Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 45 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
„Benson, Mann, sind Sie des Teufels?“
Käpten Webers Stimme übertönte noch den Lärm des wütenden Sturmes, und das wollte bei dem Unwetter schon etwas heißen.
Auch Freund Gerverlin, treuer Waffengefährte von Nepal her, brüllte etwas von grobem Unfug.
Aber die Gestalt droben am Fockmast, die den zerrissenen Antennendraht auszuflicken suchte, hatte bereits, als der Dampfer schwer nach Backbord überholte, den Halt verloren und stürzte kopfüber in die kochende See.
Lady Gerverlin umkrallte den Arm ihres Mannes.
„Harry, – – er ist verloren …“, – der Orkan riß ihr die Worte von den Lippen weg.
Käpten Weber stand breitbeinig, triefend, etwas vorgebeugt an der Reling. Seine Eisenfäuste umkrallten die obere Relingstange, seine scharfen Augen spähten in die undurchdringliche Finsternis hinaus, in der die weißen Wogenkämme wie matte Lichtreflexe auftauchten und vorüberglitten.
Er drehte sich um und stampfte zur Hecktreppe.
„Vorbei!“, sagte er zu dem jungen Ehepaar. „Jeder Rettungsversuch wäre zwecklos … Armer Teufel!! So dicht vor dem Hafen! Aber gegen seinen Eisenkopf war ja nicht aufzukommen …“
Auf diese Weise verlor der große, moderne Frachter, der auch zehn Passagierkabinen besaß, einen seiner Fahrgäste.
Lady Gerverlin weinte, sogar vorn im Mannschaftslogis sang man dem schneidigen Amerikaner Adam Benson ein wortkarges Loblied. Alle hatten ihn gern gehabt, alle …
Näher und näher rückte das Drehlicht des Leuchtturms, und eine Stunde darauf fuhr der Dampfer in die breite Flußmündung ein.
Ein deutscher Zollkutter flitzte herbei, und gegen Mitternacht warf der „Feuersand“ seine Trossen am Kai aus und lag fest.
„Luken auf!!“
Käpten Weber wollte die dreihundert Tabakballen, die er von Colombo mitgebracht hatte, sofort entladen. Kräftige Stauer kamen an Bord, die Dampfwinde knarrte, Ketten klirrten, zwischen halbnackten Männern, die in dieser heißen Julinacht sogar die schmierigen Hosen noch als lästig empfanden, standen Zollbeamte, notierten, fragten, erhielten Püffe, – – auf dem Kai brannten große Bogenlampen, und mit dumpfem Rollen glitten die kleinen Schiebewagen über den zementierten Boden bis zum bereitstehenden Güterzuge hin.
Käpten Weber eilte geschäftig, aber stets mit dem ihm eigenen sachlichen Ernst und mit unerschütterlicher Ruhe hin und her.
Der erste gefüllte Güterwagen sollte geschlossen und plombiert werden. Während die eine Schiebetür zukrachte, schlüpfte aus der zweiten eine Gestalt ins Freie und verlor sich in der finsteren Nacht zwischen den Gleisen und den langen Reihen der Bahnwagen.
Nur Weber hatte den flinken Schatten bemerkt.
Er grinste verstohlen.
Neben ihm erschien ein Herr, den Weber längst kannte.
„N’ Abend, Herr Kommissar … Etwas nicht in Ordnung?“
„Ihnen ging ein Mann über Bord, Käpten“, sagte der Herr mit dem glatten Gesicht.
„Werde schriftliche Meldung einreichen … War ein Amerikaner, kam in Colombo an Bord. Benson hieß er …“
„Ihre Antenne ist zerrissen? Seit wann erhielten Sie keine Funksprüche mehr?“, forschte der Herr weiter.
„Seit gestern abend … Schwerer Sturm … Benson wollte die Antenne flicken.“
„Hm, … Benson …! – Ich war in seiner Kabine … Ich fand nichts von Papieren.“
Weber blickte den Beamten harmlos an. „Papiere? Paß? Die trug Benson stets bei sich, nachdem in Vlissingen so ein dicker neugieriger Hafenpolizist die Echtheit angezweifelt hatte … War Unsinn. Benson war kein übles Früchtchen.“
Der Kommissar hüstelte. „Wir erhielten Funkmeldung von Vlissingen …“
„Ich nicht …! Antenne war zum Teufel“, sagte Weber grob. „Was soll der ganze Kram eigentlich?!“
„Ein Steckbrief, lieber Weber … Sie hatten, ohne daß Sie es ahnten, einen seit Jahren gesuchten Zuchthäusler an Bord.“
„Na nu?! Machen Sie keine Witze!! Etwa dieser Adam Benson?!“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Der – – Zuchthäusler?! Tatsache?“
„Tatsache …! Er wurde in Vlissingen erkannt. Sein Gesicht muß auffallen.“
„Stimmt, – gefiel mir, das Gesicht, und der Mann ebenso. Wer war es denn nun?“
Der Beamte schaute Weber prüfend an.
„Ein Freund Lord Gerverlins, an den ich leider nicht herankam: Diplomatenpaß! Der Lord hüllt sich in Schweigen.“
Wieder zuckte Weber die Achseln. „Kenne den Lord zu wenig … Jedenfalls: Benson ist über Bord, ist tot … Bei Sturmstärke elf gab es da nichts zu retten.“
„Hm, das wohl … Nur …“
„Nur?!“ Weber starrte den Beamten böse an …
„Nur?! Wollen Sie mir was am Zeuge flicken, Kuttner?!“
„Ihr Schiff verließ Vlissingen etwas … überhastet, Weber …“
„Quatsch!! Sollte ich etwa Stunden durch die Pomadigkeit der fetten Herrschaften einbüßen, wo das Barometer wie eine faule Aktie sank?!“
„Nun ja … – Entschuldigen Sie, ich will nicht länger stören … Obwohl mir die Sache etwas unklar bleibt … Ich glaube, Benson dürfte die Antenne zerrissen haben …“
„Wie?!“
Der schlanke, junge Käpten richtete sich straffer auf.
„Donnerwetter, Kuttner, – nun verstehe ich die Geschichte selber nicht mehr …! Jetzt werde auch ich argwöhnisch, wenn auch all das Gerede den Kerl nicht mehr lebendig macht. Er sauste in die See wie ein Bleiklotz … Tot ist tot … Friede seiner Asche. Daß er etwa schwimmend die Küste erreicht, ist ganz ausgeschlossen, – in voller Kleidung, ohne Schwimmweste, – – unmöglich! Er wird sofort weggesackt sein. – Wie gesagt, ich reiche schriftliche Meldung mit den Namen der Augenzeugen ein … N’ Abend, Kuttner …“
Der Beamte schlenderte davon. Weber blickte ihm nach, aber er grinste nicht mehr.
„Spürnasen …!“, fluchte er leise.
Dann grobste er einen Stauer an, der ihm einen gehörigen Puff versetzt hatte. Im Bogenlampenlicht erkannte er das verwitterte, zerknitterte Gesicht des dürren Kerls, der nur aus Muskeln zu bestehen schien.
„Ah, – Lorenzen, Sie sind es …!“ Er schüttelte dem Manne derb die Hand.
Jasper Lorenzen schob den dicken Priem mit der Zunge in die andere Backe und feixte. „Weber, die Sache stinkt sengerig! Geben Sie mir zum Schein eine Zigarre … Ihre Depesche aus Vlissingen …, – Vorsicht, es lungern hier zu viel Geheime herum!“ Und ganz laut: „Danke schön, Weber … Freut mich immer, daß Sie einen ehemaligen Kollegen nicht vergessen haben …“
Er legte die Zigarre in seine Mütze und machte sich wieder an die Arbeit.
Ich kannte mich in der deutschen Hafenstadt sehr gut aus. Fritz Weber hatte mir die Lage des kleinen Grundstücks Jasper Lorenzens genau beschrieben, und als ich gegen zwei Uhr morgens an die Hintertür klopfte, wurde mir sofort geöffnet.
Vor mir stand ein junges Mädel mit ernstem, pikanten Gesichtchen: Inge Lorenzen.
„Feuersand!“, wiederholte ich das telegrafisch vereinbarte Kennwort.
Inge winkte, führte mich in das erleuchtete Wohnzimmer und betrachtete mich von oben bis unten.
„Strolch!“, sagte ich nur.
„Beinahe …“, nickte sie matt.
Für Humor war diese Inge nicht zu haben.
„Das Bad ist fertig, und die Kleider liegen bereit …“, – – all das klang so gleichmäßig kühl, daß ich sofort fragte:
„Sie fürchten Unannehmlichkeiten für Ihren Vater, nicht wahr?!“ Ich hustete … Der Staub des Tabakballens, in dem ich von Bord geschmuggelt worden war, beizte mir noch immer die Kehle.
„Vielleicht … – Bitte, dort ist das Badezimmer …“
Dieser Empfang nach diesen qualvollen Stunden enttäuschte mich bitter. Ich hatte mir Jasper Lorenzens Tochter anders vorgestellt, menschlicher, mitteilsamer.
Auch Rasierzeug fand ich, und als ich dann den neuen grauen Straßenanzug angezogen hatte, wunderte ich mich, daß das Ding so tadellos saß.
Inge wunderte sich noch mehr, als ich das Wohnzimmer wieder betrat.
Sie blickte mich groß an. Ein hoher Wandspiegel zeigte mir mein eigenes Ich. Ich hätte mich jetzt in der besten Gesellschaft sehen lassen können.
„Setzen Sie sich, Herr … Abelsen …“ Ihre graublauen Augen verrieten zum ersten Male eine wärmere Regung.
Der Tisch war blitzsauber und nett gedeckt.
Ich langte mit bestem Appetit zu.
„War das nicht sehr gewagt?!“, meinte Inge nach einer Weile.
„Der Sprung in die See? – Nein …! Weber hatte am Heck fünf Taue befestigt, die im Wasser nachschleiften … Ich bin ein leidlicher Schwimmer. Nur der Aufenthalt in dem Tabakballen war eine Marter …“
„Und Gerverlins, Ihre Freunde, ahnen nichts?“
„Nichts! Wir durften nur Sie beide noch einweihen, Ihren Vater und Sie …“
Das Mädchen saß in statuenhafter Ruhe da und schwieg wieder.
Ich schaute sie offen an. „Fräulein Lorenzen, falls ich Ihnen als Gast irgendwie gefährlich erscheine, will ich den Frieden Ihres Hauses nicht länger stören … Ich …“
„Still!!“
Sie horchte …
„Es kommt jemand!“, flüsterte sie schnell …
Draußen erklang ein eigentümlicher Pfiff …
Inge erhob sich. „Er ist es … Er wurde erwartet.“
Sie ging hinaus und kehrte mit einem hageren älteren Herrn zurück, dem man trotz Hornbrille und europäischer Kleidung sofort den Araber ansah.
Das Mädchen nannte seinen Namen: „Herr Selim Hullah“, – sie sprach jetzt englisch. „Ein … Geschäftsfreund meines Vaters und meines Chefs … – Herr Abelsen, auch ein Freund von uns …“
Der Asiate verneigte sich. Er hatte etwas starre, argwöhnische Augen.
Zu meiner Überraschung reichte er mir die Hand und erklärte erfreut: „Ich kenne Sie … Wir legen Wert auf Ihre Beteiligung …“ Er lächelte etwas sphinxhaft dazu. „Mein erhabener Herr“, fügte er ehrfurchtsvoll hinzu, „kann jeden Mann brauchen, der wie Sie kein Abenteuer scheut.“
Er setzte sich und betrachtete mich. Inge füllte seine Teetasse …
Auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster schnurrte diskret ein Telefon. Das Mädchen ging hin, hob den Hörer ab und nannte eine Nummer.
„… Bitte, gnädige Frau …“
Das war alles, – sie legte den Hörer weg und trat wieder zu uns. Ihr Gesicht war noch düsterer geworden.
„Der Chef kommt sofort“, sagte sie zu Selim.
Der Araber drehte an seinem dünnen Spitzbart. Sein starrer Blick hing unverwandt an meinen braunen, mageren Zügen, als ob er über meine Person noch immer nicht ein abschließendes Urteil gewonnen hätte. Der Mann war mir vorläufig ein Rätsel. Seine ganze Erscheinung hatte unbedingt etwas sehr Selbstsicheres, Gebieterisches an sich, sein Benehmen war einwandfrei, und doch hätte ich mir Selim Hullah weit eher im braunen flatternden Beduinenmantel und mit Turban und auf flottem Gaule vorstellen können: Er hatte einen Stich ins Raubritterhafte, ihn umwehte ein Hauch von Wüstenromantik.
Selim Hullah erwiderte auf Inges Bemerkung nur:
„Es ist gut … Wir werden einig werden.“ Er zog ein geschnitztes Zigarettenetui hervor. „Sie gestatten, Miß Lorenzen … – Bitte …“ Er hielt es mir hin, und er schien nunmehr seine ganze Aufmerksamkeit auf meine Hände zu konzentrieren.
„Ich vertraue Ihnen“, sagte er plötzlich. „Der Dampfer „Feuersand“ wird mittags den Hafen wieder verlassen. Wollen Sie mich begleiten? Ich verspreche Ihnen ein Abenteuer, das nach Ihrem Geschmack sein dürfte.“
„Glauben Sie?!“
Er fühlte die Ironie. „Ja, ich weiß es. – Sie sind auch hier nicht sicher, Mr. Abelsen. Miß Lorenzen mag Ihre Kleider sofort verbrennen. Der Mann, der seit Tagen hinter mir her war, schwimmt zur Zeit in der Nordsee …“
Das Mädchen hatte bereits in ihrer stillen Art das Zimmer verlassen.
„… Ich bin kein Mörder …“ Selim Hullah entblößte seine Brust, und ich sah ein langes Pflaster, unter dem das Blut noch immer tropfenweise hervorsickerte. „Die Spione sind zahlreich. Es war Notwehr, und Sie dürfen überzeugt sein, daß nur bei allergrößter Vorsicht auch Sie unbehelligt davonkommen. Würden Sie mir den Gefallen tun und draußen ein wenig Wache halten, sobald die Frau hier eingetroffen ist? Ich fürchte fast, es war noch ein zweiter Mann hinter mir her, einer unserer Todfeinde, Mr. Abelsen … Nur der schnellere Messerstich entscheidet da. Besitzen Sie Waffen?“
Ich knöpfte meine Jacke auf. „Das dürfte genügen.“
„Es genügt … – Gerade Sie werden bei Ihrer Erfahrung am leichtesten dieses Häuschen bewachen können … – – Da, – – der Pfiff. Sie kommt. Sie ist sehr einflußreich und sehr wertvoll, aber auch …“, – er lachte lautlos in sich hinein – „sehr geschäftstüchtig …“
Im Flur erklangen bereits Schritte. Die Tür ging auf, eine hochgewachsene Frau im dunklen Seidenmantel trat ein, dicht verschleiert, den Kopf etwas zurückgeworfen. Als sie den Schleier lüftete, schaute ich in ein nicht mehr ganz junges, bleiches Frauengesicht mit übergroßen dunklen Augen, über denen die langen Wimpern wie ein zartes Zittern lagen.
„Mr. Abelsen – – die Frau Reeder …“, stellte der Orientale vor.
Inge hielt sich im Hintergrunde.
Die Dame neigte unmerklich den Kopf. „Ich beglückwünsche Sie, Mr. Abelsen … Ihre kühne Flucht von meinem Dampfer und Ihre Freundschaft mit Kapitän Weber sind ein gutes Vorzeichen für meine Verhandlungen mit Selim.“
Der Araber winkte mir unmerklich zu.
„Sie entschuldigen mich, Frau Reeder …“, – ich verließ das Zimmer, und als ich die Hintertür des Häuschens öffnete, blickte ich in das fahle Zwielicht eines Sommermorgens hinaus. Der Obstgarten Lorenzens war dicht mit Bäumen und Büschen bestanden, obstschwere Zweige neigten sich tief zur Erde, und jenseits des weißen Zaunes dieses grünen Paradieses stieg das Gelände in welligen Hügeln, die nur Heidekraut trugen, zu spärlich bewaldeten Kuppen empor.
Seltsame Gedanken bewegten mich. Ich hatte Colombo in der Hoffnung verlassen, meine schwedische Heimat einmal wieder auf Umwegen als Fremder besuchen zu können.
Ich, der Mann des Abseits, der freien Weite, hatte Heimatsehnsucht verspürt und viele Wochen auf den sicheren Planken des deutschen Frachters mit dem freudigen Vorgefühl des Wiedersehens alter Kindheitsstätten getändelt.
Und alles war so anders gekommen, so ganz anders.
Ich hatte die Zivilisation gemieden, – mich empfing die Kultur Europas mit den häßlichen, unwahrhaftigen Zangen einer sogenannten „Gerechtigkeit“ …
Diese Gerechtigkeit vergißt nichts. Sie hat ihre Paragraphen, und den Schuldlosen hetzt der elende Papierwisch eines Steckbriefes bis ans Ende jener Schienenstränge, durch die eine glückliche Einsamkeit den zweifelhaften Segnungen europäischer Volksbeglücker erschlossen wird.
Ich hatte die Wildnis, meine neue Heimat, verlassen, und – – was fand ich?!
Im Grunde auch nur eine durch heuchlerische Kulissen verdeckte Barbarei der Selbstsucht, in der die sogenannte Intelligenz Triumphe feiert: Völkerhaß, Hader, Zwietracht, raffiniertes Gaunertum in Zylinder und Gehrock …
Wohin geriet ich, – ich, der nur die verflossenen Jugendtage wieder hatte aufleben lassen wollen?!
Wohin?!
Mitten hinein in ein Abenteuer, bei dem schließlich nur eins verändert war: Die Szenerie!
Alles, was mit fremden Schicksalen verknüpft sein könnte, hatte ich zuletzt von mir gewiesen. Meine Sehnsucht war rein, galt der alten Heimat. Und dann hatte sich da in Vlissingen solch ein überernährter Hüter des Gesetzes vor mir aufgepflanzt und mich mit Polizeiaugen angeglotzt und meine Papiere beschnüffelt. Mochte der Kerl fett sein, – dumm war er nicht. Leider. Und so begann der Tanz. Vorbei war es mit all den heimlichen Wünschen, einmal wieder mein Elternhaus nur von fern betrachten zu können. Mitten hinein in mir wildfremde, gleichgültige, unklare Intrigen und dunkle Geschäfte warf mich das unergründliche Fatum.
Nur ein wenig Einbildungskraft gehörte dazu, und ich hätte mir vorstellen können, dieses Häuschen eines durch die Ungunst der Umstände gescheiterten Schiffskapitäns, der nun aus Not und Trotz den einfachen Stauer spielte, stünde irgendwo in einem jener gottverlassenen Landstriche, die seit Jahren mir neue Heimat geworden.
… Vielleicht als einsame Farm …
Vielleicht droben irgendwo in Nordwestkanada, wo der Sommer ein Landschaftsbild hervorzaubert, das so sehr dem eines deutschen nordischen Klimas gleicht.
Standen dort droben auf den Kuppen nicht kraftvolle Buchen und helle Birken, – ahnte man nicht das trockene Moor, das sich jenseits der Hügel in flacher Eintönigkeit hinzog?
Und stand dieses blitzblanke Seemannshäuschen nicht so einsam an einem ungepflegten Uferwege des breiten Stromes, daß man die Türme und Dächer der Hafenstadt im Morgendunst weit eher für zerklüftete Gebirgsmassen halten konnte?
Hatte der Araber Selim Hullah mich nicht zu alledem noch gebeten, Spione von diesem grünen stillen Fleckchen Erde fernzuhalten? Spione. Also Feinde. Und nicht etwa Feinde, die lediglich im hinterlistigen Intrigenspiel aus dem Hinterhalt sich versuchten, sondern die den Araber hatten beseitigen wollen.
Und das gab den Ausschlag.
Das gab auch mir die innere und äußere Richtlinie.
Wo Gefahr, da werden die Menschen gesiebt. Und dieses Sieb hat sehr enge Maschen. Alles, was wertlose Sandkörnchen sind, Dutzendware, Durchschnittsformat, rinnt hindurch. Nur das Größere, Größte bleibt oben, – – der Mann, der ganze Kerl, der nicht das Pfeifen einer Kugel für eine höchst bedenkliche Musik hält: Etwa Leute wie Käpten Weber, wie Freund Gerverlin aus Nepal, wie dieser Selim Hullah, der den Diplomaten spielt, den mir Freund Weber als handfesten Draufgänger und vielerfahrenen Eisenkopf geschildert hatte.
Und doch?!
Gefahr?!
Hier – hier in diesem friedlichen Sommermorgenbilde, in dem das Jubilieren der Vögel bisher einzige lebhafte Töne gewesen? –
Augen, die an jene Art des Sehens gewöhnt waren, wie sie nur die Wildnis uns beschert, überfliegen Garten und Umgebung …
Augen, die finden wollen, finden auch …
Selim Hullah, auch deine Brillengläser – so hoch schätze ich dich ein! – hätten hier nicht versagt.
Zwischen den Birken droben gehen zwei langsame Wellen durch das hohe Heidekraut.
Ich stehe längst in Deckung. Der alte dicke Birnbaum mit seiner gekalkten Rinde und die süß duftenden hohen Rosensträucher verbergen mich.
Wie herzlich ungeschickt die Kerle heranschleichen …
Amigos, euch fehlt noch vieles für euren Mörderberuf!
Sie kommen näher, – sind mir aus dem Blickfeld geraten, sind dicht am Ende des Zaunes.
Ein Schwarm Sperlinge, der dort einen Kirschenbaum plünderte, stiebt lärmend auseinander.
Eine Reihe hoher Stachelbeersträucher begünstigt meine zehn Meter geduckten Vorprellens.
Nun sehe ich Leute …
Zwei … Zwei Kavaliere, könnte man sagen. Zwei harmlose Touristen mit Rucksäcken, Sportanzügen, leichten Mützen, Spazierstöcken: Tadellose Aufmachung! – Nur die Gesichter gefallen mir nicht. Leicht braungelb die Farbe, scharfe Nasen, ruhelose Augen … Nicht ganz jung. Nein, – für derartige „stille“ Geschäfte ist dreißig bis vierzig wohl das richtige Alter.
Die Zaunpforte ist nur angelehnt …
Ich liege links von den Sträuchern, und rechts über grünen Stengeln von Rettich und Rüben schiebt sich das Pärchen näher.
Würden die Helden, die hier Wildwest markieren, nicht so ausschließlich geradeaus blicken, könnten sie mich erspähen.
Könnten …
Sie liegen still. Einer hakt den Rucksack los. Ihr zischelndes Flüstern klingt wie Wind, der durch trockene Dornen streicht.
Ich denke an schlimmste Dinge.
Aber das, was der eine Amigo da aus dem Rucksack hervorholt, ist lediglich eine Sirene, dazu ein kleiner Ballon mit Preßluft. Er verbindet beides, und er dreht die Sirenenöffnung den Hügeln zu und hängt noch seine Mütze darüber.
Umständliche Herrschaften, – trotzdem nicht ganz dumm, nur daß die Sirene das Plänchen der Leute verrät: Signal zum Flusse hin, woher seit Minuten das Rattern eines Motors herüberklingt.
Also so stehen die Dinge!
Das ist eine ganz groß angelegte Aktion, um das blitzsaubere Nestchen hier auszuheben!
Warten?!
Ja, wenn der bebrillte Selim mir nicht die Wunde gezeigt hätte! Der Araber lügt nicht.
… Und der Kerl da vor mir will nun den Hahn des Preßluftballons aufdrehen. Plötzlich taucht eine Hand auf … In der Hand ein schwärzliches Ding …
„Verschwindet!!“
Englisch …
Sie verstehen … Und wie sie verstehen … Alles lassen sie liegen. Rucksack, Ballon, Sirene …
Eins können sie prächtig: Auskneifen!!
Ich lächele nur …
Aber das Lächeln vergeht mir, als ich den neuen Rucksack vorsichtig ausschüttele.
Jetzt tut es mir leid, daß ich die Burschen laufen ließ.
Soweit mir bekannt, sind Sprengkörper kein Proviant für Touristen, sondern Schlüssel zur Zuchthauszelle.
Mit einem Male steht Lorenzen neben mir.
Unsere erste Begegnung ist es. Wir wissen, wer wir sind.
„Schufte!“, sagt der verwitterte Käpten, dem man das Patent als Schiffsführer entzog, „Schufte!“
Weiter nichts.
„Kommen Sie …“, fordere ich ihn auf. „Verjagen wir den Motorstänker …“
Und als wir fünfzig Meter gen Osten am Flußufer stehen, sehen wir eine graue Jacht, vielleicht 800 Tonnen, – – ein winziger Außenborder faucht gerade von Süden her mit dickem Schwalch zu dem Schiffe, und im Boote hocken meine Amigos, und Lorenzen winkt mit dem Inhalt des Rucksackes hinüber.
Die Jacht gleitet davon …
Morgenzauber …
„Feindliche Flagge …!“, meint der Exkapitän grimmig. „Weiß der Teufel, die gingen aufs Ganze!! Die sehen wir vorläufig nicht wieder … vorläufig!“
Frau Antoinette Brouville, Witwe des Reeders Francois Brouville, alte Emigrantenfamilie, hat gebeten, uns beide allein zu lassen.
Frau Brouville ist die bleiche „Frau Reeder“ mit den dunklen Puppenaugen und den langen Wimpern, ist Besitzerin dreier Frachtdampfer und „Chef“ von Fritz Weber und Inge Lorenzen, Tippfräulein und Sekretärin. Sie nennt Inge „liebes Kind“, und die kühle Inge sagt stets „gnädige Frau“ …
Wir sitzen uns gegenüber, die Sonne ist bereits erschienen, und ich studiere Frau Brouvilles Marmorgesicht. – Ganz dünne Marmorschicht … Darunter? – Das wird sich zeigen.
Die Frau hat im übrigen eine berückende Figur und einen fast verwirrenden Charme. Ihre Hände sind zu schön für Ringe. Ihr Kleid raffiniert schlicht.
Große Dame mit ganz, ganz leichtem Einschlag ins Temperiert-Sensationslüsterne.
Sie raucht dünne Zigaretten und sie läßt sich Zeit.
Ich auch.
Antoinette, mit der Taktik fängt man mich nicht.
Ein Schimmer von Unmut, Auflehnung gleitet über diese Marmormaske, hinter der die ewigen Feuer des Triebes flackern.
„So sprechen Sie doch!“
„Ich? Ich glaubte, Sie hätten mir manches zu sagen, Frau Brouville …“
Ein gereizter Blick. „Nun denn, – ja, ich … wollte Sie bitten, die Fahrt der „Feuersand“ mitzumachen. Die Polizei ist hinter Ihnen her, und …“
„Bitte, – nicht auf die Weise, Frau Brouville!“ Der schroffe Ton schadet nichts. Sie duckt sich etwas zusammen und … lächelt.
Zum ersten Male …
Ihre Züge sind wie umgestanzt durch diesen Anflug verwirrter und verwirrender Heiterkeit.
„Ich bin töricht! Ausgerechnet Ihnen komme ich mit halben Zwangsmitteln! Entschuldigen Sie. – Die Dinge liegen so. Selim Hullah hat von mir fünfzehntausend kleine Maschinen nebst Zubehör gekauft, ferner den Dampfer „Feuersand“ gechartert, – alles geht auf seine Gefahr, sobald die Ware an Bord ist …“
Jetzt lache ich sie an. „Kleine Maschinen?! Sie meinen Gewehre und Munition, Frau Brouville! Ein etwas gefährlicher, aber sicher gewinnbringender Handel, der natürlich irgendwie mit sogenannter hoher Politik zusammenhängt. Wollen Sie mich in politische Machtfragen mit hineinziehen?! Nein, Frau Brouville, das wird Ihnen nicht gelingen. Für Sie ist das alles … Geschäft, für mich wäre es die Preisgabe meines ureigensten Grundsatzes: Im Abseits leben, ungebunden, Freude an der Natur empfinden, das Zufallsabenteuer als Geschenk hinnehmen, – das ja! Aber mich einsperren lassen als Karrengaul für den mit Politik überladenen Wagen irgendwelcher fragwürdigen Völkerfreunde, – – niemals! Wirklich, sparen Sie sich jedes weitere Wort. Ich …“
„Bitte!!“
Sie hatte ihrem Handtäschchen eine Fotografie entnommen, auf der ich mit starrem Blick acht Soldaten in einer Art Tropenuniform erkannte, und jeder der Leute hielt grinsend den abgeschnittenen Kopf eines Arabers in den Händen.
„Für die Freunde dieser Ärmsten sind die Waffen bestimmt“, sagte Antoinette Brouville leise. „Ihr Abseits, Herr Abelsen, muß auch Pflichten kennen. Ein Mann wie Sie muß am Wettgeschehen teilnehmen …“
Und als ob diese versteckten Vorwürfe noch besonders unterstrichen werden sollten: Urplötzlich geschah da etwas so Unerwartetes, Lärmendes, daß sogar die Frau mit der Marmormaske aus ihrem Korbsessel emporfuhr.
Klirrend und splitternd war eins der Fenster geborsten, und durch die zackigen Scherbenreste, die noch im Kitt haften geblieben, schoß ein mächtiges graugelbes Tier mit spitzer Wolfsschnauze und echtem dicken Wolfsgenickhaar hindurch.
Mein Trasso, mein treuer Wolfsbastard, den ich der Obhut Käpten Webers anvertraut hatte.
Mit heiserem Freudengeheul richtete das kräftige Tier sich vor mir auf und legte mir die Vorderpfoten auf die Schultern. Sein keuchender Atem schlug mir ins Gesicht, sein altes, uraltes Lederhalsband, mit Perlen und Muscheln verziert, das schon sein Vater Monte getragen hatte, schimmerte hell zwischen den feinen Drahthaaren, noch heller aber schimmerte der weiße Zettel, der an dem Ringe des Halsbandes befestigt war.
Frau Brouvilles schnelle Auffassungsgabe ersparte mir alle Erklärungen.
„Weber hat den Hund auf Ihre Spur gesetzt! – Lesen Sie … schnell!“
Ich hatte den Zettel schon entfaltet.
„Fliehen Sie mit L’s Kutter. Dampfer „Brouville“ geht als Fischdampfer in See. L. weiß Bescheid. Polizei bestimmt auf Ihrer Fährte. – Ihr Freund W. – Verbrennen!“
Während Frau Antoinette die flüchtig hingeworfenen Bleistiftzeilen überflog, rieb ich ein Zündholz an.
Als das Papier in Flammen aufging, und ich die Asche zerrieb, trafen sich unsere Augen. Jetzt waren diese Augen nicht durch die überlangen Wimpern verschleiert, jetzt waren es keine Puppenaugen mehr, aus diesen Augen leuchtete die ruhige Tatkraft eines zielbewußten Charakters.
„Nun, Herr Abelsen?!“
… Vor mir tauchten Erinnerungsbilder auf, entschwanden …
Eine Zuchthauszelle voller Wanzen, – eine stürmische, regnerische Nacht: Meine Flucht!
„Frau Brouville, die Umstände sind stärker als ich … Aber alles Übrige, – – ich werde mich später entscheiden.“
Sie streckte mir die Hand hin. „Sie haben sich entschieden, Herr Abelsen! Schlagen Sie ein! Wir brauchen Sie …! Und ich … mache diese Schmugglerreise mit. Mir liegt so etwas …“
Sehr zögernd schlug ich ein. Ihre Hand war seltsam kühl, fast kalt.
„Inge!!“ – Sie hatte die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen.
Ingeborg Lorenzen saß allein am Fenster, – still, statuenhaft wie immer.
„Kind, Sie müssen Abelsen sofort mit dem Kutter zum „Brouville“ bringen … Es eilt. Geben Sie sich einmal etwas Mühe, etwas menschlicher zu erscheinen …“
Das Mädchen mit dem aschblonden Haarkranz stand gemessen auf. „Es ist alles vorbereitet, gnädige Frau. Selim Hullah läßt sich Ihnen noch empfehlen. – Kommen Sie, Herr Abelsen …“
Sie griff nach Mantel und weichem Lackhut, ihr Blick schweifte über die Wände hin wie abschiednehmend, es war ja ihr Zimmer, und mit leisem Erschrecken bemerkte ich auf Antoinettes Gesicht einen schwachen hämischen Zug, – ein höhnisches Herabziehen der Mundwinkel.
„Wollen Sie Ihren Vater etwa begleiten, Kind?“, fragte sie kopfschüttelnd, als hielte sie diese Möglichkeit für gänzlich ausgeschlossen.
„Das ist selbstverständlich, gnädige Frau … – Ich darf nun wohl die Türen abschließen … Gehen wir.“
Antoinette machte eine jähe Wendung. „Also auf Wiedersehen … Mein Auto wartet …“ – Sie rief es uns zu, ohne ihr Gesicht sehen zu lassen …
Was ging hier vor?! Woher diese heimliche Abneigung, die vielleicht schon Haß sein konnte?! Frauen sind so unberechenbar, so leicht zu beeinflussen … –
Als drüben am Uferweg der Staub aufwirbelte, als das Geräusch des Autos verstummte, warf Inge den Motor an. Vorn in dem Kutter lagen zwei Netze, leere Obstkörbe, Kisten, und unter dieser geschickt und schnell errichteten Barrikade steckten mein Trasso und ich neben zwei Koffern.
Noch immer war das Leben auf dem Strome nicht völlig erwacht, – hinter uns entschwand die große Hafenstadt, und die dünn besiedelten Ufer nahmen immer mehr den Charakter sandiger Dünen an.
Fast regungslos saß das Mädchen am Steuer, schweigsam, merkwürdig abgestorben, wesenlos in allem, was sie tat. Und dabei so jung, viel zu jung für einen Vater wie den alten hagern[1] Lorenzen, über dessen Verbleib überhaupt nicht mehr gesprochen worden war.
Zollboote und Polizeibarkassen rauschten vorüber.
Überlaute Grüße rief man der stillen Inge zu, die nur müde mit der Hand winkte.
So mancher dieser Zurufe klang bissig und herausfordernd. – Enttäuschte Verehrer, schätzte ich wohl sehr richtig ein und fragte mich weiter: Konnte dieses Mädchen überhaupt irgend etwas, irgendwen lieben?! War ihr junges, unberührtes Herz frühzeitig zerbrochen worden durch das namenlose Unheil, das mit Jasper Lorenzen als Kapitän eines Auswandererschiffes für alle Ewigkeit verknüpft war? Einzelheiten über den tragischen Vorfall kannte ich nicht, Freund Weber hatte mir nur angedeutet, daß Lorenzens Unachtsamkeit hunderten von Menschen das Leben gekostet hatte und daß seltsamerweise er allein sich habe retten können. Das traurige Geschehnis lag erst anderthalb Jahre zurück, war also noch frisch in aller Erinnerung, und daß Jasper dann, wie Weber stark betonte, mit größter Selbstverleugnung einfacher Stauer geworden, hatte ihm die Achtung schlicht und gerecht denkender Menschen schnell zurückerobert.
Und noch eins fiel mir bei dieser Gelegenheit ein, was zumindest etwas merkwürdig zu bezeichnen war: Derselbe Fritz Weber, übrigens ein jüngerer schneidiger Kerl und damit Seemann moderneren Schlages, hatte nie oder nur in sehr unklaren Äußerungen über seinen Chef, den Reeder und Besitzer des „Feuersand“ gesprochen. – Sollte dies tiefere Gründe haben? Lag auch auf Webers Seite eine gewisse Abneigung gegen die so außerordentlich geschäftstüchtige und skrupellose Frau Antoinette vor? Im Augenblick konnte ich diese Frage noch nicht entscheiden. –
So glitt denn der alte Kutter mit dem lärmenden Motor immer weiter den Strom hinab, bis der Seewind spürbar wurde und das aschblonde Mädchen das Großsegel setzte – genau so gewandt und schnell, wie all ihr Tun bei all ihrer kühlen Bedächtigkeit war.
Von meinem bequemen Versteck aus vermochte ich die ganze Umgebung zu überschauen. Drei Fahrrinnen waren hier, wo der Fluß sich bereits mit der Nordsee vereinigte, durch rote Bojen gekennzeichnet, Ingeborg wählte die östlichste, weil am wenigsten benutzte, und halblaut rief sie mir zu, ich könnte nun mein Versteck verlassen.
Es waren die ersten Worte, die für mich persönlich über ihre vollen, schön gezeichneten Lippen kamen.
„Einen Augenblick …!“
Das Mißtrauen, die Vorsicht sind dem Tiere der Wildnis genau so eigen wie dem Abseitswanderer. Das Tier hat seine schärferen Sinne, wir haben dafür einen nicht ganz vollwertigen Ersatz: Unsere kritische, abwägende Denktätigkeit. Und gerade das, was man übertrieben mit menschlichem Intellekt bezeichnet, raunte mir warnend zu, diesem stillen Bilde der breiten Strommündung nicht zu trauen. Dampfer und Segler in spärlicher Zahl benutzten die Mittelrinne, selbst das Fernglas holte mir nichts Verdächtiges heran, und doch sagte ich mir, daß dieser Friede trügen könne, weil die Polizei vielleicht nur zu gut das eigenartige Freundschaftsverhältnis zwischen Weber und Jasper Lorenzen kennen würde und der Kutter längst der äußersten Küstenstation signalisiert sein könnte.
Die Steinbuhnen am Ufer, diese Wellenbrecher und Uferschützer der großen Stromläufe, waren hier zahlreicher und größer, die mit Weiden bepflanzten Strandstrecken glichen undurchdringlichen Gebüschen, und die Dünen dahinter mit ihren gelben, Fruchtbarkeit vortäuschenden Strandhaferfeldern boten noch bessere Verstecke.
Inge spürte meinen Argwohn gegen diese feierlich-schöne Morgenlandschaft.
„Vielleicht ist es auch besser, Sie bleiben unter den Körben und Netzen“, meinte sie ebenso unvermittelt.
Kaum gesagt, schoß auch schon hinter einer der hellen Steinbuhnen ein schlankes Boot hervor. Vier Leute saßen darin, Beamte, zwei in Uniform, und im gleichen Augenblick entdeckte ich über den Spitzen der hellgrünen Weiden ein flaches Dach: Strompolizei, wie die eiserne Stange auf dem Dach mit den Porzellanisolatoren der Telefondrähte bewies.
Wir hatten auch an einen solchen Zwischenfall gedacht.
Der Kutter war ein ehemaliger Fischkutter, hatte am Bug kleine Luken. Freilich, ein etwas korpulenter Mann wäre nie hindurchgeschlüpft, für Trasso und mich genügte die Öffnung.
Als die Polizeibarkasse Inge zum Stoppen aufforderte, hingen fünfzig Meter zurück an der großen Boje, um die sich eine Menge Treibholz angesammelt hatte, ein Mann, ein Hund und zwei Schwimmwesten mit zwei wasserdichten Tropenkoffern.
Die Herren drüben, die nun so sorgfältig den Kutter durchsuchten, taten ihre Pflicht, nichts weiter, vielleicht mehr als ihre Pflicht, denn der eine gebärdete sich äußerst aufgeregt und schlug einen Ton gegenüber Ingeborg an, wie ihn nur ein bitter enttäuschter heimlicher persönlicher Gegner in seiner Unbeherrschtheit sich zu Schulden kommen lassen wird.
„Sie hatten den Mann an Bord!!“ – Die scharfe Kommandostimme erreichte sogar meinen feuchten Ruheplatz, – der Seewind trug sie mir zu …
„Dann sind Sie durch unrichtige anonyme Meldungen getäuscht worden!“, – alle Achtung, die schlanke Inge verfügte gleichfalls über eine gute Kehle.
„Anonym? Woher wissen Sie das?!“
„Ich weiß es …! – Herr Kuttner, ich werde im übrigen wegen Ihres unziemlichen Auftretens mich beschweren, obwohl Sie von Ihren Vorgesetzten stets gedeckt werden. Irgendwie und irgendwo gibt es immer noch eine Gerechtigkeit!“
War das dieselbe Ingeborg, der ich kein Quäntchen Temperament zugebilligt hätte? War das noch die statuenhafte, wesenlose Tochter Jasper Lorenzens?!
Bord an Bord lagen die beiden Boote. Inge stand hoch aufgerichtet dem stämmigen Kuttner gegenüber, über den ich später noch so manches erfuhr.
Sie hatte den feinen Kopf zurückgeworfen.
Wie Antoinette Brouville es zu tun pflegte …
Etwas Herrisches lag in ihrer Haltung, etwas nicht mehr Mädchenhaftes, etwas sehr Reifes, sehr Selbstbewußtes.
Schauspielerin deshalb?! – Niemals. Dieses Mädchen verteidigte ein Recht gegenüber einem Menschen, den sie mit ihren Grundsätzen nicht achten konnte.
Ein Recht auf Behandlung als Dame, ein Recht gleichzeitig darauf, das sie ableitete auf die allgemein gültigen Moralbegriffe, die niemals mit der papiernen Justiz in Einklang zu bringen sein werden: Hier war ein Verrat verübt worden, jemand hatte die versteckte Polizeistation angerufen, ich sollte erwischt werden, und dieses Mädchen, das mich kaum kannte, glaubte an meine Schuldlosigkeit und wollte mich retten. –
Der Kommissar Kuttner verzichtete auf eine Antwort.
„Loswerfen!“, befahl er seinen Leuten. „Halbe Kraft voraus – zum Hafen zurück!“
Und dann, als die Boote dreißig Meter auseinander waren, hielt er die Hände als Sprachrohr an den Mund und brüllte Inge zu:
„Jetzt kommt Ihr Haus an die Reihe! Wir sehen uns wieder!“ –
Eine Stunde darauf erreichten wir den als Fischdampfer zurechtgemachten Frachter „Brouville“, in dessen Kielraum ein wertvoller Ballast ruhte: 15 000 Gewehre, zwanzig Kisten Munition. Die Übernahme der Ladung auf den „Feuersand“ fand nachts statt. Der „Brouville“ nahm nachher nordöstlichen Kurs auf die Heringsgründe der norwegischen Gewässer, während wir mit dem weit schnelleren „Feuersand“ behutsam um England herumschlichen und dann auf die Straße von Gibraltar zuhielten.
Jasper Lorenzen teilte mit mir die eine der Kabinen. Wir verstanden uns sehr gut, wir waren in vielem ähnliche Naturen. Auch er kannte die Welt und die Menschen, – und das Ergebnis seiner jahrelangen Fahrten war die Liebe für einsamste Erdenwinkel und die Verachtung derer, die außerhalb dieser Einsamkeit die Kulturländer bevölkerten.
„Alles … Ausschuß, Abelsen!“, sagte er eines späten Abends zu mir, als der schwere Regen gegen die kleinen verhüllten Fenster trommelte.
„Ausschuß!“, wiederholte er nochmals, und in seinem wettergebräunten Raubvogelgesicht zuckte es …
Mit seiner grauen, zurückgestrichenen und nie glatt anliegenden Haarfülle glich er einem Schopfadler.
Ein grimmer Humor quoll zuweilen in ihm hoch.
Seine mageren, muskulösen Hände spielten auf der Tischplatte mit der erloschenen Tabakspfeife.
„… Man sollte nicht sagen „lackierte Töpfe mit Sprüngen“, sondern „lackierte Tröpfe mit Schlingen“ … Das ist Ausschuß: Schlingenwerfer mit tiefen Rissen in der Moral!“ Er lachte hart. „Verrückt, nicht wahr? Aber eine Verrücktheit, die wenigstens eine gerade Kennlinie hat: Menschenverachtung!“
Das Schiff rollte schwer. Irgendwo in der Nähe mußte ein Orkan gewütet haben, und wir bekamen die Dünung zu schmecken.
„Die größte Niederträchtigkeit aber ist, wenn man ein bisher freies Volk nur seiner Bodenschätze wegen unter … Schutzherrschaft nimmt …!“, hub er nach kurzer Pause von neuem an.
Es war das ein sehr beliebtes Thema von ihm.
Ich wußte nun ja längst, wohin die Reise ging, und Lorenzen hatte es ungewollt verstanden, mich ganz allmählich für einen Mann zu begeistern, der ohne Selbstsucht zum fanatischen Freiheitskämpfer geworden. Trotzdem hatte er es bei Andeutungen belassen, und auch Frau Brouville, Freund Weber und erst recht der Vertraute Abd el Krims, der Rifkabyle Selim Hullah, mieden näheres Eingehen auf diesen Gesprächsstoff aufs ängstlichste. Inge Lorenzen kam hierfür überhaupt nicht in Betracht. Sie war hier an Bord noch stiller und statuenhafter denn je geworden.
Der alte Kapitän horchte plötzlich nach oben, wo schwere Schritte eilends hin und her trampelten.
Auch Trasso, der mir zu Füßen ruhte, hob den Kopf.
„Da stimmt etwas nicht …“, sagte Jasper leise. „Nach oben!“
„Feuersand“ fuhr ohne Lichter. Als wir neben Weber auf der Kommandobrücke standen, beruhigte er uns sofort.
„Das galt nicht uns, diese Pulververschwendung … Das galt dem englischen Frachter, den wir vor zwei Stunden sichteten …“ – Er gab mir das Nachtglas. „Der Engländer hat gehorsamst gestoppt, inzwischen verdrücken wir uns seitwärts in die Büsche. Nur den Gedanken, unweit von Tanger in der vereinbarten Bucht die Fracht zu löschen, werden der Chef und der Selim wohl aufgeben müssen …“
„Wußte ich lange, – war Unsinn!“, bestätigte Jasper wütend. „Der Chef hat zu viel Einfluß auf diesen sonst so klugen Rifmann gewonnen … – Weiber!!“
Wie ein geräuschloses Phantom – das war so seine Art – stand plötzlich Selim Hullah zwischen uns …
„Käpten, Sie kennen die Säulen des Herkules“, sagte er kurz. „Nehmen Sie Kurs auf das Vorgebirge, hinter dem wir ruhiges Wasser finden werden. Alles weitere überlassen Sie mir. Ich befehle hier, Frau Brouville muß sich fügen.“
Der herabpeitschende Regen und die Krempen der Ölkappen verhüllten unsere nassen Gesichter. Aber wir drei Europäer hatten uns mit jäher Wendung vollends nach dem Marokkaner umgedreht.
„Sie … auch?!“, fragte Lorenzen überrascht.
„Ja, ich auch!“, erwiderte der Rifkabyle genau so schroff. Sein feiner Diplomatenton war gründlich anders geworden. „Auch ich habe Augen und Ohren, und die Frau war mir schon in der deutschen Hafenstadt verdächtig. Reden wir offen miteinander. Sie treibt ein doppeltes Spiel, das mir unverständlich ist. Nur ist sie mir nicht gewachsen, wir gebildeten Rifleute sind klüger als ein Dutzend gepuderter Weiberstirnen. – Käpten, bitte also: Kurs auf die Säulen …! Ich glaube kaum, daß dort Gefahr droht … Durch den Klippenkranz wagt sich kein Kriegsschiff, und unsere Gegner haben der engen Bucht hinter dem Vorgebirge des Herkules nie Beachtung geschenkt.“
Der Marokkaner schob den Kopf vor und dämpfte die Stimme. „Meine[2] Schachpartien mit Frau Brouville waren abendliche Vorbereitungen. Sie schläft …“
Er betonte die letzten Worte zu eigentümlich.
Weber packte seine Schulter. „Was heißt das, – – sie schläft?! Raus mit der Sprache!! Etwa … etwa … Ähnliches wie die Krankheit von Abd el Krims Vater?!“
„Wir morden nicht, Käpten … Wir beseitigen unsere Feinde nicht durch Gift. Wir tun nur, was notwendig ist … Die Frau mußte schlafen, Käpten … Morgen wird sie wieder wach sein. Ihr fiel etwas in den Tee. Es ist besser so.“
Webers Faust glitt von der Achsel des feierlich-ernsten Marokkaners herab. „Also das meinen Sie! Sie hatten also nie die Absicht, südlich von Tanger die Küste anzulaufen?“
„Nie! Eine halbe Million ist viel Geld, Käpten … Ich bin ein ehrlicher Mann. Die Frau war nie ehrlich.“
„Davor weiß ich ein Lied zu singen …!“ brummte Jasper Lorenzen. „Wollte ich dieses Lied in alle Welt hinauspfeifen, säße Frau Toni im Gefängnis – – und ich auch, deshalb spitze ich vorläufig nur die Lippen …“
Der Dampfer lief nun mit voller Kraft den neuen Kurs. Hinter uns verschwanden die beiden Schiffe, und der weiße Strich des Scheinwerfers verblaßte.
Es war kurz vor Mitternacht. Die schwere Dünung ließ nach, wir spürten bereits den Windschutz des spanischen Festlandes, und Weber meinte nach einer Weile: „Wird ein Lotse zur Stelle sein, Selim? In einer Stunde werden wir das Vorgebirge sichten. Ich kenne es, auf den Seekarten heißt es „Er Kule“, – selbst hier hat man Herkules nicht vergessen und „Er Kule“ daraus gemacht.“
„Der Lotse wartet“, erklärte der Rifmann ruhig. „Was ich vorbereite, wird bis ins Kleinste durchdacht.“
„Bis zu Schlafmitteln!“, – Weber drehte sich um und schritt zum Steuer hinüber.
Dann saßen wir zu dreien in unserer Kabine.
Der Rifmann rauchte gedankenvoll, und Lorenzen starrte ihn unverwandt an.
„Selim!“
„Sie wünschen?“
Er war wieder Diplomat geworden. Jasper glättete seinen Adlerschopf.
„Selim, – mal ein anderes Thema … Wenn die Geschichte schief zu gehen droht, braucht ihr den „Feuersand“ nur unter englischen Schutz zu stellen … Aber mit Abelsen, meinem Kinde und mir liegt die Sache anders. Wir haben die Funksprüche aufgefangen: Haftbefehl!! Sie wissen Bescheid …: Begünstigung der Flucht eines polizeilich Gesuchten!! – Ein feiner Dreh, die Geschichte!“
Der Marokkaner begegnete ruhig den etwas herausfordernden Blicken des ehemaligen Kapitäns …
„Ein gemeiner Streich“, nickte er. „Die telefonische Denunziation an die Uferstation ging von ihr aus … Von wem sonst?! Ich begreife diese Frau nicht … Sie ist reich, unendlich reich, und dennoch blieb das Gold ihr Götze … – Es ist wohl wahr, daß Sie und ihr Kind und Mr. Abelsen am schwersten gefährdet sind. Englische Kriegsschiffe würden uns nicht belästigen, nur …“ – seine Handbewegung besagte genug: Nur wir drei wären dann die Opfer!
Weshalb?! Weshalb dieses schändliche Spiel mit uns?! Gerade mit uns dreien?!
Lorenzen trommelte auf die Tischplatte.
„Wenn sie nicht über vierzig wäre, würde ich annehmen, daß …“, – er vollendete den Satz nicht und stopfte seine Pfeife.
Selim Hullah, Vertrauter Abd el Krims, der das Rifgebiet hartnäckig verteidigte, schaute jetzt mich an.
„Sie kamen ihr wie gerufen, Mr. Abelsen. Und ob der Vorfall in Vlissingen nicht auch bereits mit in die Kette von Unbegreiflichem gehörte, – – wer weiß! Die Frau arbeitet auf lange Sicht, die …, – – hallo, der Funkgast!“
Unser Telegraphist war eingetreten. Das Blatt Papier in seiner Hand triefte genau wie sein Ölrock …
„Sauwetter!! – Da, ein neuer Wisch … Immer derselbe Wortlaut … Der Teufel hole meine Funkbude!!“
Er entfaltete das Blatt.
„Diesmal direkt an den Chef, meine Herren. Aber sonst unverständlich …“ Er las vor:
„Seedampfer „Feuersand“, Frau Brouville. Booten Sie Lorenzen, Vater und Tochter, und steckbrieflich verfolgten Abelsen sofort aus. – Internationaler Polizeifunk, Sender Cadiz, Spanien.“
Der junge Funker zerknüllte die Depesche. „Schwindel ist das, meine Herren … Das habe ich soeben auch Frau Brouville erklärt … Sie hatte gerade ihre Kabinentür geöffnet. Ich mußte ihr das Telegramm zeigen, obwohl der Käpten mir …“
Er verstummte. Er sah, daß wir drei uns so merkwürdig anstierten.
Also die Frau schlief nicht. Sie war schlauer als Selim Hullah gewesen.
Lorenzen grinste rachsüchtig …
„Kanaille …!! Sperren wir sie ein! Wo ist sie, Jensen? An Deck?“
Funker Jensen bejahte. „Verrückt!!“, stieß er hervor. „Sie läßt die Ballonhülle nach oben schaffen … Bei dem Regen!! Käpten Weber wäre ihr am liebsten an die Kehle geflogen, als sie jedem der Matrosen hundert Mark in die Hand drückte – – für die schwere ungewohnte Arbeit!“, höhnte er.
Der Marokkaner blieb bei alledem eisig kalt.
„Also an Deck …!! Wir werden schon …“
Jensen vertrat ihm den Weg.
„Ich gestatte mir, Sie zu warnen … Die Besatzung ist bewaffnet … Unser Chef kann sich auf die meisten verlassen …“
Selim, der Rifkabyle, lächelte unmerklich.
„Jensen, Sie sind jung … Ich zähle das Doppelte Ihrer Jahre. Gehen wir …“
Der Regen hatte etwas nachgelassen. Auf dem Vorschiff tummelten sich ein Dutzend Leute, an der Reling stand Antoinette und kommandierte.
Diese Frau, gleich gut bewandert auf allen Gebieten, empfing uns drei mit gut gespielter Sorge und Erregung.
„… Sie werden zugeben, Selim, daß ich unter diesen Umständen zunächst an die Sicherheit meiner Gäste hier an Bord denken muß. Abelsen ist mein Gast, die Lorenzens ebenso …“
„Danke!“, brummte Jasper. „Nun – – und?!“
Frau Antoinette überhörte den Einwurf.
„Gewiß, Selim, den Ballon hatten Sie gekauft … Ich zahle Ihnen das Geld zurück, falls er verloren geht … Wir müssen auf alles vorbereitet sein … Der letzten Depesche nach kann die Notwendigkeit, daß wir drei uns sehr schnell verlassen müssen, jeden Augenblick eintreten …“
„Daran zweifele ich nicht“, sagte der Rifkabyle höflich.
„Nun also …! Der Dampfer hat sich der afrikanischen Küste auf meinen Befehl mehr genähert. Sobald der Ballon gefüllt ist, können wir getrost abwarten … – Sie sind ja so schweigsam, Abelsen …?“
„Ich … bewundere Sie, Frau Brouville … Und ich danke Ihnen.“
Mochte sie es auffassen, wie sie wollte.
Ich durchschaute nun ihre Pläne – endlich! Und ich ahnte auch, wie es in dem Herzen dieser alternden Frau aussah, die mit allen Mitteln die Spuren ihrer Jahre von ihren Zügen zu tilgen suchte.
„… Sie gestatten, daß ich die Füllung des Ballons überwache. Ich bin ja schließlich Ingenieur gewesen, und die Handhabung des tragbaren Apparates zur Heißlufterzeugung …“, – ein verdächtiger Knall ertönte aus der zusammengeballten Gruppe von Matrosen, ein hohe Stichflamme schoß empor, und mit drei Sätzen war ich über die ausgebreitete Ballonhülle hinweg und stieß die Leute zur Seite.
Der erste Steuermann wollte mich angrobsen.
„Halten Sie den Mund!!“ – ein paar Griffe, und der hochmoderne kleine Apparat stellte sein bedenkliches Fauchen ein.
Zischend strömte durch den Metallschlauch das chemische Gemenge von Heißluft und stark tragfähigen Gasen in die graugelbe Seidenhülle.
Sie wölbte sich, bauschte sich, – es war genau berechnet worden, daß die Füllung etwa eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Ich wich nicht vom Platze. Frau Antoinette hatte sich nach einigen nichtssagenden Redewendungen unter Deck zurückgezogen, Selim Hullah stand in meiner Nähe, die Matrosen und der sehr fragwürdige erste Steuermann belauerten uns dauernd. Lorenzen war in die Kabine seines Kindes gegangen, – ein paar geflüsterte Worte hatten genügt, er wußte, wie ich es meinte …
Wir drei sollten von Bord …
So oder so!
Die Frau wollte es, und diese Frau scheute vor nichts zurück.
Der Regen hörte auf …
Es wurde heller …
Undeutlich sah ich den leichten Brandungsstrich rechts von uns: Das war Nordafrika, das war Marokko, das Scheingebilde von staatlicher Selbständigkeit, aufgeteilt in zwei „Interessensphären“, deren Grenze der Fluß Muluja bildet.
Armes Land! Armer machtloser Popanz von Sultan!! Die hungrige Bestie, die eigentlich längst über und über satt sein müßte und die sich, als Ganzes genommen, Kolonialmächte nennt, hat dir gnädigst gestattet, dein Operetten-Sultanat fortbestehen zu lassen und hat sich waffenstarrend und zähnefletschend vor deine Tür gehockt und dir dazu noch das Allerschlimmste beschert: Die Verachtung deiner freiheitliebenden und halbwilden oder wilden Untertanen! Und als dann einer deiner Marokkaner auftrat und in heiligem Fanatismus die Fahne der Freiheit schwang, einer wahren Freiheit, da horchte die ganze mohammedanische Welt hoch auf und begann zu hoffen, sammelte insgeheim Geld, sammelte Unsummen und schickte sie dem, dem du, o Sultan, du abhängiger bedauernswerter Pfründengenießer, als einen Aufrührer erklärtest.
Bis Indien drang die Kunde von Abd el Krims verwegenen Taten, in Arabien rührt es sich, in Ägypten, in Algier, Tripolis, im Sudan …
Und doch: Dieselben Mohammedaner, die einst in einem Siegeszuge ganz Nordafrika, Spanien und halb Frankreich unterworfen hatten, waren nun bereits zu lange selbst „Unterworfene“ gewesen, als daß sie noch jene elementare Stoßkraft hervorgebracht hätten, die einst unwiderstehlich gewesen.
Sie begnügten sich mit Sympathiekundgebungen, Geldspenden und … Worten.
Da saßen überall in Indien, Arabien, Ägypten, Palästina, Syrien und in den nordafrikanischen „Kolonien“ die reich gewordenen Schacherer, die „friedliebenden treuen Bürger“ der Fremdstaaten und zitterten um ihren Besitz, ihren Einfluß, ihr sorgloses Leben …
Und „dämpften“ das gefährliche Feuer mit dem einzigen Mittel, das der blöden Menge gegenüber Erfolg verheißt: Durch Geld!
Geld floß zwar in die Kassen des Freiheitskämpfers dort im nordwestlichen Marokko, floß in das sogenannte Rif, – denn jene Landstriche haben nichts zu tun mit Riffen, mit Riff, sondern heißen seit altersher „Er Rif“, das Rif …
Geld floß als Gift in die Hände käuflicher Kreaturen, und die Welt Mohammeds wurde verseucht von diesem elenden Gelde, und wo die Maschinengewehre und Kanonen der „Träger der Zivilisation“ niemals ausgereicht hätten, Millionen und Abermillionen niederzuhalten, da tat es das Geld und das ihm so nahe verwandte andere bedruckte papierne feige Untier: Eine bestechliche Presse, die Zeitungen!
Gerade um jene Zeit, als diese Seuche ihre Wirkungen nicht verfehlte, als man dem Islam vorlog, Abd el Krim sei nichts als ein machthungriger selbstsüchtiger Aufwiegler, spielten sich die Ereignisse ab, die ich hier, nur ausführlichere Tagebuchaufzeichnungen, als neutraler Beurteiler der Gesamtlage, der ganzen Verhältnisse, niederschreibe, – aber auch als ein Mann, dem hinterher die Verhandlungen in den Länderparlamenten zu Gesicht gekommen sind und der daher die Stimmung von Europäern und den Standpunkt von Politikern zu diesen Fragen kennt.
Nur ein paar Sätze will ich hier sofort anführen, die grell und eindeutig den wahren Wesenskern europäischen Machthungers behaupten:
„Wo durch Jahrhunderte und Jahrtausende sittliche, geistige und materielle Kultur in ihrer Eigenart geblüht hatten, trat plötzlich unter der Einwirkung der europäischen Berührung Stillstand und Verwesung ein. Alte Rassen gerieten in Verfall und starben aus.“
Es ist ein ander Ding, ob ich ein Land besetze, in dem vielleicht Farbige wie halbe Tiere in dünnen Siedlungen hausen und unendliche Gebiete überhaupt menschenleer sind. Dort gibt es nichts zu vernichten, dort kann gebessert, aufgebaut, vielleicht schrecklichen Seuchen Einhalt getan werden.
Aber die nordafrikanischen, sogenannten Barbaresken-Staaten?!
Lug und Trug ist es, sich hinter das üble Märchen zu verkriechen, diese Staaten mit ihren Seeräuberflotten von einst hätten erst das Wort „Barbarei“, Barbaren, in die Welt gesetzt! Was taten Spanien, Portugal, Frankreich, England am Ausgange des Mittelalters in Amerika?! Wer schmorte Aztekenkönige in siedendem Öl, um das Versteck der Goldschätze zu erpressen als letztes Geständnis?!
Europas verwittertes Gaunergesicht trägt die abschreckenden Züge eines Raubmörders … – –
… Die Ballonhülle schwoll zusehends an. Die Technik hatte mit diesem unscheinbaren transportablen Gasapparat einen gewaltigen Schritt vorwärts getan. Jetzt erst merkte ich, daß ich als Ingenieur im „Abseits“ doch wohl etwas rückständig geworden war, – ich weinte dem keine Träne nach, denn noch so sinnreich konstruierte Apparate lassen sich für den Fachmann in kurzem in ihren Grundzügen deuten, aber eine andere Wissenschaft bleibt unbedingt die schwierigere: Die der raschen, sicheren Beobachtungsgabe und der daraus abgeleiteten ebenso schnellen und treffsicheren Entschlußfähigkeit!
Einige technische Bemerkungen, die der unverändert wachsame Selim Hullah in unsere Unterhaltung einstreute, veranlaßten mich schließlich zu der Frage, ob er denn irgendwo eine europäische Technische Hochschule besucht habe.
„Ja“, entgegnete er kurz. „Ich habe Abd el Krims Bruder Si Mehmed auf seinen Studienreisen begleitet und mitgelernt.“
Die Ballonhülle hing nun bereits wie eine ungeheure Beule halb über die Reling hinweg. Der Dampfer fuhr kaum noch mit halber Kraft, damit die Zugluft geringer wurde, der Regen hatte völlig aufgehört, aber das Gewölk zog schwarz und niedrig dahin, kein Stern blinkte, und die afrikanische Küste drüben mit ihrem geringen Brandungsstrich war noch näher gerückt.
Käpten Weber trat zu uns. „Eine wahnwitzige Idee!“, erklärte er flüsternd. „Werden wir wirklich angehalten, so spielen auch die Scheinwerfer, und man knallt den Ballon einfach ab. Natürlich behauptet unser Chef, ich dürfte deshalb kein Boot für euch drei ausschwingen, weil das Fehlen des Bootes sofort bemerkt würde! Als ob man sich nicht damit herausreden könnte, uns sei eins der Boote unterwegs verloren gegangen! Überhaupt“, – er hätte seinem Herzen wohl noch freimütiger Luft gemacht, aber der zweifelhafte erste Steuermann lungerte dauernd in der Nähe herum.
Ich bückte mich, hantierte an dem leise zischenden Apparat herum. Sollte der Ballon stärkeren Auftrieb erhalten, mußte der Prozentsatz des Gases gesteigert werden. Der Steuermann wollte sich einmischen, als ich einen der Zinkbehälter mit den weißen Platten darin öffnete und den ganzen Inhalt dieser Miniaturgasanstalt zuführte.
Freund Weber wies den Kerl scharf zurück.
„Es geschieht mit meiner Einwilligung! Wer kommandiert hier?! Sie oder ich, Felgner?!“
„Der Chef!“, sagte Felgner patzig.
Fritz Weber lachte unangenehm. „So …so!! Also Frau Brouville?! Das ist mir neu. Bestechungsgeld kommandiert hier, glaube ich …! Das gibt es auf einem Schmuggler nicht, mein Lieber! Gut, – wir sind halbe Piraten. Wollen Sie es auf eine Disziplinwidrigkeit ankommen lassen …? Dann … gibt es andere Mittel, Felgner! Merken Sie sich das! Sie haben nicht alle Mann hinter sich, ich habe inzwischen die räudigen von den gesunden Schäflein gesondert … – Bitte!!“ Er deutete nach der Brücke hinüber. Dort standen acht Leute mit Karabinern. „Ihr mit euren Pistolen werdet den kürzeren ziehen. Seien Sie vernünftig Felgner. Meuterei ist eine bedenkliche Sache …!“
Der Steuermann zuckte die Achseln und lehnte sich gegen das Dach des Kombüsenaufbaues.
Meine Anwesenheit hier war nicht mehr von Nöten. Ich ging in meine Kabine hinab. Dort fand ich Jasper Lorenzen, der gerade meine Repetierbüchse auseinanderschraubte. Er nickte mir zu. „Habe so etwas vorgesorgt, Abelsen … Der Tanz wird sehr bald beginnen … – Unser Gepäck?! Wetten, daß wir nicht ein Stück davon in den engen Ballonkorb hineinbekommen! Das Weib will es nicht!“
Sein braunes zerknittertes Gesicht strahlte vor Schadenfreude.
„… Das könnte ihr so passen, daß wir irgendwo in der Wildnis drüben landen und schließlich dem Feinde oder einer Bande von neutral gebliebenen Marokkanern in die Hände fielen! Der Küstenstrich hier ist verdammt unbequem für uns … Schadet nichts!“
Ich steckte mir die Taschen voll Patronen, schnallte den Pistolengurt unter die Jacke und benutzte auch das Mützenfutter als heimlichen Aufbewahrungsort für dieses und jenes. Lorenzen band Schnüre um Kolben und Lauf der zerlegten Repetierbüchse, hängte sie sich um den Hals und knöpfte still grinsend den Ölmantel zu …
Wir waren wieder an Deck gegangen. Der „Feuersand“ schlich durch die Dunkelheit wie ein lahmes Wrack, die Maschinen liefen fast ohne Geräusch. Weber und Selim Hullah standen noch immer neben dem zischenden Apparat, der Ballonkorb war bereits befestigt, und bei der kaum merklichen Vorwärtsbewegung des Schiffes schwebte nun die pralle Ballonhülle hoch droben und halb außerhalb der Reling, da der Nordwest sie zum Glück nach außen drückte.
Der Rifkabyle stieß mich leicht in die Seite.
„Da, nehmen Sie …!“
Die Worte waren nur für mich bestimmt.
Ich fühlte seine Hand, – es war eine kleine flache Zigarettenschachtel aus Blech, die er mir in die Finger schob.
Weber hatte ein Fernglas an den Augen.
„Das Vorgebirge Er Kule“, sagte er hastig. „Ich muß auf die Brücke … Noch zehn Minuten, dann sind wir in Sicherheit …“
Er eilte davon …
Seine acht Getreuen standen noch immer mit ihren Karabinern unterhalb der Brücke.
Hullah spähte gen Norden. Dort irgendwo lag Spanien, lag auch die englische Felsenfeste Gibraltar.
Lorenzen hatte sein Glas mit nach oben gebracht.
„Sehen Sie etwas, Selim?“
„Ich weiß nicht recht …“
Nach dem gänzlichen Nachlassen des Regens war es trotz des spürbaren Windes drückend schwül geworden.
Jasper schraubte an seinem Glase.
„Ich entdecke nichts … Ich bin trotzdem …“
Oben vom Mast die Stimme des Ausguckmannes:
„Schiff ahoi!! Hält auf uns zu!“
Was er weiter rief, beachtete niemand.
Endlich war also die unerträgliche Spannung gelöst. Endlich war das eingetreten, was wir alle erwartet hatten.
Ein greller weißer Strich schoß im Norden erst gen Himmel, senkte sich dann und tastete das Meer ab.
Lorenzen hetzte davon, kehrte mit Ingeborg zurück, – hinter den beiden tauchte Frau Brouville auf. Meinen Wolfsbastard hatte ich schon vorhin mit an Deck genommen.
Antoinette Brouvilles Marmormaske erschien farbloser denn je.
„Fliehen Sie, bevor wir entdeckt werden“, rief sie mir zu. „Wir dürfen nicht warten … Hinein in den Ballonkorb, Abelsen … Die Küste ist so nahe … Hinein mit euch dreien!“
Sie fieberte vor Erregung. Sie hielt selbst den Rand des Ballonkorbes fest …
„Hinein!! Nicht warten!!“
Lorenzen half seiner Tochter, Lorenzen nahm mir Trasso ab, – – wie ein greller Blitz flog es da über den Dampfer hin, sekundenlang ward es taghell, wir sahen unsere schweißigen Gesichter, wir erstarrten vor Schreck, aber der Lichtkegel glitt weiter, das Schiff versank wieder in Dunkelheit.
„Schneller!!“, diesmal war es Weber …
Vier Kreaturen hockten eng aneinandergedrängt in einem Ballonkorb, der nur für einen Beobachter bestimmt war …
Freund Weber reichte mir ein Bündel. „Nehmen Sie, ihr könnt es brauchen.“
Der Korb schlug gegen die Reling, das Schiff drehte ein wenig.
„Kappt die Taue!!“
Frau Brouvilles Stimme war heiser.
„Kappt die Taue!!“ wiederholte Weber merkwürdig ruhig. „Achtung, – – ich zähle …“
Ein frischer Lufthauch strich gerade über das Schiff hin.
„Auf „drei“ – – Achtung …!! Eins – – zwei – – drei!“
Die drei Haltetaue waren nicht gleichmäßig straff gespannt. Nur zwei wurden durch die Beilhiebe getrennt. Die Gondel senkte sich, klatschte auf das Wasser auf, die graugelbe Kugel legte sich über unsere Köpfe, – mein Messer beseitigte das letzte Tau, und der Ballon glitt davontreibend empor. Er war überlastet, wir wären niemals an Land gelangt, wenn nicht die kühlere Luftströmung hier den Auftrieb verstärkt hätte. Trotzdem erreichten wir kaum zwanzig Meter Höhe, und mit bangen Augen beobachtete ich unsere Fahrtrichtung. Der Ballon drehte sich, voller Entsetzen spürte ich hier eine wärmere Strömung, wir sanken jäh, der Korb fegte über zwei Wogenkämme hin, dann wieder ein frischerer Lufthauch, und unser unzuverlässiges Fahrzeug steuerte in acht Meter Höhe gen Südost, genau auf die Stelle zu, wo das Vorgebirge des Herkules in das Festland überging … Diese Stelle war noch gut fünfhundert Meter entfernt, und in diesem Buchtwinkel westlich des zerklüfteten hohen Vorgebirges staute sich die warme Luft, der Ballon sank abermals, und wäre der Korb nicht wasserdicht gewesen, hätten wir niemals die ersten inselartigen Riffe erreicht.
Lorenzen und Inge blieben stumm, – ich blieb stumm, wir hatten den Tod vor Augen, es waren Minuten gräßlichster Ungewißheit.
Dann ein schwarzer Fleck auf dem Wasser …
Das erste Riff …
Dumpf dröhnend prallte der Korb gegen das Gestein …
Trasso jaulte …
Ein Windstoß, – – eine Gnadenfrist, wieder ging der Ballon ein paar Meter hoch, – – wieder sank er …
Wieder ein Riff, eine winzige Insel mit einer struppigen Palme, Buschwerk …
Ich hatte meine Faust in Trassos Nackenfell vergraben. Ich mußte mich opfern, um Vater und Tochter zu retten …
Ich wartete …
Wieder ein Stoß …
Träge schleifte der Korb durch das Buschwerk, – – ein kraftvoller Griff, ein Schwung, Trasso flog hinaus und ich sprang blindlings hinterdrein, fiel in eine Mulde, mitten in üppige Dornen, mußte die Augen schließen, fühlte überall die niederträchtigen Stacheln und suchte mich dann aufzurichten. Blut lief mir in die Augen, – da war so ein verdammter spitzer Stein gewesen, ich preßte das Taschentuch unter den Mützenschirm, und dann erblickte ich den Ballon …
Selbst diese Verminderung der Belastung hatte nicht viel geholfen. Die graugelbe Kugel erschien langgereckt, eiförmig, die Hülle konnte nicht mehr dicht sein, der Ballon flog kaum vierzig Meter hoch, sank, sank, – – und dann schrumpfte er unter einem jähen Regenguß für meine Augen zu einem rasch entschwindenden Wölkchen zusammen.
Ich sah nichts. Ich hoffte trotzdem, daß Vater und Tochter sich zumindest auf eine der Riffinseln gerettet haben würden. Jasper Lorenzen war ein vielerfahrener Mann, – er brauchte nur die Reißleine zu ziehen, nur den Anker auszuwerfen, – – er würde schon Mittel und Wege gefunden haben, die Katastrophe abzuwenden.
… Es goß in Strömen. Behutsam tappte ich aus den Dornen ins Freie, und vor mir stand der pudelnasse, wedelnde Trasso, – – um uns her war nichts als die Finsternis dieser Unglücksnacht, dazu das Rauschen des Regens und das Gurgeln und Schäumen der matten Wellen, die gegen das Inselchen anliefen in zwecklosem Kampf.
Ich wollte mich niedersetzen, und da fiel mir die Palme ein. Ihr Stamm würde mir wenigstens etwas Rückendeckung bieten.
Wo war sie?! Die Dunkelheit erlaubte mir nicht einmal, wenige Meter Umschau zu halten. Ich schritt hierhin und dorthin, kletterte über scharfe Zacken, über Geröllhalden, – – dann schlug Trasso drohend an, knurrte … Er war von meiner Seite verschwunden.
Ich fand ihn. Da war auch die Palme, und vor ihr etwas wie eine Felsenkluft, eine steile Vertiefung. Dort unten meldete sich mein Wölflein. Ich rutschte abwärts, polternd und prasselnd folgte mir Steingeröll, und einer dieser Steine schlug irgendwo abprallend gegen die Stelle der Felswand, über der im verwitterten Boden der einsame Baum sich kühn eingenistet hatte.
Wie aus dem Nichts ertönte da eine Stimme, die ebenso dumpf wie verschlafen, jedoch keineswegs beunruhigt erschien.
„He, bist du es, Pieter?! Bist ja schnell zurück … – Ich öffne sofort …“
Der Mann, der dies da drinnen irgendwo rief, mußte ein Deutscher sein, und er mußte sich hier sehr sicher fühlen, da ihm nicht einmal der Gedanke kam, es könnte nicht sein Kamerad „Pieter“ sein.
Ich hatte Trasso schnell mit der Linken das Maul zugehalten und ihn zurückgezogen.
Zwischen den Buckeln und Rissen der vielleicht vier Meter hohen Steinwand schimmerte jetzt stellenweise Licht. Dann hörte ich das Quietschen eines rostigen Riegels, und langsam drehte sich ein Viereck des Felsens nach innen.
In der erleuchteten Öffnung stand etwas gebückt ein Mann mit kurz geschorenem blonden Kopf, einem sehr sonnverbrannten bartlosen Gesicht und großen klaren Augen. Er war jung, aber all das hatte nichts zu besagen gegenüber dem tadellosen seidenen Schlafanzug und den ebenso tadellosen leichten Morgenschuhen über den nackten Füßen.
Und selbst dieses unerwartete Kostüm für einen Höhlenbewohner vergaß ich sofort, als der Mann, der mich eine Weile schweigend gemustert hatte, mit einer Art Verbeugung erklärte:
„Abelsen, nicht wahr? Verzeihung: Herr Abelsen … – Falls Sie Wert auf Förmlichkeit legen …“
Mein Erstaunen, daß er mich kannte, schien ihn außerordentlich zu erfreuen. Er lachte leise.
„Ja, – Sie sind verblüfft … Glaube ich Ihnen gern. Mein Beruf erfordert es jedoch, daß ich alles weiß … – Bitte, treten Sie getrost näher. Wenn dies hier auch einer jener vielen Schlupfwinkel ist, den die Mittelmeerpiraten sich so etwa vor hundert Jahren angelegt hatten, – ich selbst bin nur ein ganz harmloser moderner Pirat der Feder, also Berichterstatter, Zeitungsreporter, Kriegsbeobachter … – – So, ich werde die Tür schließen … Der Regen peitscht zu stark herein, und unser Heim hier soll trocken bleiben.“
Die Steintür fiel zu, der Riegel kreischte wieder, und ich befand mich in einer völlig anderen Welt.
Wenn mein Gastgeber diesen Raum als „Heim“ bezeichnet hatte, so traf das nur sehr bedingt zu. Am treffendsten sagt man wohl: Romantisches Gemisch von alter Piratenhöhle und modernstem Gefechtsunterstand. – An den mit zerschlissenen Seidenstoffen verhängten Wänden standen neben marokkanischen Ruhebetten, deren bunte Decken der Zeit getrotzt hatten, kleine Klapptische mit allerlei Instrumenten. Besonders fielen mir darunter ein kleiner Sender, ein Empfänger, Akkumulatoren, eine Dynamomaschine für Handbetrieb und ein Telefon auf. In einem Winkel gurrten in praktischen Käfigen muntere Brieftauben, in einem anderen war ein ganzes Arsenal von Waffen aufgehäuft. Der Steinboden zeigte kostbaren Teppichbelag, die Felsendecke war gleichfalls mit brüchiger Orientseide überspannt, durch die an einer Stelle die Wurzeln der oben im Freien stehenden Palme sich hindurchgebohrt hatten. Neben diesen Wurzeln sah ich noch ein dickes Blechrohr, den Luftschacht.
Der Fremde, der hier zusammen mit einem mir unbekannten Manne Namens Pieter hauste, ließ mir höflich Zeit, alles in Augenschein zu nehmen. Da auf einem der Klapptische Stöße englischer Zeitungen lagen und daneben eine Schreibmaschine stand, in die ein halb beschriebener Bogen eingespannt war, wandte ich mich nunmehr dem Fremden zu und sagte in demselben zwanglos-gemütlichen Tone wie er vorhin: „Sie haben die Radiodepeschen aufgefangen, deshalb kennen Sie meinen Namen. Und Sie sind Kriegsberichterstatter für eine englische Zeitung.“
„Stimmt, für eine Londoner … Ich nenne mich Edgar Ghost. Das klingt etwas gruselig: Ghost gleich Geist, Gespenst. – Paßt aber für mich … Ich bin nämlich in Wahrheit tot – – für die Welt.“ Sein Gesicht wurde sehr ernst. „Ich scherze nicht. Es gibt vielleicht noch seltsamere Lebensschicksale, als Sie sie aufzuweisen haben, Herr Abelsen. Über Ihre Person bin ich längst genau unterrichtet, bei einem Reporter selbstverständlich. – Setzen Sie sich bitte … Wo haben Sie denn die Lorenzens, Vater und Tochter, gelassen? Wie entflohen Sie dem „Feuersand“? Um es gleich zu sagen: Frau Brouville hat mit Ihnen ein schändliches Spiel getrieben. Der andere Dampfer der Reederei Brouville, der nun angeblich Heringe fischt, ist dem „Feuersand“ auf dem kürzeren Wege durch den Kanal vorausgeeilt und treibt sich hier in der Nähe seit Tagen umher. Frau Brouville wußte also, daß Selim Hullah die Ladung hier bei Er Kule löschen wollte … Es ist nicht ihr erster gemeiner Streich. Die edle Dame kann ohne Niederträchtigkeiten nicht leben. Es gibt solche Leute, die im Schmutz waten müssen.“
Plötzlich lachte er wieder.
„Wundert Sie das?! – Na, erzählen Sie mal erst. Wir brauchen voreinander keine Geheimnisse zu haben. Ich stehe vollkommen auf Ihrer Seite.“
Ich betrachtete ihn nochmals genauer. Sein Deutsch wies nur einen ganz unmerklichen englischen Beiklang auf.
Er bot mir eine Zigarre und ein Glas Whisky an. Ich berichtete von der Flucht im Ballon, und Edgar Ghost streute nur anfänglich einige kernige Verwünschungen ein, die nur Frau Brouville gelten konnten. Der junge Mann gefiel mir. Er hatte etwas Freies, Offenes, Unbekümmertes. Selbst seine zuweilen hervortretende zynische Bitterkeit konnte den günstigsten Eindruck nicht abschwächen.
„Machen Sie sich keine Sorgen um die Lorenzens“, erklärte er dann. „Die Riffe werden nach der Küste zu immer zahlreicher. Warten Sie hier bitte, – ruhen Sie sich aus … Dort finden Sie Lebensmittel, dort eine Reiseapotheke. Die Schramme an Ihrer Stirn muß bepflastert werden. Ich bin spätestens in einer Stunde zurück, hoffentlich mit den Lorenzens. Sie müssen wirklich hier bleiben … Einer muß auf den Fernsprecher aufpassen. Ich habe ein Boot draußen. Sie würden sich in dem Klippengewirr nie zurechtfinden. Ich ja. Sollte Pieter anrufen, so teilen Sie ihm das Nötige mit. Unternehmen Sie nichts auf eigene Faust, weiter binnenwärts wimmelt dieser Küstenstrich von Leuten, die jeden Fremden ohne viel Federlesens niederknallen. Bepinseln Sie auch die Dornenstiche mit Jod. In diesem Klima eitert die kleinste Verletzung. Dagegen können Sie getrost hier von der Insel aus ein Bad in der See nehmen. – Ich habe Eile … Zunächst warten Sie hier drinnen eine halbe Stunde – des Fernsprechers wegen … Möglich, daß Pieter derweil zurückkehrt. Er ist übrigens ein alter Neger von der Aschanti-Küste. Wiedersehen …“
Er hatte sehr rasch seinen Khakianzug übergestreift, einen dunklen Filzhut aufgesetzt, griff nach Gummimantel, Ledergurt und Büchse und war draußen, bevor ich noch irgendwie gegen seine stark ausgeprägte Selbständigkeit etwas einwenden konnte.
Die halbe Stunde war um. Ich hatte Edgar Ghosts Ratschläge genau befolgt. Der Fernsprecher hatte sich nicht gemeldet, und da draußen der Regen in ein sanftes Rieseln übergegangen war, wollte ich das Weitere besser droben auf dem Inselchen abwarten. Als ich die Tür wieder öffnete, schnurrte die Glocke des Telefons.
„Hallo – hier Ghost“, meldete ich mich …
Als Antwort hätte folgen müssen: „Hier Pieter“ – oder dergleichen.
Nichts folgte, nur ein Gemurmel mehrerer Stimmen.
Dann wurde drüben abgehängt.
Die Sache war mehr als verdächtig.
Ich zweifelte keinen Augenblick, daß die geheime Telefonstation auf dem Festlande entdeckt worden war. Die Leute brauchten nur der Leitung nachzugehen, und ich war geliefert.
Ich wußte, was ich zu tun hatte. Trasso konnte ich nicht mitnehmen. Nach drei Minuten hatte ich das gut isolierte Telefonkabel gefunden, das im Wasser zum Strande lief, jedoch nicht in Richtung auf das Vorgebirge, sondern mehr nach Westen zu. Ich warf die Kleider ab, zerschnitt die Leitung, nahm die Beißzange mit, schwamm in dem lauen dünnen Regen zwischen den Inselchen hindurch zur Küste und zerstörte überall streckenweise die Leitung, erreichte trotz der Brandung den felsigen Strand und zog nun das dünne Kabel hinter mir her. Es ging steil bergan, und als ich die Uferhöhe erreicht hatte, zwickte ich die Leitung abermals durch und warf den aufgerollten Draht in eine finstere tiefe Schlucht.
Bisher hatte ich nicht das Geringste von der Anwesenheit von Menschen oder dem Vorhandensein von Ortschaften gemerkt.
Nur im Unterzeug und in Sandalen an den Füßen, die dem Neger gehören mochten, wandte ich mich nach Osten. Die Sorge um die Lorenzens trieb mich vorwärts. Wenn Ghost und Pieter, wovon ich überzeugt war, irgendwie abgefangen worden waren, mußte ich allein handeln.
Mir war dies nur lieb.
Wenn schon Edgar Ghost an Selbständigkeit gewöhnt war, – ich erst recht. Meines Erachtens mußte der Engländer (falls er einer war) eine grobe Unvorsichtigkeit begangen haben. Er hatte von einem Boot gesprochen. Selbst das kleinste Boot mußte trotz Regen und Dunkelheit auffallen. Hier oben auf der Steilküste standen zweifellos in weiten Abständen Wachen. Die Funksprüche konnten auch von Abd el Krims Gegnern aufgefangen worden sein, man konnte die Wachen verstärkt haben, Selim Hullah hatte ja geäußert, die feindlichen Linien reichten bis dicht an Er Kule heran, wenn auch sehr dünn.
Daß ich bisher nichts von Wachen bemerkt hatte, wollte gar nichts besagen. Ich war überaus vorsichtig zu Werke gegangen, und genau so vorsichtig würden die Posten sein.
Ich richtete mich danach.
Das Gelände war mir günstig, aber trostlos öde. Zerklüftete Felsmassen, hin und wieder ein paar Palmen, ein paar Oliven, Gestrüpp, kleine Grasflecken, sonst nur kahler, regennasser Steinboden.
Nach einer halben Stunde erblickte ich links von mir das berühmte Vorgebirge. Es war doch weit ausgedehnter, als ich geglaubt hatte. Noch weiter links erspähte ich die Bucht mit den zahllosen Riffen und Inselchen und glaubte auch die bewußte Palme zu erkennen.
Ich schlich weiter. Vor mir öffnete sich ein flaches Plateau, das sanft zur See abfiel. Mitten auf dieser steinigen kahlen Ebene gewahrte ich zweierlei, das mich veranlaßte, das Fernglas zu benutzen: Die Ruinen eines zerstörten Wachthauses mit steinernem Unterbau, noch weiter weg zwei scheinbar geborstene Steinsäulen, über denen ein riesiger Fetzen Stoff im Winde träge flatterte.
Es war der Ballon.
Mein Herzschlag setzte aus …
Neben den Säulen lag eine menschliche Gestalt: Inge Lorenzen! – Ihre rötliche Lederkappe schimmerte wie ein grotesker Pilz.
Tot etwa?!
Aus dem Ballonkorb gestürzt?!
Ich durfte nicht zögern …
Es war ein Wagnis, das Plateau, wo es wenig Deckung gab, zu betreten. Es wäre ein Leichtsinn gewesen, von dieser Seite mich heranzupirschen. Von der Seeseite her ging es noch am ehesten … Anderseits: Wenn hier Feinde lauerten, hätten sie das Mädchen längst geholt!
Ich verzichtete auf alle Umwege. Ich schnellte empor, jagte mit Riesensätzen vorwärts, horchte, ob ich das feine Singen der Kugeln vernehmen würde, – – nichts geschah.
Mein Sicherheitsgefühl wuchs.
Ich beugte mich über das Mädchen. Inge lebte. Sie war nur bewußtlos. Sie stöhnte leise.
Ich richtete mich auf.
Ein seltsames Gefühl überkam mich.
Ich stand hier auf uraltem, sagenhaftem Boden. Vor mir die beiden Säulen des Herkules, – keine Kunstgebilde, nein, nur schlanke, vereinzelte Felsen …
Und über diesen Säulen ruhte nun das Wahrzeichen der neuen Zeit: Die Ballonhülle, fast leer, flatternd, sich bauchend, zuweilen im Winde knallend und knatternd.
So manche Orte hatte ich kennen gelernt, deren Ruf weit in die Vergangenheit zurückreichte.
Niemals hatte ich auf einem derart von Sagen umkränzten Fleckchen Erde geweilt.
Schulerinnerungen erwachten …
Der Göttervater Zeus hatte Herkules-Herakles zwölf Arbeiten auferlegt, damit er die Unsterblichkeit gewinne. Eine davon führte ihn nach der Insel Eurytheia im Ozean, von wo er die berühmten Rinder des Gergones holen sollte, die von dem zweiköpfigen Hund Orthyros bewacht wurden. Auf diesem abenteuerlichen Zuge errichtete Herkules die beiden Säulen als Denkmäler für das glückliche Gelingen.
So erzählt die Sage.
Daß jeder Sage ein Quäntchen Wahrheit zu Grunde liegt, wissen wir skeptischen Menschen der Neuzeit längst. Daß die Marokkaner das Vorgebirge dort Er Kule nennen, beweist die Hartnäckigkeit, mit der altgriechische Göttersagen selbst in den Ideenkreis der Mohammedaner eingedrungen sind und sich erhalten haben. –
Das sind nur Sekunden, die mich in der Vergangenheit festhielten. Die Gegenwart fordert ihr Recht.
Es regnet stärker …
Kein Schuß fällt …
Kein Überfall erfolgt …
Ich schneide den wasserdichten Ballonkorb los. Er wiegt wenig … Ich hetze damit zum Strande hinab. Dann hole ich Inge. Sie stöhnt … Ihre Stirn ist blutig …
Die Brandung rauscht stärker … Der Wind frischt auf …
Und die Ballonhülle?! Soll ich sie liegen lassen auf den Säulen des Herkules?! Werde ich es allein schaffen, sie in irgend einer Felsspalte zu verbergen?
Es kommt auf den Versuch an …
Und als ich schweißtriefend die schwere Last von der einen Spitze löse, liegt da, verwickelt in das Tauwerk der Gondel, der lange spindeldürre Jasper Lorenzen mit dem von Wind und Wetter und Leid gegerbten Gesicht.
Er lebt … Er ist nur halb erwürgt durch den einen Strick, er schnappt nach Luft, reißt die Augen auf …
Röchelnd, heiser:
„Ah – – Sie, Abelsen!! Und Inge?“
„Nur bewußtlos!“
Die Nachricht wirkt besser als schärfster Brandy …
Jasper ist ein Kerl, den so leicht nichts anficht.
„Ich helfe Ihnen, Abelsen …! – Sind das hier etwa die Säulen des Herkules?!“
„Zweifellos …!“
„Hm, damit ist kein Staat zu machen! – Achtung, runter mit der Hülle …“
Wir schwitzen …
Wir keuchen, wir finden ein Felsloch, – hinein mit dem Ballen Seide, dann Steine darüber, dann hinab zum Strande.
Plötzlich stoppen wir. Horchen …
Schüsse – – ganz fern nach Osten zu …
Salvenfeuer, – – ein Maschinengewehr rattert …
„Verdammt, das gilt dem „Feuersand“, Abelsen!“
Jasper rennt weiter …
Hebt sein Kind in die Arme …
„Mädel, Mädel, – – und alles wegen dieses Weibes! Mein armes Mädel!!“
„In den Ballonkorb, Lorenzen! Legen Sie sie hinein … Wir schwimmen … Schieben den Korb. Los, – – ich habe hier ein Versteck gefunden … Nur schnell, die Knallerei kommt näher, Selim Hullah wird siegen, und dann haben wir die Kerle auf dem Hals!“
Der ehemalige Kapitän nickt.
„Gut, vorwärts …! – Aber die Brandung?“
„Es muß gehen … Nötigenfalls schleppen wir den Korb über die Klippen!“
„Muß gehen!!“, – das ist ein wundervolles Wort, wenn man einen Mann vom Schlage Lorenzens neben sich hat.
Und – – es geht …! – Wie?! Das ist eine andere Frage. Lorenzen und ich sind zerschunden, zerkratzt, wir sind gänzlich ausgepumpt, als wir das Inselchen erreicht haben. Höhnisch grinst plötzlich der Mond durch das zerflatternde Gewölk.
Unten in der Vertiefung vor der Steintür sitzt ein Mann, – in der Piratenhöhle jault Trasso sein wütendstes Konzert. Ein grauer Negerschädel biegt sich rückwärts, und Pieter, der Aschanti, glotzt uns an.
„Pieter, – – hier nehmen Sie mir das Mädchen ab!“
Er gehorcht, er ist nicht einmal erstaunt. Über nichts.
Der riesige Schwarze ist fast splitternackt … Sein Leinenanzug kaum noch Fetzen.
Und dann schüttelt Lorenzen das lähmende Erschrecken, oder was es sonst sein mag, von sich ab …
„Pieter, – – du hier?!“
Ganz zart nimmt der Neger die Bewußtlose entgegen.
Ich selbst wundere mich über nichts mehr.
„Schon Monate, Käpten“, erwidert der Graukopf wortkarg.
Der Mond enthüllt immer mehr seine fast volle Scheibe. Auch Lorenzen und ich klettern hinab, ich beruhige Trasso, der den Schwarzen in übertriebener Wachsamkeit zerrissen hätte, Inge ruht auf einem Diwan, und die Reiseapotheke spendet das Mittel, die Schwäche zu besiegen. Das Mädchen erwacht, die fremde, seltsame Umgebung berührt sie nicht weiter, sogar ihren Vater übersieht sie, und die noch halb umflorten Augen hängen an dem narbenreichen, faltenreichen Gesicht des Schwarzen, dessen grauer Knebelbart den etwas wilden Zügen einen friedlicheren Anstrich geben.
Der Aschanti hat sich bereits in eine neue, braune Leinenkluft geworfen und wirtschaftet an dem kleinen Herd herum, Holz knistert, und dann lächelt er Inge an …
„Vier Jahre, Fräulein Inge, – eine lange oder kurze Zeit … je nachdem. Sie haben mich nicht vergessen, ich Sie erst recht nicht … Nur etwas habe ich aus meiner Erinnerung gestrichen: Das alte Patrizierhaus der Brouvilles! Davon will ich nichts mehr hören, nichts …!“
Wie gesagt, ich wundere mich über nichts.
Auch nicht über des Schwarzen fließendes Deutsch und gewandte Ausdrucksweise.
Ich spüre nur, daß eine sehr beklommene Stille eintritt, als Pieter das Haus Brouville erwähnt hat und dabei durch den Ton der Stimme bewies, daß er Frau Antoinette haßt.
„Wo steckt Edgar Ghost?“, frage ich ihn, und ein flüchtiges unklares Grinsen geht über sein Gesicht hin.
„Weiß nicht, Herr Abelsen … Wir mußten fliehen und kamen auseinander. Aber Mister Ghost ist ein Engländer, den man nicht so leicht erwischt. – Übrigens sehr klug von Ihnen, die Leitung zu zerstören … Fänden die Kerle dieses Versteck, wären wir geliefert.“
Er wandte sich wieder dem Herde zu, während Lorenzen einen Schemel neben das Lager seines Kindes rückt und leise auf sie einspricht. Ich kam mir hier etwas überflüssig vor, außerdem mußte auch Trasso unbedingt einmal ins Freie.
Mit der kurzen Begründung, mich einmal draußen so etwas umschauen zu wollen, verließ ich die geräumige, trockene Höhle und kletterte vorsichtig zur Palme empor. Erst als ich die jetzt mondhellen Gestade gründlich mit dem Glase abgesucht hatte, gab ich Trasso frei.
Der Wind wehte noch kräftiger. Starke Brecher schickten ihren Sprühregen über das Inselchen hin, die klippenreiche Bucht glich nun einem kochenden, schäumenden Hexenkessel, und das jagende Gewölk, das von der spanischen Küste herüberkam, verhüllte und enthüllte das Nachtgestirn in unregelmäßigen Pausen. Über mir rauschte und knisterte die zerzauste Krone der Palme, in deren Zweigen, unsichtbar für den schärfsten Blick, die dünnen Antennendrähte gespannt waren.
Der frische Luftzug tat mir wohl. Die letzten Stunden mit ihren überreichen Begebnissen hatten eine kräftige Nervenprobe dargestellt. Ich kam innerlich zur Ruhe, eine angenehme Müdigkeit befiel mich, und erst als aus dem Luftschacht, der im Gestrüpp versteckt lag, würziger Kaffeeduft emporwehte, wollte ich wieder nach unten, um auch meinen Anteil an dem Frühstück zu genießen, das wir uns ehrlich verdient hatten.
Plötzlich schob sich Pieter, der Aschanti, neben mich ins Geröll.
Er brachte allerlei gute Dinge mit, – eine Thermosflasche voll Kaffee, Hartbrot, Büchsenfleisch und Zigarren.
„Inge schläft“, sagte er mit jener selbstverständlichen Art, die er sich wohl in stetem Verkehr mit Europäern angewöhnt hatte, vor denen er nicht sonderlich Respekt empfinden konnte. „Ich wollte Sie um eins bitten, Herr Abelsen … Sollten die Lorenzens Sie nach dem Äußeren des Mr. Ghost fragen, so schildern Sie ihn als älteren Mann von kleiner Statur. Ich habe meine Gründe für dieses Ansinnen.“
Wir lagen auf dem Bauche nebeneinander. Trasso hatte sich ebenfalls niedergetan und erhielt reichlich Schmeckhappen.
„Gut, Pieter, wie Sie wollen … Also ein älterer Mann von kleiner Statur. – Wer ist Edgar Ghost?“
Der Schwarze rieb ein Zündholz an und rauchte.
„Ein Deutscher, – im Vertrauen …“
„Das dachte ich mir. Und sein wirklicher Name?“
„Tut mir leid, ich bin zum Schweigen verpflichtet. Es ist auch besser, Sie wissen es nicht. Für die Welt ist er tot. Das genügt – vorläufig.“
„Und was wird nun weiter geschehen? Sollen wir hier versteckt bleiben?! Ich möchte doch schließlich das eigentliche Rifgebiet kennen lernen, – verständlich.“
„Allerdings … – In der nächsten Nacht werden Sie Selim Hullah folgen können. Für Pferde sorge ich schon.“
„Und Sie selbst, Pieter?“
„Ich?! Ich bleibe natürlich hier … Wir, mein Herr und ich, vertreten hier die größte Londoner Zeitung. – Da, es wird hell … Sie werden sich wundern, wie schnell hier der Tag anbricht … Wir wollen uns beeilen, damit auch wir drei gründlich und sicher ausschlafen können. Kommen Sie. Aber bitte kriechen …“
An der Südseite des Inselchens hob er von einem steilen Abhang einen Stein empor, der halb im Wasser lag.
„Bitte … Unser Bootshafen …“
Drinnen brannte eine Laterne.
Neben einem umgekippten, zerlegbaren Zinkboot schlief Edgar Ghost auf einem dicken Mooslager den Schlaf des Gerechten.
Nein, – ich wunderte mich über gar nichts mehr …
Ghost erwachte, gähnte, und meinte maulfaul:
„Stört mich nicht, – – gute Nacht!“
Pieter kippte die Steinplatte vor die Öffnung, und unsere „Nachtruhe“ begann.
Es war etwas nach fünf Uhr morgens.
– – Pieter, dieser freche Schwindler, mußte sich die Kleider absichtlich zerfetzt haben, denn Edgar Ghost in seinem tadellosen Khakianzug sah noch genau so patent aus wie vor Stunden, als er mich in der Piratenhöhle allein zurückgelassen hatte.
Merkwürdige Menschen!!
Und Frau Antoinette Brouville, diese gefährliche Intrigantin?! Würde sie etwa auch fernerhin dieses Doppelspiel fortsetzen?! Würde sie sich übermäßig freuen, die Lorenzens und mich lebend wiedersehen?! Wohl kaum …
Und trotzdem …
Irgend etwas stimmte hier nicht …
Über diesen Zweifeln schlummerte ich ein …
„Er Rif“, – das Rifgebiet.
Nun schön: Rifgebiet! – Wer kennt es? – Die wenigsten! – Von Abd el Krim, von Rifkabylen (fälschlich oft „Riffkabylen“ geschrieben) hat jeder gehört.
Sonst noch?
Also: Er Rif. – Ein Teil Marokkos, etwa vom Wed Lao, einem ins Mittelmeer mündenden Fluß, sehr fischreich, bis nach Osten hin zum Kap Tres Forcas sich erstreckend, ferner nach Süden bis zum Sebu-Fluß, der sich in den Atlantik ergießt, westliche Grenzlinie ungefähr vom Wed Lao über den Ort Wesan bis zur Werga-Mündung[4], rechtem Nebenfluß des Sebu, – das ist Er Rif!
Also alles in allem ein Bergland, das den kleinen Atlas als Gebirgsstock in sich schließt, 300 Kilometer lang von West nach Ost, 50 Kilometer breit, bewohnt von Berberstämmen zumeist sehr kriegerischer Natur, früher völlig unbekannt, da die Eingeborenen selbst Forschungsreisenden den Zutritt verwehrten, zum ersten Male von der Weltpresse durch den großzügigen Banditenhäuptling Raisuli beachtet, der seine leeren Kassen durch Gefangennahme von Weißen und Erpressung von Lösegeldern füllte … Mit einem Schlage dann Mittelpunkt von wütenden Zeitungsfehden, nachdem Abd el Krim bei El Abara mit nur dreihundert Mann den Spaniern die erste empfindliche Niederlage bereitet und gleich darauf bei Annual und Arruit den feindlichen Rückzug zu einer wilden Panik vergrößert hatte, die erst unter den Mauern Melillas abflaute. Ungeheure Kriegsbauten fielen Abd el Krim bei diesen Kämpfen im Sommer 1922 in die Hände, der Feind hatte Verluste, die gegenüber den geradezu winzigen Opfern der Rifleute unfaßbar erschienen, die Zahlen 20 000 : 500 geben diese Verlustverhältnisse annähernd wieder, und wenn Abd el Krim damals Melilla, was ihm ein Leichtes gewesen, erstürmt hätte, wäre es mit der Herrschaft der Spanier im Rif für alle Zeiten zu Ende gewesen. –
Ich schreibe hier keine Kriegsgeschichte. Ich schreibe – – mich selbst. Ich will mich neutral halten, soweit ich es vermag, ich will auch nur andeuten, in welchem Zeitpunkt der letzten Entscheidungskämpfe ich das Rif kennenlernte. Ich kam[5] halb wider meinen Willen in das Land, ich wurde in den großen Waffenschmuggel mit hineingezogen, der ebenso historisch ist wie manches andere, was ich später noch berühren werde.
Nur etwas muß ich hier hervorheben, und jeder halbwegs anständig Denkende würde es tun: Abd el Krim hat den Rifkrieg nicht aus Machthunger entfesselt, sondern aus Liebe zu seinen bis dahin freien Bergen, in die die Spanier trotz gegenteiliger Vereinbarungen ihre befestigten Blockhäuser immer weiter vorschoben. Er hat gewarnt, gebeten, – es war umsonst. Das damalige Königreich Spanien brauchte ein Ventil zum Abblasen der immer mehr steigenden Unzufriedenheit, und wie so oft schon in der Weltgeschichte sollte auch hier ein scheinbar leichter Eroberungsfeldzug dazu dienen, die eigene Nation von neuem einzulullen, – – das war es!
Freilich, daß die Monarchie in Spanien sich mit diesem blutigen, kostspieligen Marokkoabenteuer ihr eigenes Grab grub, ahnte zunächst niemand … Diese Wirkung äußerte sich erst Jahre später …
1922 bot man Abd el Krim 20 Millionen Pesetas, falls er die Feindseligkeiten einstellen würde. Er lehnte ab. Er wollte auch nichts von dem Gouverneurposten wissen, – er war kein feiger Schacherer, kein Verräter an seinem Lande. Er wußte, worum es ging. Bisher war das Rif frei gewesen, jetzt sollten fremde Zöllner die Steuern eintreiben, jetzt sollten die Bodenschätze des Rif an das Ausland fallen. Und da … kämpfte er! Vorbereitet wurde dieser Kampf bereits durch Abd el Krims Vater, der dann 1920 unter sehr verdächtigen Umständen starb. Sein Tod mag in seinem ältesten Sohne dann jenes fanatische Feuer entflammt haben, das ihn zu außerordentlichen Taten befähigte, das jedoch niemals in niedere Rachsucht umschlug. Es genügt ein einziger Charakterzug für den Maßstab, den man an seine Persönlichkeit anlegen muß: Er bedrohte die Niedermetzelung von Gefangenen und die Verstümmelung von Gefallenen mit Todesstrafe. Seine „zivilisierten“ Gegner taten nichts dergleichen, ließen jede Bestialität zu, und wenn der Abgeordnete Pierre Renaudel in der Kammersitzung am 27. Mai 1925 wörtlich nach dem Protokoll über Abd el Krim erklärte, daß dieser nur deshalb in der Welt des Islam jene großen Sympathien gefunden habe, weil er eben ihr Gedankenleben verkörperte und von dem Verlangen nach Freiheit für seine Heimat getrieben würde, so dürfte es sich hier um einen völlig unverdächtigen Zeugen für Abd el Krim handeln. Derselbe Pierre Renaudel war es, der dem Kriegsminister zurief: „Wenn die Völker, die erklären, in den Kolonien ein Zivilisationswerk zu vollbringen, sich dort nur durch die Macht der Waffen behaupten können, dann würde ich es weit lieber sehen, daß unser Verantwortlichkeitsgefühl groß genug wäre, sich aus einem solchen Wespennest zurückzuziehen.“
Beleuchten nicht schon diese Aussprüche blitzartig die ganze Riffrage und zugleich auch die Person des Mannes, der von anderer Seite als ehrgeiziger, habgieriger Störenfried hingestellt wurde?! Gewiß, der Rifkrieg hat ungeheure Opfer an Blut und Geld gekostet. Wer daran die Schuld trug, die Frage steht über jeder Erörterung. Abd el Krims Hände waren rein. Spanien hätte ihm die zwanzig Millionen Pesetas gezahlt, er hätte irgendwo mit den Seinen in Europa unbelästigt als reicher Nichtstuer leben können. Er dankte … Er setzte sich tagtäglich der äußersten Lebensgefahr aus, er hatte täglich Mordanschläge durch erkaufte Kreaturen zu erwarten, er nahm an all den blutigen Kämpfen teil, sein Fanatismus riß seine Leute mit, – – handelt so ein habgieriger, ehrgeiziger Aufrührer?!
Wer war nun Abd el Krim? – Auch die Frage muß kurz gestreift werden.
Seine Familie stammte aus Hedschas am Roten Meer, seine Ahnen waren reinblütige Araber … Um das Jahr 900 nach Christi wanderten sie nach Marokko aus, freilich nicht als friedliche Eindringlinge. Seit mehr als tausend Jahren war also das Gebiet zwischen der Bucht von Alhucemas und Targuise (am Mittelmeer) ihre Heimat. Zuletzt war die Familie in der Stadt Ajdir ansässig und gehörte dem Rifstamm der Beni Uriagel an. Abd el Krims Vater war oberster Kaid der Beni Uriagel, also studierter Richter, Verwaltungsbeamter und im Notfalle erster Kriegshäuptling in einer Person. Auch Abd el Krim und sein Bruder Si Mehmed hatten studiert, Abd el Krim wurde dann der Nachfolger seines Vaters, den die Spanier von jeher seiner Intelligenz und Tatkraft wegen gefürchtet hatten. Der Bruch mit den Spaniern und die unausbleibliche Auseinandersetzung mit den Waffen bereiteten sich, wie bereits angedeutet, allmählich vor. Es mußte so kommen, wie es kam: Beweis der schriftliche Ausspruch eines Spaniers von politischer Bedeutung über das Rifproblem: „Wenn die Berberküste des Rif wirklich einmal uns gehören soll, müssen wir vorher die gegenwärtigen Bewohner von dort vertreiben.“ – Diese Probe der geistigen Einstellung des spanischen Königreiches zur Riffrage spricht Bände. Man bedenke: „Vertreiben …!!“ Und „Vertreiben“ hieß hier nichts anderes als „Vernichten“. Denn die Rifkabylen waren ja keine ungebildeten Nigger, ihre Führerschicht bestand aus erfahrenen, studierten Leuten, ihre Gesamtheit aus einem prächtigen Menschenmaterial, das gerade infolge der andauernden Fehden unter den einzelnen Stämmen sich den kriegerischen Sinn bewahrt hatten Daß dieses unangekränkelte Menschenmaterial später versagte, war Schuld der erbärmlichen Methoden europäischen Länderhungers, war Schuld des Geldes, der Lüge, des Verrats.
Jedenfalls: Zu der Zeit, als mich das Schicksal in dieses lärmende Abseits von Kanonendonner, Maschinengewehrgeknatter und rollenden Gefechtssalven hineinversetzte, hatte Abd el Krim die Rifstämme und auch die sogenannten Bergstämme, die fern der Küste in den Tälern des Gebirges hausten, längst zum Rifbunde vereinigt, wenn auch nicht restlos, da einige der Stämme bereits damals von heimlichen Agenten der Feindmächte gründlich bearbeitet worden waren und den Befehlen ihrer bestochenen Kaids gehorchten. Der Kriegsschauplatz selbst erstreckte sich über das ganze Rifgebiet hin. –
Nach diesen knappen Angaben, die ich zumeist hinterher in meine gewohnten Aufzeichnungen eingeschaltet habe, mag mein Tagebuch wieder selber sprechen.
* * *
Als ich in der Wassergrotte, Bootshafen genannt, nach vielen Stunden erwachte, war die halb verhüllte Karbidlaterne am Erlöschen.
Ein Blick ringsum zeigte mir sofort, daß ich mit Trasso allein war. Ich nahm den Leinenlappen von der Laterne, es wurde heller, das Boot war noch da, neben mir lag ein Zettel, – Bleistiftzeilen:
„Abends elf Uhr westlich der Säulen des Herkules in dem Tale neben dem spitzen Berge mit der Kappe. Vorsicht. Wiedersehen. Verbrennen.“
„Nun schön!“, dachte ich mir. „Ihr beide habt euch also mit polnischem Abschied empfohlen. Und wie steht es mit den Lorenzens drüben im alten Piratennest?!“
Ich lüftete den Verschlußstein ein wenig.
Draußen Abendrot, die Sonne würde sofort verschwinden. Unglaublich erschien es mir, daß ich über zwölf Stunden geschlafen haben sollte.
Aber mein knurrender Magen bestätigte mir das gleichfalls. –
Ich verspürte wütenden Hunger, und da ich es nicht wagte, schon jetzt dieses Felsenloch zu verlassen, war ich froh, daß das seltsame Paar Ghost-Pieter, aus dem ich nun schon gar nicht schlau wurde, vorsorglich einige Konservenbüchsen und einen Spirituskocher bereitgestellt hatte.
Die Dunkelheit brach sehr schnell herein, und als ich annehmen durfte, daß selbst ein Wachtposten mit Fernglas mich von der Küste nicht erspähen könnte, verließen Trasso und ich den Bootshafen und pirschten uns zur Palme hinüber.
Der Platz am Fuße der Palme war besetzt.
Vater und Tochter Lorenzen genossen hier die Abendbrise.
Der dürre, sehnige Jasper begrüßte mich wenig freundlich, und auch Schön-Inge machte vorwurfsvolle Augen.
„Zum Teufel, Abelsen, wo stecken Sie eigentlich?!“, fauchte der Schopfadler mich an und hatte dabei sehr argwöhnische Augen.
Die Sterne waren bereits aufgetaucht, ringsum brodelte das Meer … Ein wundervolles Nachtbild …
„Haben Sie Pieter noch gesprochen?“, lautete meine Gegenfrage.
„Nein! – Wo steckten Sie?“
Ich setzte mich zu ihnen und erzählte. In meinem Bericht war Edgar Ghost vorschriftsmäßig ein älterer kleiner Engländer.
„… Ich weiß nicht, wohin die beiden sich gewandt haben, Lorenzen. Hier ist der Zettel als Beweis. Verbrennen Sie ihn …“
Lorenzen rauchte Pfeife, und als auch ich mir eine Zigarre anzünden wollte, fand ich in meiner Tasche die gewisse flache Zigarettenschachtel, die Selim Hullah mir zugesteckt, und die ich bisher nicht geöffnet hatte.
„Das Ding hatte ich ganz vergessen … Sehen wir nach, was es enthält …“
Inge beugte sich vor, und Jasper leuchtete mit einem Zündholz.
In der Schachtel lag eine dünne Gummiblase, ganz glatt gedrückt, die zugebunden war. In dieser wasserdichten Blase knisterte Papier.
Lorenzen, der nun wieder freundlicher geworden, meinte sehr bestimmt: „Es wird so etwas wie ein Paß sein!“
Ja, es war ein Paß, aber sicherlich der merkwürdigste, der je für mich ausgestellt worden war.
Das pergamentartige Papier enthielt eine Aufschrift in drei Sprachen: Englisch, Französisch, Berberdialekt. Unterzeichnet war es von Selim Hullah, neben dessen Namenszug, der wie ein Durcheinander von Arabesken aussah, eine sehr alte arabische Goldmünze mit einem besonderen Wachs und einem Kreuzstich aus grüner Seide befestigt war.
„Dem Besitzer dieser Urkunde (folgte meine sehr genaue Personalbeschreibung) wird von unserem erhabenen Herrn Mohammed ben Abd el Krim el Chattabi das vollste Vertrauen geschenkt. Jeder der unsrigen helfe nach Kräften bei dem Werke, das der tapfere, kluge Fremdling durchzuführen bereit ist. Allahs Lohn ist ihm gewiß.
Selim Hullah.“
Die abermals geradezu unheimlich statuenhafte Inge ließ sich herbei, wenigstens etwas zu fragen. – Übrigens frage ich mich dasselbe.
„Was sollen Sie durchführen, Herr Abelsen?“
„Keine Ahnung!“
Lorenzen lachte rauh. „Wem wollen Sie das erzählen?! Sie wissen nichts?! – Abelsen, ich hätte mehr von Ihnen erwartet.“
Das war grob, aber ehrlich.
Ich versicherte nochmals, daß ich mich zu gar nichts verpflichtet hätte. Ich tat es im recht gereizten Tone, und um den Gesprächsstoff zu beenden, erklärte ich, ich würde nun erst einmal allein zur Küste hinüberrudern und mir das Tal neben dem Kappenberg ansehen, der übrigens von hier deutlich jenseits der Uferhöhen zu erkennen war. Er hatte tatsächlich ausgesprochene Pilzform.
Inge sah wohl ein, daß ihr Vater mir grundlos und ungerecht mißtraute. Sie suchte einzulenken, ich war jedoch wirklich empört, und unser vorläufiger Abschied blieb kühl und frostig.
Ich holte mir meine Repetierbüchse aus dem Piratenversteck, in dem Licht brannte, und das erste, was mir hier unten auffiel, war das Fehlen des kleinen Senders nebst allem Zubehör.
Schon dies war sehr vielsagend. Edgar Ghost hatte also zweifellos seine Operationsbasis als Reporter anderswohin verlegt. Außerdem war ich nun auch überzeugt, daß der Bootshafen und diese Höhle eine Verbindung haben müßten, die ich denn auch unschwer nach Entfernung der dünnen Seidenbespannung der Felsenwände entdeckte. Vater und Tochter Lorenzen mußten wie die Toten geschlafen haben, daß sie so gar nichts gehört hatten, als Pieter all die Instrumente davongetragen hatte.
Nun wurde mir auch das trügerische Spiel klar, das Ghost und Pieter mit mir in anderer Hinsicht getrieben hatten: Ich hatte die Telefonleitung zerstören sollen! Sie brauchten sie nicht mehr. Auch das Telefon fehlte.
Mir behagte all das sehr wenig.
Ich liebe so unklare Verhältnisse nicht.
Ich habe mich nie als Marionette an unsichtbaren Fäden hin und her ziehen lassen.
Hier sollte ich zur Gliederpuppe degradiert werden. Aber Ghost und auch Selim Hullah kannten mich schlecht. Wo ich mitspiele, will ich zumindest zum Teil den Taktstock schwingen.
Die Herrschaften würden sich noch wundern!
Ich war nun gerade in die richtige Stimmung geraten, diese Geschichte sehr kurz und bündig und endgültig abzudrehen. Ich scherte mich den Teufel was um die Möglichkeit, daß drüben die Küste besetzt wäre und wenn ich trotzdem nicht blindlings in Gesellschaft Trassos durch die Riffe hindurchruderte, entsprang diese Vorsicht mehr alter Gewohnheit.
Dort weit rechts hatte ich eine Menge hoher Klippen dicht am Ufer bemerkt, dorthin steuerte ich, und absichtlich ließ ich das leichte Boot blitzschnell dahinschießen, landete zwischen den Felsen an einer Steinhalde und schickte mein Wölflein voraus ans Land.
Trasso war von beruhigender Gleichgültigkeit. Außerdem nisteten hier überall Möwen, und die Vögel kümmerten sich kaum um uns, flogen empor und ließen sich sofort wieder auf ihre ruppigen Nester herab.
Unangefochten kamen wir bis in die Nähe des Pilzberges, vor dem ein flacher Streifen von Oliven, Palmen und verwilderten Weinstöcken sich hinzog. Dicht dabei sah ich verlassene Steinhütten, in denen noch vor kurzem Rifkabylen gehaust haben mußten, denn eine Anzahl Hühner hockte schlafend auf einem Balken eines halb eingestürzten Daches.
Trasso wurde nun plötzlich unruhig.
Aber seine gesträubten Genickhaare galten nur einer Affenherde, die ein paar Feigenbäume plünderte. Übrigens Affen genau derselben Art, wie sie auf Gibraltar zu finden sind.
Die mißtrauische Herde stob unter Führung des Leitaffen kreischend davon, erkletterte den Pilzberg und … bombardierte uns mit Steinen.
So wurde denn der bisherige Frieden des Landschaftsbildes gründlich gestört. Die Steine schadeten uns nichts, aber der Lärm sollte unangenehme Folgen haben.
Ich wurde nun doch vorsichtiger, da mein Wölflein sehr verdachterregend witterte und stehen geblieben war.
Vor uns zog sich ein schmales Tal gen Süden, dessen steile Wände das Sternenlicht absperrten. Es mußte das auf dem Zettel erwähnte Tal sein. Ich erkannte mit dem Glase tief unten mehrere Pferde, daneben ein winziges Feuer und die Umrisse zweier Männer in hellen Umhängen und Turbanen.
Wir selbst standen zwischen Felsen und Gestrüpp gut gedeckt. Nur deshalb nahmen die nun jählings hereinbrechenden Zwischenfälle einen für die Gegenseite unbefriedigenden Verlauf.
Ich hatte das Glas noch an den Augen, als drunten im Tal eine förmliche Salve krachte, – es waren mindestens acht Schüsse.
Einer der beiden Pferdewächter sank sofort um und blieb liegen. Der andere war zunächst gleichfalls zur Seite gerollt, schnellte dann empor und warf seinen hellen Burnus ab und raunte im Zickzack mit außerordentlicher Schnelligkeit auf mich zu. Es war ein großer, hagerer Mensch, er kam sehr rasch näher, die ihm nachgeschickten Kugeln gingen fehl, und trotzdem hätte ich ihm kaum wirksam helfen können, wenn die Angreifer, übrigens gleichfalls Marokkaner, nicht die Unterlassungssünde begangen hätten, ihm zu Fuß zu folgen, statt die Pferde zu besteigen.
Der Flüchtling wollte an mir vorüber.
Ich rief ihn an …
Im Augenblick schnellte er herum …
„A…belsen?!“, rief er atemlos.
„Ja!“ Er stand vor mir …
– Wenn ich an jene nächtliche Szene zurückdenke, werde ich immer wieder unwillkürlich an jenes Kapitel aus Robinson Crusoe erinnert, in dem Robinson seinen „Freitag“ findet …
Mein „Freitag“ handelte ähnlich …
Er war bis auf Messer und Pistole ohne Waffen.
Er riß mir die Büchse aus der Hand, besichtigte flüchtig das Schloß, duckte sich, und … der Rest sei Schweigen …!
Die sieben Gegner hatten es vielleicht nicht besser verdient. Trotzdem: Die Art, wie der Kabyle sie einzeln abschoß, war Hasentreibjagd. Der Mann war ein glänzender Schütze. Er hieß Zarra Dhau, – – und das bedeutet so viel wie „Herr der Löwen“.
Das war mein „Freitag“ … Er war jung, blond, hatte ein schmales, bartloses, tiefbraunes Gesicht mit dünner Stülpnase und schwach entwickelten Lippen. Dafür war seine Kinnpartie äußerst kräftig, etwas vorgebaut und verlieh seinen Zügen einen recht gewalttätigen Ausdruck.
All meine Vorsätze, mich nicht als Marionette benutzen zu lassen, zerstoben wie Staub vor einem Sturmstoß durch den Mann, den die feindlichen Kabylen unten im Tale am kleinen Feuer niedergeknallt hatten. Die Vorgänge am Pilzberge waren die vielverheißende Überleitung zu meiner Kundschaftertätigkeit an der Werga.
Seit Jahrhunderten gibt es in den Mittelmeerhäfen und weit darüber hinaus eine Art internationale Sprache als allgemeines Verständigungsmittel, eine Art von primitivem, durch den Zufall geborenem Esperanto: Die Lingua Franca, zu deutsch: Französische oder besser „westliche“ Zunge oder Sprachenmischmasch.
Mein Siebentöter Zarra Dhau, der die Gefallenen kurzerhand in einer Kluft „beerdigt“ hatte, beherrschte diese Sprache in der Vollendung und hatte sie aus eigenem Wissen noch gründlich ergänzt.
Als er mir mit einem höflichen „Grazios, Zinnore“ (was „Danke, Herr“ bedeuten sollte) meine neunschüssige Mörderin wieder feierlichst aushändigte, fügte er auf meine Frage, ob die Schüsse nicht die ganze Umgebung alarmieren würden, geringschätzig hinzu: „Wir sind drei, Zinnore[6], und dein Hund zählt auch für drei, also sechs. Lasse ihn hier oben als Wache, wir wollen nach der Memiba sehen.“
„Nach wem?!“
Wir stiegen in das enge Tal hinab. Trasso blieb am Fuße des Berges zurück.
„Wer ist die Memiba?“
„Du wirst sie sehen, Zinnore.“
Memiba?! – Endlich fiel es mir ein. In Kairo hatte ich den Ausdruck gehört: Lingua Franca, aber halb aus Indien importiert und aus Mem Sahib gleich Frau verstümmelt.
Eine Frau befand sich also auch bei den Pferden …
Der Kabyle eilte voraus. Er schien sich um das Wohl und Wehe der Frau sehr zu sorgen.
Wir erreichten das Feuer. Der Körper des bei dem Feuerüberfall Erschossenen war nicht mehr da. Zarra war ratlos. Außerdem aber hatte Zarra, mochte er auch mit Löwen umzugehen wissen, vom Buschkrieg keine Ahnung. Er pflanzte sich in voller Größe als Zielscheibe neben dem Feuer auf und staunte. Das war alles, und das war verbrecherischer Leichtsinn in einer so schönen Gegend, wo die Gewehrkugeln gar nichts kosten.
Ich hielt mich im Schatten der Felswand und beobachtete den äußersten Talwinkel, der offenbar zu einem engen Passe sich wieder die Berglehne hinanzog.
Die acht ruppigen Gäule standen mit hängenden Dickschädeln stumpfsinnig da und taten gar nichts.
Zarra, der „Freitagslöwe“, schlackerte den beturbanten Kopf, hob seinen Karabiner auf und meinte leichtfertig: „Sie lebt, sie hat ihre Büchse mitgenommen … Der Zieble hole sie!! Selim Hullah hat sie mir aufgeladen!“
Zieble sollte wohl „Diable“, Teufel, heißen, und aufgeladen war wohl mit aufgehalst zu übersetzen. – Selim Hullah?! … Ein ungewisser Argwohn kam mir. Dann – – kam sie selbst, die Memiba … Frank und frei schritt sie im wehenden Burnus den von mir vermuteten Wildziegenpfad abwärts auf uns zu. Von ihrem grünen Seidenturban hing ihr eine Falte bis in die Augen. Und doch erkannte ich die hohe geschmeidige Gestalt und das bleiche Gesicht auf dem ersten Blick.
Es war Antoinette Brouville.
Mir blieb so etwas der Atem weg, ich trat vor und suchte nach einer passenden Begrüßung.
Sie machte mir die Sache leicht.
„Abelsen, holen Sie nun schleunigst die Lorenzens hierher“, sagte sie mit der gewohnten herrischen Kopfbewegung nach rückwärts. „Für die Lorenzens bin ich im übrigen Zarras Frau … Ich werde mein Gesicht verhüllen, und ich bin stumm. Sie verstehen mich. Beeilen Sie sich …“
Um jeden Zweifel bei mir zu beseitigen, daß sie etwa abermals ein undurchsichtiges Spiel treiben könnte, wies sie mir ein Papier vor von Selim Hullahs Hand, in dem Selim mich bat, die Frau mitzunehmen und zu schweigen.
Dagegen war nun nichts zu sagen.
Meine Gedanken glichen aufgescheuchten Ameisen, als ich zum Strand hinabkletterte. Trasso war als Wache droben geblieben. Ich konnte mir aus der ganzen Geschichte keinen vernünftigen Vers machen, und dies bedrückte mich. Vater und Tochter Lorenzen hatte die Schüsse gehört, wollten allerlei fragen, ich gab wenig und ungenügende Antwort, und eine Stunde darauf hatten wir das Tal am Pilzberg bereits hinter uns und folgten unserem Führer Zarra gen Südost, mitten hinein in das eigentliche Rifgebiet. Zarras tief verschleierte Gattin ritt als letzte und hatte die drei Packpferde an der Leine.
Es gab Überraschungen, – die erste: Sowohl Frau Antoinette, die jetzt „Stumme“, als auch die Lorenzens saßen tadellos im Sattel, und zweitens: Freund Zarra war doch kein so großer Grünspecht im Buschkrieg, wie ich anfänglich gefürchtet hatte. Mein schiefes Urteil über ihn war ja eigentlich auch schon durch seine sichere Hand im Schießen widerlegt. Und das Dritte und vielleicht wichtigste: Zarra teilte mir mit, daß Selim Hullah mit der gesamten Besatzung des versenkten Dampfers „Feuersand“ und der ganzen wertvollen Fracht einschließlich Ballonhülle zum Hauptquartier Abd el Krims unterwegs sei. – Der Dampfer hatte versenkt werden müssen, da nach dem ergebnislosen Angriff der feindlichen Rifleute ein spanisches Kanonenboot vor der Bucht an den Säulen des Herkules erschienen war. Der Abmarsch ins Innere hatte so beschleunigt erfolgen müssen, daß wir nicht mehr hatten benachrichtigt werden können, obwohl einige Späher der Rifleute unser Versteck auf der winzigen Insel ausgekundschaftet hatten.
Gerade diese Mitteilungen gaben mir sehr zu denken. Als ich Zarra Dhau fragte, ob etwa einer der Späher einen Zettel nach der Insel gebracht habe, bejahte er.
„Käpten Weber hat den Zettel geschrieben.“
Also war es Webers Handschrift gewesen und nicht die Edgar Ghosts.
Nun begriff ich so ungefähr, weshalb Ghost und der Aschantineger samt ihren Apparaten ihre Höhle preisgegeben hatten.
Auf meine weitere Frage an den intelligenten „Herrn der Löwen“ erhielt ich die erstaunte Antwort, von einem Engländer und einem grauköpfigen Schwarzen wüßte er nichts. „Trafst du denn mit diesen Leuten zusammen, Zinnore?“, fügte er etwas mißtrauisch hinzu und musterte mich dabei scharf von der Seite.
„Nur flüchtig, – sie verschwanden wieder“, redete ich mich vorsichtshalber heraus, denn ich hatte keinen Anlaß, die volle Wahrheit preiszugeben, weil ich sehr wohl fühlte, daß dieser kraftstrotzende Zarra mit so manchem zurückhielt.
Diese Unterredung fand etwa drei Stunden nach unserem Aufbruch aus dem engen Küstentale statt.
Um es hier nun sofort einzuflechten: Das Bergland Er Rif ist so etwa die schauerlichste Bergwildnis, die ich kenne. Gewiß, es fehlt nicht an Hochsteppen mit freundlichen Oasen, aber diese sind äußerst selten. Schon gegen Morgen erreichten wir nach raschem Ritt, bei dem jedes Dorf vorsichtig umgangen wurde, jene düstere und doch großartige Gebirgswelt, die die Heimat der sogenannten Bergstämme ist. Hier wurde Zarra noch vorsichtiger. Er führte uns durch endlose Eichen- und Zedernwälder auf kaum erkennbaren Pfaden zu einer flachen Bergkuppe, auf der die Ruine einer uralten Moschee zwischen gewaltigen Felstrümmern lag. Dünner Nebel und Regen hatten in dieser Höhe – ich schätzte auf 1500 Meter – unser behutsames Ersteigen der Kuppe begünstigt. Als die Sonne durchbrach, sah ich nach Osten und Westen je ein sehr ausgedehntes Tal mit zahlreichen Hütten und Herden. Zarra erklärte uns, daß in jedem Tale ein Stamm der Bergvölker hauste, die es mit den Spaniern hielten. Wir durften nicht einmal ein Feuer anbrennen und mußten Spirituskocher benutzen.
Bisher hatten sich die Lorenzens um die angeblich stumme Frau unseres Führers überhaupt nicht gekümmert, zumal Antoinette ihnen dauernd auswich.
Hier in der Ruine wäre es beinahe zu einer vorzeitigen Entdeckung des kleinen Betruges gekommen. Die „Memiba An Toi“ hatte sich einen der verstecktesten Nebenräume der ehemaligen Moschee als Unterkunft ausgewählt und blieb unsichtbar. Zarra und ich errichteten gerade in der Haupthalle für Inge Lorenzen ein Zelt, als mein herumstrolchender Trasso ein mörderisches Gebell und Geheul anstimmte.
Wir Männer stürzten über Balken, Steintrümmer und zerfallene Luftziegel dorthin, wo sich jetzt auch ein jämmerliches Kreischen vernehmen ließ. In dem halbdunklen Gelaß Frau Brouvilles fanden wir ein Bild vor, dessen Einzelheiten wir erst nach schärfstem Hinsehen entwirren konnten.
Am Boden lag die „Memiba An Toi“, das Gesicht nach unten, über ihr kauerte eine wahrhaft riesige Hyäne, und halb über dieser Hyäne stand mein Trasso, der sein furchtbares Gebiß tief in die Kehle der gefleckten Bestie vergraben hatte, so daß deren Blut in zwei fingerdicken Strahlen fontänengleich hervorschoß und gegen die rissige Wand sprudelte.
„Nicht schießen!“, warnte Zarra den übereifrigen Lorenzen, der bereits die Pistole herausgerissen hatte.
Die Warnung war überflüssig. Ich sprang zu, zwei gut sitzende Stiche, und ich riß die erledigte Bestie samt Trasso zurück, während Frau Antoinette mit einer Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, die ich ihr nie zugetraut hätte, ihren Gesichtsschleier eiligst in Ordnung brachte und sich dann erhob, als sei nichts Besonderes geschehen.
Trasso ließ von seinem Opfer ab. „Tragt den Kadaver hinaus!“, befahl ich Lorenzen und dem Kabylen. – Es war wirklich an der Zeit, daß hier ein anderer den Befehl übernahm. Zum Führer durch die Bergwildnis mochte Zarra Dhau sich vorzüglich eignen, – niemals zum Leiter unserer kleinen Karawane. Wenn ich mich bisher als stiller Beobachter zurückgehalten hatte, so lag das mehr an den ganzen ungeklärten Verhältnissen. Ich war mit Recht verletzt darüber, daß Selim Hullah mich durch Zarra nur zum kleinsten Teil in seine Absichten eingeweiht hatte. Daß dem so war, wußte ich.
Die beiden Männer gehorchten. Frau Antoinette, deren Nackentuch die Bisse der Hyäne abgefangen hatte, war nur ganz leicht verletzt. Trotzdem hatte der Angriff der Bestie (es war übrigens ein weibliches Tier gewesen) das eine bewirkt: Die unbegreifliche Frau, deren große Märchenaugen wieder einmal weit geöffnet waren, bequemte sich angesichts meiner unmißverständlichen Haltung und schroffen Fragen zu einem Teilgeständnis.
Es waren nur wenige Sätze, halb geflüstert, und doch erschütterte mich der Ton, in dem sie die Worte aus gequältem Herzen hervorstieß.
