weißen Männer dieser Urwaldstation. Intrigen und Eifersucht bringen sie und ihren Bruder in ernste Gefahr. Doch eine starke Hand wacht im Verborgenen und rettet ihnen Leben und Ehre.
Das Lächeln des Tuan
von
Gino F. v. Moellwitz
Südsee! Vorbei der Sturm. Friedlich träumt in unwahrscheinlichem Blau die Lagune und spiegelt die Palmen und üppigen Blütenbüsche der Insel Kolaula. Inmitten der harmlosen Sonnenkinder der Insel lebt ein ernster Mann, auf dem die Schatten eines tragischen Schicksals lasten. Hier findet ihn ein verwöhntes, junges Mädchen. Im Südseezauber erwacht sie zu reiner, reifer Fraulichkeit und führt den ernsten „Tuan“ zurück unter die Menschen.
Preis je Band 2.– Mark
Anmerkung des Verlages:
Anmerkungen: