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Der indische Tempel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck auch im Auszuge verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26.

 

Der indische Tempel.

 

Von W. Belka.

 

1. Kapitel.

Das Geheimnis des Fremdenführers.

An einem sehr heißen Junivormittag saß auf der Terrasse des Hotels Exzelsior in Dehli, einer der bedeutendsten Städte der britisch-indischen Provinz Pandschab eine soeben eingetroffene Reisegesellschaft bei eisgekühlten Getränken beisammen und ließ sich von dem Privatsekretär des Herrn August Wurst mit der Geschichte der uralten Stadt Dehli (auch Delhi geschrieben) bekannt machen.

Herr August Wurst war das tonangebende Mitglied des aus zehn Personen bestehenden Kreises dieser deutschen Touristen, die sich bereits auf der Seereise eng aneinander angeschlossen hatten, obwohl die einzelnen Herren und Damen nach Herkunft, Anschauungen, Bildungsgrad und Vermögensverhältnissen kaum verschiedener sein konnten.

Der ehemalige Viehgroßhändler und jetzige Rittergutsbesitzer August Wurst nebst Frau und zwei Töchtern bildeten die Geldaristokratie der kleinen Touristengesellschaft. Sein Privatsekretär Egon von Schrenk, ein wegen Schulden um die Ecke gegangener Leutnant, verkörperte den Typ jener modernen Glücksritter, die ohne geradezu Hochstapler zu sein, nur eine Sehnsucht kennen, nämlich recht reich zu werden, dabei aber mit einer Unmenge von Fähigkeiten ausgestattet sind, die ihnen bei wirklicher Arbeitslust ein behagliches Dasein ermöglicht hätten. Graf Holger von Pratz nebst Gattin und bereits stark verblühter Tochter wieder gehörten zu jenen „verschämten Armen“, die dank einer wohlhabenden Verwandtschaft und dank guter Beziehungen zu wohltätigen Stiftungen sich nichts zu versagen brauchen und dennoch einen wütenden Haß gegen alle die hegen, die etwa wie August Wurst mit nichts angefangen und mit Millionen sich „vom eigentlichen Geschäft“ zurückgezogen haben. Dann sind noch der Vertreter der Gelehrsamkeit, Doktor Theobald Grün, Privatdozent für orientalische Kunst des Altertums, sowie der Weltreisende Karl Wilke zu erwähnen, letzterer als begeisterter Sportmann mit wohlbegründetem Ruf eines unerschrockenen und abenteuerlustigen, in allen Erdenwinkeln wohlvertrauten Jägers auf Löwen, Tigern, Elefanten, Nashörner und ähnliche ungemütliche Bestien.

Der Leutnant a. D. Egon von Schrenk hatte die Pflicht, seinen Herrn und Gebieter und dessen Damen überall während dieser Indienreise in alles Wissenswerte einzuweihen, tat dies auch jetzt gerade, wie schon erwähnt, und erklärte soeben:

„Abermals wurde Dehli dann im Jahre 1739 von dem persischen Schah Nadir erobert und zur Hälfte zerstört, wobei an einem Tage gegen 200 000 Hindu, das heißt Eingeborene, ermordet wurden. Nach zwei Monaten zog Schah Nadir mit einer Beute im Werte von etwa 3 Milliarden Mark durch die Thar-Wüste heim. Ein großer Teil der Beute ging ihm aber in dieser berüchtigten Einöde infolge Hinsterbens der Menschen und Lasttiere infolge einer Seuche verloren.“

„Donnerwetter,“ rief August Wurst. – „drei Milliarden! Wohl alles Gold und Edelsteine, Schrenkchen, wie?!“

„Sehr wahrscheinlich,“ meinte der Privatsekretär.

In diesem Augenblick betrat die Terrasse ein in einen nicht mehr ganz sauberen weißen Leinenanzug gekleideter, spindeldürrer und sehr langer, älterer Mann, der sich nun dem Tische der deutschen Reisenden zögernd näherte und dann, seinen Panama lüftend und tief dienernd, folgendes wie auswendig gelernt herunterleierte:

„Die Herrschaften gestatten: Doktor der Philosophie Moritz Christiani. – Wie ich gehört habe, wünschen Sie die Sehenswürdigkeiten Dehlis und Umgegend unter ortskundiger Führung zu besichtigen. Seit zehn Jahren bin ich hier ansässig und übernehme es sehr gern, Landsleuten als Fremdenführer zu dienen. Ich kann mit allerersten Empfehlungen aufwarten. Hier sind die Visitenkarten einer Anzahl von Touristen mit angesehendsten Namen. All diese Größen der Wissenschaft, Finanz, Politik und Industrie haben auf die Rückseite der Karten –“

Da winkte der dicke Herr Wurst etwas ungeduldig ab, griff nach den Karten und fragte als praktischer Mann:

„Was kostet die Geschichte?“

„Ein Pfund täglich,“ bücklingte Doktor Christiani.

August Wurst las ein paar der Empfehlungen, fragte dann plötzlich:

„Was bedeutet denn das hier, Herr Doktor? – Hier hat der bekannte Grubenmagnat Fürst Mickler geschrieben: „Kann jedem raten, den Doktor Christiani in Nahrung zu setzen. Nur sein Geheimnis ist gutgläubiger Schwindel.““

Moritz Christiani, der sein faltiges Gesicht glattrasiert und die etwa hundert blonden Haare als Überrest seiner Haupteszierde in der Mitte straff gescheitelt trug, lächelte nachsichtig.

„Seine Durchlaucht war ein sehr nüchtern denkender Herr,“ sagte er. „Als ich ihm gegen Zahlung weiterer fünf Pfund Sterling, also hundert Mark, mein Geheimnis mitgeteilt hatte, lehnte er es rundweg ab, sich weiter darauf einzulassen, weil es – Luftschlösser wären. Nun – ob es solche wirklich sind, bedarf doch noch sehr der Nachprüfung.“

„Mir scheint,“ meinte August Wurst mit bekannter und gefürchteter Offenheit, „bei Ihrem sogenannten Geheimnis dürften wohl die fünf Pfund Extrahonorar die Hauptrolle spielen, mein Lieber. Ich verzichte jedenfalls auf dieses Geheimnis, will Sie aber für die nächsten acht Tage als Fremdenführer engagieren.“

„Verbindlichsten Dank!“ dienerte Doktor Christiani. „Wann darf ich die Herrschaften heute von hier abholen?“

„Na – so gegen fünf Uhr nachmittags. Bis dahin schlafe ich. Denn in dieser Bullenhitze kann ja doch kein Mensch auf die Straße.“ Er erhob sich. „Mahlzeit, meine Herrschaften, – ich suche mein Zimmer auf.“

Auch die übrigen Mitglieder der Reisegesellschaft verließen die Terrasse. Nur Egon von Schrenk und Karl Wilke blieben am Tische sitzen und luden nun ihren Landsmann Christiani zu einer kleinen Erfrischung ein, beide beseelt von dem gleichen Wunsche, nämlich ohne Zahlung von fünf Pfund Näheres über „das Geheimnis“ zu hören. Zunächst freundeten sie sich mit dem Doktor etwas an, der ihnen auch bereitwilligst erzählte, daß er mal drüben in Deutschland hätte Oberlehrer werden wollen, dann aber „gejagt“ worden sei, weil er einen Schulrat nach einem erregten Meinungsaustausch über Erziehungsfragen einen Idioten und verknöcherten Pedanten genannt hätte. – „Mir ging’s dann sehr schlecht, meine Herren,“ fuhr er trübe fort. „Ich habe alles versucht, ehrlich zu bleiben und nicht zu hungern. Schließlich gelangte ich dann vor zehn Jahren hier nach Dehli, noch immer ehrlich, aber trotzdem bereits ein Landstreicher, wenn auch ein gebildeter –“

Der Leutnant a. D., ein schlanker, hübscher Mensch mit einem riesigen Monokel im Auge, fragte dann geradezu:

„Verehrtester, würden Sie nicht auch ohne das Extrahonorar uns so ein wenig an Ihrem famosen Geheimnis riechen lassen? Ich hab’ leider jrade die fünf Pfünderkens nich bei der Hand, und Freund Löwenjäger is wieder zu knauserig, sie dranzuwenden.“

Doktor Christiani zog die Schultern hoch.

„Bedaure, Herr von Schrank –“

„Schrenk – Schrenk – mit ’n E!“ verbesserte der Privatsekretär.

„Pardon, – also ich bedaure lebhaft. Es handelt sich ja um Millionen –“

„Was – Millionen?“ riefen die beiden anderen in einem Atem.

„Tatsache – Millionen – mehrere – ohne Zweifel,“ erklärte Moritz Christiani mit Nachdruck.

„Wie – und trotzdem laufen Sie hier als Bärenführer rum?“ kopfschüttelte der Leutnant. „Mann – Mensch – Volksjenosse, – das is dann doch ohne Zweifel oberfauler Zauber! Wer ’n Millionenjeheimnis kennt, der wird doch nich –“

„Es hat einen Haken,“ sagte Christiani leise.

„Aha – einen jroßen Eisenhaken – dacht’ ich mir!“ lachte Schrenk enttäuscht.

„Lachen Sie nicht, Herr von Spind –“

„Mensch – Schrenk heiße ich, – nicht Schrank oder jar Spind!“ fiel ihm jener ins Wort.

„Verzeihung – ich habe ein miserables Namensgedächtnis,“ entschuldigte der Doktor sich. „Daran ist der Absinth schuld. Ein Teufelszeug! – Aber – der bewußte Haken ist nicht gar so groß. Wenigstens nicht für eine Millionensache.“

„Spannen Sie mich doch nicht auf die Folter,“ rief da Schrenk. „Ich muß Millionär werden – muß. Leider sind bisher die Aussichten –“

Da unterbrach ihn Karl Wilke mit kurzer Handbewegung.

„Genug des Redens!“ meinte er. „Was heißt denn das eigentlich, Landsmann,“ wandte er sich an den dürren Doktor, „daß Sie für fünf Pfund Ihr Geheimnis preisgeben wollen.“

„Nichts anderes, als daß ich mit dem, der mit mir zusammen die Sache unternimmt, halbpart mache.“

„So – also die Millionen teilen! Sehr schön! Wie kommt es denn aber, daß Sie bisher keinen Kompagnon für dies Geschäft gefunden haben – he?“

Wilke, ein wahrer Riese mit einem blonden Spitzbart, war durch seine weiten Reisen längst allen „Geheimnissen“ und dergleichen gegenüber sehr vorsichtig worden.

„Weil niemand Vertrauen zu dem Geschäft hat,“ erwiderte der Doktor zögernd. „Und doch – es würde schon einen Versuch lohnen! – Ich bin wirklich kein Phantast, meine Herren, wenn man mich hier auch den „Christiani mit dem Millionenschatz“ nennt und mich belächelt. Sie wissen: Indien ist das Land der Geheimnisse! Nirgends gibt uns ein Volk und eine uralte Kultur so viele Rätsel auf wie hier. Ich habe hier in diesen zehn Jahren schon Dinge erlebt, die, wollte ich sie Ihnen erzählen, mich in den Verdacht des größten Münchhausens aller Zeiten bringen würden.“

Der Weltreisende griff in die Weste und entnahm seiner Brieftasche dann fünf Einpfundnoten.

„Hier, – da haben Sie das Geld!“ meinte er halb wütend. „Ich muß wissen, um was es sich eigentlich handelt.“

Egon von Schrenk beugte sich über den Tisch.

„Wilke, pumpen Sie mir mal hundert Reichsmärker,“ bat er. „Ich will der dritte Teilhaber der Firma „Jeheimnis u. Co.“ werden.“

„Ne, mein Lieber! Sie sind ja ein sehr netter, fideler Kerl, – aber Sie [sind][1] nicht nur ne Pumpe, sondern gleich ein ganzes Wasserwerk, was Ihre – Pumpversuche anbetrifft. Ich bin kein Krösus, das wissen Sie! Ich schreibe über meine Reiseerlebnisse Berichte. Davon lebe ich in der Hauptsache. – Tut mir leid – es geht nicht!“

„Heiliger Bimbam – so soll ich mir denn wirklich die Millionen entjehen lassen, weil’s nich jeht – nämlich das Pumpwerk!“ rief Schrenk ärgerlich.

Da streckte ihm der dürre Doktor die Hand hin.

„Sie gefallen mir, Herr von – von Spind –“

„Schrenk!“

„– pardon, – Herr von Schrenk, – und deshalb sollen Sie auch ohne Extrahonorar mit anhören und auch gegebenen Falles mitmachen dürfen. – Setzen Sie sich neben mich, meine Herren. – So – und nun vernehmen Sie die Geschichte des großen Beutezuges, den Schah Nadir von Persien im Jahre 1739 –“

„Kennen wir!“ fielen ihm Wilke und der Leutnant ins Wort.

„Desto bester! – Sie kennen aber nicht die Einzelheiten, dir mir zufällig bekannt wurden. Und dies sind folgende. – In dem Heere des Schah Nadir diente auch ein deutscher Abenteurer, ein gewisser Wilhelm von Hunningen, einer jener Söldnerführer, wie sie früher überall in fremden Landen Kriegsdienste nahmen. Er war persischer Wesir und General geworden, und ihm vertraute Schah Nadir beim Rückzuge von Dehli durch die Thar-Wüste einen großen Teil der in der eroberten Stadt geraubten Juwelen an. – Dies alles steht geschichtlich fest, ebenso, daß Wilhelm von Hunningen dann in der Thar-Wüste spurlos mit seinen Kriegern verschwunden ist, wie ein persischer Geschichtsschreiber mit der Schlußbemerkung berichtet: es wäre damals der Verdacht aufgetaucht, der Deutsche hätte mit den Schätzen das Weite gesucht, was jedoch später als unzutreffend einwandfrei festgestellt wäre. – So, meine Herren, dies als Einleitung. – Nun muß ich Ihnen ein eigenes Erlebnis hier in Indien berichten. Vor drei Jahren hatte mich der millionenreiche schwedische Baron von Ankerström als Fremdenführer für eine Reise nach der Stadt Loharu am Ostrande der Thar-Wüste verpflichtet. Von Loharu aus ritten wir dann ein Stück in die Einöde nach Westen zu hinein bis zu einer der Oasen, die dort genau wie in der Sahara die einzigen dünn bevölkerten Stellen des weiten Sandmeeres bilden. Diese Oase hatte nun gerade kurz vorher infolge der Pest, bekanntlich der schrecklichste Würgengel Indiens, seine gesamtem Bewohner bis auf einen alten Hindu verloren, der als Yogi, also Fakir, ein nach seiner Auffassung gottgefälliges Dasein in einem Dornendickicht führte, wo er sich damit vergnügte, täglich zum Preise der Götter durch die Dornen zu kriechen, so daß die Wunden an seinen nackten, schmutzstarrenden Leibe nie heilten. Ankerström gewann die Zuneigung des Fakirs durch reiche Geschenke, – reich nach Ansicht des alten Hindu, der ein Taschenmesser und ein Feuerzeug für Millionenwerte hielt. Ich aber wurde sein Freund – nicht durch Geschenke, sondern weil ich ihn von einer eitrigen Augenentzündung in kurzem befreite. Ich verstehe auch so etwas von Medizin. Was Mahrawutu, so heißt der Fakir – er dürfte noch am Leben sein – dem Schweden trotz Taschenmessers und Feuerzeugs nicht anvertraute, das erzählte er mir eines Abends, nachdem er uns wieder einige seiner Fakirkünste hatte anstaunen lassen, die mir noch jetzt unerklärlich sind und die nichts mit Taschenspielerei zu tun hatten.“

Christiani machte eine Pause und sog mit Hilfe eines Strohhalms den Eisabsinth ein. Etwas anderes trank er nicht. – Dann fuhr er in seiner Schilderung jenes Abends in der Oase Wutar – so nannte er sie – mit leiserer Stimme fort, während seine beiden Zuhörer mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschten.

Als er nichts mehr hinzuzufügen wußte, sprang Egon von Schrenk wie elektrisiert auf.

„Wir müssen der Sache auf den Grund gehen,“ rief er. „Auf jeden Fall! – Gewiß – ich gebe zu, – all das kann eine schöne Fata Morgana von prall gefüllten Juwelensäcken sein! Aber –“

„– aber,“ sagte Christiani ernst, indem er dem begonnenen Satz des Privatsekretärs eine andere Fortsetzung gab, – „aber diese Reise in die Thar-Wüste bis zu jenem verfallenen Tempel wird größere Vorbereitungen erfordern, viel Geld kosten und nicht ungefährlich sein, da jene Wüste leider zu den heißesten und ödesten Gebenden des Erdballs gehört. – Und dies, meine Herren, – eben die Kosten und die Gefahren, sind der vorhin erwähnte Haken. Bedenken Sie, daß wir eine ganze Karawane ausrüsten, daß wir Lebensmittel für viele Monate mitnehmen und auch gut bewaffnet sein müssen!“

„Ja – und alles vielleicht für – nichts!“ meinte der Löwenjäger achselzuckend. „Ich jedenfalls opfere dafür keinen Pfennig, so interessant Ihre Erzählung auch war, Landsmann.“

Egon von Schrenk hatte sich wieder gesetzt und starrte nachdenklich vor sich hin.

Dann sagte er plötzlich: „Herr Doktor Christiani, wir werden diese Reise wagen, so wahr ich von Schrenk und nicht Schrank, Spind oder Kommode heiße, und so wahr ich ein mit allen Salben gesalbter Privatsekretär eines – Millionärs bin! – Lassen Sie mich nur machen! Ich bringe die nötigen Geldmittel schon auf!“

Wie und woher – das verschwieg er.

 

2. Kapitel.

In der Oase Wutar.

August Wurst hatte bis halb fünf geschlafen und ging nun in das Zimmer seines Privatsekretärs hinüber, um diesem einen Brief an seinen Gutsverwalter zu diktieren. Als diese Arbeit erledigt war, fragte Schrenk seinen Brotherrn:

„Sie besitzen rund fünf Millionen, nicht wahr? Wollen Sie noch eine dazu verdienen?“

„’ne Frage! – Aber wozu diese Witze, Schrenkchen? Sind Sie unter die Spekulanten gegangen?“

„Ja. Ich will’s aber erst. Ich weiß von einem Geschäft, bei dem Sie eine Million einsacken können. Wenn Sie mir durch Handschlag versprechen, mit einer Million Reingewinn zufrieden zu sein und die Unkosten vorzuschießen, hören Sie Näheres.“

„Hm – Unkosten! – Na gut – hier meine Hand!“

„Schön. So weit wären wir einig. Also: In eine Oase namens Wutar im Ostteile der Thar-Wüste –“

„Sie meinen wohl Tataren-Wüste –“

„Nein – Thar-Wüste! Also dort haust ein uralter Fakir, der auf einer seiner Wanderungen sich vor vielen Jahren in diese Wüste verirrt hatte und schließlich halb verschmachtet auf einem Felsenhügel inmitten einer schauerlichen Einöde einen halb zerstörten Tempel fand, wo er durch Zufall dann den Eingang zu den unterirdischen Räumen des Heiligtumes entdeckte. Hier lag nun die zur Mumie ausgetrocknete Leiche eines in das Gewand eines persischen Kriegers früherer Zeiten gehüllten Mannes, eines Europäers, der mit den Fingern der rechten Hand krampfhaft einen Edelstein von hellblauer Farbe umklammert hielt, – einen Edelstein von solcher Größe und Schönheit, daß dem Fakir dafür später Unsummen geboten wurden. Trotzdem hat der wunderliche Alte den Diamant dem berühmten Brahma-Tempel in Benares geschenkt, wo er noch heute als eine der größten Sehenswürdigkeiten gezeigt wird. Außerdem fand der Fakir bei der Mumie noch einen breiten Degen, in dessen Klinge für den Hindu unleserliche Schriftzeichen eingeätzt waren. Er hat dann diese Schriftzeichen auf einem der Marmortäfelchen, die die Fliesen des Tempelbodens bildeten, so gut es ging nachgemalt und nachher, ohne jedoch zu verraten, wo er die Schriftzeichen angetroffen hätte, einen englischen Beamten gebeten, ihm zu sagen, was sie bedeuteten. Der Engländer erklärte, es handele sich um lateinische Buchstaben, die die Worte ergäben: „Wilhelm von Hunningen – Pectus amico, hosti frontem.“ Letzteres heißt auf deutsch „Die Brust dem Freunde, dem Feinde die Stirn!“ und dürfte der Wappenspruch des Geschlechts derer von Hunningen sein. – So, und nun hierzu noch etwas Geschichtliches.“ Hierauf berichtete Schrenk all das, was Doktor Christiani ihm und Wilke von dem deutschen Wesir Schah Nadirs erzählt hatte, fügte nun hinzu: „Sie werden einsehen, daß die Vermutung sehr nahe liegt, Herr Wurst, daß in jenem Tempel oder doch in dessen Nähe auch die Juwelen irgendwo lagern, die damals zusammen mit Wilhelm von Hunningen verschwunden sind. Es dürfte sich jedenfalls lohnen, das alte Heiligtum einmal aufzusuchen. Die Kosten der Reise dürften kaum zehntausend Mark betragen.“

„Kaum – Kaum!“ rief der dicke Herr entsetzt. „Da sagen Sie kaum! Zehntausend Mark für – für –“

„Ja – für eine Sache, die eine Million einbringen kann,“ führte Schrenk den Satz zu Ende. „Sie sind doch ein Mann, Herr Wurst, der nicht gerade auf den Kopf gefallen ist! Erkennen Sie denn nicht, daß eine ziemlich hohe Gewißheit dafür spricht, dort in dem Tempel –“

Wurst winkte ab. „Schon gut. – Woher haben Sie denn diese geheimnisvolle Geschichte?“

„Von Doktor Christiani, dem der Fakir sie anvertraut hat, – ihm allein!“

August Wurst begann im Zimmer mit nachdenklich gesenktem Haupt auf und ab zu gehen. Nach einer Weile machte er vor Schrenk halt.

„Ich muß erst den Fakir selbst sehen und sprechen – natürlich durch einen Dolmetscher,“ erklärte er. „Dann entscheide ich mich weiter.“ –

In aller Heimlichkeit wurden auf Anraten Christianis die notwendigen Zurüstungen getroffen. Nur Christiani, Wilke und Schrenk wußten, weshalb August Wurst plötzlich die Lust verspürte, die berüchtigte Thar-Wüste kennen zu lernen und weshalb er seine Frau und seine Töchter inzwischen nach Simla, der idyllischen Sommerresidenz des Vicekönigs von Indien am Südabhange des Himalaya-Gebirges, zur Erholung schickte.

Von der Stadt Loharu aus brachen dann eines Morgens vier Reiter in Begleitung von zwei Eingeborenen und zwei Lastkamelen, die das nötige Gepäck trugen, nach der nur zwei Tagereisen entfernten Oase Wutar auf.

August Wurst fand sehr bald an diesem Ritt durch die Sanddünen so viel Gefallen und kam sich so sehr als kühner Abenteurer vor, daß er seinem Privatsekretär wiederholt erklärte, er wäre ihm für die Anregung zu dieser Tour sehr dankbar, selbst wenn dabei keine Million herauskommen sollte.

Am Abend des zweiten Tages tauchte die Oase mit ihren Feigenbäumen, Dattelpalmen, Akazien und Tamarix-Büschen auf. Die Bewohner des kleinen Dorfes, etwa sechzig Personen, strömten sofort zusammen und empfingen die seltenen Gäste mit jener stillen Feindseligkeit, die dem Europäer überall da von der eingeborenen Bevölkerung entgegengebracht wird, wohin die Macht der britischen Kolonialregierung nicht mehr reicht.

Doktor Christiani fragte den Dorfältesten sofort, ob der Fakir Mahrawutu noch am Leben wäre, erhielt jedoch keine Antwort. Erst als Christiani einige von den mitgenommenen Geschenken verteilt hatte, wurden die Bewohner freundlicher und zugänglicher und gaben ihm den Bescheid, daß der heilige Mann vorgestern in Begleitung eines Engländers die Oase verlassen hätte. Wohin er sich begeben, wüßte niemand.

Das war für Christiani, Schrenk und Wilke eine böse Enttäuschung. Denn unter diesen Umständen wollte sich August Wurst auf eine Reise ins Innere der Wüste auf keinen Fall einlassen. Er blieb auch dabei, obwohl Schrenk all seine Überredungskünste spielen ließ und ihn geradezu flehentlich bat, das begonnene Unternehmen doch nicht deshalb aufzugeben, weil man den Fakir nicht angetroffen hätte. Wurst erklärte hartnäckig, die ganze Geschichte schwebe ihm viel zu sehr in der Luft, zumal der Fakir doch damals Christiani nur sehr ungenaue Angaben über die Lage jenes Tempels gemacht hätte.

Da ohne weitergehende Vorbereitungen an den langen Ritt durch die Thar-Wüste bis hin zu jenem Heiligtum nicht zu denken war und da des Millionärs Börse für diese unsichere Spekulation sich durchaus nicht öffnen wollte, wäre dem Geheimnis des Fremdenführers abermals das Los beschieden gewesen, aus Mangel an den nötigen Geldmitteln ein Geheimnis zu bleiben, wenn nicht das Schicksal ein Einsehen gehabt und in der Person des englischen Detektivs Howard Kleeton den drei deutschen Schatzlüsternen einen rettenden Engel geschickt hätte.

Kleeton erschien am nächsten Morgen in der Oase und zeigte dem Dorfältesten die Photographie eines Weißen, den er verhaften sollte und zwar wegen großangelegter Betrügereien, die jener als englischer Kolonialbeamter begangen hatte. Da trat Egon von Schrenk hinzu, der soeben aus reiner Neugier in das Dornendickicht gekrochen war, wo der Fakir bis vor kurzem gehaust hatte. Dort hatte nun August Wursts Privatsekretär jene kleine Marmortafel gefunden, in die von dem alten Hindu damals der Name Wilhelm von Hunningen und der Wappenspruch eingekratzt worden waren.

Als der Dorfälteste in der Hand Schrenks das Marmortäfelchen erblickte, besann er sich jetzt erst auf eine Bemerkung des Fakirs, die dieser kurz vor dem Aufbruch ihm gegenüber gemacht und die dahin gelautet hatte, daß der Engländer, mit dem zusammen er jetzt eine längere Reise antreten wolle, ihm von früher bekannt wäre, da er ihm einmal eine Inschrift aus Gefälligkeit übersetzt hätte.

Der nunmehr von dem Detektiv verfolgte Europäer und der Begleiter Mahrawutus wären nun ein und dieselbe Person, wie der Dorfälteste nach kurzer Prüfung der Photographie mit aller Bestimmtheit erklärte.

„Herr Wurst,“ sagte der frühere Leutnant ganz aufgeregt, „für mich unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß Mahrawutu und jener Engländer, der ein von der Polizei gesuchter Verbrecher ist, nach dem indischen Tempel in der Thar unterwegs sind, denn dieser Betrüger und Dieb, den der Detektiv Reginald Robertson nannte, ist derselbe Mensch, der einst dem Fakir die Degeninschrift übersetzt hat. Außerdem habe ich auch in Mahrawutus Dornen-Behausung hier dies Marmortäfelchen unter allerlei Lumpen entdeckt. Sie sehen, es enthält das, was der alte Hindu einst von der Degenklinge abgezeichnet hat.“

Kaum hatte Schrenk das letzte Wort ausgesprochen, als Doktor Moritz Christiani förmlich hochschnellte und feierlich rief: „Sie haben recht, Herr von – von – von Schrenk – richtig, von Schrenk! – natürlich hat Mahrawutu jetzt den Bitten des Gauners nachgegeben und ihm erklärt, daß er zusammen mit der Mumie des deutschen Wesirs und Generals Schah Nadirs auch jenen prachtvollen blauen Diamanten gefunden hat. Und da wird Reginald Robertson sich gesagt haben, wo ein Diamant, da sind auch mehrere, oder aber – und dies halte ich für das Wahrscheinlichere! – der Gauner ist als englischer Beamter mit der Geschichte der Eroberung Dehlis durch die Perser genau so vertraut wie ich, das heißt, er weiß, daß damals zusammen mit Wilhelm von Hunningen der wertvollste Teil der Riesenbeute verschwunden ist, und will nun versuchen, diese Schätze in seinen Besitz zu bringen. – Wenn ich daran denke, daß nur der Mangel an den notwendigen Barmitteln zur Ausrüstung einer kleinen Karawane uns, nämlich Schrenk, Wilke und mich, hindert, den beiden sofort zu folgen, so – so könnte ich mir rein die Haare ausraufen, obwohl mein Scheitel bereits recht dünn ist!“

Wurst zuckte die Achseln und meinte: „Sie reden immer von großen Vorbereitungen für ein tieferes Eindringen in die Thar. Und dabei sind doch der Engländer[2] und Mahrawutu, wie der Dorfälteste mitteilte, lediglich mit einem einzigen Packesel außer ihren Pferden aufgebrochen. Mithin haben diese beiden Männer keine zehntausend Mark für eine großartige Karawane als nötig befunden!“

„Ganz recht, Herr Wurst,“ erwiderte Christiani ironisch. „Sie übersehen nur, daß der Fakir den Weg nach dem indischen Tempel schneller und leichter findet als wir.“

Der dicke Millionär, der das Marmortäfelchen noch in der Hand hatte, besichtigte es jetzt nochmals, stand nun plötzlich auf und erklärte: „Daß die ganze Schatzgeschichte einen reellen Hintergrund hat, beweist mir dieses dünne Stück Marmor. Bisher sollte ich nur Worten allein Glauben schenken! Jetzt habe ich hier ein festes Beweisstück in Händen. Und deshalb: Fünftausend Mark will ich daran wenden! Nicht einen Pfennig mehr!“ –

Der Detektiv ahnte nicht, was die Deutschen vorhatten. Er wurde in dem Glauben belassen, sie wollten lediglich noch einige andere Oasen besuchen und wilde Elefanten jagen, die im Süden der Thar zuweilen auftauchen.

Infolge dieses übereilten Abmarsches mußten die vier weißen Teilnehmer dieses abenteuerlichen Zuges nach dem indischen Tempel sich auch mit einer sehr mäßigen Bewaffnung begnügen. Sie besaßen jeder nur einen Revolver und hatten dann von den Bewohnern der Oase noch vier einläufige uralte Steinschloßflinten nebst Pulver und Blei gekauft, außerdem auch noch vier von jenen langen, leicht gekrümmten Dolchmessern, die von den Malaien Kris genannt werden.

Kurz nach zwölf Uhr mittags war der Aufbruch erfolgt. Absichtlich wandten sich die Schatzsucher zunächst nach Südwest, um den Detektiv für alle Fälle irrezuführen. Erst als man außer Sicht der Oase war, schwenkte man nach Westen ab. Am Spätnachmittag brachten dann der Löwenjäger und Schrenk, die nach Norden zu reitend sich für einige Stunden von der kleinen Karawane getrennt hatten, die hocherfreuliche Nachricht mit zurück, daß von ihnen die Spuren zweier Reiter und eines Packesels in einem Tale weiter nördlich entdeckt wären, wo ein Salzsumpf die Fährten deutlicher angenommen hätte, als der sandige Boden der Wüste es zu tun pflegt.

 

3. Kapitel.

Eingeschlossen.

Detektiv Kleeton hatte den Deutschen gegenüber erklärt, er dächte auch nicht im entferntesten daran, Reginald Robertson tiefer in die Thar hinein zu verfolgen. Er hatte diese kleine Notlüge lediglich deshalb gebraucht, damit die Deutschen den von ihm verfolgten Verbrecher, falls sie zufällig mit ihm zusammentrafen, nicht etwa durch eine unvorsichtige Bemerkung warnen könnten. In Wahrheit stand sein Entschluß längst fest, dem Fakir und dem Gauner schleunigst nachzusetzen. Deshalb brach er auch, nur von einem Hindu und einem Lastkamel begleitet, sofort nach der deutschen Karawane auf und begann dann, mit den Verhältnissen der Thar nicht ganz unbekannt, nach vier Stunden dasselbe zu tun, was Wilke und Schrenk getan hatten: die Fährte Mahrawutus und Robertsons zu suchen.

Ein Zufall fügte es nun, daß er zwei von den Mitgliedern der deutschen Karawane gerade dort in jenem sumpfigen Tale von weitem bemerkte, wo sie die Spuren der vor drei Tagen Vorausgerittenen noch gerade genügend deutlich ausgeprägt gefunden hatten. Sofort erwachte in dem Detektiv das Mißtrauen. Er legte sich auf die Lauer und erspähte dann auch die ganze Karawane, die nun in dem Tale nach Westen zu weiter ihren Weg fortsetzte. Da reimte er sich schnell das Richtige zusammen und entschloß sich, dicht hinter den Deutschen zu bleiben, die es doch offenbar auf den Fakir und Robertson aus ihm freilich noch unerklärlichen Gründen abgesehen hatten. –

Ahnungslos, daß Kleeton ihnen auf den Fersen war, hielten Wurst und seine Gefährten sich fortan auf der in dem Dünengelände der Thar kaum noch bemerkbaren Fährte des alten Hindu und des flüchtigen Verbrechers. Hätten sie nicht Karl Wilke bei sich gehabt, der sich aufs Spurenlesen vortrefflich verstand, so wären sie sehr bald arg in Verlegenheit gewesen, diese kaum noch sichtbaren Eindrücke im Sande als die hinterlassenen Hufspuren von zwei Pferden und einem Packesel deuten zu können.

Die Fährte mied alle bewohnten Oasen und bog dann nach vier Tagen scharf nach Süden ab, wechselte bald abermals die Richtung und bewies, daß der Fakir nicht recht wußte, wo er inmitten der hier dauernd einander abwechselnden kahlen Felsenhügel und riesigen Sanddünen jenen alten Tempel zu suchen habe. Inzwischen war die kleine deutsche Karawane den beiden so nahe gekommen, daß man am fünften Tage die Asche des Lagerfeuers Mahrawutus und Robertsons noch heiß fand.

Dann ereignete sich etwas, womit keiner der vier Deutschen auch nur im entferntesten gerechnet hatte.

Es war am Abend dieses fünften Tages, als die Karawane abermals in eine wahre Felsenwildnis einlenkte, in der die Fährte nur an einzelnen von den Hufen der Tiere zermalmten Steinchen zu erkennen war. Kaum hatten die ein Stück vorausreitenden vier Deutschen eine enge Schlucht betreten, wo sie ihre Pferde am Zügel führen mußten, als hinter ihnen Schüsse knallten und sie nun, erschrocken zurückblickend, eine Anzahl von langbärtigen Indern bemerkten, die ihnen laut schreiend und im Laufen ihre Gewehre abfeuernd nachstürzten.

Wilke rief sofort: „Dort hinein!“ und deutete auf eine noch engere Seitenschlucht, die sich gerade hier nach Norden abzweigte und die so schmal und tief war, daß man sie mit Recht einen Kanon nennen konnte. Der Löwenjäger verschwand als erster in diesem Engpaß. Die anderen drei folgten, machten dann aber sehr bald halt, da Wilke hier, wo der Kanon sich zu einem runden Felsenkessel erweiterte, den Angreifern Widerstand leisten wollte. Ein paar Schüsse genügten denn auch, sie zurückzutreiben, obwohl die Deutschen absichtlich nur in die Luft gefeuert hatten. Da die Dunkelheit bereits so groß war, daß man alles ringsum nur ganz undeutlich erkennen konnte, und da dieses kleine, tiefe Tal eine richtige Mausefalle war, wie Wilke sich ausdrückte, zögerte man nicht, nach Eintritt völliger Finsternis, die bis zum Mondaufgang anhalten mußte, diesen Kessel wieder durch die Fortsetzung der nach Norden zu verlaufenden engen Schlucht schleunigst zu verlassen. Ohne irgendwie belästigt zu werden schritten die vier Gefährten nun wohl eine halbe Stunde lang im Gänsemarsch mit ihren Pferden am Zügel in diesem Hohlwege entlang, dessen Wände stellenweise so hoch waren, daß man oben nur einen handbreiten Streifen des ausgestirnten Nachthimmels zu sehen bekam.

Nun aber senkte der sich bisher langsam ansteigende Kanon plötzlich steil abwärts. Und dann rief der vorangehende Löwenjäger im Tone höchsten Erstaunens den anderen zu:

„Wenn mich nicht alles täuscht, so haben wir den Tempel durch einen seltsamen Zufall gefunden! Dort liegt er. Seht, Kameraden, – es ist ein Felshügel, auf dem er sich erhebt, beschienen von dem milden Lichte des soeben aufgetauchten Nachtgestirns!“

Der Engpaß hatte hier sein Ende erreicht. Ein weites, von Anhöhen stellenweise hoch umsäumtes Tal öffnete sich den Flüchtlingen, die nun sofort sich auf ihre Pferde schwangen und dem ihnen voraustrabenden Wilke folgten.

Der Mondschein traf gerade die Vorderseite des quadratischen, mit einem turmähnlichen Dache versehenen Bauwerks, dessen westliche Wand jedoch nur noch einen wüsten Trümmerhaufen bildete. Infolge dieses Einsturzes hatte sich auch das hohe, buntverzierte Dach gesenkt und ragte nun als schiefer Turm über den Unterbau hinaus, der, aus weißem Marmor und rotem Sandstein ausgeführt[3], das Entzücken jedes Altertumsforschers mit seinen seltsamen Nischen, Säulen, Vorsprüngen und Erkern hervorgerufen hätte.

Von dem Tale aus lief eine sehr breite, roh aus den Felsschichten ausgehauene Treppe bis zum Eingang des Heiligtumes hinauf. Dieser bestand aus einem Tor mit zwei Torflügeln aus schwarzem, mit Elfenbein überreich ausgelegtem Holz und war weit geöffnet. Ein Versuch zeigte dem Löwenjäger, daß die Torflügel noch fest in den Angeln hingen und daß das innen angebrachte Kunstschloß, eine jener wertvollen indischen Schmiedearbeiten, noch leicht und sicher arbeitete.

Kaum hatten die Gefährten ihre Reittiere im Innern des Tempels untergebracht, kaum hatten sie dann noch von der Vorterrasse aus einen flüchtigen Blick über das Tal werfen können, als Schrenk warnend ausrief:

„Sie kommen! Es sind unsere Verfolger! – Christiani, Sie Landeskundiger und Vielerfahrener, wer in aller Welt mögen denn nur diese langbärtigen Kerle sein, die hier die Räuber spielen? Gibt es denn in der Thar-Wüste etwa wilde Volksstämme, die noch ein Leben führen, als ob in Indien gar keine Polizei vorhanden wäre?!“

„Keine Ahnung, was für eine Sorte braune Halunken das sein kann,“ meinte der dürre Doktor.

Dann schlugen die Torflügel hinter ihnen zu. Nur einen Moment standen sie nun in tiefster Dunkelheit. Schon blitzte der Lichtstrahl einer der mitgenommenen Taschenlaternen auf! Gleich darauf ein zweiter. Und nun Christianis Stimme: „Schrenk, bitte untersuchen Sie doch schnell die Nebenräume dieser Haupthalle, ob’s etwa noch weitere Eingänge gibt.“

August Wurst schloß sich seinem Sekretär an. Als sie nun allein waren, legte er sofort los: „Eine nette Geschichte, die Sie mir da eingebrockt haben, Schrenkchen – hol’s der Deubel! Ich bin doch als Vergnügungsreisender nach Indien gekommen und nicht als Abenteurer! Die braunen Halunken da draußen werden uns doch fraglos belagern und aushungern. Ich habe verdammt wenig Lust, mir von ihnen den Hals abschneiden zu lassen. Sie als der Anstifter dieser verrückten Schatzsuche sind jetzt verpflichtet, mich aus dieser Klemme zu befreien! Werde ich hier umgebracht, so kündige ich Ihnen – darauf können Sie Gift nehmen!“

„Oh,“ lachte Schrenk vergnügt, „wenn Sie erst mausetot sind, wird’s mit der Kündigung schwer werden! Im übrigen – wir sind unserer vier, und zum Halsabschneiden dürfte es erst kommen, nachdem eine ganze Anzahl unserer Verfolger ins Gras gebissen haben – falls es hier Gras gibt!“

Der Tempel, der ein Quadrat von etwa zwanzig Meter Seitenlänge bildete, bestand außer der eigentlichen Halle noch aus neun Seitengelassen, die rechts und links sowie im Hintergrunde zu je dreien nebeneinander lagen und die sämtlich niedrige Verbindungstüren hatten. Schrenk durcheilte die Räume hastigen Schrittes, die kleine elektrische Lampe in der Linken und in der Rechten den gespannten Revolver. Der dicke Millionär keuchte hinter ihm drein, blieb aber sehr bald zurück und rief seinem Sekretär noch zu: „Langsamer, Schrenk, langsamer! Ich bin kein Windhund!“

Das war das letzte, was man vorläufig aus August Wursts Munde vernahm, denn – als der frühere Leutnant nun in die Haupthalle zurückgekehrt war und Christiani gemeldet hatte, es sei hier nur der eine Eingang vorhanden und selbst die halb eingestürzten Nebengemächer an der einen Seite wären von draußen nicht zu betreten, da schaute er sich suchend nach seinem gutgenährten Herrn und Gebieter um, wurde bald unruhig, hastete nochmals durch die leeren Gelasse und stellte fest, daß der Millionär spurlos verschwunden war. Abermals forschten die drei Deutschen jetzt nach dem Verbleib des Dicken. Doch – nirgends mehr eine Spur von ihm – nirgends!

„Das mag ein anderer begreifen – ich nicht!“ meinte Christiani. „Geradezu unheimlich wirkt dieses Abhandenkommen eines lebenden Menschen!“

„Dazu noch eines von zwei Zentner Gewicht!“ ergänzte Egon von Schrenk. „Nun – hierfür gibt’s doch nur eine Erklärung,“ fügte er mit jenem Lächeln hinzu, das er stets bereit hatte, wenn er seine geistige Überlegenheit – und die war in gewissen Dingen tatsächlich vorhanden – einmal wieder an den Mann bringen konnte. „Es gibt hier nur eine Möglichkeit. Und die ist, daß August Wurst unversehens auf eine Falltür geraten und in die Tiefe gestürzt ist, während die Falltür sich dann wieder so genau von selbst geschlossen haben muß, daß wir sie wohl nur durch längeres Suchen finden werden.“

„Falltür?!“ rief Doktor Christiani jetzt ganz begeistert. „Schrenk – Schrenkchen, – wenn das stimmte, dann – dann würde uns Wurst vielleicht gegen seinen Willen auf den Eingang zu den unterirdischen Räumen hingewiesen haben, über den mir ja der Fakir keinerlei Angaben gemacht hat.“

Karl Wilke unterbrach jetzt diese lebhafte Unterhaltung mit der Bemerkung, er hielte es für richtiger, jetzt zunächst einmal nachzuschaun, wie es mit den Verteidigungsaussichten im Falle eines Angriffes durch die langbärtigen Gesellen bestellt wäre. Dabei zeigte er auf die schmalen, aber zahlreichen Fensteröffnungen neben der Tür und auf die aus starken, reich geschnitzten Balken bestehende Decke des Tempels, über der sich notwendig noch mehr Räume befinden mußten, da ja das turmähnliche Dach gut zweimal so hoch als der Unterbau war.

Schrenk meinte, man brauchte ja fürs erste nur den Eingang zu verteidigen, da die Feinde ohne besondere Werkzeuge die dicken Steinmauern kaum durchbrechen könnten. Und auch von oben her hätte man bis auf weiteres keine Belästigungen zu befürchten, da die starke Balkendecke genau so widerstandsfähig wäre und außerdem keine einzige Öffnung hätte, so weit sich dies jetzt erkennen ließe.

Der Löwenjäger, dem dieses Abenteuer so recht nach seinem Geschmack war, besichtigte nun die in der Haupthalle stehenden, scheußlich bunt bemalten und zum Teil vergoldeten Götzenfiguren und die sonstigen hier noch vorhandenen Tempelgeräte daraufhin, ob sich nicht etwas davon zu Herstellung eines Trittes eignete, von dem aus man durch die schmalen Fensteröffnungen das Vorgelände beobachten und mit Kugeln nötigenfalls bestreichen könnte. Im Hintergrunde des großen Tempelraumes erhob sich nun ein altarähnliches Gestell aus Holz und Marmorplatten, auf dem ein Riesenstandbild des Gottes Brahma in hockender Stellung die Hauptzierde bildete. Wilke war nun gottlos genug, auf diesen Altar hinaufzuklettern und zu versuchen, den Götzen herabzustürzen.

„Ich brauche das Holz dieses Kastens,“ meinte er zu seinen beiden Gefährten. „Packt mit an, Kinder, – oder wollt Ihr, daß ich diese Tempelschändung allein auf mein Schuldkonto nehme?“ Er stemmte die Schulter dabei mit aller Kraft gegen die kolossale Tonfigur, erreichte jedoch nichts und versetzte nun dem armen Gott einen wütenden Fußtritt. „Alter Heide!“ rief er dazu, „Du bist ja schwerer als unser dicker Millionär!“

Da hob Christiani warnend den Arm. „Lassen Sie den Gott in Ruhe, bester Wilke! Bedenken Sie, daß es kaum fanatischere Leute gibt als die Anhänger Brahmas! Man würde uns in Stücke reißen, wenn –“

In diesem Augenblicke ertönte vom Eingange her durch eines der schmalen Fensterlöcher eine überlaute Stimme, die von den drei Deutschen sofort als die des englischen Detektivs erkannt wurde.

„Heda, Gentlemen, – für kurze Zeit bittet hier einer um Gehör, der Euch heimlich gefolgt ist und der dann in Gestalt einer Schar von Radschputen, die auf der Elefantenjagd begriffen war, Verbündete gefunden hat. Diese benahmen sich leider bei dem Überfall auf Euch so wenig schlau, daß Ihr ausreißen konntet. Übrigens hatte ich mit Euch auch gar nichts Schlimmes im Sinn, wollte Euch nur zeigen, daß ein britischer Polizeibeamte, selbst hier in dieser gottverlassenen Einöde nicht allein auf sich angewiesen ist und daß Ihr am klügsten tut, Euch gut mit mir zu stellen und mir in allem die Wahrheit zu sagen. – Gentlemen, kommt nur näher an das Fenster heran, damit ich meine Kehle etwas schonen kann. Eine Hinterlist braucht Ihr von meiner Seite nicht zu befürchten. Ich bin Beamter und wie Ihr wißt, hinter einem Verbrecher her, der eine ganze Menge auf dem Kerbholz hat. Ich muß nun unbedingt erfahren, weshalb ihr vier Euch hinter dem alten Fakir und diesem Robertson drein gemacht habt. Ihr seid doch ihren Spuren stets gefolgt, und ich muß Euch sogar meine Anerkennung dafür aussprechen, daß Ihr die Fährte nie verloren habt. – Also – wir können schnell wieder die besten Freunde werden, wenn Ihr ehrlich seid und mir offen sagt, weshalb Ihr ein so großes Interesse für Mahrawutu und Robertson habt.“

Die drei Deutschen berieten leise, bevor Christiani auf den Vorschlag Schrenks hin folgendes erwiderte:

„Master Kleeton, wir vier wollten lediglich einen längeren Ritt durch die Thar unternehmen und hofften, daß, wenn wir dem doch fraglos ortskundigen Fakir folgten, uns stets genügend Trinkwasser, d. h. Quellen zur Verfügung stehen würden, was doch in dieser wasserarmen Wüste die Hauptsache ist. Nur deshalb blieben wir hinter den beiden.“

Kleeton lachte ironisch auf. Er stand draußen gerade so hoch auf den Schultern eines seiner braunen Verbündeten, daß nur sein Kopf über das Fenster hinausragte.

„Das ist Schwindel!“ erklärte er drohend. „Das ist eine ganz schlau ersonnene Ausrede – weiter nichts. – Nun, wenn Ihr heute noch die Wahrheit zu verheimlichen sucht, – nach einer Woche werdet Ihr damit schon als halb Verhungerte herausrücken. Jedenfalls warne ich Euch, von hier einen Fluchtversuch zu machen. Ich habe dreißig Radschputen bei mir, und ich werde den Tempel eng einschließen lassen. Wer auch nur einen Schritt von diesem Hügel herab ohne meine Erlaubnis tut, der erhält eine Kugel ins Bein! Ihr seid also gewarnt. Howard Kleeton läßt nie mit sich spaßen! Dafür ist er bekannt. Ich werde jeden Tag fragen kommen, ob Ihr inzwischen einsichtsvoller geworden. Bis morgen also angenehme Ruhe!“

Dann verschwand er.

 

4. Kapitel.

Eine altindische Rutschbahn.

„Wirklich – eine allerliebste Lage, in der wir uns befinden!“ meinte Doktor Moritz Christiani. „Was nun?! Der Kleeton ist sicher kein Dummkopf. Dem können wir so leicht nichts aufbinden. Wir werden ihm doch schließlich die Wahrheit mitteilen müssen. Eine Hungerkur ist ein übel Ding!“

„Die Wahrheit?! Niemals!“ erklärte Schrenk. „Wir müßten ja dann mit dem Engländer den Schatz teilen, den –“

„– den wir erst haben müssen!“ ergänzte Wilke seelenruhig. „Kinder – meiner Ansicht ist die Hauptsache, daß wir nicht in Lebensgefahr schweben und daß wir genügend Zeit haben, uns darüber einig zu werden, wie wir dem Detektiv ein Schnippchen schlagen. Darin gebe ich Schrenk vollkommen recht: das Geheimnis des Fakirs erfährt Kleeton auf keinen Fall! – Laßt uns jetzt unseren Dicken suchen. Wer weiß, ob er nicht unten irgendwo mit zerschundenen Gliedern liegt. Vorwärts – er kann ja nur in einem der linken Nebenräume durch eine Falltür die Reise abwärts angetreten haben.“

Die drei Deutschen machten sich nun, bedeutend beruhigter über ihr Schicksal als vor dem Erscheinen Kleetons, auf die Suche nach August Wurst, indem sie dem Fußboden der Nebenräume ihre Hauptaufmerksamkeit widmeten. Dieser bestand aus demselben Holz wie die Tempeldecke und zwar aus breiten, heller und dunkler gefärbten Stäben, die zu allerhand Figuren zusammengefügt waren, Drei-, Vierecken und Sternen. – Schrenk klopfte des öfteren den Boden mit dem Stiefelabsatz ab, um vielleicht an dem Unterschiede der Pochtöne herauszumerken, wo die Falltür sich befinden könnte. Bereits eine halbe Stunde schritten sie nun in den leeren Gemächern hin und her, ohne einen Erfolg verzeichnen zu können. Dann erklärte Schrenk, daß man auf diese Weise nicht zum Ziel käme.

„Es ist doch klar,“ setzte er hinzu, „daß mit der Falltür ein besonderer Mechanismus verbunden sein muß, der nur unter bestimmten Umständen die beweglichen Teile des Fußbodens zum Öffnen und Schließen bringt. Diesen Mechanismus hat unser August Wurst unabsichtlich ausgelöst, das heißt, es muß hier irgendwo einen Knopf, einen Hebel oder sonst was geben, worauf der Dicke einen Druck mit Hand oder Fuß ausgeübt hat. Schau’n wir uns also nach etwas Ähnlichem um.“

„Schrenk – Schrenkchen, Sie sind ein feiner Kopf,“ lobte Christiani. „Sie haben recht! Erst der Mechanismus! Dann ergibt sich das weitere von selbst.“

„Schade, daß August Wurst diesem seinen Kopf monatlich nur dreihundert Mark Gehalt bei freier Verpflegung zahlt,“ lachte der Privatsekretär. „Deshalb muß ich auch unbedingt die Schätze Nadir Schahs finden, und wenn ich jahrelang danach den Tempel und die Umgegend durchstöbern sollte! Denn, meine Herren, – ganz im Vertrauen! – im deutschen Vaterlande daheim wartet auf mich ein blutarmes Mädel, mit der ich heimlich verlobt bin. Stellen Sie sich nun das Glück vor, wenn ich als reicher Mann heimkehrte und einen eigenen Herd gründen könnte! – Doch – das sind Träume – fürs erste noch! – Also – los denn: Knopf, Hebel oder sonst was – zeigt Euch und spielt das „Sesam öffne dich!“ wie’s in den Märchen von tausend und eine Nacht heißt!“

Die Seitenräume waren nun miteinander durch bloße Türöffnungen verbunden, die so recht zeigten, wie stark die Mauern des Tempels sein mußten. Die Seitenflächen der Wanddurchbrüche waren gut ein Meter breit und ebenfalls wie auch die Wände mit bunten Mustern aus roten, schwarzen und grauen Granit- und weißen Marmortafeln ausgelegt. Schrenk machte sich nun die Mühe, auf jede einzelne dieser Tafeln zu drücken, besonders auf diejenigen, die sich etwa in Schulterhöhe befanden. Zwei der Türöffnungen hatte er nun schon auf diese Weise abgetastet. Ein Ergebnis blieb aus. Die Täfelchen waren sämtlich ganz fest eingefügt. Nun kam er an die letzte Tür nach dem am weitesten links liegenden Gemach der hinteren Räumlichkeiten. Er ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf die Platten fallen und bemerkte nun rechts an der Kante sofort eine Marmorplatte, die nicht glatt poliert wie die übrigen war, sondern die das erhabene, ausgemeißelte Bild einer zusammengeringelten Brillenschlange zeigte. Sofort kam ihm der Gedanke, daß dieser besonders gekennzeichnete Stein nur absichtlich hier eingefügt sein könne. Er nahm also die kleine elektrische Laterne in die Linke und legte die rechte Hand flach auf die quadratische Platte und den erhöhten Schlangenleib, drückte kräftig und – fühlte urplötzlich, wie ihm der Boden unter den Füßen schwand, wie er blitzschnell hinabfiel, ehe er noch zur Seite springen konnte, wie er unsanft auf etwas Hartes aufprallte und nun schräg abwärts in die Tiefe rutschte.

Trotz des ersten Schrecks über diesen Sturz behielt er doch so viel Geistesgegenwart, daß er die Lampe krampfhaft umklammerte. Als er nun unten irgendwo landete und noch ein Stück weiter rollte, als er dann sich aufrichtete und den Lichtkegel nach allen Seiten umhergleiten ließ, war das erste, was er sah, eine kleine, dicke Gestalt, die in einem Winkel dieser natürlichen Aushöhlung des Felsenhügels kauerte. Dann auch eine Stimme, – die des ehemaligen Viehgroßhändlers:

„Na – Gott sei Dank! – endlich Gesellschaft! Schrenkchen, ich sage Ihnen, ich habe hier im Dunkeln Angst geschwitzt wie – wie ein Examenskandidat, obwohl ich nie ein Examen abgelegt habe, denn ich bin ja nach dreijährigem Aufenthalt aus der Quarta als ungeeignet für höhere Bildung von meinem braven Vater aus dem Gymnasium herausgenommen worden. – Meine Taschenlampe habe ich bei der verdammten Rutschpartie verloren – Schrenkchen, – nie vergesse ich’s Ihnen, daß Sie mir Hilfe gebracht haben. Sie haben wohl mein Gebrüll gehört, wie?!“

„Nichts davon – nichts haben wir gehört.“ Schrenk stand auf, stieß nun ein überraschtes: „Ah – wahrhaftig – die Mumie – die Mumie Wilhelm von Hunningens!“ aus.

Da schnellte August Wurst gleichfalls hoch. Und nun standen sie vor den Überresten jenes Abenteurers, der unter Nadir Schah bis zum Wesir und General aufgerückt war.

Die Mumie war noch tadellos erhalten. Selbst die Gewänder hatten die Jahrhunderte überdauert. Es mußte ein überaus kräftiger Mann gewesen sein, dieser Sproß eines alten deutschen Geschlechts. Ein langer blonder Bart umrahmte das jetzt zu einem Totenkopf zusammengetrocknete Gesicht, an dem die leeren Augenhöhlen am abschreckendsten wirkten. Quer über der Brust des an der rechten Seitenwand auf dem harten Felsboden liegenden Toten blinkte matt die breite Klinge eines kostbaren Degens.

Egon von Schrenk bückte sich, hob die Waffe auf und deutete auf den eingeätzten Namen und den Wappenspruch. – „Da, Herr Wurst, – ein weiterer Beweis, daß Mahrawutu dem Doktor Christiani keinen Bären aufgebunden hat,“ sagte er hoffnungsfroh.

Dann begann er die Höhle, die durch Menschenhand in ein unterirdisches Gelaß von gut sechs Meter Breite und acht Meter Länge umgewandelt war, näher zu besichtigen.

Von oben herab lief in diesen natürlichen Kellerraum eine hölzerne Rutschbahn mit hohem Holzgeländer hinab, die nicht allzu schräg war, so daß man mit Hilfe des Geländers diese stufenlose Treppe ganz bequem erklimmen konnte.

Im übrigen war das Gelaß bis auf einige wertlose Dinge leer.

Als Schrenk nun die linke Seitenwand, an der ein viereckiges Stück bis zum Boden hin in Mosaikarbeit das Bild Brahmas in Überlebensgröße zeigte, neugierig musterte, da dies der einzige Schmuck der kahlen, wenn auch ziemlich glatt behauenen Wände war, bemerkte er sehr bald dicht über dem Boden in den bunten Steinchen der Mosaikarbeit eine einzelne größere Marmorplatte, auf der dasselbe Schlangenbild wie oben in der Türfüllung zu sehen war.

Er deutete auf diese Platte und fragte Wurst, ob dieser vielleicht durch einen Zufall die andere Platte dort oben berührt hätte.

Der Millionär entgegnete, das wüßte er nicht. Jedenfalls sei er, als er Schrenk eiligst folgte, ausgeglitten und habe sich an der Ecke der einen Türöffnung festzuhalten gesucht. Dann sei mit einem Male unter seinen Füßen der Boden verschwunden gewesen und – die Rutschpartie habe begonnen.

Schrenk nickte zufrieden. So hatte er mit seiner Vermutung also doch recht gehabt. – Er kniete jetzt nieder und tat hier genau dasselbe wie mit der anderen Marmorplatte – er drückte fest dagegen. Daß hier der Felsboden keine Falltür enthielt, dessen war er sicher. Also brauchte er nicht zu fürchten, etwa abermals einen Ausflug noch tiefer hinab antreten zu müssen.

Er drückte, drückte mit aller Kraft, nahm nun noch die zweite Hand zu Hilfe. Und da – da bewegte sich das viereckige Zierstück der Wand langsam nach hinten, da wurde ein schräg abwärts gehender niedriger Schacht mit einer roh ausgehauenen Treppe sichtbar.

„Hurra!“ brüllte Schrenk förmlich. „Dies wird der Weg in die Schatzkammer sein! Vorwärts, Herr Wurst, steigen wir hinab! Ich gehe voran.“

Er ging jedoch nicht, – nein, er lief! Und der dicke Millionär hatte alle Mühe, nicht zu weit zurückzubleiben.

Die Treppe hörte bald auf. Dann führte der Schacht horizontal weiter und zwar in Gestalt einer schmalen Höhle. Nach etwa fünf Minuten wurde diese Grotte wieder enger und stieg ziemlich steil an, bis Schrenk sich dann plötzlich inmitten eines Dickichts von Dornen und Tamarix-Büschen befand und über sich die Sterne des Firmaments schillern sah.

 

5. Kapitel.

Die Degenklinge.

Er sah jedoch noch mehr, sah etwas, das ihn veranlaßte, schleunigst wieder in das Felsloch zurückzukriechen, das hier den geheimen Ausgang aus dem unterirdischen Gelaß des alten Heiligtums bildete.

„Vorsicht!“ raunte er dem dicken Millionär zu. „Dort draußen sitzen in dem Dickicht ein Stück weiter Mahrawutu und Robertson an einem schwach glimmenden Feuer. – Warten Sie hier auf mich, ich will die beiden beschleichen und belauschen.“

August Wursts Hochachtung vor der Vielseitigkeit seines Sekretärs stieg beträchtlich. Doch – es dauerte sehr, sehr lange, bis Schrenk endlich zurückkehrte.

„Kommen Sie jetzt mit auf die Oberwelt,“ meinte er. „Die Sache und Robertson sind erledigt.“

„Erledigt – Robertson, – was heißt das?“

Aber Schrenk war schon wieder verschwunden. Als der Dicke nun hinterdrein hastete, als er nun in dieser Lichtung mitten in einem großen, unzugänglichen Dickicht neben dem Feuer anlangte, sah er Robertson – gebunden am Boden liegen.

Der Fakir hockte neben den glimmenden Holzstücken und kümmerte sich nicht im geringsten um die beiden Deutschen.

Da erklärte Schrenk kurz: „Ich kam gerade zur rechten Zeit, um einen Mord zu verhindern. Soeben hatte Mahrawutu dem Verbrecher, den er für einen ehrlichen Menschen hielt, erklärt, wie man von hier aus in den Tempel gelangen könnte, obwohl dieser doch jetzt aus ihm unbekannten Gründen von einer Schar Radschputen unter Führung eines Weißen eingeschlossen wäre. – Weiter schien Robertson nichts gewollt zu haben als diese Eröffnung. Plötzlich zog er einen Revolver und drohte den Fakir zu erschießen, falls dieser ihm nicht sofort auch das Versteck der Schätze mitteile. – „Du mußt dieses Versteck kennen, alter Halunke,“ rief er ihm leise zu. „Und wenn Du Dich weigern solltest, so werde ich Dich niederknallen wie einen tollen Hund, so wahr ich –“ In diesem Augenblick legte ich dem ahnungslosen Robertson die Hände von hinten um den Hals und fesselte den Bewußtlosen dann. Mahrawutu nickte mir nur gelassen zu und sagte: „Ich wußte, daß Du diesen Mann unschädlich machen würdest. Ich habe es in der vergangenen Nacht geträumt. Und was ich im Traume sehe, erfüllt sich stets.“ – Jetzt, Herr Wurst, wollen wir zu Christiani und Wilke zurückkehren.“

Der Gefangene wurde mitgenommen, und auch der Fakir folgte von selbst. In der Felsgrotte unter dem Tempel angelangt, kletterte Schrenk die stufenlose Treppe empor und hatte dann auch bald herausgefunden, wie die Falltür sich öffnen ließ.

Der Umstand, daß Robertson sich nun in der Gewalt der Deutschen befand, machte eine neue Beratung notwendig, wie man sich jetzt dem britischen Polizeibeamten gegenüber verhalten solle. Schrenk betonte, Kleeton würde, falls man ihm Robertson auslieferte, ohne Zweifel Aufschluß darüber verlangen, wie der Verbrecher in den Tempel hineingekommen wäre. Und dann läge die Gefahr vor, daß bei Erörterung dieser Frage der geheime Gang erwähnt werden müßte, wodurch wieder das wertvolle Geheimnis des Fakirs vielleicht nicht länger verschwiegen werden könnte. Er hielte es also für am richtigsten, sofort die Suche nach den Schätzen zu beginnen und dem Detektiv gegenüber bei der alten Ausrede, man wäre nur der Wasserstellen wegen Mahrawutu und dem Gauner gefolgt, zu bleiben.

So geschah es denn auch. Tag für Tag kam Kleeton und fragte durch das Fenster bei den Eingeschlossenen an, ob sie nun das Lügen aufgeben wollten. Tag für Tag erhielt er dieselbe Antwort: „Er möchte bis morgen nochmals warten. Sie würden sich’s überlegen.“

So verging eine Woche. Kleeton ahnte nicht, daß Wilke mit Hilfe des geheimen Ganges bereits am zweiten Tage morgens tief in die Felswildnis eingedrungen und dann mit einem erlegten Bergschaf zurückgekehrt war. Jedenfalls litten die Belagerten in keiner Weise an Hunger, vielmehr nur unter der aufregenden Ungewißheit, ob es ihnen gelingen würde, die Schätze zu finden.

Wieder war es der schlaue Schrenk, der, bereits halb verzweifelt über das ergebnislose Mühen, nochmals den prächtigen Degen Wilh. v. Hunningen genau sich anschaute, freilich mehr aus Interesse an dieser schönen Waffe, als in der Hoffnung, auf der Klinge etwa das zu entdecken, was er nun wirklich fand: An der anderen Seite, wo nur Blumenornamente eingeätzt waren, hatte der deutsche Abenteurer wahrscheinlich mit einem scharfen Steine mehrere Wörter eingeritzt, die nur schwer zu entziffern, dann aber leicht zu folgerichtigen Sätzen zu ergänzen waren. – Diese Wörter lauteten: „Räuber – alles ermordet – allein gefangen hie – Steine in mir, Gott mir gnädig! W. v. H.“

„Steine in mir,“ sagte Schrenk nun zu den um ihn versammelten Gefährten mit bebender Stimme. „Das kann nur heißen, daß Hunningen, nachdem seine Krieger getötet waren und er selbst den sicheren Tod voraussah, einen Teil der in Dehli gemachten und ihm anvertrauten Beute, nämlich eine Anzahl Edelsteine – verschluckt hat! – Nun, unser vor mehr als anderthalb Jahrhunderten hier umgekommener Landsmann wird es sich gefallen lassen müssen, daß Christiani, der ja auch von Medizin einiges versteht, ihm den Leib öffnet!“

Christiani erklärte sich sofort dazu bereit. Die inneren Organe der Mumie waren genau so zusammengeschrumpft wie die Haut und die Fleischteile. Als der Doktor den Magen freigelegt und dann auch aufgeschnitten hatte, als nun der Lichtschein von drei Taschenlampen auf ein gutes Dutzend großer, zumeist hellblauer Edelsteine von prachtvollem Schliff und Feuer fiel, da rief Egon von Schrenk begeistert aus: „Heil dem deutschen Wesir Nadir Schahs! Nun sind wir gemachte Leute.“

Am folgenden Morgen fand Kleeton zu seinem Erstaunen die Tür des Tempels weit offen und mitten in der Halle den gebundenen Robertson. Die Deutschen aber waren spurlos verschwunden. Robertson, der noch bewußtlos damals in den Tempel gebracht worden war und deshalb das Geheimnis der Falltür nicht kannte, vermochte beim besten Willen dem Detektiv nicht anzugeben, wo der Eingang zu den unterirdischen Räumen sich befinde, erklärte nur, daß Mahrawutu ihm gegenüber von dem Gange und dem natürlichen Kellergelaß gesprochen hätte. – Kleeton suchte den halben Tag. Dann ließ er durch die Radschputen den Fußboden hier und dort aufhacken. Nur auf diese Weise gelang es ihm, in das untere Gelaß hinabzusteigen, wo ihm jedoch die wieder in ihre Gewänder gehüllte Mumie auch nicht verriet, wie man von hier in den geheimen Felsschacht und ins Freie käme.

Dann erschien der draußen im Tale bei den Reittieren zurückgelassene Radschpute im Tempel und meldete Kleeton, die Deutschen und der Fakir hätten ihn gezwungen, ihre Pferde und Lastkamele herauszugeben und wären dann schleunigst davongeritten.

Da der Abend sehr bald anbrach, konnte Kleeton nicht daran denken, die Flüchtlinge sofort zu verfolgen. Er nahm überhaupt davon Abstand, weil er sich sagte, daß die Deutschen schließlich nichts begangen hätten, was strafwürdig wäre. Er hätte sie trotzdem aber wohl wiedereinzufangen gesucht, wenn Robertson ihm auch mitgeteilt haben würde, weshalb die Deutschen hier in die Thar-Wüste gekommen waren. Doch dies hatte der Gauner für sich behalten, denn er wollte nicht, daß Kleeton womöglich selbst einen Vorteil von den Schätzen des alten Tempels hätte.

Unsere vier Abenteurer gelangten glücklich nach Dehli zurück. Mahrawutu hatte für sich nur einen einzigen von den vierzehn in der Mumie gefundenen Steinen verlangt. Die übrigen dreizehn ließ man durch einen Sachverständigen abschätzen. Er gab ihren Wert auf rund drei Millionen Mark an. – August Wurst verzichtete großmütig auf die Million, die ihm doch nach den getroffenen Abmachungen zugestanden hätte. Die Diamanten wurden dann in Kalkutta an einen holländischen Edelsteinhändler verkauft und der Erlös brüderlich unter die vier verteilt. Nur Schrenk erhielt etwas mehr als die anderen, da er der eigentliche Entdecker des seltsamen Schatzes war. Er und Christiani wurden nachher in der Heimat eng befreundet, kamen auch oft mit August Wurst und Wilke zusammen und sprachen dann besonders gern von jenen Tagen, die sie in der weltabgeschiedenen Einsamkeit der indischen Wüste zusammen verlebt hatten.

 

Der nächste Band enthält:

Die Insel der Rätsel.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „sind“ ergänzt.
  2. In der Vorlage steht: „… der Fakir und Mahrawutu …“ – Das ergibt so keinen Sinn, denn der Fakir und Mahrawutu sind ein und dieselbe Person. Gemeint ist: „… der Engländer und Mahrawutu …“ – Daher „Fakir“ auf „Engländer“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „aufgeführt“.