„Abelsen, – ich habe einst eine schwere Schuld auf mich geladen …! Ich heiratete Brouville als Witwer … Es war ein Kind da, das mir unbequem wurde … Die Reue kam zu spät, – ich wagte innerlich viel, als ich das Unrecht wieder gut machen wollte … Jasper Lorenzen half mir … und verlor sein Kapitänspatent. Ich habe Selim Hullah die Wahrheit gestanden, und er hatte Mitleid mit mir … Deshalb sind wir unterwegs zum Werga-Fluß, wo der neue Kriegsschauplatz mir die Hoffnung gibt, mit Ihrer Hilfe das Geschehene zu sühnen …“
Sie hatte sich auf einen Mauerklotz, der sich aus der geborstenen Südwand gelöst hatte, niedergelassen und schaute frei und offen zu mir empor.
Ihre Andeutungen blieben mir halb unverständlich. Gewiß, eine unklare Vermutung stieg wohl in mir auf, als sie ihr Stiefkind erwähnte, doch es blieb Vermutung und war zunächst auch belanglos.
Der halbdunkle Raum mit der blutbespritzten Wand war wie geschaffen für eine kurze Aussprache dieser Art.
Ich wollte alle Rücksichten fallen lassen.
„Frau Brouville, Sie lieben Kapitän Weber, und Inge Lorenzen stand Ihnen im Wege“, sagte ich mitleidslos. „Die letzten Vorfälle auf dem „Feuersand“ haben mir die Augen geöffnet. Der Ballon sollte uns drei in den Tod schicken. Das war es!“
Ihr Blick wich dem meinen nicht aus.
„Abelsen, die Hoffnung hatte ich längst begraben … Es ist die Wahrheit. Mein Tun mag undurchsichtig gewesen sein, mag an böse Intrigen erinnert haben: Mein Gewissen ist in dieser Beziehung rein, völlig rein! Abelsen, – – es ging mir um Ihre Person …!! Nur Sie können mir helfen. Ich weiß genug von Ihnen, – – ich brauche Sie notwendigst, um meinen Seelenfrieden zurückzugewinnen. Was ich tat, tat ich, um Sie zu zwingen, diese abenteuerliche Fahrt mitzumachen und mir Ihre Unterstützung zu leihen. Glauben Sie mir! Glauben Sie einer alternden Frau, die auf Fritz Weber verzichtet hat – – unter schwersten Seelenkämpfen!“
Das war nicht mehr die Sprache einer heimtückischen Gegnerin, das war so offenkundig ein Hilfeschrei aus einem zerrissenen Herzen, daß ich die mir hingestreckte Hand ohne Zaudern ergriff.
Ich wollte ein begütigendes, tröstendes Wort finden, denn diese wimperumschatteten Nixenaugen hatten sich mit großen Tränen gefüllt.
Ein Geräusch da aus der gestrüppumwucherten Mauerlücke, ein schrilles, kampflustiges Aufheulen Trassos, den ich an die Leine genommen hatte …
Er schnellte vorwärts, – in dem Mauerloch waren eine zweite Hyäne und zwei ganz junge Tiere aufgetaucht, – die Wucht des Sprunges meines Wolfsbastardes riß mich mit, Trasso hatte die häßliche Bestie bereits gepackt, zerrte sie mit ungeheurer Kraft näher heran, und blitzschnell stieß ich abermals mit dem Jagdmesser zu, während Frau Antoinette, scharfe, unerbittliche Falten um den Mund, mit zwei Steinen erbarmungslos die Hyänenjungen niederschlug.
Das Rätsel, weshalb die als feige verschrienen Aasfresser mit den widerwärtig heimtückischen Gesichtern sich hierher gewagt hatten, war gelöst. Ich trat durch das Mauerloch in einen halb eingestürzten Anbau der Moschee, der völlig von Dornen überwuchert war. Hier in einer Ecke hatte die Hyänenmutter ihre Wochenstube eingerichtet gehabt, – eine grausige Stätte, nichts für Schwachnervige … Menschenknochen lagen umher, benagte Menschenschädel, – – ich konnte mir denken, woher sie stammten, Zarra hatte ja betont, daß die beiden Bergstämme, die in den großen Tälern neben dem Bergmassiv hausten, in blutiger Fehde miteinander lebten und doch auch erkaufte Gegner Abd el Krims seien …
Ich wandte mich schaudernd ab. Der Gestank dieses versteckten Loches schnürte mir die Kehle zu.
Zarra, der blonde Kabyle – es gibt ja so viele blondhaarige Leute unter den Rifstämmen als Erinnerung an germanische Eroberer – war verständig genug, nunmehr mir das Kommando zu überlassen.
Meine Hauptsorge galt unserer Sicherheit während des Tages. Ich hatte mich sofort ins Freie begeben und lag geschützt zwischen jungen Zedern mit dem Fernglas in der Hand dicht am westlichen Abhang. Meine Furcht, daß der Lärm des Kampfes mit den Bestien gehört worden sein könnte, war überflüssig. Auch im östlichen Tale gingen die Dorfbewohner ruhig ihrer Beschäftigung nach. Ich erblickte an den Talausgängen allerdings Verhaue und bewaffnete Posten, aber die Leute schienen der Ruine hier oben keinerlei Beachtung zu schenken.
So konnte ich denn zum ersten Male zwei Dauersiedlungen der Kabylen in aller Gemächlichkeit in Augenschein nehmen. Die Bergstämme, die in noch höheren Tälern des Kleinen Atlas hausen, sind weniger seßhaft und Nomaden geblieben, die im Sommer in Zelten, im Winter in Hütten aus Luftziegeln oder Stein wohnen.
Sie alle, ob seßhaft oder Nomaden, bebauen stets nur die Nordseiten der Berge, wo es auf Terrassen immer einige fruchtbare Stellen gibt. Nur die Nordseite bietet Schutz vor übermäßiger Hitze und einige Feuchtigkeit. Die Berbervölker des Rif sind fleißig, ringen dem Felsboden mit zäher Ausdauer Früchte ab, kultivieren Oliven, Feigen, Mandeln, Quitten, Nüsse, Zitronen und Wein, Flachs und Zwiebeln, nur die Getreidearten gedeihen nicht recht, die Weizen- und Gerstenfelder sind kümmerlich, und das Rif ist daher auf Getreideeinfuhr angewiesen. Auch mit der Viehzucht erreichen sie nicht viel, die Hochsteppen tragen zumeist dürre Gräser, darunter besonders Halfagras. Ziegen und Maultiere als genügsamste Haustiere gedeihen am besten, dazu Schafe, ein paar Pferde, – Rinder fehlen so gut wie ganz.
Zum Glück ist der Berber des Rif von jeher äußerst anspruchslos, an Strapazen gewöhnt und, nochmals betont, fleißig. Er betrachtet seine Frau oder seine Frauen nicht als Arbeitstiere, er achtet sie, er liebt seine Kinder, er ist in gewissem Sinne bildungshungrig, nur einen Fehler hat er, der zunächst schwer begreiflich erscheint: Er ist fremden Einflüssen leicht zugänglich, ist bestechlich, schwankend in den Hauptzügen seines Charakters. – Der Grund? Die Marokkaner, Berber oder Rifkabylen, wie man sie nennen will, sind ein Mischvolk aus reinblütigen Arabern mit viel Bluteinschlag von Negern und auch germanischen Eroberervölkern. Hinzu kommt die Dürftigkeit des Rif, das keine eigene Getreidekammer besitzt, und mit daher auch die Sucht nach leichterem Verdienst, nach Geld, nach Bequemlichkeiten des Lebens. Um so höher muß das Verdienst Abd el Krims bewertet werden, denn es gelang, wenigstens den weitaus größten Teil der Rifstämme zu einigen, – – so lange ihm das Waffenglück hold blieb und er seine kleine Armee reich bezahlen konnte. Was später eintrat, das war nicht seine Schuld. –
Ich kehrte in die Ruine zurück, in deren Haupthalle nun auch ein zweites Zelt für die „stumme“ Memiba An Toi errichtet worden war.
Zarra, Lorenzen und Inge nahmen gemeinsam das bescheidene Mahl ein. Frau Antoinette blieb unsichtbar. Der Tag verging, und als die Schatten der Nacht das wilde Gebirge deckten, brachen wir wieder auf.
Bis zum Werga-Fluß hatten wir in der Luftlinie nur etwa 58 Kilometer zu durchqueren. Wir benötigten für diese Strecke volle vier Tage, da Freund Zarra auf keinen Fall während der Tageshelle unsere sorgfältig ausgewählten Verstecke verlassen wollte, selbst wenn wir in der Nähe von Dörfern lagerten, die Abd el Krim treu ergeben waren. Diese vier Tage, es waren eigentlich mehr vier Nächte, verschafften mir eine gründliche Kenntnis der Berge, der von uns berührten Siedlungen und der Lebensweise der Bewohner. Wiederholt hatte ich mich dicht an die Ortschaften herangeschlichen, mein unruhiges Blut ertrug die farblose Eintönigkeit dieses heimlichen Marsches nur sehr schwer, selbst während der Nächte ereignete sich nichts von Bedeutung, und als wir im Morgengrauen des fünften Tages einen weit in das breite Werga-Tal vorgeschobenen Gebirgsrücken erreicht hatten, dessen trostlose Kahlheit in schreiendem Gegensatz zu der grünen Ebene tief unter uns stand, als wir dann einen flachen Talkessel hoch droben zwischen den südlichsten Ausläufern des Dschebel[7] Tafir als nunmehrigen Dauerlagerplatz für unsere Zwecke hergerichtet hatten, als die Sonne heiß herniederbrannte und all die bizarren Schönheiten dieses wundervollen Flußtales enthüllte und grell beleuchtete, konnte ich Freund Zarra nur stumm und anerkennend die Hand drücken: Dieser Platz hier war für unsere Zwecke vorzüglich geeignet, er besaß außer einer Quelle und einer schattenspendenden Felswand den großen Vorteil, daß man auf Schleichpfaden in einer knappen Stunde mitten hinein in die bebaute, dicht besiedelte Flußebene gelangen konnte, in der es mit Hilfe des Glases so unendlich viel zu sehen gab, daß es vergebliche Liebesmühe wäre, dieses Landschaftsgemälde irgendwie schildern zu wollen.
Die Zelte für Frau Brouville, deren wahre Persönlichkeit den beiden Lorenzens noch jetzt unbekannt und für die scheue, wortkarge Inge waren aufgestellt worden, die Frauen hatten sich zurückgezogen, und wir drei Männer saßen rauchend beieinander und schwiegen uns aus. – Wir warteten … Vorhin hatte Zarra uns mitgeteilt, daß wir in kurzem zu einem Besuch aufbrechen würden. Er lächelte dazu, und dieses Lächeln verhieß sehr viel.
Zarra besaß eine kostbare flache goldene Uhr, die er nun wiederholt hervorzog. Woher sie stammte, konnte ich mir denken. Sie stammte von den Schlachtfeldern, also aus derselben blutigen, unerschöpflichen Quelle, der Abd el Krim seine Autos, Lastautos, Geschütze, Maschinengewehre und vieles andere verdankte: Beutestücke!
„Acht Uhr!“, sagte der junge Kabyle. „Es wird Zeit … Begleite mich, Zinnore Abelsen.“
Lorenzen, der sich durchgeritten und vorhin mit Hammeltalg seine diskretesten Körperstellen hinter Felsstücken eingerieben hatte, protestierte nicht weiter dagegen, daß er zurückbleiben mußte. Zarra, ich und Trasso schlichen zu Fuß gen Norden, jedoch nicht auf dem ungebahnten Pfade, den wir gekommen waren.
Zarra tat äußerst geheimnisvoll. Wir trugen beide braune Mäntel oder besser Umhänge und dunkle Turbane, und die Höhenluft hatte mein ohnedies schon sonngebräuntes Gesicht und die Hände und die Unterarme in tiefe Mahagonifarbe verwandelt. Wer mich sah, mußte mich für einen Berber halten.
Der Kabyle führte mich an Abgründen entlang bis zu einer Schlucht, vor der ein Berber Wache hielt. Der Mann ließ uns ohne weiteres passieren. Der enge Schluchteingang erweiterte sich, und wir hatten ein größeres Zeltlager vor uns. Der erste Mann, den ich erkannte, war Käpten Weber. Er stutzte, eilte uns entgegen, drückte mir die Hände und wollte mich mit Fragen überschütten. Zarra duldete es nicht.
„Zinnore Weber, wir haben keine Zeit, – – nachher vielleicht“, – und er packte mich am Ärmel und steuerte auf ein einzelnes Zelt zu, vor dem vier Kabylen, Gewehr im Arm, auf und ab schritten. Neben dem Zelt stand ein kleines Panzerauto, und hinter dem Zelt schien ein Paß nach Norden in die Berge zu münden.
Plötzlich tauchte aus dem großen Zelte ein alter Bekannter auf: Selim Hullah!
Auch er reichte mir die Hand, Zarra blieb draußen, und Selim schlug den Zeltvorhang empor.
Einsam saß da vor einem Klapptisch, der mit Karten und Schriftstücken bedeckt war, ein mittelgroßer Berber mit kurzem, dünnem Bart und seltsam verkniffenen, mißtrauischen und doch schalkhaften Augen.
Selim stellte mich vor.
Der Mann am Tisch, der mir hoheitsvoll zunickte, war der ebenso gefürchtete wie weidlich gehaßte Abd el Krim.
Ich nahm auf einem Feldstuhl Platz, Selim spielte den Dolmetscher, und der Herr des Rif eröffnete die kurze Unterhaltung mit der knappen Frage:
„Beherrschen Sie das Französische vollkommen?!“
Ich bejahte. Ich fühlte mich unter den stechenden Blicken Abd el Krims unbehaglich. Erst später begriff ich, weshalb er Europäern gegenüber so sehr mißtrauisch blieb. – Er war jedenfalls ein Mensch ohne jede große Pose, aber man spürte, daß dieser Mann berufen war, in die Geschicke eines Volkes einzugreifen.
Seine nächsten Fragen will ich, da sie rein politische Dinge streiften, übergehen. Schließlich bat er mich um etwas ganz Bestimmtes.
Ich lehnte ab.
„Kaid“, sagte ich, „mein Leben gehört mir allein. Zum Spion eigne ich mich nicht.“
Er blickte mich scharf an, sprach etwas zu Selim im Berberdialekt und machte eine entlassende Handbewegung.
Wir verließen das Zelt. Es war dies meine einzige Begegnung mit Abd el Krim. Draußen erwartete mich Weber mit einem Teil der Besatzung des „Feuersand“, es kam jedoch zu keiner längeren Unterredung, ich erfuhr nun, daß die ganze Besatzung hier gleichsam interniert sei, dann forderte mich Zarra etwas schroff auf, ihm zu folgen, Selim Hullah verabschiedete sich überhaupt nicht von mir, und ich merkte deutlich, daß auch Zarra Dhau jetzt gegen mich eingenommen war. Nach einer Stunde erreichten wir unseren Lagerplatz, und todmüde streckte ich mich neben den fest schlafenden Lorenzen auf die Wolldecken und schlummerte auch sofort ein, ohne mir über diese mißglückte Audienz bei Abd el Krim viel Gedanken zu machen. Zarra war noch nach den Pferden sehen gegangen, die abseits in einer kühlen schattigen Felsspalte untergebracht waren.
Als ich gegen zwei Uhr nachmittags völlig frisch erwachte, fehlte das eine Zelt, und Zarra erklärte mir kühl, daß die Lorenzens nach dem anderen Lagerplatz in der Schlucht gebracht worden seien.
Zarra hatte den feindseligen, eisigen Ton beibehalten.
„Die Memiba An Toi erwartet dich, – – geh!“, fügte er kalt hinzu und deutete auf das einsame kleine Zelt.
Trasso lag noch neben mir. Und gerade er hatte eine sehr feine Witterung dafür, ob jemand es mit mir gut meinte. Noch nie hatte er Zarra angeknurrt, jetzt tat er es. Ich fühlte, ich hatte bei den Herren Rifkabylen verspielt. Mir war das herzlich gleichgültig. Wenn Zarra unangenehm werden sollte, – – ich hatte ja ein Pferd und Waffen und Munition und meinen Trasso … Und das Rif ist so dünn bevölkert, daß ich den hätte sehen wollen, der mich finge.
Der Zelteingang Frau Brouvilles lag nach einer Felsspalte zu, die eine natürliche Zisterne enthielt. Antoinette saß dort neben dem Wasserloch und rauchte gedankenverloren eine Zigarette. Sie schaute kaum auf, als ich zu ihr trat, und der flüchtige Blick, der mich streifte, war genau so unfreundlich und kalt wie die Augen Zarra Dhaus, des „Herrn der Löwen“.
„Sie wollten mich sprechen, Frau Brouville?“
„Es dürfte wenig Zweck haben, Herr Abelsen … Immerhin … Ich bat schon einmal um Ihre Hilfe, wenigstens deutete ich dies an. Ich habe mich doch wohl in Ihnen getäuscht …“
Eine eigentümlich ergreifende Mutlosigkeit lagen in ihrer schlaffen Körperhaltung und dem Ton ihrer Stimme. Sie hatte mich zweifellos durch ihre letzte Bemerkung über meine scheinbare Unzulänglichkeit nicht kränken wollen.
„Ich weiß sehr wohl“, fügte sie nach kurzer Pause hinzu, „daß Sie Ihre Daseinsführung nach eigenen Grundsätzen geregelt haben. Sie lieben die Welt nicht, nicht jene Welt der inneren Fäulnis und äußeren Aufgeplustertheit, Sie lieben das Abseits, wie Sie es verstehen … Trotzdem will ich Sie mit wenigen Worten mit meiner Gewissenspein bekannt machen. Als ich den Reeder Brouville heiratete, hatte er einen Sohn aus erster Ehe von bereits neunzehn Jahren. Dieser Leon Brouville … haßte mich, und ich haßte ihn. Er war Lebemann, jung, verwöhnt, verderbt, er war Spieler und Nichtstuer, er verbrauchte ungeheure Summen. Ich fühlte seinen Haß, dennoch wartete ich vier Jahre, bevor ich meinem Mann die Augen über diesen haltlosen, charakterlosen Menschen öffnete. Es kam zu einer sehr erregten Auseinandersetzung, die meinen Mann auf das Krankenlager warf. Leon verschwand, mein Gatte starb, und erst vor drei Jahren erfuhr ich, daß Leon sich für die Fremdenlegion hatte anwerben lassen. Inzwischen hatte ich doch gelernt, seine Jugendstreiche milder zu beurteilen, ich suchte Leon loszukaufen, ich tat sogar noch weit ernstere Schritte, ihm die Freiheit zurückzuverschaffen.“
Bisher hatte ich an mich gehalten. Eine schwache Vermutung sollte nun Gewißheit werden.
„Eine Frage, Frau Brouville … Wie alt ist dieser Leon heute? Hat er etwa rötlich-blondes Haar und ebensolche Augenbrauen?“
„Er ist heute achtundzwanzig“, erwiderte sie genau so gleichgültig und verzagt. „Nein, – sein Haar war schwarz, ebenso seine Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Südfranzose aus, genau wie sein Vater … Übrigens ist das alles ohne Belang gegenüber der Tatsache, daß Leon sicheren Nachrichten zufolge zur Zeit keine drei Meilen von hier entfernt ist. Sie wissen, wir befinden uns hier dicht an der Einmündung des Werga-Flusses in dem Hauptstrom, den Sebu-Fluß, und jenseits des Sebu liegt im Dorfe Sebutu eine Legionärkompagnie. Abd el Krims Spione haben das festgestellt. Leider sind diese Spione unlängst abgefaßt und erschossen worden. Die Lage ist nun die, daß auch Frankreich in den Kampf gegen die Rifleute eingreifen wird …“ Urplötzlich richtete sie sich straffer auf. „Leon darf nicht sterben, Herr Abelsen! Leon muß entfliehen … Und da ich auf Ihre Hilfe nicht mehr rechnen kann …“
Ich ließ sie nicht aussprechen.
„Jetzt dürfen Sie auf meine Hilfe rechnen …! Bestimmt! – Jeder Dank erübrigt sich. Wir wollen nicht Zeit verlieren. Worte sind leichte Ware. Nur die Tat hat Gewicht. Können Sie mir irgendwelche Fingerzeige geben, wie ich …“
„Nein. Nur Zarra weiß Genaueres. Wir wollen ihn fragen.“
Argwohn erwachte jäh. – Zarra fragen?! Konnte das Ganze nicht ein fein ausgeklügelter Trick sein, mich in die Rolle eines Spions hineinzuzwingen?!
Aber – konnte eine Frau so heucheln, so, bis zu Tränen der Dankbarkeit?!
Antoinette, in diesem Zustand höchster seelischer Erregung mit jenen fast hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet, die man gerade bei Frauen so oft antrifft, spürte mein Mißtrauen.
„Bei Gott, Abelsen, – ich habe in nichts gelogen oder etwas verheimlicht oder die Wahrheit verdreht! Es wäre entsetzlich, wenn Sie mich nur deshalb im Stiche ließen, weil vielleicht Abd el Krim Ihnen gewisse Vorschläge unterbreitet hat, deren Annahme durch Sie sich mit meinen Interessen gedeckt hätten …!“
„Ich glaube Ihnen, Frau Brouville … Sehen wir, wie Zarra sich benimmt. Dieser seltsame „Herr der Löwen“ scheint ein Diplomat vom Schlage Selim Hullahs zu sein, – für jeden Diplomaten wäre das eine Schmeichelei.“
Zarra Dhau saß im Schatten der überhängenden Felswand, rauchte Pfeife und spielte den Gleichgültigen und Unbeteiligten.
„Du irrst, Zinnore Abelsen“, sagte er nun. „Was du dort nach Süden zu für eine Krümmung der Werga hältst, ist bereits der Sebu-Fluß, der sich wenige hundert Meter weiter noch seenartig verbreitert. Allah sei mit dir. Auf deinen Hund werde ich achtgeben. Das Dorf Sebutu erkennst du an dem Wachtturm, den die Franzosen errichtet haben.“
Immerhin hatte er sich herbeigelassen, mir einige Ratschläge zu geben. – Ich wurde aus seinem Benehmen nicht recht klug. Im ersten Augenblick erschien es mir unsinnig, daß ich jetzt bereits um die sechste Nachmittagsstunde in die dicht besiedelte Flußniederung mich hinabwagen sollte.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als ein buckliger, schmieriger Berber mit zerfetztem Burnus und rotem Kopftuch, auf das vorn ein aus weißer Leinwand geschnittener seltsamer Buchstabe unsauber aufgenäht war, mühsam an seinem langen Stecken die letzten östlichen Abhänge des Dschebel Tafir hinabstieg und immer häufiger unter der schweren Last des gefüllten Tragkorbes auf seinem gekrümmten Rücken halt machte, ausruhte und mit seinem einen Auge – das andere trug ein unschönes Pflaster – teilnahmslos die Umgebung überschaute.
Sein Turban verriet, daß er ein Marabut aus dem fernen mohammedanischen Kloster El Kebir war, also eine Art Mönch oder frommer Einsiedler.
El Kebirs Ruf als heilige Stätte reichte bis nach Arabien hin. El Kebirs uralte Bücher der Weisheit und frommen Reliquien waren in der ganzen mohammedanischen Welt bekannt. Der Berg El Kebir war geweihter Boden und glich einem zerklüfteten Kegel, in den riesige Steinbohrer tiefe Löcher gegraben hatten. In diesen Löchern hausten die Heiligen, jeder für sich, jeder dem anderen ausweichend, verpflichtet zu ewigem Schweigen und einzig und allein zum Gehorsam gegenüber dem Mullah, dem Obersten der Marabuts.
Fürwahr, das mußte eine Mönchskolonie sein, die nicht ihresgleichen hatte. Schon auf dem Herritt hatte Zarra mir davon erzählt.
Nun hatte er mich selbst als El Kebir-Marabut herausgeputzt. Wenn ein argwöhnischer Kabyle freilich meinen Tragkorb durchsucht hätte, wäre ich aufgeknüpft oder erschossen worden. Niemand dachte daran. Leute, die von den Terrassenfeldern ins Tal stiegen, grüßten mich höflich, und Kinder, sonst so neugierig, hielten sich fern. Trotzdem wußte ich genau, was ich riskierte.
Ich wanderte weiter, ein Dorf lag da mitten in den fruchtbaren, bunten und frohen Flußgefilden, – in den Dorfgassen stank es, – es stinkt in jedem Berberdorfe, und ich erreichte das Wergaufer an einer buschreichen Stelle, wo die verlassene, zerbröckelte Schlammziegelhütte eines Fischers stand, der vielleicht beim Fischfang ertrunken war, als ihn die jähen, unberechenbaren Wassermassen der Bergbäche nach einem Gewitter beim Bergen der Netze überrascht hatten.
Es ertrinken viele in der Werga. Der Fluß hat zahllose Fische, und auch die wollen leben. So sagte Zarra Dhau. Er weiß alles, der Herr der Löwen. Nur ich weiß nicht, woher und weshalb er diesen Namen hat. Es gab einst im Atlas-Gebirge[8] Löwen, aber jetzt gibt es nur noch deren Felle in den Häusern der Kaids, der Stammeshäuptlinge. Zarra selbst überhörte diese Frage. In dieser Hinsicht sind die Berber groß: Was ihnen peinlich ist, erreicht nicht ihr Ohr.
Neben der verfallenen Hütte lagen im Wasser große, bemooste Felsblöcke, und in der klaren Flut schossen große Fische hin und her.
Das Leben im Abseits beschert uns alles. Ich war nun ein Marabut geworden, ein Heiliger. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ein Heiliger, der steckbrieflich gesucht wurde. Ich blamierte den ganzen Marabut-Orden, aber die Blamage würde geheim bleiben, da es hier keine Polizeipaläste mit großen Wandtafeln und angehefteten Steckbriefen gab. Nein, der Marabut Abelsen benahm sich durchaus zunftgemäß, stellte seinen Tragkorb bei Seite, befestigte die vorhin im Dorfe erbettelte Angelschnur an einer Rute und hatte in kurzem drei große, lachsähnliche Fische gefangen, zündete ein Feuer an, briet die Fische, grüßte fromm die vorüberkommenden Bootsinsassen, die ihm ihren frommen Spruch zuriefen, und blieb im übrigen ganz unbelästigt.
Marabut ist eine hervorragende Kundschafterverkleidung.
Die Sonne sank, ich war satt, packte die beiden übrig gebliebenen Fische in große Blätter und verrichtete dann die vorgeschriebenen Gebete. Das heißt, – gebetet habe ich damals nicht, sondern geflucht, denn droben auf der Uferhöhe standen zwei Leute in sehr patenter Uniform, Reitstöcke unter den Arm geklemmt, Zigaretten im Munde, und beobachteten mich.
Feinde …!
Mir war etwa so zumute wie einem Gauner, neben dem in einer Destille zwei Kriminalbeamte sitzen, und der nicht recht weiß, ob er bereits erkannt worden ist.
Ich betete, vollzog die vorgeschriebenen Waschungen, verneigte mich gegen Mekka hin und dachte im stillen, ob ich die beiden Gentlemen, falls sie zudringlich würden, wohl rechtzeitig … – – und so …!!, – – ich will dies nicht näher ausführen.
Zweifellos trauten die Offiziere mir nicht. Es waren Offiziere, und das Sebutal und ein Teil der Werga-Stämme hatten bereits Abd el Krim den Gehorsam gekündigt, auch das wußte ich. Daß jedoch bereits europäische Truppen hier lagen, war mir neu.
Ich packte meinen kleinen, feinen Gebetteppich wieder in den Tragkorb und setzte mich und ließ die Perlen des mohammedanischen Rosenkranzes durch meine Finger gleiten und fluchte heimlich weiter und wünschte die Dunkelheit herbei.
Die Hütte stand zehn Meter weiter, und wieder zehn Meter weiter standen die beiden und berieten im Flüsterton, ob sie mich mitnehmen sollten. Der eine war klein, hager, grauhaarig, der andere ganz jung. – In Gedanken sah ich mich bereits vor sechs Gewehrmündungen stehen …
Nun, ganz so weit war es noch nicht.
Aber für meine Kundschaftertätigkeit war es ein miserabler Anfang.
Die Sonne hinterließ nur schwaches Abendrot, Wolken zogen auf, die Dämmerung brach herein, und das farbenfrohe Landschaftsbild wurde düster und trübselig.
Also doch!! – Die beiden Gentlemen waren zu dem Entschluß gelangt, mich gründlicher in Augenschein zu nehmen. Sie stiegen die Uferwand herab, und ich schielte schnell ringsum, ob noch jemand in der Nähe sei.
Keine Seele … –
Ich betete weiter.
Ich fluchte nicht mehr, nein, ich wußte, was einzig und allein die gewisse Prozedur mit den sechs Flintenläufen vereiteln könnte.
Nun standen die Herren neben der Hütte, und neben der Ruine wieder wuchsen zwei Feigenbäume, der eine vor der Tür, der andere zwanzig Meter weiter nach Norden zu.
Ich blickte nicht auf … Mein fromm geneigter Kopf und der Turban erlaubten mir, die beiden dennoch im Auge zu behalten. Der Kleinere untersuchte jetzt die Baumrinde, der Jüngere trat tief gebückt in die Hütte, in der nur die Reste eines zerbrochenen Fischerbootes lagen.
Dann – meine Rechte ballte sich – war der Kleinere mit drei langen Sätzen vor mir. Er hatte die Pistole gezogen.
„Stehen Sie auf!“, befahl er schroff. „Sie sind der englische Zeitungskorrespondent Edgar Ghost[9] … Dort zwischen den Bäumen hängt Ihre Antenne … Ich verhafte Sie!“
Als Marabut genoß ich das Vorrecht, taubstumm zu sein.
Mochte er nur brüllen …
Es wurde immer dunkler …
Außerdem hatte der Mann, der schließlich nur seine Pflicht tat, auch alle Ursache, seine Aufmerksamkeit schleunigst anderen Dingen zuzuwenden. Im Nordteile des Tales, wo die Bergkuppen bereits von dem tief hängenden schwarzen Gewölk verhüllt waren, erhob sich plötzlich ein wildes Geknatter, verwischt mit dem dröhnenden Knall von Kanonenschüssen und dem Krachen explodierender Handgranaten. Sehr bald setzte auch tollstes Maschinengewehrfeuer ein, – der Wind kam von Nordost, trug uns den Schall zu, und was wir hörten, ging weit über die Schießerei eines Vorpostengeplänkels hinaus, – – das war zweifellos ein Großangriff, und die Anwesenheit Abd el Krims in der Schlucht des Dschebel Tafir ließ mich vermuten, daß sein überraschender Ansturm den ungetreu gewordenen Bergvölkern galt, die sich irgendwo verschanzt haben mochten.
Der kleine Offizier mit dem grauen Knebelbart hatte horchend die Pistole sinken lassen. Es war bereits so dunkel geworden, daß ich drüben an den Bergabhängen das Mündungsfeuer der Geschütze erkannte und sogar ein paar Brandgranaten verfolgen konnte, die im Moment irgendwo ein paar Getreideschober entzündeten.
Mein Gegner (den Umständen nach war er es ja) blieb immerhin so vorsichtig, seine Pistole, wenn auch gesenkt, schußfertig zu halten.
Er brauchte nur den Drücker zu berühren, und der Knall des Schusses, mochte die Kugel auch ins Leere gehen, mußte Unheil anstiften, es konnten im Dorfe versteckt noch mehr Truppen liegen, und meine Sicherheit hing einzig und allein von der Lautlosigkeit meines Vorgehens ab.
Kundschafter an der Werga!! Und dies mein erstes Zusammentreffen mit dem Feinde, der nicht mein Feind war, der sicherlich als Soldat seinen Mann stand, nur …
… Blitzschnell fuhren meine zwei Finger in den Abzugsbügel hinter den Abzug, während meine Linke schräg aufwärtsschoß …
Es gab einen dumpfen Schlag, und der Mann sackte zusammen.
Seine Pistole abzudrücken, war ihm nicht mehr möglich gewesen. Ich fing ihn auf, legte ihn säuberlich hinter meinen umgekippten Tragkorb und wartete auf den Jüngeren, der merkwürdigerweise die jämmerliche Hütte für ein Völkermuseum zu halten schien, denn er blieb noch immer in dem stickigen Loche, obwohl der Lärm des immer lebhafter werdenden Gefechtes ihn längst hätte ins Freie locken müssen.
Hätte … müssen …! – Armer Jüngling, vielleicht warst du ganz frisch aus dem übermondänen Paris importiert worden, vielleicht gehörtest du zu einem der großen Truppentransporte der letzten Zeit, – – 60 000 Mann hatte Frankreich an die südliche Riffront geworfen, um … die Staatsautorität zu wahren! – Wer lacht da?!
60 000 Mann, und Abd el Krim hatte nie über mehr als 15 000 Kämpfer verfügt, nie …! Dabei waren diese jetzt auf zwei Frontabschnitte verteilt worden.
Nein, der patente junge Herr zeigte sich nicht mehr. Den Grund kannte ich. Wenn wirklich zwischen den beiden Feigenbäumen ein Antenne gespannt war – sie mußte sehr, sehr dünn sein und jedenfalls nicht blank, sondern schwarz –, dann steckten in der Luftziegelruine dort ganz bestimmt zwei Leutchen, die sich vor Tagen von mir mit polnischem Abschied getrennt hatten. – Polnisch sich verabschieden, das sei für Ignoranten gesagt, heißt: Davonschleichen, und wenn möglich silberne Löffel mitnehmen! Als Gewährsmann sei der ganz unverdächtige Heinrich Heine genannt.
Wahrscheinlich dürfte Pieters enorme Faust dem Vöglein die Klarinette zugedrückt haben, – und es war so!
Ich hatte mich schnell erhoben, war bis zur Tür geschlüpft …
„Hallo, Ghost, – – sind Sie hier?!“
In dem elenden Ruinenloch war nichts mehr zu sehen. Aber das kollernde Lachen, das hinter den Trümmern des Bootes ertönte, kannte ich.
Pieter erschien, Ghost erschien …
Pardon, das könnte zu Irrtümern führen. Es waren weder der Aschanti noch Ghost, sondern zwei leibhaftige Kollegen von mir …
Auch rotbeturbante Marabuts vom heiligen Berge El Kebir.
Und diese drei Heiligen stierten sich im Halbdunkel an, krümmten sich vor Vergnügen zusammen und lachten … lachten …!! Als Begleitmusik donnerten die Geschütze und rasselten die Maschinengewehre.
Edgar Ghost preßte mir dann zur Begrüßung die Finger zusammen, als ob ich Götz von Berlichingens eiserne Ersatzhand besäße. Auch eine seiner ersten Redewendungen, die den Gegnern galten, erinnerte stark an denselben Götz von Berlichingen, und seine Freude über dieses Wiedersehen in diesem Kostüm war ebenso ehrlich wie seine Anerkennung für meinen Trick, mit dem ich dem kleinen Herrn mit dem Knebelbart das Abdrücken der Pistole unmöglich gemacht hatte. Pieter war derweil zu meinem Tragkorb geeilt und hatte den durch den unzarten Fausthieb Betäubten gefesselt und ihm die Augen verbunden. Der jüngere, patente Herr lag in der Hütte in ähnlicher Verfassung, und Ghost betonte wiederholt, daß er der Weiterentwicklung der Dinge mit größter Ruhe entgegensehe, da Abd el Krim zweifellos den Feind über den Sebu-Fluß zurückwerfen würde.
Es regnete leicht. Das Gewölk war noch dichter geworden. Wir lauschten dem immer mehr anwachsenden wilden Lärm des Gefechts, wir sahen durch die Brandgranaten zwei Uferdörfer in Flammen aufgehen, aber Ghost war ein schlechter Prophet gewesen: Die Leute Abd el Krims wichen zurück, und das Geknatter der Schüsse zog sich in die Täler und Schluchten des Dschebel Tafir[10] hinab.
„Pech!“, sagte Ghost kaltschnäuzig. „Räumen wir diesen Platz … In kurzem wird der Sebu und die Werga von feindlichen Booten wimmeln … – Pieter, hole unseren Nachen … Dann hinein mit den Apparaten …! Ein Jammer, daß wir dieses Versteck preisgeben müssen … Natürlich hat man unsere Funkzeichen abgehört und wollte die geheime Station ermitteln …“
Der Aschanti verschwand, kehrte mit einem plumpen großen Flußboot zurück, das noch halb mit ungedroschenen Garben gefüllt war, und Ghost bat mich, ihnen zu helfen, damit der Sender schneller abmontiert würde. Ich lehnte höflich, aber bestimmt ab und erklärte den beiden, welche Mission ich übernommen hatte. Ich beobachtete sie dabei scharf, obwohl Regen und Dunkelheit mein Bemühen, aus ihren Gesichtszügen irgend etwas herauszulesen, stark beeinträchtigten. Sie nahmen meine Mitteilung zunächst schweigend hin, dann erklärte Ghost warnend:
„Abelsen, das ist Unfug!! Nach Sebutu wollen Sie?! Dieser Zarra Dhau ist ein gerissener Schuft. Es sei denn, die Rifkabylen hätten wirklich keine Ahnung davon, daß drüben am Südufer des Sebu mehr Truppen liegen, als für Abd el Krim zuträglich ist. Mann, Sie rennen da in Ihr Verderben! Der Teufel hole diese Frau Brouville samt ihrem Stiefsohn! Wie denken Sie es sich überhaupt, einen einzelnen Legionär herauszufinden?! Überlegen Sie sich das!“
Ich blieb bei meinem Vorhaben. In aller Eile packte ich meinen Tragkorb aus, der neben meinen Waffen noch ein Faltboot enthielt. Das Zusammensetzen ging mir flott von der Hand, und stieß ziemlich gleichzeitig mit dem harmlosen Getreidekahn vom Ufer ab. Unsere beiden Gefangenen lagen nun droben auf der Uferhöhe unter ein paar Büschen.
Ghost sagte mir nichts über seine weiteren Absichten, meine Hartnäckigkeit hatte ihn verschnupft, und wir trennten uns ziemlich kühl.
Inzwischen hatte das Gefecht immer mehr nachgelassen, es fielen nur vereinzelte Schüsse, und auch die vernahm ich kaum mehr, da ich mein federleichtes Boot, das ich durch Stroh maskiert hatte, mit kräftigen Ruderschlägen mit der Strömung dem Sebu zutrieb. Der Fluß war wie ausgestorben … Aber weit vor mir an der Einmündungsstelle der Werga blitzten überall Lichter und Scheinwerfer. Eine dunkle Masse von Booten kam mir entgegen, als ich den Sebu erreichte, ich wich rechtzeitig aus, und eine halbe Stunde später bemerkte ich den hohen Wachtturm von Sebutu, von dem andauernd Lichtsignale gegeben wurden. Hinter dem Dorfe landete ich in einem Gewirr von Uferfelsen, die mehrere vortreffliche Schlupfwinkel boten.
Auch die letzte schwache Vermutung, Edgar Ghost könnte mit Leon Brouville identisch sein, war jetzt bei mir zerstreut worden.
Mochte nun auch Zarra Dhau mit der Unterstützung meines Eingreifens für Frau Brouville nebenher den Plänen seines Herrn Abd el Krim gedient haben: Ich hatte versprochen, Leon Brouville zur Flucht zu verhelfen, und ich fühlte mich an diese Zusage gebunden. – Im übrigen war ich froh, daß die Tage einer eintönigen Ruhe vorüber waren. Ich brauchte das Prickelnde, Aufstachelnde der Gefahr, und schon die letzten Stunden hatten mich wunderbar belebt. Daß ich nun ganz allein auf mich angewiesen war, konnte mir die Freude an der nächsten Zukunft nicht schmälern, im Gegenteil: Diese Art Einsamkeit hat noch stets meine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit gesteigert!
Als ich die Uferfelsen verließ, trug ich wieder meinen Korb – ohne Waffen, ohne jeden verräterischen Gegenstand … Nur ein schartiges, altes Messer im Lendenstrick war des heiligen, buckligen, einäugigen Marabuts einzige rostige Wehr.
Der Regen ließ nach … Der Mond erschien zuweilen … Ein frischer Wind blies den Fluß entlang … Eine halbe Stunde Marsch durch Felder und grüne Haine, und ich hatte Sebutu vor mir.
Bisher hatte ich vier Doppelposten vorsichtig umgangen. Ich lag nun auf einem der zahlreichen hohen Steinhaufen, die über die fruchtbare Flußniederung hinausragten und die sämtlich von uraltem dornigen Gestrüpp bewachsen sind. Es sind dies lediglich Sammelstellen der den Ackerbauern unbequemen Steine, – genau wie in Kulturländern die Landbevölkerung aus diesen Steinen Feldraine aufschichtet und die Ackergrenzen dadurch markiert.
Sebutu!! – Nun sah ich es, nun merkte ich, daß Zarra Dhau es mit der Wahrheit nicht genau genommen hatte. Das Dorf lag auf einer Felsenzunge, die die Uferberge in das Flachland hineinschoben, und war für hiesige Verhältnisse stark befestigt. Man hatte das Gelände sehr klug ausgenutzt, Steinmauern umgaben das Dorf, und hinter diesen Mauern schimmerte das Rot zahlloser Lagerfeuer.
Kundschafter an der Werga!! – – Ich hatte mir die Sache doch leichter vorgestellt. Die äußere Postenkette war recht eng, und vor dem Dorfe bemerkte ich eine zweite Kette, bemerkte auch, daß vom Nordausgang des Ortes ein starker Verkehr zum Sebuufer herrschte: Man verlud Truppen in Boote, man hatte aus Pontons Flöße für Geschütze hergestellt, alles rüstete zu einem großen Angriff auf Abd el Krims Südfront.
Es mochte nun Mitternacht sein. Meine Uhr hatte ich im Faltboot gelassen. Der Wind jagte die Wolken gen Osten, zuweilen peitschten Regenschauer herab, zuweilen wurde es unangenehm hell.
Immer eindrucksvoller erkannte ich, daß ich mich hier auf ein geradezu unmögliches Abenteuer eingelassen hatte. Zarra Dhau hatte – ich verzieh es ihm – zweifellos gewußt, daß ich hier für Frau Brouville gar nichts ausrichten könnte und daß ich lediglich sehr vieles zu sehen bekommen würde, was seinem Herrn dienlich sein könnte.
Allerdings: Sebutu war angefüllt mit regulärem Militär und feindlichen Marokkanern! Die unzähligen Lagerfeuer bewiesen das. Ein Einblick in das Dorf war unmöglich, die Außenmauer war vier Meter hoch, und der Ort selbst lag wie eine Zitadelle auf steil abfallendem Felsplateau.
Meine Begeisterung für meine Marabutrolle sank. Als Spion hätte ich jedes Geschütz, jede geschlossene Abteilung zählen können, die über den Sebu nach der Werga geschafft wurde. Als Kundschafter für die Privatinteressen einer reumütigen Frau ging mich das nichts an. Schlimm genug, daß ich gezwungen war, den Oberst mit dem Knebelbart – es war ein Oberst gewesen – niederzuschlagen. –
Das Leben im Abseits ist reich an Zufällen, aber nie reich an jenen glücklichen Zufällen, die jeder Romanschreiber notwendig braucht, wenn er sich mit seiner Romanhandlung gründlich festgefahren hat.
Mein Leben der letzten Jahre hat sich nie auf diese glückliche Roulettekugel des Zufalls verlassen. Wo die eigene Tat nicht die Ungunst der Verhältnisse meistert, wird die nächste Zukunft stets ein Spielsaal für Hoffende bleiben.
Es war kein Zufall, daß nun eine Patrouille dicht an meinem Steinhaufen vorüberkam und daß dieser Patrouille zwanzig Mann, die die Außenposten auf der Westseite hier ablösen sollten, faul dahinschlendernd folgten.
Es waren Legionäre. – Auch in der Frage halte ich mich neutral. Man weiß, daß die Fremdenlegion mindestens zu sechzig Prozent aus Deutschen besteht.
Die zwanzig Mann schlenderten faul vorüber, rauchten, schimpften über die gestörte Nachtruhe und entschwanden in den Schleiern eines neuen Regengusses. –
Zufall?!
Nein!!
Als letzter, allerletzter schlich da ein müder, gebückter Mann hinterdrein, benutzte sein Gewehr als Stecken, taumelte …
Als allerletzten wollte auch ihn die jähe Finsternis verschlingen.
Er war krank, erschöpft, sein taumelnder Gang besagte genug.
Ich wußte, wie entsetzlich die Typhusepidemie im Rif und in den Grenzgebieten herrschte. Abd el Krim hatte die Spanier gebeten, die Einfuhr von Medikamenten zu gestatten. Es wurde ihm abgeschlagen. In seinem Gefangenenlager starben die Leute wie die Fliegen bei Fliegenpest. Zarra hatte es mir erzählt, Zarra war allen Dörfern des Typhus wegen ausgewichen, als wir von Er Kule quer durch die Berge gen Süden geeilt waren.
Und noch eins: Edgar Ghosts Reiseapotheke hatte mich mit gewissen Tabletten ausgestattet, halb gegen meinen Willen. – „Sie werden sie brauchen“, hatte Ghost gesagt.
Dies fiel mir ein, als da hinter mir die schwankende Gestalt lautlos zusammenbrach.
Die übrigen marschierten weiter. Das Geklapper ihrer Feldflaschen und Spaten und Seitengewehre verklang.
– Kundschafter an der Werga!! Vielleicht habe ich den Titel gewählt, weil in meinem Gedächtnis der Inhalt von Jugendbüchern immer wieder lebendig wird. Wer kennt nicht Coopers Indianerromane?! Wer kennt nicht Coopers „Kundschafter am Binnensee“, mit dem die Lederstrumpferzählungen eigentlich so recht beginnen. Die Art Romantik ist halb erstorben – halb, nicht ganz.
Hier erkannte ich dies von neuem.
Kaum war der Lärm der kleinen Abteilung verstummt, als ich mich ins Freie wagte, zu dem unbekannten Legionär hinüberkroch und ihn samt seiner Büchse in das Gestrüpp trug.
Er war bewußtlos.
Der Mond schien wieder …
Sein fahles, schweißfeuchtes Gesicht, sein dumpfes Stöhnen, seine krampfartigen Zuckungen und die eingesunkenen Augen bewiesen mir, wie es um ihn stand. Ich mischte Wasser aus meiner Kalabasse im zerbeulten Becher mit zwei Tabletten und ließ ihn trinken. Die Hälfte lief vorbei. Er schluckte kaum mehr. Ich selbst zerkaute zwei der gallebitteren Tabletten und hustete …
Der Legionär war ein Mann von vielleicht vierzig Jahren mit rotblondem Haar und einem breiten, groben Gesicht. Er erwachte wieder.
Das Mondlicht blieb.
Er starrte mich an … In seinen Augen lag sein Schicksal: Der Tod!
Seine Hände waren bereits eiskalt. Die Nase wurde weiß und spitz.
Aber Ghosts Tabletten hielten das entschwindende Leben doch noch für Minuten zurück.
Der Mann stöhnte nicht mehr, und dann fragte er heiser:
„Wer bist du?! Ich danke dir …“
Er hatte kein Fieber mehr … Er litt nur unter der ungeheuren Schwäche eines bazillenvergifteten Körpers.
Er hatte sich der französischen Sprache bedient, er war Franzose. Seinen Namen nannte er nicht.
Er fühlte sich etwas frischer. Er bestätigte mir, daß die Besatzung von Sebutu, die die Außenwachen stellte, nur aus Kranken bestünde. Er merkte, daß ich kein Berber war, und er warnte mich. Gestern seien wieder acht Spione erschossen worden.
„Kennen Sie Leon Brouville?“, fragte ich geradeheraus.
„Ja. Er ist tot … – Typhus … Gestern begraben. – Sind Sie Deutscher?“
Ich hatte ihn möglichst bequem gebettet, hatte ihm nochmals eine Tablette gegeben. Sein Puls war kaum spürbar und ganz langsam.
„Nein, Schwede …“
„Schwede?! Oh, das wundert mich …“
Ich saß neben ihm, und ich hörte kaum hin.
Leon Brouville war also tot!
Arme Frau Antoinette!!
Der Legionär flüsterte von neuem, während das Mondlicht schwand und der Regen wieder einsetzte:
„Ich danke Ihnen … Ich bin sehr müde … Wenn Sie Deutscher wären, könnten Sie für Deutsche etwas tun … Man hat vorhin eine ganze Anzahl gefangen genommen … Droben im Dschebel Tafir. Die Kabylen wurden zurückgejagt, und die Lichtsignale meldeten uns, daß …“
Seine Stimme erlosch immer mehr … Ich hatte mich ganz tief über ihn gebeugt … Ich verstand sein Murmeln nicht mehr …
Es regnete, die Büsche rauschten und tropften …
Kundschafter an der Werga!!
… Ich merkte, daß ich neben einem Toten kauerte, dreihundert Meter vor Sebutu, wo Leon Brouville gestorben war.
Es regnete ununterbrochen.
Ich saß still und starr und überdachte das Gehörte. Ich wußte, wer gefangengenommen worden war: Die Lorenzens, Freund Weber und die Leute vom „Feuersand“.
Schrille Rufe störten mich auf. Man suchte den zurückgebliebenen Legionär, man fand ihn nicht, man gab sich auch keine große Mühe … Die Kameraden des Toten waren schlaff, krank, waren bazillenverseucht, auch ihnen konnte es ergehen wie meinem für ewig stummen Nachbar: Herzschwäche – – Erlösung!!
Die Rufe erstarben …
Und es regnete … regnete …
Ich trug den Leichnam ins Freie und bedeckte ihn mit seinem Mantel, schlich wieder durch die Felder, wich den Posten aus und erreichte die Felsen der Sebuufer und meinen Gummikahn.
Die Nacht war heiß und drückend, der Regen warm, die Luft machte schlaff … Der Wind war eingeschlafen, – – über dem Sebutal lagerte der Tod des schleichenden Typhus mit schwarzen Fittichen …
Ich hatte nur noch eine Pflicht, Frau Antoinette zu melden, was geschehen. – Hoffentlich waren Antoinette und Zarra Dhau und mein Trasso noch frei und am Leben …
Pflicht …?!
Arme Antoinette! Ich konnte ihr mein Mitgefühl nicht versagen.
Ich schob mein maskiertes Faltboot ins offene Wasser zurück und wollte gerade hineinklettern, als sich aus der trüben Dunkelheit des leise gurgelnden Stromes ein größerer schwimmender Gegenstand herausschälte und an einer Felsspitze dicht vor mir hängen blieb.
Es war ein Floß aus aufgeblasenen Ziegenhäuten, oben mit Brettern und Strauchwerk bedeckt. Es lag schief im Wasser, mehrere der Ziegenhäute waren von Kugeln durchlöchert worden, und oben auf dem Floß lagen in fürchterlichen Verrenkungen vier tote Marokkaner und einige menschliche Gliedmaßen.
Führerlos was das Floß die Werga hinabgetrieben und hatte nun auf den Wassern des Sebu die Fahrt zum Atlantik fortsetzen wollen.
Ein Streifen Mondlicht wagte sich durch das Gewölk und zeigte mir Einzelheiten …
Der Bretterbelag war stellenweise zerfetzt.
Granate also …
Sie mußte dicht über dem Floß krepiert sein und hatte nun die Getöteten an Bord gelassen.
Ein schneller Entschluß, – – ich konnte die noch unverletzten Ziegenhäute gut gebrauchen, auch die Bretter, denn die bisherige Maskierung meines Bootes war sehr unzulänglich gewesen.
Eine häßliche Arbeit, dann ruderte ich gegen die Strömung an mit einem Fahrzeuge, das selbst bei Tage keinen Argwohn erregt hätte. Sechs aufgeblasene Häute, Bretterstücke und Baumäste bildeten eine vorbildliche Maske.
Ich wollte wieder in die Werga-Mündung hinein, ich mußte mit aller Kraft rudern, ich kam nur langsam vorwärts, und erst in dem toten Flußwinkel von Sebu und Werga, wo Sandbänke eine Art Lagune abgeteilt haben, konnte ich etwas ausruhen.
Boote und Pontons kamen vorüber. Niemand nahm von mir Notiz. Die Wolkendecke hatte sich gelockert, der Mond lag frei zwischen zart beleuchteten Wolkenrändern, und den heiligen Marabut, der da auf dem Floß Gebete plärrte, belästigte niemand.
Eines der Pontonflöße, mit denen die Geschütze über den Sebu in die Werga geschafft worden waren, näherte sich dem toten Flußwinkel und warf Anker. Es war von Marokkanern besetzt, die von drei Europäern befehligt wurden. In der Mitte des Plankenbelags der vier Pontons kauerten Menschen. Die Marokkaner brüllten, schrien, – – der eine Anker wollte nicht fassen, – – ich wich den Kerlen aus, aber urplötzlich neigte sich mein fragwürdiges Fahrzeug zur Seite und drohte zu kentern.
In demselben Moment war das Pontonfloß in der schwachen Strömung herumgeschwenkt, und das Mondlicht traf eine der kauernden Gestalten: Ich erkannte Jasper Lorenzen!
… Eine eilige Stimme zischelte mir zu, – – Edgar Ghost hing am Bootsrand: „Abelsen, dort auf den Pontons, – – Ihre Freunde vom „Feuersand“!! Der Tanz wird sofort wieder beginnen, und dann gibt es eine Massenschlächterei!! Drüben die angetriebenen Bäume, – – aber Vorsicht!!“
Eine Hand reckte sich nach Norden, versank wieder, und Edgar Ghost tauchte unter, mein Boot richtete sich wieder auf, und einige lange Ruderschläge brachten mich dorthin, wo vor dem toten Buchtwinkel mit seinen zumeist kreisenden Wassern außer den Kronen zweier Zedern noch Gestrüpp, junge Buchen und Treibholz an flacher Stelle mitten in der Fahrrinne sich zu einer grünen Buschinsel aufgehäuft hatten, deren wahrer Charakter als nur angeschwemmte Baummassen kaum mehr erkennbar war.
Diese Treibholzinsel hatte einen Umfang, der von Südwest nach Nordost, also in der Hauptrichtung der lagunenartigen Uferbildung, mindestens dreißig Meter, in der Breite etwa zehn Meter betrug. Vor ihr zog sich in die Werga eine keilförmige Barre von Sand, Steinen und kleinem Knüppelholz hinein, – die Entfernung bis zum anderen Ufer maß etwa dreißig, bis zum Ostufer dagegen mindestens hundert Meter. Die Strömung beiderseits war ungewöhnlich reißend, und ich mußte geradezu verzweifelt rudern, bevor ich den ersten dicken Buchenast erfassen konnte. Er war naß und voller Schlamm, und es kam mir daher sehr gelegen, daß unversehens aus dem Randdickicht ein geschickt geschleudertes Tau mit seinem freien Ende in mein Fahrzeug klatschte. Ich packte zu, das Tau spannte sich, und ganz allmählich wurde ich bis zur Mitte des Inselchens bugsiert, wo bereits mein frommer Kollege Pieter eine Öffnung freigemacht hatte, mein Floß glitt hinein, die Äste schlugen wieder zu, und ich sah, daß dies merkwürdige Ding von Insel sozusagen hohl war, da die beiden Zedernkronen als Hauptbestandteile der angeschwemmten Hölzer weit auseinander lagen.
In diesem Versteck fand ich außer Pieter und Ghost, der gerade wieder seine Marabutlumpen überstreifte, auch den Kahn des seltsamen Paares vor, und daß diese kühnen, schon mehr frechen Abenteurer diesen Schlupfwinkel längst kannten, bewies mir die winzige Insulanerhütte, die auf Pfählen und mit Baumzweigen dicht verkleidet zur Zeit dem grinsenden Ghost als Ankleidezimmer diente. Sogar Licht brannte darin, wenn auch stark verhüllt.
Überflüssig, die beiden zu fragen, wann sie dies Versteck hergerichtet hätten. Ghost hatte mir ja bereits am Kap Er Kule angedeutet, daß er seit vielen Monaten für das Londoner Blatt insgeheim tätig sei.
Dies hier war nun wirklich echte Abenteuerromantik, – und wenn der alte Herr Ben Akiba etwa geringschätzig gesagt hätte: „Alles schon dagewesen!!“, und womöglich auf jene von Gerstäcker „erfundene“ Pferdediebinsel im Arkansas hingewiesen hätte, würde ich ihm erwidert haben: „Verehrtester Ben Akiba, der Vergleich hinkt!! Hören Sie nur, wie kraftvoll der Pieter die Dynamomaschine dreht, um die Akkumulatoren wieder aufzuladen!!“
Das tat Pieter nämlich wirklich, und als ich dann neben Ghost in der Pfahlbauhütte saß und sogar eine leibhaftige Zigarre rauchen durfte, meinte der schneidige Reporter nur:
„Abelsen, ich habe keine Zeit … Ich muß sofort meinen Bericht dem Dampfer funken, der nun in der Sebu-Mündung[11] am Atlantik ankert und die Depeschen weitergibt. Unser Sender hat nur etwa hundert Kilometer Reichweite. Um die Gefangenen auf den Pontons müssen Sie sich kümmern. Wie ich schon andeutete: Abd el Krim hat den Gegner über den Fluß gelockt und wird im Morgengrauen zum Hauptangriff übergehen … Es ist seine alte Taktik, auf die die Herren Kriegsakademiker immer wieder hereinfallen … Sobald sie sich ausgeruht haben, holen sie die Gefangenen hierher. Wie Sie das machen, ist Ihre Sorge … Pieter hilft Ihnen. Ohne Gewalt werdet ihr nichts ausrichten.“
Dann griff er nach Papier und Bleistift und schrieb seinen Bericht über das heutige Nachtgefecht. Trotzdem gab es ein Mittel, seinen Eifer abzulenken. „Leon Brouville ist tot“, sagte ich einfach.
Er schaute mich groß am „So?! – Schnell, erzählen Sie …!!“
Als ich die Typhusepidemie erwähnte, nickte er grimmig. „Armer Teufel, der Leon!!“
„Kannten Sie ihn, Ghost?“
„Und ob! Sehr genau sogar. – Nun stören Sie mich aber nicht mehr! – Pieter, die Antenne!!“
„Schon in Ordnung, Herr!“, meldete der Graukopf von Aschanti von unten her. – –
Eine Zwischenbemerkung hier. Man könnte mich als kecken Aufschneider hinstellen, – man mag es nicht tun; was ich hier schildere, sind Tatsachen, angefangen von dem Schmuggel der 15 000 Gewehre, der Munition, des Fesselballons bis zu der echt britischen Rührigkeit der Berichterstattung mit allermodernsten Mitteln. England hatte am Rifkriege ein weit größeres Interesse, als die Allgemeinheit glaubt. Die politischen Hintergründe hierfür kenne ich, – – ich schweige. Ich schreibe nur mich selbst, das Abseits, mein Abseits, – alles andere ist Staffage. Ich habe absichtlich einige Orte umgetauft, Schauplätze verändert, Namen ganz umgemodelt, denn die meisten Träger dieser Namen leben noch heute und sollen nicht in Ungelegenheiten geraten. So viel Rücksicht muß man auf seine Freunde nehmen. – – Also: Mein Abseits ist nicht aus den Fingern gesogen! Ich könnte noch mit ganz anderen Einzelheiten aufwarten, aber – ich bin neutral. – –
„Pieter, wir werden schwimmen müssen!“
Der Aschanti zeigte sein Panthergebiß.
„Ich schwimme wie ein Fisch, Herr Abelsen. Los also!“
Wir behielten nur die leichten schmierigen Leinenjacken und -hosen an.
Vater Mond hatte sich wieder ein wenig abgeblendet.
Bis zu dem Pontonfloß, das nun fest vor Anker lag, waren es etwa achtzig Meter.
Kleinigkeit, nicht wahr?!
Gewiß! – Aber auf diesem Pontonfloß trieben sich etwa zwölf Marokkaner herum, alle schwer bewaffnet, alle äußerst vorsichtig, dazu drei Weiße, die mit Ferngläsern alle Augenblicke dies und jenes musterten, was ihnen verdächtig erschien. Die Herrschaften kannten Abd el Krims Kampfmethoden, – nur deshalb hatten sie die Gefangenen hier mitten in der Lagune belassen, wahrscheinlich rechneten sie auch mit der Anwesenheit weiterer Deutscher, und was die Marokkaner anging: Die wußten genau, was ihnen blühte, wenn die Rifleute sie erwischten! Abtrünnigen gegenüber gab es kein Pardon.
Als wir uns der Strömung überließen, hatten wir reichlich Gesellschaft. Tote Ziegen, Maultiere, Bootstrümmer, Haufen halb verbrannten Getreides und Leichen tanzten um uns her im tollen Durcheinander.
Gerade die schwimmenden Strohmengen hatten sich an den Ankertauen der Pontons festgesetzt und kamen uns wie gerufen. Kein Mensch achtete auf uns. Daß ein grauköpfiger riesiger Neger und ein ebenso unverfrorener Zuchthauskandidat hinter dem angeschwemmten Stroh des einen Ankertaus stecken könnten, der Gedanke kam den mißtrauischen Leutchen nicht.
Pieter und ich berieten.
Der Fluß, eigentlich beide Flüsse, waren sehr belebt. Man schaffte noch immer Truppen und Munition, Geschütze und Proviant hinüber. Zuweilen knallten ein paar ferne Schüsse …
Wir berieten. Die Lage war nicht nur schwierig, sondern fast aussichtslos. Wie sollten wir die Marokkaner von den Pontons verscheuchen?! Mit Gewalt war da nichts zu machen. Ghosts Annahme war in diesem Punkte irrig.
Dabei drängte die Zeit. Bis zum Morgengrauen durften wir nicht warten.
Ich zermarterte mir den Kopf. Mir fiel nichts, gar nichts ein. Wenn wir einen Zentrumsbohrer oder Sprengkörper gehabt hätten, – – ja dann!!
Wir hatten nur Messer und unter den Turbanen je eine Pistole. Etwas wenig.
Ein Motorboot schleppte soeben wieder eine Reihe Pontons von Sebutu her zum Dschebel Tafir.
Das Motorboot keuchte und spuckte und knatterte, und der Schleppzug schlich endlos langsam vorüber.
Inzwischen hatte ich eine merkwürdige Beobachtung gemacht, die ich mir nur dadurch erklären konnte, daß wahrscheinlich im Atlantischen Ozean gerade Flut herrschte, verstärkt durch Westwind, und daß die Flut sich bis hierher spürbar machte.
Die Beobachtung bestand darin, daß ich sah, wie die Ankertaue der Pontons immer schlaffer wurden. Mithin herrschte jetzt hier in der Lagune eine Strömung vor, die gen Norden zog, auf die Bauminsel zu.
Es stimmte: Die Pontons wurden allmählich nordwärts gedrückt!
„Pieter“, flüsterte ich dem Schwarzen zu, „ihr habt doch in eurem Gepäck Leuchtraketen …“ – Was ich weiter vorschlug, kapierte der Aschanti sofort. – Er schwamm davon, tauchte, und ich zerschnitt das eine Tau, dann das andere. Die Pontons trieben beständig, wenn auch unmerklich, nach Norden. Sie drehten sich dabei ein wenig um sich selbst, jedoch nie so auffällig, daß die Wachen der Gefangenen aufmerksam wurden. Es war inzwischen überhaupt Ruhe auf dem großen Floße[12] eingetreten, die Marokkaner schliefen zum Teil, nur vier schlenderten hin und her, die drei Europäer hatten sich ein Zelt errichtet und waren darin verschwunden. Um die gelegentliche Knallerei in den Bergen kümmerte sich niemand mehr, der Feind schien überzeugt, daß Abd el Krim nicht zum Gegenstoß rüste, die Geschütze schwiegen vollständig, über den in Brand geschossenen Uferdörfern lagerte nur ein schwacher rötlicher Schimmer …
Niemals war ein Gesamteindruck einer augenblicklichen strategischen Lage trügerischer wie dieser hier. Das sollte sich schon in der nächsten Viertelstunde zeigen.
Das Pontonfloß näherte sich allmählich der Bauminsel. Ich hatte mich an eins der durchgeschnittenen Ankertaue gehängt und das angetriebene Stroh über meinen Kopf gehäuft. Die Beleuchtung durch den Mond blieb unregelmäßig wie bisher. Auf Minuten schwärzester Finsternis folgte eine unangenehme Helle. Der Mond spiegelte sich dann im Wasser wieder, und dies waren die kritischen Zeiten, – – wenn die Wachen nur ein wenig Beobachtungsgabe besaßen, mußte sie bemerken, daß die Pontons nicht mehr festlagen.
Dann geschah etwas, das selbst mir, der ich auf jede Art Zwischenfall vorbereitet war, den Herzschlag beschleunigte. Urplötzlich tauchte neben mir ein treibendes Strohbündel auf. Zwischen den Halmen blinkten ein paar schillernde Augen, – meine Hand fuhr zum Lendenstrick, eine Stimme zischte hastig:
„Zarra Dhau, Zinnore!!“
Es war der blonde Kabyle. Wie kam er hierher? Ein Zufall?
Er packte meinen Arm, hielt sich an mir fest, flüsterte mir ins Ohr: „Zinnore, ich habe dich gesucht … Warst du drüben bei Sebutu?“
„Ja …“
„Wer bewacht das Dorf?“
„Legionäre, aber alles kranke Leute …“
„Wieviel Postenketten?“
„Zwei …“
„Liegen außerhalb der Dorfmauer Maschinengewehrabteilungen?“
„Ich habe nichts gesehen …“
„Und du bist durch die Posten hindurchgeschlichen?“
„Ja … Übrigens, – wie kamst du hierher, Zarra?“
Er lachte lautlos. „Auf diesem Ufer des Sebu haben wir genug Spione … Man hat dich beobachtet.“
„So so … – Und wie geht es Frau Brouville und meinem Trasso?“
Diese merkwürdige Unterredung hatte zum Schluß in mir den ganz bestimmten Eindruck erweckt, daß Zarra Dhaus sorgfältige Hilfsbereitschaft für die „Memiba An Toi“ durchaus nicht selbstlos gewesen sein könnte. Der Kabyle hatte einen Fehler begangen: Er hätte unbedingt sofort nach Leon Brouville fragen müssen! Aber der Stiefsohn Frau Antoinettes war ihm höchst gleichgültig, ihm lag nur daran, von mir Nachricht zu erhalten, die nichts als Spionagearbeit darstellte. Mit meiner letzten Frage hatte ich ihm ein Fangeisen gelegt. Ich war gespannt, ob er wenigstens jetzt an Leon denken würde.
„Beide sind in Sicherheit, Zinnore …“, erwiderte er zerstreut. „Auch die Gefangenen vom Dampfer „Feuersand“ werden bald wieder frei sein. – Ich muß mich entfernen … Allah beschütze dich.“
Der Mond versteckte sich gerade hinter einer neuen Wolkenbank, leichter Regen fiel, und Zarra verschwand nur zu schnell, ich hätte ihm zu gern noch auf den Kopf zugesagt, daß ihm Leons Schicksal höchst gleichgültig gewesen und daß ihm nur daran gelegen hatte, mich durch diesen Vorwand doch als Spion zu benutzen. Ich war auch überzeugt, daß dies im vollen Einverständnis mit Abd el Krim geschehen sei und daß auch Selim Hullah das Seinige dazu getan hatte, Frau Brouvilles Gewissensnöte im Interesse der Rifleute auszunutzen.
Als alter erfahrener Weltentramp gab ich mich hinsichtlich menschlicher Charaktere längst keinen rosigen Illusionen mehr hin. Aber diese Art Mentalität empörte mich. Zum Glück hatte ich hier an andere Dinge zu denken, und der Argwohn, Abd el Krim könnte die Besatzung des „Feuersand“ etwa absichtlich dem Gegner in die Hände gespielt haben, um den Eindruck eines panikartigen Rückzuges zu verstärken, fand in meinem Hirn nur wenig Resonanzboden: Das Pontonfloß war kaum mehr fünf Meter von der Bauminsel entfernt, und schon die nächsten Minuten mußten schwerwiegende Entscheidungen bringen.
Plötzlich gewahrte ich, zum Bootsrand des einen Pontons emporspähend, die weit vorgebeugte Gestalt eines Marokkaners.
Der Mann bückte sich, packte das Tau, an dem ich hing, wollte wohl prüfen, ob es gerissen sei.
Er hatte Verdacht geschöpft.
Ich machte mich möglichst schwer, der Marokkaner ließ das Tau fahren und drehte sich um.
Er wollte die übrigen alarmieren …
Er hatte gemerkt, daß hier etwas nicht richtig war.
Entschluß und Tat können in eins sich zusammenballen …
Alles stand hier auf dem Spiel …
Ich war mit zwei Klimmzügen oben, ich hörte, wie der Berber zum Warnungsruf sich bereits anschickte, ich hätte gern jede Gewalttat vermieden.
Meine Hände umkrallten seinen Hals, ich riß ihn nieder, und wir rollten ins Wasser …
Gleichzeitig trieb das Floß seitlich gegen die Bauminsel, die Äste und Zweige rauschten, – – und in demselben Augenblick fuhr auch über das Floß zischend und sprühend eine der Signalraketen hinweg, explodierte dreißig Meter weiter und warf eine blendend helle Magnesiumkugel aus, die die ganze Umgebung hell erleuchtete. –
Als ob die Rakete auch für die feindlichen Streitkräfte ein Zeichen zu erneuter Aufnahme des jäh abgebrochenen Nachtkampfes gewesen wäre: Nicht nur im Dschebel Tafir, sondern auch drüben in der Richtung des befestigten Dorfes erhob sich eine wilde Knallerei, die in kurzem durch die dröhnende Stimme der Geschütze und das gleichmäßige Rasseln von Maschinengewehren verstärkt wurde.
Drüben bei Sebutu flammten Kornschober auf, – – der Mond leuchtete klar in einem wolkenlosen Fleck am Firmament, und wie aus dem Nichts glitt ein langer Nachen herbei, Schüsse blitzten, und die Wächter des Pontons, sowie die drei Weißen sprangen kopfüber ins Wasser … –
Ich wußte, wie Abd el Krim den Gegenstoß vorbereitet und was er bezweckt hatte: In diesem stundenlangen Gefecht am Zusammenfluß von Werga und Sebu hat der berühmte Kaid sich wiederum als der bessere Stratege gezeigt. Die Niederlage seiner Gegner damals ist längst verschwiegen worden, ihm fielen allein fünf Batterien und sechzig Maschinengewehre in die Hände, seine Verluste waren gleich Null, die der Feinde?! – Es ist nie über dieses Nachtgeplänkel die volle Wahrheit an die Öffentlichkeit gedrungen. Abd el Krim hatte die Gegner über den Fluß gelockt, Sebutu wurde erobert, ungeheure Proviantmengen erbeutete er neben allem anderen, – – aber, – – ich schreibe ja keine Geschichte des Rifkrieges, ich schreibe immer nur mich selbst.
Und deshalb: Sprung über zwei Tage hinweg, – – eine andere Szenerie: Der Berg El Kebir, die Heimat, das Heim der frommen Einsiedler!
Im Morgengrauen des dritten Tages erblickten wir ihn …
Wir …
Und wir waren alle wieder beieinander, die am Vorgebirge Er Kule auf dem „Feuersand“ die bangen Stunden mitgemacht hatten. Nur zwei fehlten: Edgar Ghost und Pieter, der Aschanti.[13]
In der aus Zedernzweigen geflochtenen Hütte brannte eine Lampe, über deren Primitivität jeder Eskimo geringschätzig gelächelt hätte. Man spricht von Tranfunzel, wenn man die geringste Leuchtkraft irgend einer Lampe kennzeichnen will. Hier wäre selbst Tranfunzel unangebracht gewesen, denn das Ding von Docht, das da in einer ehemals für englischen Pfeifentabak bestimmten Blechdose mühsam flackerte, qualmte und bestialisch stank, gab gerade genügend Licht, die unbedruckten Rückseiten eines großen Abreißkalenders als unbedruckte Fläche zu erkennen und den Schatten des Bleistiftes auf das Papier zu werfen, den ich unter Überanstrengung meiner Augen benutzte.
Ich schrieb „Tagebuch“. – Die Rückseite des 1. Januar begann Wort für Wort mit den Ereignissen auf dem „Feuersand“, als ich zum Schein die Antenne ausflicken wollte und nachher in einem schlau ausgehöhlten Tabakblätterballen landete.
Jasper Lorenzen und Trasso, meine Mitbewohner dieser zum Glück sehr luftigen Hütte (des Öllampengestanks wegen) brachten meiner Arbeit nicht das geringste Verständnis entgegen und störten mich durch allerlei zwecklose Unterbrechungen. Entweder wollte Trasso ins Freie, oder der hagere Lorenzen streckte seine Beine allzuweit von sich und zwang mich, noch mehr zur Seite zu rücken.
Was sollte man hier in dieser jämmerlich kahlen Schlucht, wo wir vorläufig ein Lager bezogen hatten, anderes tun als Erinnerungen auffrischen, die als Ganzes genommen immerhin einer vielumstrittenen Persönlichkeit gerecht zu werden suchten: Abd el Krim!
Was sollte ich am Tage draußen im Sonnenbrand, wo selbst die Felsen unter der Hitze zu stöhnen schienen, und ich dann vielleicht Frau Antoinette begegnet wäre, deren trostloser Blick mir ins Herz schnitt?! Ich konnte ihr ja nicht helfen. Leon Brouville war tot. Der Legionär, der vor den Mauern von Sebutu in meinen Armen verschieden war, hatte keinen Grund gehabt, mich anzulügen.
Was sollte ich draußen?! Wir waren hier einundzwanzig Männer, und die Schlucht brauchte nur einen Doppelposten. Freund Weber sah schon nach dem Rechten, obwohl er viel Zeit für die statuenhafte Inge opferte und sich alle Mühe gab, diese junge, wortkarge Sphinx etwas weiblicher umzuformen, – verlorene Liebesmüh!! Ich hätte Webers Geduld als kaltgestellter Bewerber nicht gehabt.
Was sollten wir vorläufig überhaupt tun?!
Gar nichts!! Das war das Gegebene. Wir konnten froh sein, daß wir uns bis hierher durchgeschlagen hatten dank Selim Hullahs nicht ganz unfreiwilliger Führung. Wir hatten nun zwei Sorten Gegner, die Rifleute und deren Feinde, und bekanntlich ist es höchst ungemütlich, zwischen zwei sich bekämpfende Parteien zu geraten und von jeder Seite mit blindwütigen Schießereien rechnen zu müssen.
So lange die Mondsichel nicht noch mehr zusammenschrumpfte und mal nachts anständige Wolken aufzogen, war an den auf der Hochebene drunten liegenden El Kebir nicht heranzukommen.
Jasper sagte brummig:
„Packen Sie Ihr Zeug weg, Sie schreibwütiger Kauz! Der Festbraten ist fertig, ich rieche es bis hierher.“
„Ich rieche nur die Funzel …“
„Bitte, – – Trasso schnuppert, und von Trasso halten Sie doch mehr als von uns allen zusammen, Sie Abseitsstrolch!“
Er meinte es nicht böse. Er war in einer Stimmung, die ich nicht recht bezeichnen kann, vielleicht „Lampenfieber“ …
Draußen näherte sich ein schlurfender Schritt. Das war Thomas Felgner, der erste Steuermann, der damals so etwas Meuterer hatte spielen wollen. Inzwischen war er ganz zahm geworden.
„Das Essen ist fertig!“, meldete er.
„Na also!“, sagte Jasper und wetzte sein Messer …
Wir traten ins Freie, in den Mondschein, in die langgestreckte Schlucht hinaus, deren himmelhohe Steilwände nicht einmal eine Wildziege erklettert hätte. Droben an den Schluchträndern wuchsen Zedern und Eichen, der einzige Zugang lag nach Norden hin und war durch eine Halde Steinschlag verdeckt. Wenn Trasso nicht dem Wildschaf gefolgt wäre, als wir hier irgendwo eine Bleibe suchten, hätten wir dies kahle Paradies nie entdeckt.
Nettes Paradies!!
Unsere ruppigen Gäule mußten Moos und Flechten fressen, wir selbst durften nur spät abends abkochen, damit uns der Rauch nicht verriete, und die Hütten und Zelte hatten wir in den tiefsten Schluchtwinkel klemmen müssen, damit sie nicht von oben zu sehen wären. Am Tage etwa droben in den Wald zu kraxeln, war einmal ein sehr anstrengendes und dann auch ein sehr gefährliches Geschäft, da der in der Nachbarschaft hausende Bergstamm der S’Birren kopfjägerische Neigung zeigte, nachdem Abd el Krim den berüchtigten Räuberhauptmann Raisuli (so nannten ihn europäische Blätter, in Wahrheit hieß er Mohammed er Raisuni und war Häuptling der Dschebala) an einer etwas unklaren und doch eindeutigen Krankheit als Gefangener der Kabylen gestorben war. Raisuni mußte sterben. Ohne seinen Tod wäre eine Einigung des Rif nie zustande gekommen. Er war ein ehrgeiziger, habgieriger, bestechlicher Parteigänger gewesen, und trotzdem galt sein Name in diesem Teile des Berglandes noch immer mehr als der des fanatischen Freiheitskämpfers. Wir hätten die S’Birren-Banditen auch längst auf dem Halse gehabt, wenn der Stamm nicht durch eingeschleppten Typhus völlig dezimiert gewesen wäre. Das fruchtbare Tal der S’Birren lag etwa zwei Reitstunden nach Nordwesten zu.
Das am Spieße gebratene Wildschaf, durch Lorenzen droben im Walde in Schlingen gefangen, denn schießen durften wir nicht, stellte die erste warme Mahlzeit nach zweieinhalb Tagen dar, – und was für Tagen!! Damals, als Abd el Krims überraschender Gegenstoß gekommen war, hatten wir das Pontonfloß sehr schnell an das rechte Wergaufer bugsiert, ebenso schnell hatten wir in einem unbebauten Seitental der Randhöhlen einen vorläufigen Schlupfwinkel gefunden, ebenso überraschend war mir dann, als ich um jeden Preis meinen Trasso holen wollte und über die Werga schwamm, Selim Hullah mit meinem Wölflein geradezu in die Arme gelaufen …
Oh, der große Diplomat Selim mit der Gelehrtenbrille hatte doch ein gewaltig verdutztes Gesicht geschnitten, als ich ihn einfach beim Wickel nahm und ihn erst mal gründlich durchschlackerte. Es half ihm nichts, gar nichts, er mußte mit zurück über den Fluß, dessen rechtes Ufer nichts von dem wilden Kampfgetümmel spürte, das sich im Nu den Dschebel Tafir abwärts gezogen hatte. Wir brauchten einen Führer, der auch die Gebiete nach dem Atlantik hin kannte, und da ich eben nur Selim Hullah von ungefähr erwischte, machte ich nicht viel Federlesens, zumal Edgar Ghost und der Aschanti auffallenderweise im ersten Trubel des jäh aufflackernden Kampfes sich heimlich gedrückt hatten.
Als ich damals mit dem nur mäßig erfreuten Selim die Gefährten erreicht hatte, wurde auch mir eine Überraschung zuteil: Frau Antoinette hatte sich inzwischen eingefunden, und aus ihren etwas wirren Reden ging nur hervor, daß ausgerechnet Pieter sie herbeigeholt hatte, ohne sich uns zu zeigen. Jasper Lorenzen, Weber und unser junger Funker waren derweil nicht müßig gewesen, – Pferde- und Waffendiebstahl ist ja nicht nach jedermanns Geschmack, aber es gibt Zwangslagen, wo selbst das feinste Gewissen schweigt, und wenn wir uns nicht in einer Zwangslage befanden, dann gab es überhaupt dergleichen nicht. Wir wußten, daß man uns verfolgen würde, ein großer Teil der gegnerischen Berber hatte sich bereits auf dieses Ufer vor dem rasenden Schnellfeuer hinübergerettet, wir schossen uns eine Weile mit ihnen herum, dann erst brachen wir auf, eine Schar von Menschen, die nur den Wunsch hatten, all diese Schrecken der brennenden Dörfer, der die Werga hinabschwimmenden Leichen und zerfetzten Kadaver und besonders die der typhusverseuchten Zone hinter sich zu lassen. Meine Absicht war es, den nächsten Punkt der atlantischen Küste zu erreichen, aber seltsamerweise trat jetzt der alte Lorenzen vor den bebrillten braunen Diplomaten hin und befahl mit unheilverkündendem Ernst: „Selim Hullah, nicht zum Atlantik!! Zum El Kebir!! Sie wissen, weshalb!!“
Selim Hullah hatte Schreck und Angst verraten …
„Ich gehorche!“
Und er hatte gehorcht, er hatte uns auf Umwegen Tag und Nacht in tollem Eilritt in die Nähe dieser Schlucht gebracht, die wir dann als Lager wählten.
Und nun sollten wir seit zweiundeinhalb Tagen die erste warme Mahlzeit einnehmen, – nicht wie Europäer, sondern wie Insulaner … Teller, dergleichen besaßen wir nicht. Wir säbelten mit den Messern Fleischstücke herunter und zerteilten sie auf flachen Steinen. Wir hockten im Kreise um das erlöschende Feuer, und als Nachtisch gab es wundervolle Feigen und als Zukost trübe Gesichter und fragende Blicke, die sich auf Jaspers jetzt noch verwitterteren Zügen vereinigten und dann Selim Hullahs eisigen Gleichmut als Anlaß zu drohenden Bemerkungen nahmen.
Fürwahr, wir waren wie Schiffbrüchige auf einer Insel inmitten von Kannibalen, wir waren entwurzelte Menschen, die voll stiller Gehässigkeit Aufschluß darüber verlangten, weshalb wir uns hier verkriechen mußten, anstatt eilends die Gestade des Weltmeeres zu gewinnen, wo wir Sicherheit und Rettung gefunden hätten.
Doch sowohl der graubärtige Kabylendiplomat als auch Lorenzen schwiegen mit ebenso verbissener Hartnäckigkeit.
… Das war unsere Gesamtstimmung.
Und daß einzelne von uns hoch über den Dingen standen und getrost abwarteten, bis es den Wissenden gefallen würde, den Mund zu öffnen, und daß uns allen nur der eine Wunsch im Herzen brannte, es möchte regnen und stockfinster werden und das klare Firmament möge einer schwarzen Decke gleichen, – – selbst dies war nebensächlich.
Eine ungemütliche Mahlzeit … Die Gemüter überladen mit Gereiztheit, die Mienen finster und verbissen zugleich, nur ein Gesicht erstarrt in Schmerz und Verzweiflung, Frau Antoinettes, und ein paar andere Gesichter abgeklärt in jene fatalistische Ruhe, die keine Ungeduld kennt, – so Weber, der junge Funker, der stämmige Felgner und ich …
Von Inge Lorenzen schon ganz abgesehen …
Ihre reinen melancholischen Züge spiegeln überhaupt keine Seelenregung wieder …
Bis dann der Ingenieur des „Feuersand“, auch ein jüngerer, zu temperamentvoller Herr, urplötzlich herausplatzte:
„Zum Teufel, weshalb liegen wir hier wie die Füchse in ihrem Bau, vor dem die Hundemeute und die Jäger lauern?! Weshalb soll es erst regnen?! Lorenzen, – – zum letzten Male, – – reden Sie!!“
Der abgetakelte Kapitän, der ein Auswandererschiff versenkt haben sollte durch grobe Fahrlässigkeit, meinte wie stets bei solchen Explosionen des Unwillens:
„Abwarten, Rolfs, abwarten …! Dies hier ist meine und Selim Hullahs Angelegenheit!“
Aber Rolfs und mit ihm all die anderen hatten die Nerven verloren.
Ein Durcheinander von Flüchen prasselte auf Lorenzens Adlerschopf hernieder.
Gerade da ertönte vom Schluchteingang ein Pfiff, noch einer … Genau wie das nächtliche Pfeifen der großen Schwalben, die droben in den lehmigen Stellen der Steilwände hausten.
Weber, ich und Trasso liefen hinüber. Zwischen den Steinblöcken, die die Aussicht auf die Hochebene versperrten, empfing uns eine unserer Wachen, ein geistig sehr rühriger Matrose.
„Herr Abelsen, ein Berber war dort droben, verschwand wieder …“ Er zeigte nach rechts, wo man die Höhe im Schutze der Steinhalde erklettern konnte.
Weber wollte mit.
„Bleiben Sie, – Trasso und ich schaffen es allein …“
Der Käpten blieb zurück.
Eine halbe Stunde darauf sollte ich einen Mann wiedersehen, den ich zu allerletzt hier im Rif vermutet hätte.
Trasso fand die Fährte sehr bald. Der Berber war umgekehrt, als er unsere Posten bemerkt hatte, ihn abzufangen, war das einzige Mittel, uns vor den umwohnenden feindlichen Bergstämmen zu schützen.
Ich gab Trasso frei, wir gelangten in den Hochwald, der nur wenig Unterholz hatte, es ging immer noch bergan, es gab weite Blößen, auf denen das Mondlicht wie frisch gefallener Schnee lag, – es ist über Mondlicht so viel zusammengefaselt worden, der eine sieht es grün, der andere bläulich, – Farbenblindheit, Fremdheit gegenüber der Natur, Schreibtischeingebungen …
Trasso trabte, ich trabte … Meine Repetierbüchse war zusammen mit Ghost und Pieter verflüchtigt, ich hatte einen Karabiner, aus dem ich noch nicht einen Schuß abgegeben hatte, dazu Pistole, Messer und – das Beste – die Erfahrung des Mannes der Wildnis.
Der Berber mußte mein werden.
Ich war ausgeruht, frisch, um die Berghöhen fegte ein kühler Wind, die Zedern dufteten, Pflanzen dufteten, darunter viele, die auch Europa kennt: Pfefferminzkraut, Thymian, Salbei. – Die Schönheit des nächtlichen Landschaftsbildes verführte fast zum Verweilen. Drüben war die endlose, bergumrandete Hochebene, mitten darin der hohe, einsame, geheimnisvolle El Kebir …
Weiter … weiter …
Trasso wurde eifriger, die Fährte mußte ganz frisch sein, wir mußten den Burschen dicht vor uns haben.
Ich wurde vorsichtiger …
Und dann ein Windbruch, hier keine Seltenheit, – ein riesiges Durcheinander von Zedern und Eichen, die nicht sterben wollten, die dicht am Boden weiter gediehen und zum Lichte strebten, Luft haben wollten, – – Existenzkampf der Bäume, die ein Gewitterorkan niedergedrückt hatte.
Trasso stand, Genickhaar gesträubt, etwas zusammengeduckt …
Ich stand, Karabiner halb im Anschlag … Violetter Mondschatten verwischte die untere Grenze des Windbruchs, aber aus dem dunklen Violett leuchteten matt zwei weiße Augäpfel, fast phosphoreszierend in dieser Dunkelheit.
„Herr Abelsen!!“
Da pendelte auch Trassos Rute bereits freundlich hin und her.
„Pieter, – – Sie hier?!“
„Immer an der richtigen Stelle, Herr Abelsen … Kommen Sie nur … Wir wohnen hier sehr behaglich …“
Mitten im Windbruch ein freier Platz, ein kleines Feuer, fünf Pferde, ein Zelt, – am Feuer der Teufelskerl von Ghost und ein Berber, beide rauchend …
„N’ Abend, Abelsen … Herrn Kommissar Kuttner kennen Sie wohl noch …“
Kuttner?!
Ich mußte mich erst besinnen … Der Sprung zur deutschen Nordseestadt zurück war etwas weit.
Der dunkelhäutige Berber schob das Kopftuch höher.
„Ich bin Franz Kuttner …“
Ghost drückte mir die Hand. „Setzen Sie sich, Sie alter Weltenbummler … Zur Zeit ist Herr Kuttner mein Gefangener.“ Er lächelte dazu etwas niederträchtig. „Die hohe Justiz hat endlos lange Arme … Die Schergen verirren sich bis Marokko und beweisen, daß sie Mut haben.“
Kuttner sagte schroff: „Lassen Sie die Scherze, Herr … Herr Ghost!“
Der junge Reporter grinste. „Ihr Glück, daß ich für Sie Ghost bin! – Rauchen Sie, Abelsen? Bitte … Ich bin tadellos versorgt … Ich habe hier im Rif Geheimdepots. – So, nun erzählen Sie mal, Herr Kuttner …“
Der unechte Berber schielte Pieter von der Seite an, der sich gleichfalls gesetzt hatte und mit seinem Messer an einem Ast schnitzelte.
„Erzählen?! Ihnen?! Sie wissen doch alles!“
Ghost nickte. „Stimmt. Aber Abelsen sieht noch nicht ganz klar. Meine Person scheidet aus. Merken Sie sich das! Los also!“
Kuttner, der seine Zigarre im Mundwinkel hatte, begann gereizt: „Was gibt es da zu erzählen?! Dienst ist Dienst … Die Geschichte mit dem Dampfer, der bei Kap Er Kule wegsackte, ist nie völlig geklärt worden, Lorenzens Angaben traute niemand, wir behielten ihn dauernd im Auge. Wenn ein Dampfer hundertfünfzig deutsche Plantagenarbeiter für Ceylon – angeblich! – an Bord hat, alles unverheiratete, junge Kerle, und wenn dann nur der Kapitän der Katastrophe entgeht und nun später doch der da auftaucht“, – er starrte Pieter an – „dann haben die Behörden die Pflicht, nachzuprüfen, ob die hundertfünfzig Mann nicht an die Fremdenlegion verschachert wurden …“
„Blödsinn!“, brummte Ghost eindeutig. „Aber nur weiter im Text!“
„… Die spanischen Behörden gaben mir einen Passierschein und Empfehlungen für die ihnen treu gebliebenen Stämme, und zwei eingeborene Führer. Die Berber starben an Typhus, und das Dorf S’Birren da drüben stank von Leichen … Seit drei Tagen lebe ich hier in der Einsamkeit, um gesund zu bleiben. Vorhin fand ich die Schlucht, und dann erwischte mich der Neger …“
„Sagen Sie gefälligst Jupiter oder Pieter oder Herr Aschanti!“, grobste ihn der Schwarze an. „Sie wissen recht gut, daß ich im Hause Brouville eine Vertrauensstellung einnehme. Also – – Herr Pieter!“
Ghost lachte leise. „Pieter besitzt Selbstbewußtsein, und dies mit Recht. – Sie, Herr Kuttner, wollten also den Fall Lorenzen aufklären. Ich fürchte nur, Sie haben sich ein wenig übereifrig dieser Aufgabe übernommen. Sie haben Inge Lorenzen den Hof gemacht, wurden abgeblitzt, und Dienstliches und Persönliches vermischte sich in Ihrer nicht ganz sauberen Seele …“
„Das verbitte ich mir!“ fuhr Kuttner auf.
Wie lächerlich das!!
„… Seele zu einem unappetitlichen Mischmasch. – Weiter bitte! Was haben Sie nun ermittelt? Gewiß, Frau Brouville hatte die hundertfünfzig „Auswanderer“ in aller Stille angeworben. Das liegt etwa zwei Jahre zurück. Was erfuhren Sie hier? Was behaupteten die Spanier?“
Kuttner schleuderte seine Zigarre ins Feuer.
„Teufel noch mal, Herr Ghost, – Sie verkennen mich! Ich bin kein so miserables Subjekt, daß ich jetzt nicht für Lorenzen Mitleid empfinden sollte! – Die Spanier tappen im Dunkeln, aber ich habe mir nun aus den Dingen den einzig richtigen Vers gemacht.“
„Da bin ich wirklich gespannt!“
Kuttner schaute Ghost durchdringend an.
„Sie fordern von mir Verschwiegenheit, Sie trauen mir ein genügendes Maß Anstandsgefühl zu, anderseits beleidigen Sie mich!“
„Die Wahrheit ist kein Reibeisen oder Schmirgelpapier … – Bitte …“
Kuttner wurde etwas besänftigt. „Allerdings, die Wahrheit reißt alle Deckschichten unklarer Ereignisse herab. Frau Brouville hatte ihren verbummelten Stiefsohn aus dem Hause gegrault, und als sie erfuhr, er sei in die Fremdenlegion eingetreten, kam die Reue. Sie versuchte das Unmöglichste, ihn frei zu bekommen, schließlich kam ihr der Gedanke an Gewaltanwendung, als der Rifkrieg begann. Sie warb jene hundertfünfzig Mann durch Lorenzen an, sie verlud auf demselben Dampfer heimlich Waffen, sie fand Abenteurer, die diese Truppe kommandieren sollten, sie ließ den Dampfer auf das Klippenfeld auflaufen, und alle, außer Lorenzen und Pieter, auch die Besatzung, marschierte wohlbehalten ins Innere, tadellos ausgerüstet … Diese wahnwitzige Frau wollte ihren Stiefsohn, der unweit des Sebu zwischen der Stadt Fes und dem Sebu als Legionär auf vorgeschobenem Posten lag, auf die Weise befreien.“
„Hut ab, – es stimmt!“, sagte Ghost sehr ernst. „Und dann?!“
„Dann fing Raisuli die deutsche Abenteurertruppe ab, umzingelte sie, und …“
Kuttner deutete dorthin, wo El Kebir liegen mußte …
„… und sperrte die Ärmsten in den Höhlen des heiligen Berges ein …“
Ich hatte mich bisher nicht gerührt.
Ich hatte nichts gefragt, nur zugehört.
Ghost nickte abermals. „Sie sind ein tüchtiger Mann, Kuttner … – Und wie ermittelten Sie dies alles?“
„Aus vorsichtigen Andeutungen reimte ich es mir zusammen! Und jetzt, Herr Ghost, werde ich alles daran setzen, die Leute zu befreien.“
Ghost lächelte nachsichtig.
„Haben Sie eine Ahnung, wie gut der Berg bewacht wird! So einfach ist die Geschichte nicht. Die frommen Marabuts dort oben sind keine feisten Dummköpfe. Im Gegenteil. Wenn die Sache so im Handumdrehen zu machen wäre, würde ich das Problem schon längst gelöst haben, denn ich weiß längst, wo die „Ertrunkenen“ stecken.“
„Und Lorenzen weiß es auch!“, mischte ich mich mit aller Bestimmtheit ein. „Ebenso ist Selim Hullah davon unterrichtet. Woher Lorenzen seine zutreffenden Informationen hat, kann ich nicht sagen. Jedenfalls verlangt er, daß wir uns hierher wandten und daß in der ersten finsteren Nacht der Berg El Kebir gründlich durchsucht werden soll.“
Ghost schnippte die Asche von seiner Zigarre. „Er weiß es von mir, Abelsen. An der Werga erzählte ich es ihm, als er Pferde stahl und ich dasselbe tat. Da ist er mir um den Hals gefallen.“
Pieter grinste vergnügt.
„Mir auch! Sein Kuß schmeckte nach Kautabak.“
Nach diesem fröhlichen kleinen Zwischenspiel einigten wir uns sehr schnell, was nun zu geschehen.
Ich verabschiedete mich. Ich sah nur noch, daß Ghosts Apparate wieder tadellos in Ordnung waren und daß hoch droben im Windbruch eine Antenne hing.
Als ich unsere Schlucht wieder erreichte, war es lange nach Mitternacht. Unsere Posten am Schluchteingang überfielen mich mit Fragen.
„… Der Kerl ist tot“, erklärte ich. „Es war ein Berber … Trasso zerbiß ihm das Genick. – Gute Nacht. Ich bin müde.“
In unserer Zweighütte brannte noch die stinkende Funzel. Lorenzen lag lang auf dem Bauche und las mein Tagebuch, den großen Abreißkalender, Beutestück von der Werga.
„Schämen Sie sich!“, sagte er milde.
Der einstige Kapitän deutete auf das letzte von mir beschriebene Blatt.
„Sie schreiben sich selbst, Abelsen … Hier habe ich etwas hinzugefügt.“
Da stand:
Im El Kebir werden die gefangen gehalten, die nicht ertrunken sind und die Leon Brouville befreien sollten. Frau Antoinettes Plan war Wahnwitz, aber ich machte mit, weil ich sie bedauerte. Nachher haßte ich sie, da sie meinem Kinde das Herz brach. Ich schwieg trotzdem, denn man hätte mich ins Zuchthaus gesteckt, würde ich die Wahrheit verraten haben. Ich bin ein Lump, und mein Kind ist unglücklich, da sie glaubt, Weber sei Antoinettes Geliebter gewesen.–
Jasper Lorenzen.
„Abelsen“, sagte der gescheiterte Kapitän gleichgültig, „natürlich hat Frau Brouville mir Unsummen als Entschädigung geboten. Ich dankte und wurde Stauer. Aber ich wollte nach dem Rif … Mein Gewissen drängte mich, das Schicksal von 172 Menschen aufzuklären. Deshalb nahm ich an dem Waffenschmuggel teil – – deshalb!“
Ich drückte ihm die Hand.
„Lorenzen – – Lump?! Niemals!! Haben Sie nie die Beweggründe der absichtlich herbeigeführten Strandung Ihres Schiffes geprüft?! Ich verurteile Sie nicht, ebensowenig Antoinette … – – Halloh, was war das?!“
Wir horchten …
In der Ferne grollte ein Gewitter … Es kam näher … Der Wind hatte gedreht, und in kurzem mußte die Hochebene unter einem finsteren Wolkenmantel liegen.
Eine grelle Zickzacklinie flammte über das Firmament.
Im Lichte des Blitzes erkannte ich neben der vereinbarten einzelnen Zeder unweit des El Kebir die schlanke Gestalt Edgar Ghosts.
Meinen Trasso hatte ich in der Schlucht gelassen, hatte auch jede Begleitung abgelehnt.
„Pünktlich wie der Gerichtsvollzieher!“, meinte Ghost scherzend. „Daß so rasch ein Unwetter heraufziehen würde, haben wir nicht geahnt. Pieter und Kuttner sind übrigens wütend, weil ich sie nicht mitnahm.“
„Lorenzen und Weber desgleichen …! – Aha, – – Der Regen fällt dichter. Vorwärts, Ghost, ich hatte mir in der Schlucht noch schnell unseren Diplomaten Selim ins Gebet genommen, aber der Kabyle ist nie auf dem El Kebir gewesen und gestand nur ein, daß Abd el Krim sehr wohl weiß, wer dort im Berge steckt. Die Rifleute haben dreimal den Berg stürmen wollen, gelangten jedoch nicht einmal bis auf die Hochebene hier. Mit dem Marabut-Berge muß es auch eine ganz besondere Bewandtnis haben … Selim warnte mich eindringlichst. Bei den Rifstämmen sollen die tollsten Gerüchte umgehen, die frommen Herren da droben sollen zum Beispiel einen ganzen Zoologischen Garten unterhalten: Löwen, Hyänen, Affen, Schakale. Selim deutete an, daß Zarra Dhau doch nicht seinen Namen ohne stichhaltige Gründe trüge … – Jetzt gießt es … Nur die Blitze sind unangenehm, zu hell …!“
Wir näherten uns nun der Südseite des mehr tafelförmigen Berges, dessen unterste flache breite Terrasse an dieser Stelle dicht bebaut war. Dieser grüne, fruchtbare Gürtel sollte sich mit Unterbrechungen rund um das Bergmassiv herumziehen, das insofern etwas sehr Bemerkenswertes besaß, als weiter droben zahlreiche Gießbäche über die Abhänge stürzten und sich in der Hochebene nach Westen zum Wadi Tafir vereinigten, einem Fluß, der in einem tiefen Kanon der fernen Werga zuströmen sollte. Ich betone: Sollte! – Selbst Selim Hullah wußte dies nicht genau, denn gerade diese Gebirgszüge hier waren nie recht erforscht worden, auch nicht von den Rifkabylen. Man kannte die Stämme, die hier hausten, dem Namen nach, man hatte Raisulis unheilvollen Einfluß, der von dieser Gegend ausging, nur zu sehr gespürt, mit Gewalt war dem großen Räuberhauptmann nie beizukommen gewesen, und sein Tod blieb auch etwas mystisch. Deshalb auch hatte Abd el Krim – zu seiner Ehre sei es gesagt – auch unmöglich von seiner kleinen Armee noch weitere Expeditionskorps zur Befreiung der[14] deutschen Gefangenen abtrennen können, – daß er überhaupt drei derartige Versuche unternommen hatte, war ihm hoch anzurechnen, obwohl ich nach meinen Erfahrungen an der Werga, wo man mich als Spion „hintenrum“ auszunutzen versucht hatte, den Rifleuten nicht mehr die Uneigennützigkeit zutraute, Frau[15] Brouvilles Privatarmee nur befreien zu wollen, wahrscheinlich hätte Abd el Krim den Zustrom von fast zweihundert Deutschen, die alle altgediente Soldaten waren, freundlichst willkommen geheißen, genau wie er ja auch ehemalige deutsche Offiziere als Führer seiner Maschinengewehrabteilungen benutzte.
Jedenfalls: Wir gelangten bei strömendem Gewitterregen in die Felder und grünen Haine der Terrasse, – ich hatte bereits gestern mit einem sehr mäßigen Fernglas feststellen können, daß von dieser Terrasse zahllose Schlängelpfade den Berg hinanliefen, hatte auch eine Anzahl Marabuts beobachtet, die auf und ab kletterten, – nur eine Frage blieb mir dunkel: Wer bewachte diese zahllosen Gefangenen?! Etwa Krieger der benachbarten Stämme?!
Ghost ließ mich vorangehen.
Er traute mir doch größere Erfahrung im Anschleichen zu und hielt sich dicht hinter mir.
Seltsam genug, je höher wir nun kamen, desto stärker beschlich mich ein instinktives Unbehagen, also die Vorahnung einer nicht erkennbaren Gefahr. Trasso wäre hier von unschätzbarem Nutzen gewesen, aber Selims Bemerkung, daß die Marabuts sich wilde Tiere hielten, hatte mich mit dazu bestimmt, den angriffslustigen Wolfsbastard im Lager zu lassen.
Der Pfad teilte sich unterhalb eines Felsblockes, der wie ein gewaltiger Balkon über uns lag. Deutlich erkennbar liefen drei Fußsteige weiter, der breiteste führte weiter aufwärts.
Unter dem vorspringenden Fels sickerte Wasser hervor, ich glaubte dort ein geräumiges Loch zu sehen, und als ich vorsichtig näherschlich, dunstete mir aus dem Höhleneingang ein derart widerwärtiger Gestank entgegen, daß ich geradezu zurückfuhr.
Es war Leichengeruch, Aasgestank.
Ghost roch es auch.
„Dort kann doch kein Mensch hausen!“, flüsterte ich.
Er hielt sich die Nase zu.
„Vielleicht die Katakomben des El Kebir, Abelsen … Wir müssen nachsehen …“
Er gab mir zwei Wattepfröpfchen, die er im Patronengurt stecken gehabt hatte.
„Da – in die Nasenlöcher!! – Fragen Sie nicht viel!“
Die Watte war mit Karbol leicht durchtränkt.
Ich sollte nicht fragen?!
Da kannte er mich schlecht.
„Ghost, Sie waren schon einmal hier! Leugnen Sie es nicht ab!“
„Fällt mir nicht ein. Genau bis hier war ich gelangt … Der Gestank vertrieb mich.“
Er stopfte sich die Nasenlöcher zu und betrat die unbekannte Höhle, ließ sein Feuerzeug funken, und seine Karbidlaterne zischte auf.
Als die Flamme ruhig und stetig brannte und der Lichtschein in die Finsternis hineintastete, erkannten wir zehn Meter vor uns an den Wänden der Höhle gekrümmte, sitzende Gestalten.
„Katakomben!“, brummte Ghost. „Alles Tote!“
Er zögerte und blieb stehen.
„Geben Sie mir die Laterne, Ghost …!“
„Sehr gern …! – – Scheußlich!!“
Er hatte recht. Es war scheußlich … Doch nur die ersten fünfzig Meter weit. Denn hier hockten die noch nicht zu Mumien vertrockneten Leichen, alles Marabuts, alles Greise …
Hinter der ersten Biegung wurde der Gestank geringer, und wir spürten einen kühlen, trockenen Luftstrom, der durch die sanft ansteigende Höhle strich, deren Wände kristallinisch schillerten. Ich kratzte an den schmutzig-weißen Stellen und schmeckte. Es war Salpeter.
Hier hatten wir nur noch echte Mumien vor und neben uns. Ich hatte flüchtig gezählt, – es waren bisher gegen hundert, aber dieses gräßliche Spalier vertrockneter Leichname fand kein Ende[16].
„Kehren wir doch um!“, meinte Ghost nervös …
„Nein, lieber Ghost! Wenn es Ihnen zu viel wird, – – bitte, – – mir nicht.“
Ich hatte schon meine Gründe, nicht umzukehren.
Die Höhle stieg immer weiter an und war eigentlich nur ein unregelmäßiger breiter Stollen, in dem die Toten mit vorgestreckten Beinen oft dicht bei dicht hockten. Man hatte sie so gegen die Wände gelehnt, daß die Körper nicht zusammensacken konnten. Nicht alle Stellen eigneten sich hierzu, der Fels war oft zu glatt, es fehlten die stützenden Zacken. Oft saßen die Mumien mit weit zurückgebeugten Köpfen und stierten uns aus leeren Augenhöhlen wie heimtückisch an.
Ghost reichte mir eine Zigarre …
„Verdammt, – – da, der Kerl hat noch Augen – – gräßlich!!“
Er rauchte krampfhaft.
Je weiter wir kamen, desto kälter wurde der Luftstrom.
Jetzt eine neue Biegung …
Die Mumien mußten hier uralt sein …
Ich nahm die Watte aus der Nase.
Es roch nach[17] – – ja, wonach nur?!
Es war ein Duft, als ob vor uns sich eine Apotheke befände.
Ghost flüsterte nochmals: „Kehren wir um, Abelsen!!“
… Er hatte die Nerven verloren.
Und wieder eine schwache Krümmung, zu der wir etwa zehn Meter steil aufwärts klimmen mußten. Hier gab es keine Mumien mehr.
Ich schätzte ihre Zahl auf nahezu neunhundert.
Ja – – neunhundert.
Hier gab es nur eine flache, größere Grotte, in der das Laternenlicht über grobe Holztische hinhuschte.
Wir standen still.
Auf einem der Tische, die mit trockenen Kräutern bedeckt waren, brannte eine Öllampe mit zwei Dochten. An diesem Tische saß ein Marabut und … schrieb mit einer Schwungfeder eines Aasgeiers auf grobem, dickem Papier.
Der Mann war so in seine Arbeit vertieft, daß er uns nicht gehört hatte.
… Oder nicht gehört zu haben schien …
Wir rührten uns nicht.
Wir sahen, daß wir einen Europäer vor uns hatten trotz seines Marabutkaftans. Sein Haar war dunkelblond, leicht gescheitelt, sein Gesichtsausdruck verriet konzentrierteste geistige Sammlung.
Er mochte vierzig Jahre zählen, er war fast bartlos, – – und – – er legte die Feder weg und drehte sich halb um und blickte uns entgegen.
„Sie sind mir gemeldet worden“, sagte er ganz schlicht und erhob sich. „Nicht wahr, – die Herren Abelsen und Leon Brouville … Mein Name ist Arthur Dolf, ich bin der Kaid oder Führer der weißen Marabuts vom El Kebir.“
Hätte ein anderer dies ausgesprochen, würde ich ihn für einen Übergeschnappten gehalten haben.
Aber diese ruhige, kühle Sachlichkeit und Schlichtheit dieses Deutschen – er sprach das Deutsche ohne jeden merklichen Beiklang – hatte etwas Überlegenes an sich, daß ich mich lediglich mit einem Ruck Edgar Ghost zuwandte.
„Wie, – – Sie sind Leon Brouville? Stimmt das?“
„Ja, Abelsen … Ich bin es. Der tote Brouville, der Legionär, ist mein französischer Vetter fünften, sechsten Grades.“
Arthur Dolf deutete auf zwei Holzstühle.
„Bitte, nehmen Sie Platz …“
Mit über der Brust verschränkten Armen lehnte er sich leicht an den Tisch und begann ohne Aufforderung zu sprechen. Seine Rede war fließend, seine Ausdrucksweise klar und packend, sein beherrschtes Mienenspiel und seine gelegentlichen Gesten paßten sich vollkommen seiner ganzen Art an, – es war die eines überragenden Geistes, der doch die Tat stets über des Gedankens Blässe stellt.
„Ich bin Ihnen ein Fremder, meine Herren. In den Passagierlisten des Dampfers, der bei Er Kule versenkt wurde, stand nichts als Arthur Dolf, Chemiker, Plauen, Vogtland. In diesen Listen stand vieles, was nicht stimmte. Chemiker ist vielleicht ein wenig anmaßend als Berufsangabe, in Wahrheit hätte dort „Drogist“ oder dergleichen verzeichnet werden müssen, und auch das würde meinen Werdegang nur ungenügend wiedergegeben haben. Armut, Hunger, Enttäuschungen waren die Meilensteine an meinem Lebenswege. Ich sah keine Möglichkeit, in Deutschland mich irgendwie durchzusetzen. Ich verstand von dem unendlich weiten Gebiete der Chemie zu viel, um nicht den Neid derer zu erregen, die mit prunkenden Titeln jeden Außenseiter mundtot machen können. Aus Neid wurde Haß, man bestahl mich um wertvolle Erfindungen, man hatte den Schein des Rechts für sich, und tief angeekelt ergriff ich die Gelegenheit, Deutschland den Rücken zu kehren. Hier im Rif zeigte sich dann sehr bald die volle Unfähigkeit derer, denen Frau Brouville das Kommando über ihre abenteuerliche Expedition anvertraut hatte. Nach den ersten Angriffen der Räuberbanden Raisunis drohte gänzliche Disziplinlosigkeit einzureißen. Ich hatte zunächst nur wenige Mann hinter mir, aber auch die anderen sahen schnell ein, daß wir verloren seien, wenn wir uns nicht einem Willen beugten. Ein erneuter Vorstoß Raisunis drängte uns in dieses Hochtal, Gefangene berichteten mir von dem leicht zu verteidigenden El Kebir, und wir besetzten ihn, ohne daß die Marabuts starken Widerstand leisteten. Ich schloß eine Art Bündnis mit ihnen, und wir waren vorerst geborgen und konnten alle Angriffe abschlagen. Wir brauchten Ruhe und Pflege für unsere Kranken, der Typhus wütete unter uns, aber wir besaßen Medikamente und das Verständnis für die nötige Sauberkeit, und gerade an die waren die Marabuts nicht zu gewöhnen, sie wiesen unsere Ratschläge zurück, die Unreinlichkeit hielten sie für ein Zeichen ihrer angemaßten und anmaßenden Intelligenz, sie starben dahin bis auf wenige, wir aber lebten, weil wir allen Schmutz auskehrten und als oberstes Gesetz die Sauberkeit hinstellten, – – und deshalb erlosch die Epidemie. Wir hatten nur drei Tote zu beklagen, sie ruhen droben auf diesem Tafelberge, dessen flache Kuppe schüsselförmig vertieft und ein förmlicher Garten ist. Inzwischen hatten wir im El Kebir, der ein uraltes Bergwerk der Vorzeit darstellen dürfte, goldhaltiges Gestein gefunden, wir gewannen Gold in mühsamer Arbeit, wir bebauten die Felder, wir täuschten die umwohnenden Stämme und hielten sie uns fern, unser Geheimnis mußten wir hüten, und unsere seltsame Kolonie gedieh und ihre Mitglieder lernten es, ihre eigenen Interessen zurückzustellen und für die Gemeinschaft sich einzusetzen. Die überlebenden, von uns mit aller Rücksicht behandelten Marabuts paßten sich uns nicht nur an, sondern übernahmen freiwillig zum Teil recht gefährliche Aufträge, bewahrten uns die Treue, blieben verschwiegen und durchzogen das Rif als meine Spione. Ich hatte einen vollkommenen geheimen Nachrichtendienst eingerichtet, nichts gab es, wovon ich nicht sofort unterrichtet wurde, meine Später sind tadellos beritten, wir hatten optische Signalstationen angelegt, wir wollten uns vor jeder Überraschung schützen, denn – wir hatten einen Schatz zu hüten, den wir dem Fleiß unserer Hände verdanken und den wir rechtzeitig bergen wollen: Gold, Goldkörner, schwer erarbeiteter bescheidener Reichtum, der jedem von uns in der Heimat eine neue Zukunft aufbauen helfen wird. Wir sind keine goldhungrigen Abenteurer, wir sind sehr kühle, klare Köpfe geworden, aber wir werden uns auch nichts von dem rauben lassen, was wir hier ehrlich dem Boden abrangen.“
Der Mann, der sich selbst als Kaid der weißen Marabuts bezeichnet hatte, senkte ein wenig den Kopf, schwieg und schien sich in Erinnerungen zu verlieren. Dann – hart und messerscharf wurde seine Stimme – fuhr er abschließend fort: „Gewiß, es gab Elemente unter uns, die sich nicht fügen und nicht eingliedern wollten, die erfüllt waren von törichten Ideen oder von zerstörendem Machthunger. Es waren dies jene Leute, von denen Frau Brouville alles erhofft hatte, und die nichts erfüllen konnten, weil sie sich einbildeten, ein solcher Miniaturstaat wie dieser hier dürfe nur von Köpfen geleitet werden, deren Hirn durch Akademikerblut oder gar blaues Blut ernährt würde. Es gab da ein paar Narren, die die primitivsten Gemüter aufzuhetzen versuchten. Diese Versuche endeten mit einer Gräberreihe. Menschenleben sind wertvoll, wenn sie Werte hervorbringen und hüten, – sie sind überflüssig, wenn sie bereits Geschaffenes nur unterminieren. Es klingt vielleicht sehr, sehr brutal, was ich soeben sagte, aber es ist die Wahrheit. – Und noch eins. Daß der Legionär Leon Brouville nicht mit dem Stiefsohn Frau Antoinettes identisch war, wußte ich längst. Längst kannte ich auch Sie, Leon Brouville, – – durch meinen Nachrichtendienst, ebenso Ihren treuen Jupiter, ebenso die Vorgänge am Kap Er Kule, wo nun in der Bucht ein zweiter Dampfer auf dem Meeresgrunde liegt. Ich kenne Ihre Schlucht drüben, Herr Abelsen, ich könnte Ihnen Ihr Gespräch mit Kuttner und Ghost fast wörtlich wiedergeben, – Ihr gefärbtes Haar, Herr Brouville, und der Zufall, daß Ihr verkommener Vetter in die Legion eingetreten war, führten zu diesen Verwicklungen und förderten Ihre Ziele: Sie, der leichtlebige Nichtstuer, hatten als Reporter ein Ihnen zusagendes Betätigungsfeld gefunden und dadurch … sich zu sich selbst zurückgefunden. – Mehr hätte ich Ihnen beiden nicht zu sagen. Ich heiße Sie und Ihre Gefährten hier herzlich willkommen und bitte Sie, Ihre Freunde recht bald herbeizuholen, da die Kriegslage im Rif in allernächster Zeit unseren schleunigen Aufbruch zur Küste des Atlantischen Ozeans notwendig machen könnte. Abd el Krims Freiheitskampf ist nunmehr aussichtslos, nachdem auch Frankreich mit eingegriffen hat, ich rechne damit, daß die Rifleute in wenigen Monaten sich ergeben werden, zumal alle Anzeichen dafür sprechen, daß französische Agenten und französisches Geld den größten Teil der noch treu gebliebenen Bergstämme gründlich für seinen Abfall vorbereitet haben. Ich bin deshalb auch außerordentlich auf der Hut, damit wir den Zeitpunkt nicht verpassen, wo ein Abmarsch zur Küste ohne Verluste noch möglich ist. – So, meine Herren, nun tun Sie auch Ihrerseits Ihre Pflicht. Holen Sie Ihre Gefährten hierher. Ich erwarte stündlich neue Nachrichten, – – seien Sie vorsichtig, irgend etwas ist hier im Anzuge, ich will Sie nicht unnötig nervös machen. Auf Wiedersehen also.“
Wir waren entlassen.
Entlassen, als ob wir irgend einem bedeutenden Politiker einer Großmacht gegenübergesessen hätten, und Arthur Dolf war doch nichts als der Anführer einer Schar von Abenteurern, die jetzt Goldgräber spielten.
War er das wirklich nur?! Empfand ich über diese kühle, selbstbewußte Art der Verabschiedung irgendwie das Gefühl der Demütigung? – Nein, denn der Mann da war unbedingt eine Persönlichkeit, war ein ganzer Kerl, wußte, was er wollte und verzichtete auf jedes überflüssige Wort.
Genau so äußerte sich Leon Brouville, nachdem wir die Katakomben eiligen Schrittes durchmessen hatten und wieder den Berg hinabstiegen.
Das Gewitter hatte sich verzogen. In der Hochebene unten war es unangenehm hell. Wir beachteten Dolfs Warnung sehr genau, unbedingt lag Grund zu äußerster Behutsamkeit vor, und bei dem immerhin recht unübersichtlichen Gelände hielt ich es für dringend ratsam, daß wir in größerem Abstand der Schlucht zustrebten.
Ich war etwa vierzig Meter voraus, benutzte jede Deckung und mußte hoffen, daß auch Brouville sich nach mir richten würde.
Die Randberge des Hochplateaus kamen gerade in Sicht, als hinter mir zwei Schüsse knallten. Ich hatte soeben in eine der ersten Geröllhalden der Vorberge einbiegen wollen, ich selbst war durch hohe Steintrümmer und Gestrüpp geschützt, ich fuhr auf die Schüsse hin herum, und doch war es zu spät, Brouville irgendwie beizuspringen. Ich erblickte an die hundert Marokkaner, die in enger, gekrümmter Linie sich zwischen meinen Gefährten und mich geschoben hatten, von dem nichts mehr zu sehen war.
Die Absicht der Gegner, die nur zum Teil beritten waren, ließ sich unschwer aus der Schwenkung ihres äußersten linken Flügels erkennen, der mich – alles Reiter – von den Bergen abdrängen wollte.
Hier gab es kein langes Überlegen, hier gab es nur eine Möglichkeit, den fanatischen Kerlen zu entweichen: Nicht etwa Flucht, sondern Rückkehr in die Ebene, und zwar in schräger Linie nach Nordwest, wo durch die Schwenkung ein breiter Streifen unbesetzten Geländes entstanden war.
Ganz tief geduckt kroch ich vorwärts, hohes Halfagras in hohen Stauden täuschte fast eine Steppe vor, und alles schien gut zu gehen, als niederträchtigerweise eine Hyäne, die sich hier verkrochen hatte, mit dem bekannten scheußlichen schrillen Gelächter höchsten Schrecks dicht vor mir flüchtig wurde. Ich vernahm neue Schüsse, wilde Zurufe, und trotz sofortigen scharfen Abbiegens nach rechts stürmte eine Schar berittener Berber heran, denen ich nur dadurch noch vorläufig entging, daß ich blindlings in einen Buschstreifen kroch und mich ebenso blindlings weiterarbeitete, obwohl Dornenranken mir Gesicht und Hände übel zurichteten. Genau so jäh kam hinter mir der lockere Boden ins Rutschen, ich sauste kopfüber hinab, rappelte mich empor und befand mich in einer tiefen, kurzen Regenrinne inmitten einer Schar bleicher, verstörter Gesichter.
Es waren meine eigenen Gefährten aus der Schlucht, es waren Pieter und Kuttner, – keiner fehlte, und um sie herum standen wie versteinerte Rachegötter bewaffnete Marokkaner, das Gewehr im Arm, mindestens dreißig Leute …
Für sogenannte Heldentaten war hier weder Ort noch Stunde … Angesichts von dreißig modernen Hinterladern siegt die Vernunft, siegt die Eingebung des Augenblicks, und da gerade der einzige Europäer, der diese Berber kommandierte, ein älterer Legionärsergeant, keine fünf Schritte von mir stand, tat ich etwas, das im ersten Augenblick unsinnig erscheinen mochte? Ich ging auf ihn zu, redete ihn französisch an und holte frech und bedenkenlos Hullahs „Paß“ hervor, entfaltete das Papier und erklärte dem sonnverbrannten langen Burschen, wir alle stünden unter dem Schutze des Sultans von Marokko, – – dabei wies ich auf die alte Goldmünze, die hier das Siegel ersetzen sollte.
Zeit gewinnen, das war meine Absicht!
Die Schüsse mußten droben auf dem El Kebir gehört worden sein, und wahrscheinlich hatten auch Arthur Dolfs Späher die Gefangennahme der Lagerinsassen längst bemerkt.
Der Legionär nahm das Papier geringschätzig entgegen. Was bedeutete ihm der Sultan, der ja doch nur ein Popanz war, ein Nichts, abhängig von der Gnade der beiden Vertragsmächte, die Marokko unter sich aufgeteilt hatten?! – Das Sternenlicht reichte nicht hin, daß er die Urkunde lesen konnte. Mein energischer Ton allein war es, der ihn achselzuckend antworten ließ: „Monsieur, der Major wird entscheiden …“ Er steckte das Papier zu sich, und ich habe es nie wiedergesehen.
Was folgte, war rasendes Ablaufen eines grellbunten Filmbandes … Alle Einzelheiten verwischten sich, nur die Hauptvorgänge prägten sich dem Gedächtnis ein.
Und dieser Tonfilm begann mit dem tiefen, tiefen, dröhnenden, langgereckten Hu – – a – – Hu – – a einer Löwenkehle …
Die Marokkaner, bisher Bildsäulen, wachten auf, warfen sich fragende Blicke zu und kletterten die Böschung empor. Auch der Sergeant wurde unruhig, folgte ihnen, und nun stand die phantastische Gruppe der mantelumhüllten Gestalten als scharf umrissene Silhouette gegen den hellen Nachthimmel.
Nochmals ertönte das Gebrüll des Löwen, nur näher, – ein zweiter fiel ein, ein dritter …
Dem Berber wie dem afrikanischen Wüstenbewohner sitzt seit altersher tief drinnen im Herzen die halb abergläubische Furcht vor dem „Herrn mit dem dicken Kopf“. Der Löwe mag größtenteils aus den Atlas-Gebirgen verschwunden sein: An den Lagerfeuern der Marokkaner bleibt er der Unterhaltungsstoff, und uralte braune Burschen, die die prachtvollen Bestien noch persönlich als Viehräuber kennengelernt haben, greifen heimlich nach irgend einem schmierigen Talisman und flüstern scheu von seiner Klugheit, Wildheit, Tapferkeit und Stärke.
Niemand unserer Wächter schaute sich nach uns um.
Alle stierten gen Norden …
Und dann, – wie auf ein geheimes Kommando rannten sie mit fliegenden Burnussen davon, ließen alles liegen, was sie aus dem Lager der Schlucht mit herbeigeschleppt hatten.
„Nehmt die Waffen – schnell …!“ – Ich war schon droben am Rande der Regenrinne, Trasso war neben mir, Duft von Frauenhaar umwehte mich, Antoinette umklammerte meinen Arm …
„Abelsen, – – Leon lebt ja!!“
„Ja, er lebt …!“
„Kuttner sagte es mir, – – dieses Glück, dieses Glück, Abelsen, – endlich ist mein Gewissen frei!“
Ob er lebte, noch lebte?!
Ich hoffte es …
Ich hatte auch keine Gedanken für ihn, denn das Bild da draußen in der Ebene, wo ganz fern das Bergmassiv des El Kebir aus der Steppe emporwuchs, benahm mir den Atem.
Als ob der Wettergott dieses Bild begünstigen wollte: Die letzten Wolkenfetzen hatten sich zerteilt …! Klar und scharf stand die Mondsichel zwischen den funkelnden Gestirnen.
Unklar und etwas verschwommen jagte da ein einzelner Reiter über das Hochplateau, hinter ihm her eine weit auseinander gezogene Linie braungelber, prachtvoller Bestien …
Löwen …
Männliche, weibliche, jüngere Tiere …
Hinter ihnen anderes, geringes Raubzeug …
Der Zoologische Garten des El Kebir hatte seine Bewohner ausgespien …
Schrill, wild, toll, aufreizend erklang der Jagdruf des einzelnen Reiters …
Und die Löwen galoppierten, antworteten …
Dröhnend, schreckeinflößend, nervenpeinigend das langgezogene Hu … a, Hu … a …, – Panik säend, das gesündeste Herz flattern machend, ein wundervoller Anblick für den Naturfreund, – – und unsere Rettung.
Marokkaner flohen … Flohen nicht … Rissen aus …
Wie eine versprengte Hammelherde …
Der Reiter mit seiner frohen, jungen, tollen, schrillen Stimme schwang in der Rechten eine lange Lederpeitsche … Neben ihm trabten nun drei, vier der größten Bestien … Knallend pfiff die Peitsche durch die Luft, schmetternd, aufreizend der Jagdruf des einzelnen Reiters, dem das Kopftuch ins Genick gerutscht war …
Ich blickte schärfer hin … Es war Zarra Dhau, der blonde Kabyle …
Er verhielt seinen Gaul, seine Peitsche knatterte förmlich, und die Bestien trabten, ballten sich zusammen. Das geringere Viehzeug war in alle Winde verspritzt.
Er kam näher, im Schritt … Noch achtzig Meter …
Wie aus dem Erdboden herausgewachsen schnellte da eine Männergestalt hinter ihm auf den Rücken des Pferdes, unverkennbar durch die schlanke, geschmeidige Gestalt und dem roten Marabutturban: Leon Brouville!
„Leon!!“, schrie Frau Antoinette flehend … „Leon, – – hierher!!“
Zarra Dhaus lange Lederpeitsche klatschte rundum, und knurrend teilte sich der Haufen der Bestien wieder. Ein scharfes Kommando, – sie standen still, pendelten mit den Schweifen.
Trasso winselte heiser.
Das Pferd trabte heran, zwei Männer glitten aus dem Sattel, und Antoinette Brouville flog auf ihren Stiefsohn zu …
„Leon – – Leon …!!“
Sie umfaßte ihn, ihr Schluchzen mischte sich in Zarra Dhaus kühle, selbstbewußte Erklärung:
„Abelsen, ich bin ein Kind ohne Eltern, ein Zögling der Marabuts vom El Kebir … Bis vor acht Monaten weilte ich dort, und ich darf Arthur Dolf meinen Freund nennen. Ich war ein wilder Knabe und ein noch wilderer Jüngling, ich stahl den in den Schluchten des Atlas hausenden Löwen ihre Jungen und machte die erwachsenen Tiere mir untertan …“
Seine Augen brannten vor Freude an diesen Erinnerungen …
„Dolf läßt euch bestellen, daß ihr hier warten sollt … Er und die Seinen brauchen Zeit … Ich habe ihnen diese Atempause verschafft … Dort kommen eure Pferde, – – haltet euch bereit …“
Seine Augen leuchteten, und da die zweiundzwanzig Bestien allzu nahe rückten, drehte er sich um, schritt ihnen entgegen, die Peitsche knallte, und – – vom Gipfel des El Kebir stieg senkrecht eine Feuerlinie hoch, zerplatzte, warf bunte Kugeln aus …
Der Kabyle saß im Sattel.
„Lebt wohl … Es ist keine Gefahr mehr … Sie kommen!“
Sein Gaul schoß gen Süden davon, sein Jagdruf schrillte, und hinter ihm her galoppierten die Bestien, eine prachtvolle Kavalkade, ein unvergeßliches Schauspiel …
Und … entschwanden in der Dämmerung der Nacht in den zerklüfteten Tälern – – irgendwo …
– – Später stieß ich – wirklich ein Zufall – auf folgende Notiz in der Londoner Zeitung:
„Eine der unangenehmsten Folgen des Rifkrieges ist die starke Vermehrung des Raubzeuges im Rifgebiet und in den benachbarten Gebirgsstrichen. Hyänen, Schakale, Füchse und auch die fast ausgerottet gewesenen Löwen haben stellenweise überhand genommen und dürften in kurzem noch stärker zur Landplage werden …“
Als ich es las, habe ich still gelacht.
Leon Brouville hat nichts über El Kebirs Geheimnisse verraten, – – noch heute gilt der heilige Berg als verbotenes kleines Reich … – –
– Sie kamen …
Eine endlose Karawane von tadellos bewaffneten Reitern, von fünfzig Packpferden, – voran ritt der weiße Kaid der weißen, fleißigen Marabuts vom El Kebir.
Kein Angriff erfolgte … Drei Tage brauchten wir bis zur Küste unweit der Sebu-Mündung. In diesen drei Tagen lernte Inge Lorenzen das Lachen des Glückes und ich – – etwas anderes: Noch weisere Vorsicht im Beurteilen von Charakteren!
Ich hatte Zarra Dhau unrecht getan. Zarra war Kabyle, Freiheitskämpfer und doch mein Freund, unser Freund. Nicht anders Selim Hullah, der sofort seinem Landsmann gefolgt war, als die Karawane des weißen Kaid nahte.
– Der Ozean grüßt uns … Leon Brouville deutet auf den in der Sebu-Mündung ankernden englischen Dampfer.
„Heimfahrt, Abelsen! Und Sie?!“
Ich lächelte Kuttner an.
„Na, – – der Steckbrief, lieber Kuttner?!“
„Unsinn!!“
… Boote kamen an Land …
Boote stießen ab …
Als Letzter verabschiedete sich der weiße Kaid von mir.
„Sie wollen also wirklich bleiben, Abelsen?!“
„Ja … Die Pferde müssen doch irgendwie versorgt werden …“
Er blickte mich lange an.
„Ich verstehe Sie … – Leben Sie wohl …“
Hinter mir im Tale weideten die Tiere … Die Nacht war dunkel, und der Dampfer verschmolz sehr schnell mit der Finsternis des Weltenmeeres. Eine letzte Rakete grüßte mich …
Allein mit Trasso und – – zweihundertfünfzig Pferden und Maultieren …
Nicht allein, – nie allein …
Ich hatte mich selbst, meinen treuen Wolfsbastard und die … Freiheit … – –
Ein armseliges Marokkanerdorf beschenkte ich mit dem Reichtum dieses Pferdetrupps …
Und dann?!
Ich habe mir nie die Pfade gewählt, die ins Abseits führen. Ich habe stets gewartet, bis ein Anlaß vorlag, diesen oder jenen Weg einzuschlagen …
Zur Zeit bewohne ich eine Steinhütte, schreibe, reite, jage, und die ganze Dorfbewohnerschaft würde sich für mich in Stücke reißen lassen.
Die armen Teufel fühlen sich als Krösusse, weil ihnen der Pferdesegen über Nacht beschert worden war …
Abends sitze ich drunten am Meeresstrand, sehe die Sonne im Atlantik untertauchen und ihren Feuerglanz über das ferne Rifgebiet streuen.
… Es ist ein wundervolles Stromerleben …
– – – – – – – –
Schlußwort des Verlages.
Unweit von Madagaskar liegt im Indischen Ozean eine kleine, berühmte, berüchtigte Insel:
Reunion.
In ihren tropischen Wäldern und Hainen stehen zierliche Villen neben ernsten, drohenden Kasernen der französischen Garnison.
Vornehme Gäste beherbergt die Insel.
Aber diese Gäste sind … Gefangene.
Die erste, die diese einzigartige Verbannungskolonie von unbequemen hochgestellten Persönlichkeiten in aller Munde brachte, war die unglückliche, betrogene, entführte Königin Ranawala von Madagaskar …
Ihr folgte der König des hinterindischen Staates Annam und seine Familie.
Als Abd el Krims Freiheitskampf zusammengebrochen war, als er sich vor seinen abtrünnigen, bestochenen Rifleuten unter französischen Schutz flüchten mußte, der ihm, dem Erledigten, natürlich großmütig gewährt wurde, wies man auch ihm und seinen Kindern die Insel Reunion als gastliche, sichere Stätte an …
Man hörte nichts mehr von ihm … Der „kleine Napoleon“ des Rifgebietes soll vergessen werden …
Die Weltgeschichte kümmert sich nicht um Ministerialerlasse.
Als Spaniens Monarchie zusammenstürzte, wußte jeder Eingeweihte, wo die ersten derben Wurzeln der Volksunzufriedenheit gewachsen waren: Auf den Schlachtfeldern des Rif!
Abd el Krims Name lebte nochmals auf …
Und ob dieser Name, dessen Klang einst die ganze mohammedanische Welt aufhorchen ließ, nicht abermals aus der Versenkung der Zauberwälder der Insel der Verbannten aufsteigen könnte als blutiges Gespenst und ruhmreicher Belastungszeuge für die länderhungrige Gaunerfratze des dekadenten Europa, – – wer will es voraussagen?!
In dem Hexenkessel Europa schäumt es von giftigen Blasen und Dämpfen …
Weltgeschichte ist Weltgericht.
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Anmerkungen: