Erlebnisse einsamer Menschen
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
W. Belka.
Ein neuer Morgen zog über der alten Hansastadt Hamburg herauf. Die fahle Dämmerung eines klaren Maihimmels lagerte in den noch stillen Straßen. Nur selten ratterte ein Auto vorüber, rumpelte eine müde Droschke dem Stalle zu. Hamburg, diese Stätte vielfacher industrieller, kaufmännischer und überseeischer Handelstätigkeit, schlief noch.
Gunnar Iversen kam aus dem Spielklub. Er schlich wie einer dahin, dem man die Sorgenbürde eines halben Hunderts von Menschen aufgepackt hatte. Mit hochgeschlagenem Überzieherkragen, den hellen Velourshut tief in die Stirn gedrückt, ging er mit unsicheren Schritten dem alten Patrizierhause zu, in dem die Iversens seit mehr denn 500 Jahren heimisch waren.
Gestern noch war dieses alte Haus mit seinen reichen Schätzen an Altertümern und Erinnerungen Gunnars, des 24jährigen letzten Iversen, Eigentum gewesen. In der verflossenen Nacht hatte er es verspielt – samt allem, was er sonst noch besaß. Nichts gehörte ihm mehr – nichts. Wie im Wahnsinn hatte er stets von neuem allerlei Zettel unterschrieben, hatte darauf Geld geborgt, und all diese Summen waren dahingeschwunden in dem unersättlichen Rachen des Molochs Glückspiel wie kleine Bissen.
Noch vor einem Monat hatte Iversen diejenigen tief verachtet, die sich durch die Karten ruinierten. Er fühlte sich erhaben über alle Leidenschaften. Er kannte nur etwas, für das er lebte: den Sport! – Der Name Gunnar Iversen war seit drei Jahren unter den Teilnehmern jedes Automobil-, jedes Motorbootrennens und jeder Segelregatta zu finden.
Und – dann war auch Gunnar Iversen in die Netze der launischen Glücksgöttin Fortuna geraten. Ein neuer, sehr feudaler Spielklub hatte sich im April 1919 in Hamburg aufgetan, und in diesem Klub war der letzte Träger des altberühmten Patriziernamens soeben ein Bettler geworden.
Iversen stand jetzt vor dem alten, spitzgiebeligen Hause und schaute es sich an wie etwas, von dem man Abschied für immer nimmt. Soeben war er mit dem Entschluß über seine Zukunft fertig geworden. Diese Zukunft sollte nur noch Minuten währen. Dann würde man ihn erschossen oben in seinem Arbeitszimmer auffinden, und morgen würden die Zeitungen einen kurzen Bericht über das Ende des neuesten Opfer der Spielwut bringen.
Ja – er wollte sterben! Nicht etwa, weil die Armut ihn schreckte! Nein – es wäre ihm sogar recht interessant gewesen, den Kampf ums Dasein so ohne alle Hilfsmittel aufnehmen zu müssen. – Er wollte sterben, weil er vor seiner Charakterschwäche einen solchen Ekel empfand, daß er sich nicht mehr unter die Menschen wagte. Er, Gunnar Iversen, der trotz seiner Jugend so kühl, so sachlich überlegende, – er, der nie gewußt hatte, was sogenannte Nerven sind, er war wie ein Irrsinniger Nacht für Nacht im Klub mit sehenden Augen dem Unheil immer näher getaumelt. Jetzt verachtete er sich selbst mehr, als Worte es auszudrücken vermögen.
Auch dieses uralte Haus, eine Sehenswürdigkeit Hamburgs, war jetzt fremder Besitz, – das Haus seiner Väter, das Heim vieler, vieler Iversens, die nicht geahnt hatten, daß einst einer von ihnen – am Spieltisch wegwerfen würde, was sie an Reichtümern mühsam zusammengetragen. –
Gunnar hörte nicht, daß die Haustür leise geöffnet wurde.
Ein blasser Junge trat heraus, riß nun den schmutzigen Strohhut vom Kopf, begrüßte ihn mit einen scheuen: „Guten Morgen, Herr Iversen –“
Gunnar schaute hin, nickte dem vielleicht fünfzehn Jahre alten Knaben freundlich zu.
„Schon munter, Erwin? – Richtig. Dein Tagewerk beginnt früh. – Na – hast Du Dich nun mit Deinem Stiefvater auf etwas besseren Fuß gestellt? – Wir haben uns seit Wochen nicht gesehen. Wie geht’s Dir denn nun eigentlich?“
Erwins bleiches Gesicht hatte sich bei der Erwähnung des Stiefvaters blitzschnell verzerrt. Ein bitteres Auflachen kam jetzt über seine Lippen.
„Wozu soll ich klagen, Herr Iversen?!“ meinte er finster. „Sie halten ja so große Stücke auf – auf Preßler, auf – meinen Stiefvater, Sie glauben mir ja doch nicht, daß er sich nur Ihnen gegenüber ganz anders zeigt, als er’s in Wahrheit ist. Selbst die Mutter hat er nun gegen mich aufzuhetzen verstanden.“ Eine jähe Röte flog über seine Wangen. Und geradezu haßerfüllt stieß er hervor: „Aber – er soll nur nochmals wagen, mich mit der Peitsche zu schlagen, dann – dann –“
Gunnar Iversen blickte den erregten Jungen fest an.
„Erzähle mir Genaueres,“ sagte er kurz.
Und Erwin Krönert schüttete ihm nun unter Tränen sein Herz aus.
„Ich bin nichts als sein Sklave, nichts anderes. Er hat seine Freude dran, mich hin und her zu hetzen. Ganz überflüssige Arbeit verlangt er. Morgens um vier geht’s an mit dem Straßefegen. Und bis zehn Uhr abends heißt’s nur immer: Tu’ dies – tu’ das. – Und zur Aufmunterung hagelt’s Hiebe! – Oh – wenn das mein Vater wüßte, Herr Iversen! Gut, daß er’s nicht weiß. Er würde keine Ruhe im Grabe finden –“
Iversen vergaß ganz, daß das Haus nicht mehr ihm gehörte, in dem die Krönerts nun seit achtzig Jahren als Portierleute gleichfalls wohnten. Erwins Großvater war der erste Krönert gewesen, der diesen Vertrauensposten innegehabt. Und nun war seit einem halben Jahre jener Preßler der hübschen Witwe zweiter Mann und Portier geworden. – Ja, Gunnar dachte im Augenblick nicht daran, daß er hier nichts mehr zu sagen hatte, klopfte Erwin auf die Schulter und meinte tröstend:
„Ich werde mir Preßler mal etwas vornehmen. Und wenn er nicht –“
Er stockte. Jetzt fiel ihm ein: du bist ja ein Bettler, ein Heimatloser.
Schnell faßte er in die Tasche. Da steckten noch ein paar Scheine. Er bekam eine zerknitterte blaue Banknote in die Finger. – „Da – Erwin, – sag’s niemandem, verstanden! Kauf’ Dir was dafür. Und – behalte mich in gutem Andenken –“
Hastig eilte er ins Haus, über die weite Diele, die geschnitzte Treppe empor, betrat seine Arbeitszimmer.
Plötzlich stand er still. War nicht dort aus der Bibliothek nebenan ein Geräusch gekommen?
Er schlug den schweren Türvorhang auseinander, spähte in den langen Raum mit den dicht gefüllten Bücherregalen hinein. Durch die Butzenscheiben fiel ein sanftes, träumerisches Licht auf den riesigen Perserteppich, auf den Mitteltisch und die Ledersessel.
Nichts da. – Gunnar lächelte verächtlich. Also so weit war’s schon mit ihm. Seine Nerven täuschten ihm Geräusche vor.
Er ließ den Vorhang fallen, warf Hut und Überzieher auf den Diwan seines Arbeitszimmers, setzte sich an den Schreibtisch, schloß ein Fach auf, nahm eine Mauserpistole heraus, entsicherte sie, starrte vor sich hin, legte sie wieder weg, hakte seine Uhr nebst Kette los und sagte halblaut:
„Wenn der Sekundenzeiger die Zwölf erreicht hat, drücke ich ab –“
Abermals umspannte seine Rechte die kalte Waffe. Und von dem kühlen Metall ging’s wie ein Eiseshauch über seinen Körper hin.
Er stützte den rechten Ellbogen auf die Schreibsessellehne, drückte die Mündung an die rechte Schläfe dicht über dem Ohr und beobachtete den kleinen Zeiger, der mit kurzen Rucken und leisem Ticken der Zwölf entgegenstrebte.
Noch dreißig Sekunden – noch 25 – noch 20 –
Rechts von dem Selbstmörder wurde lautlos der Türvorhang nach der Bibliothek auseinander geschlagen. Ein Männerantlitz wurde sichtbar, umrahmt von einem blonden Spitzbart. – Der Vorhang öffnete sich ganz. Und katzengleich schlich der Fremde über den dicken Teppich hinter den Schreibsessel.
Gunnar Iversen zählte jetzt halblaut die Sekunden mit: l5 – 14 – 13 – 12 – – 5 – 4 – 3 –
Da – sagte eine tiefe Stimme hinter ihm:
„Herr Iversen, ich würde mir noch etwas Zeit mit dem Abdrücken lassen!“
Gunnar schnellte hoch. Vor Schreck entfiel ihm die Pistole. Der Fremde bückte sich, hob sie auf, legte sie auf die Schreibtischplatte, meinte dann ebenso gelassen wie vorher: „Behalten Sie Platz, Herr Iversen, und hören Sie mich an. Ich hoffe, Sie werden das Leben dann noch ein wenig reizvoll finden. –“
Seine Ruhe hatte etwas Bezwingendes. Gunnar hatte ihn auch sofort wiedererkannt. Dieser elegante, schlanke Herr, der sich im Klub Baron von Rixholm genannt hatte, war ja ein mindestens ebenso großer Pechvogel wie er selbst. Auch Rixholm hatte stets nur verloren. Gunnar wußte sonst nichts von ihm, hatte nie auch nur ein einziges Wort mit ihm gewechselt.
Rixholm begann nach einigen gemächlichen Zügen und tadellosen Rauchringen:
– – – – – – – –
„Ich heiße nicht Rixholm, bin nicht Baron, bin kein Kurländer, sondern ein waschechter Berliner. Mein richtiger Name ist Arnold Schneider. Mein Vater war Budiker, wie man in Berlin sagt, – Kneipwirt. Ich wurde in einer richtigen Verbrecherkaschemme groß. Mit vierzehn Jahren hätte ich jeden Staatsanwalt klug machen können. Wenn ich trotzdem zunächst ehrlich blieb, lag’s lediglich daran, daß mein Sinn stets auf Höheres gerichtet war. Ich wollte reich – unermeßlich reich werden – doch ohne vorher Gefängnis oder Zuchthaus kennen gelernt zu haben. Meine lebhafte Phantasie hatte bereits mit sechzehn Jahren einen Plan fix und fertig, mir nächst die nötige Allgemeinbildung und Welt- und Menschenkenntnis zu verschaffen, die zu einem Hochstapler feinster Sorte gehört. Ich wurde also Kellner. Mit achtzehn Jahren war ich in der Schweiz. Das internationale Leben und Treiben in Luzern erleichterte mein Vorhaben. Ich bemühte mich, fertig englisch und französisch sprechen zu lernen, studierte gleichzeitig Besonderheiten der Vertreter der verschiedenen Länder.
Zwei Jahre darauf ging ich als Schiffskellner nach Indien, nahm Stellungen in Bombay, Kalkutta, Benares und Singapore an, begab mich dann nach Japan, von hier nach Südamerika, nach der Hauptstadt Perus, Lima – stets als Kellner. Mit 23 Jahren war ich noch immer ehrlich. In Lima aber hatte ich Gelegenheit, einem millionenschweren Peruaner, der sich gerade nach Europa einschiffen wollte, eine Kassette mit einer runden Million in englischen Banknoten ohne Mühe aus dem Koffer zu nehmen. Ich floh nach Newyork. Dort stahl mir ein Gesinnungsgenosse die Kassette, ein Mann, den ich nie gesehen [hatte zuvor, der sich mir vorstellte und wußte, wer][1] ich war. Vielleicht war er mir schon von Lima aus auf den Fersen geblieben.
Ich will Sie nicht durch die Aufzählung meiner Hochstaplerabenteuer langweilen, Herr Iversen. Ich bin heute dreißig Jahre alt. Durch meine Finger [sind Millionen an Gold und Pretiosen geflossen. Aber][2] – diese Finger verstanden von der Beute nichts festzuhalten. Alles – alles verschlang in kurzem das verfluchte, entzückende Felsennest Monako – die Spielbank von Monte Carlo. Ich bin eben ein ebenso leidenschaftlicher Spieler wie Gentleman-Gauner.
Vor einem halben Jahr führte mich ein Zufall wieder nach Lima. Mir ging’s damals hundsmiserabel, und ich mußte, nur um satt zu werden, die Stelle eines Hausdieners in einem vornehmen Fremdenheim annehmen. Hier fielen mir sehr bald drei Herren auf, die für meine geschärften Augen etwas Geheimnisvolles an sich hatten. Es waren drei Portugiesen, zwei jüngere und ein älterer, gebildete Leute, die sich als Altertumsforscher ausgaben und auch dauernd außerhalb Limas in den Ruinen der alten Befestigungswerke aus der Zeit der spanischen Eroberungen herumbuddelten. Ich beobachtete sie unauffällig und merkte bald, daß sie etwas ganz Bestimmtes suchten. Selbst nachts waren sie verschiedentlich draußen in den Ruinen, und – ich ebenfalls. Ich glaubte, sie hätten es auf irgend einen verborgenen Schatz abgesehen. Zumeist durchwühlten sie die Trümmer eines Turmes, der einst die Mitte eines ausgedehnten Gebäudes gewesen sein mußte. Ich erkundigte mich nach der einstigen Bestimmung dieses Bauwerks und erfuhr, daß es der im Jahre 1719 durch ein Erdbeben zerstörte Palast des spanischen Vizekönigs gewesen.
Die Geschichte Perus, des alten, auf hoher Kulturstufe stehenden Inka-Reiches, dürfte Ihnen nicht genügend gegenwärtig sein, um das weitere zu verstehen, Herr Iversen. Daher einige kurze Angaben hierüber. – Der Spanier Pizarro entdeckte und eroberte Peru im Jahre 1531. Elf Jahre später wurde für den ersten spanischen Vizekönig innerhalb der Festungswerke jener Palast erbaut, in dem auch sämtliche Bureaus, wie man heute sagen würde, untergebracht waren. Die 1547 entdeckten reichen Silberminen von Potosi warfen dem spanischen Mutterlande ungeheure Einkünfte ab. Hierzu kamen noch die Erträge von Goldbergwerken und uralte Kostbarkeiten der Inkas, die man dadurch aus ihren Verstecken hervorholte, daß man die armen Indianer scharenweise mit den Füßen in siedendes Öl steckte, bis einer darunter war, der ein solches Versteck kannte und verriet.
So – das mag genügen. – Nun zurück zu den drei Forschern. – Eines Nachts schlich ich ihnen abermals nach. Sie hatten gerade den Zugang zu einem noch leidlich gut erhaltenen Raum im Erdgeschoß freigelegt, in dem mächtige Schränke mit allerlei Büchern, Karten und sonstigen Papieren standen.
Ich beherrschte das Portugiesische genügend, um ihrer erregten Unterhaltung zu entnehmen, daß sie endlich halb und halb am Ziel ihrer Wünsche angelangt waren. Sie suchten nach einem ganz bestimmten Aktenstück, das über eine im Jahre 1682 von Lima aus nach Spanien abgesandte Goldladung ihnen Aufschluß geben sollte. Leider mußte ich mich dann von meinem Lauscherposten zurückziehen, da sie jetzt so vorsichtig waren, einen von ihnen als Wache vor den Eingang des Gemaches zu schicken.
Acht Tage drauf – der Waffenstillstand in Europa war kurz vorher abgeschlossen worden – reisten sie nach Lissabon ab. Ich natürlich auch, und ebenso natürlich gleichfalls wohlversehen mit portugiesischen Papieren eines gewissen Saltaro. Das so nebenbei. – In Lissabon spionierte ich dann weiter aus, daß die drei, die nicht gerade reich waren, einen kleinen Schoner und noch manches andere billig zu erwerben suchten. Um mir nun endlich Gewißheit zu verschaffen, was sie eigentlich vorhätten, tat ich dasselbe, was ich heute hier bei Ihnen getan habe, Herr Iversen: ich drang in ihre gemeinsame Wohnung an drei Abenden hintereinander ein und hatte auch das Glück, am dritten Abend, unter einem Sofa liegend, so viel von ihrem Gespräch zu erlauschen, daß ich nunmehr ganz genau Bescheid wußte.
Bevor ich nun fortfahre, Herr Iversen, bitte ich Sie um Ihr Ehrenwort, daß Sie über das Folgende tiefstes Schweigen bewahren werden, falls wir beide nicht einig werden sollten.“
Gunnar Iversen erwachte wie aus einem Traum. All das, was er hier erlebte, kam ihm um so unwirklicher vor, als er ja bereits vorhin völlig mit dem Leben abgeschlossen gehabt hatte. Und wie im Traum nickte er und sagte: „Ich gebe Ihnen mein Wort –“
„Danke. – Also weiter. – Im Jahre 1682 hatte der spanische Vizekönig wieder einmal in den Schluchten der Kordilleren eine Anzahl Indianer eingefangen, von denen er sich die ältesten heraussuchte und die er nach dem löblichen Beispiel seiner Amtsvorgänger dann in ein etwas warmes Ölbad steckte. Er hatte Glück. Einer der Greise verriet ihm eine sogenannte Königskammer, das heißt die Grabstätte eines Inkaherrschers, in der auch Millionen an goldenen Kostbarkeiten aufgestapelt waren. Diese Schätze wurden im Juli 1862 auf dem spanischen Kriegsschiff „Santa Anna“ in Kallao, dem Hafen Limas, verladen und sollten zunächst nach einer der nördlichsten der Azoren-Inseln gebracht werden, da Spanien, mit dessen Macht es damals bereits abwärts ging, sowohl in innere Kämpfe als auch in einen Krieg mit Portugal und Frankreich verwickelt war. An einer einsamen Stelle der Küste jener Azoreninsel sollten die Schätze auf vier kleinere, sehr schnell segelnde Schiffe verteilt werden, damit, falls die französische Flotte auf diese Jagd machte, nicht alle schlimmstenfalls in die Gewalt des Feindes gerieten.
Die Santa Anna segelte auch von Kallao ab, ward aber nie mehr gesehen, blieb verschollen, wurde vergessen.
Doch nicht ganz vergessen, denn jene drei Portugiesen hatten in den Archiven Lissabons eine Schilderung des Unabhängigkeitskrieges Portugals gegen Spanien entdeckt, in der ein alter Geschichtsschreiber auch die Santa Anna erwähnt und weiter als Randbemerkung hinzugefügt hatte, ihm wäre das Gerücht zu Ohren gekommen, daß ein Mann der einstigen Besatzung jenes Goldschiffes später in Lissabon gelebt und auf seinem Sterbebett folgendes gebeichtet hätte:
Als die Santa Anna in Sicht jener Azoreninsel gelangt war, brach an Bord eine Meuterei aus. Ein großer Teil der Besatzung hatte sich verschworen, die Schätze in ihre Gewalt zu bringen, unter sich zu verteilen und das Schiff zu versenken. Die Meuterei glückte. Die Santa Anna wurde von den Verschworenen, nachdem weit über die Hälfte der Bemannung in dem Kampfe gefallen und die überlebenden Offiziere in Eisen gelegt worden waren, in eine tiefe Bucht hineingesteuert, wo die Verteilung der Ladung vor sich gehen sollte. Es gelang jedoch einem der Gefangenen, sich zu befreien, und gerade als das Schiff die tiefste Stelle der Bucht passierte, zündete er einen in den Kielraum geschleppten Pulversack an und schickte die Santa Anna auf diese Weise mit Mann und Maus zu den Fischen hinab. Nur einer entging dem Tode. Und das war jener Seemann, der in Lissabon dann einem Mönche beichtete, daß er zu den Meuterern der Santa Anna gehört hätte. –
All diese Angaben über das Goldschiff hatten die drei Portugiesen dann, wie ich schon geschildert habe, sorgfältig nachgeprüft und waren so zu der Überzeugung gelangt, daß auch das Gerücht von der Beichte jenes alten Matrosen stimmen müßte.
Als ich sie belauschte, sprachen sie sehr eingehend über ihre Pläne. Sie wollten ganz unauffällig und ohne etwas zu übereilen einen kleinen Schoner ankaufen, wollten sich ebenso unauffällig als Seeleute ausbilden lassen und dann nach den Azoren segeln, um allein zu dreien dort die Buchten jener Insel ganz sorgfältig zu durchsuchen. – Sie wollten sich aber wie gesagt Zeit lassen. Sie fürchteten ganz besonders die im Atlantik nach dem Weltkrieg noch vorhandenen Minenfelder und treibenden Minen, mochten eben nicht durch Übereifer ihr Leben aufs Spiel setzen. Sie waren entschlossen, erst im Juli oder August dieses Jahres von Lissabon abzusegeln, nachdem sie genügend Erfahrung in der Führung eines Schoners sich angeeignet hätten. –
So, dies wäre die Vorgeschichte. – Jetzt zu mir selbst. –
Die Schätze der Santa Anna sollten mein werden. Das war mein Gedanke, als ich Lissabon verließ und mich nach Deutschland wandte, um hier zunächst so viel Geld zu er…gaunern, um meine Pläne verwirklichen zu können. Seit Januar dieses Jahres versuche ich nun, den „großen Schlag“ zu tun, der mir zu dem nötigen Gelde verhilft. Gewiß – ich habe Glück gehabt. Aber – da brach zu meinem Unheil in Deutschland die Spielpest aus, und ich Narr opferte stets wieder am grünen Tisch, was ich durch meine Schlauheit erwarb. Auch hier in Hamburg, wo ich als Baron Rixholm auftrat, klebte das verwünschte Pech an meinen Sohlen. Im Klub, wo ja auch Sie bald Stammgast wurden, verlor ich genau wie Sie alles. Heute besitze ich gerade noch viertausend Mark – also nichts. – Da wurde ich auf Sie aufmerksam. Ich sah voraus, daß Sie sich ruinieren würden. Ich beobachtete Sie, studierte Sie, fand Sie brauchbar. Ich weiß, Sie sind heute ein Bettler. Alles – haben Sie verspielt – nur an Ihr Motorboot haben Sie nicht gedacht – zum Glück, sonst hätten Sie es wohl ebenfalls in dieser Nacht für einen Spottpreis veräußert. Es ist also noch Ihr Eigentum. Ich habe es mir bereits vor drei Tagen angesehen. Es ist für meine Zwecke durchaus geeignet, ist bei seiner Länge von 15 Meter und seiner ganzen Bauart nach durchaus seetüchtig. Sie verstehen damit umzugehen, und ich – habe für Benzin, Proviant und alles andere bereits gesorgt. Ich wußte eben, daß die Stunde nicht mehr fern sei, wo Sie meinen Vorschlägen ein williges Ohr leihen würden.
Sie hören: ich bin rücksichtslos offen. – Aber: ich bin, wenn auch Hochstapler, doch ein Mann, der in einem Punkt ein anständiger Kerl geblieben. Ich würde einen Genossen nie betrügen, nie! Und – sollten wir Glück haben und die Santa Anna finden, so werde ich allen denen, die ich je bestohlen oder betrogen habe, ihre Verluste auf Heller und Pfennig ersetzen und fortan als ehrlicher Mensch weiter leben. Das verspreche ich Ihnen. Und – mein Wort breche ich ebensowenig wie Sie, Herr Iversen.
Es liegt nun also an Ihnen, ob Sie mein Gefährte werden wollen. Wie gesagt, wir können bereits heute Hamburg in aller Heimlichkeit verlassen.
Entscheiden Sie sich. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit.“
Er zog seine Uhr, ließ den Golddeckel aufspringen und legte sie sich auf den Schenkel.
Gunnar Iversen fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er einen Vorhang entfernen, der seinen klaren Blick behinderte. Langsam fand er sich nun in die Wirklichkeit zurück.
Er sah die Pistole auf dem Schreibtisch liegen. Ja – er hatte sich ja erschießen wollen. Und dann – dann hatte das begonnen, das wie ein Traum gewesen – Rixholm war erschienen, hatte zu reden angefangen.
Und Rixholm war fraglos ein außergewöhnlicher Mensch. Nerven schien der nicht zu kennen.
Iversen zuckte leicht zusammen, als sein ungebetener Besucher nun den Deckel der Uhr zudrückte und sagte:
„Die Zeit ist um. Bitte um Ihre Entscheidung.“
Er war aufgestanden. Auch Iversen tat’s. Die beiden Männer schauten sich fest an. Dann hob Gunnar die rechte Hand.
„Schlagen Sie ein! Ich mache mit! – Auf treue Kameradschaft!“
„Auf treuste Kameradschaft!“ wiederholte der seltsame Mensch ernst und mit Nachdruck.
– – – – – – – –
Iversen war wieder allein, saß an seinem Schreibtisch und schrieb an die, denen er sein Hab und Gut überlassen, gleichlautende Briefe, bat darin, ihm seine Schuld noch auf drei Monate zu stunden und erklärte gleichzeitig, dann das Dreifache zurückzahlen zu wollen. Auch an seinen Notar richtete er ein längeres Schreiben und gab diesem Anweisung, es auf gerichtliche Klagen ankommen zu lassen, bevor besonders sein elterliches Haus in fremden Besitz überginge.
Gerade als er fertig war, trat Erwin Krönert ein. Der Junge trug ein kleines Bündel unterm Arm.
„Herr Iversen,“ begann er hastig, „ich wollte nicht in die Fremde, ohne Ihnen lebewohl zu sagen. Sie sind stets gut zu mir gewesen. Ich muß weg von hier, sonst – sonst tu ich mal etwas, das mich ins Zuchthaus bringt. – Ich – ich kann mich nicht mehr beherrschen, wenn er – er, mein Stiefvater, mich schlägt. Immer wilder werden meine häßlichen Rachegedanken, Herr Iversen. Sie wissen, ich bin nicht schlecht. Ich habe Dummheiten gemacht wie jeder Junge. Daß ich aus der Lehre bei Maurermeister Schulze ausgerissen bin, daran ist – auch mein Stiefvater schuld. Er hat dem Meister gesagt, ich wär’ ein Taugenichts; er solle mich nur recht scharf anfassen. – Und vor einer Stunde hat er mich nun wieder geohrfeigt, der – der Heuchler, der auch Ihnen Sand in die Augen gestreut hat. Im Hafen liegt ein schwedischer Dampfer. Der Kapitän hat meinen Vater gekannt. Und er will mich heimlich mitnehmen. Nachmittags geht der Dampfer in See. – Leben Sie wohl, Herr Iversen. Ich wünsche Ihnen alles Gute so recht von Herzen.“
Gunnar Iversen überlegte. Für nur zwei Mann als Bedienung war sein Motorkutter Gudrun zu groß. Das hatte auch Arnold Schneider, der falsche Baron Rixholm, gesagt.
„Gut, Junge,“ meinte er nun leise. „Du sollst Seemann werden. Aber nicht auf dem Schweden. Geh’ hin und erklär’ dem Kapitän, Du hättest Dir die Sache überlegt. Und dann – aber reinen Mund gehalten, Erwin! – dann findest Du Dich um drei Uhr nachmittags ganz heimlich auf meiner Gudrun ein. Wo sie ihren Liegeplatz hat, weißt Du. Ich trete heute nämlich in aller Stille eine längere Reise an.“
Des Jungen Gesicht leuchtete auf.
„Herr – Herr Iversen, oh – wie soll ich Ihnen danken!“ stotterte er.
„Dadurch, daß Du wie das Grab schweigst! – Nun verschwinde. – Und – um drei Uhr – pünktlich und unauffällig.“ –
Als Iversen dann um zwölf Uhr mit einem großen Koffer und einem Mantelsack die an einer Bootswerft liegende Gudrun betrat, war Arnold Schneider bereits an Bord. Iversen teilte ihm sofort mit, daß er einen zuverlässigen Schiffsjungen in der Person Erwins gewonnen hätte, und Schneider war durchaus einverstanden mit dieser Vermehrung der Besatzung.
Am Abend desselben Tages befand sich der seine 24 Knoten laufende Motorkutter bereits in der Nordsee, hielt Kurs auf den Kanal und erreichte auch ohne Unfall den Atlantik, stets vorsichtig allen Schiffen ausweichend.
Die Gudrun, auch als Kutter getakelt, besaß zwei geräumige Kajüten, mittschiffs eine Küche und vorn mehrere Kammern, auf Deck zwei niedrige Aufbauten, Luftkästen und einen Bleikiel, so daß sie selbst bei schwerer See wenig rollte. Die Eingänge zu den vorderen und hinteren Räumen ließen sich wasserdicht verschließen, die Takelage leicht entfernen, und dann konnten die Wogen getrost über das Deck hinweggehen; sie vermochten dem vorzüglich konstruierten Motorfahrzeug nichts anzuhaben.
Sechs Tage nach der Ausreise finden wir die Gudrun bei prachtvollem, windstillem Wetter an der Nordküste der Insel Corvo, der nördlichsten der Azoren wieder. Es dämmerte bereits, und Iversen ließ den Kutter absichtlich mit abgestelltem Motor treiben, um erst nach Dunkelwerden zunächst irgend eine einsame Bucht anzulaufen.
Während die kleine Besatzung der Gudrun nun auf dem Achterdeck ihre Abendmahlzeit einnahm, gewahrte Erwin nach Norden zu etwas wie eine Fontäne, die aus dem Ozean aufzusteigen schien. – Iversen belehrte ihn dann, daß es sich um einen Walfisch handele, der aus dem Spritzloch seines Rachens diesen Wasserstrahl emporsende.
Schneider meinte nun sofort, man könnte doch näher an den Wal heranfahren, um sich ein solches Ungeheuer genauer anzusehen.
Die Gudrun hielt also gleich darauf mit voller Geschwindigkeit auf den träge auf den langen Wogen schaukelnden Meeresbewohner zu. Inzwischen hatte Iversen von Erwin seine Jagdbüchse auf Deck holen lassen, zu der er auch Patronen mit Nickelmantelgeschoß besaß, die auch wohl die Schädelknochen eines Wales durchschlagen würden. Sehr bald war man bis auf hundert Meter heran, und Iversen gab nun, ruhig zielend, schnell hintereinander zwei Schüsse auf den dunklen Koloß ab, der dann urplötzlich tauchte und auch wieder zum Vorschein kam. Freilich war die Dunkelheit inzwischen so groß geworden, daß man nur noch auf kurze Entfernung die See überblicken konnte.
Nachdem man eine Viertelstunde auf derselben Stelle gekreuzt hatte, ohne den Wal entdecken zu können, wollte Schneider, der am Steuer saß, wieder Kurs auf die ferne Küste nehmen. Kaum hatte die Gudrun jedoch in kurzem Bogen gewendet, als urplötzlich eine furchtbare Gewalt den Bug des Bootes hochschleuderte, ein ohrbetäubender Knall ertönte und die drei auf Deck befindlichen Gefährten weitab ins Wasser geschleudert wurden.
Die Gudrun sank in wenigen Sekunden. Sie war auf eine von Meeresströmungen bis hierher entführte Mine aufgelaufen, und die drei Insassen konnten noch von Glück sagen, daß sie fürs erste mit dem Leben davongekommen waren.
Iversen rief mit lauter Stimme den Gefährten zu, man solle an der Unfallstelle sofort nach den auf dem Heckaufbau festgeklemmt gewesenen Rettungsringen suchen, die sich wahrscheinlich doch entsprechend ihrer unerwarteten ähnlichen Ereignissen angepaßten Befestigungsart losgelöst hätten.
Die auf den Wogen Treibenden fanden dann auch wirklich jeder einen Ring und durften jetzt ihre Lage bedeutend günstiger ansehen, da sie ja nun Aussicht hatten, schwimmend die Insel Corvo zu erreichen.
Als sie sich nun aber im Wasser ganz dicht zusammengefunden hatten, erklärte Arnold Schneider, daß er jetzt erst merke, wie ihm das Blut an der linken Schulter herunterrinne: er müsse von einen Sprengstück getroffen sein, und er könne den linken Arm kaum noch bewegen.
Iversen und Erwin wollten den in dem Rettungsring hängenden Verwundeten schleppen, hatten auch bereits angefangen, aus Teilen ihrer Hemden etwas wie Stricke herzustellen, als Schneider erfreut nach Osten deutete.
„Ein Schiff – ein Schiff!“ brüllte er mit voller Lungenkraft.
Dort schwamm tatsächlich ein dunkles Etwas, das aber – leider nur ein Wrack mit zwei kurzen Maststümpfen war, wie sich bald herausstellte. Trotzdem wollten die drei Schiffbrüchigen zusehen, ob sie dort an Deck gelangen könnten. Iversen umkreiste das über und über mit Moos und Muscheln bewachsene Fahrzeug zwei Mal, ehe er dann eine Strickleiter fand, mit deren Hilfe er an der Bordwand emporklettern konnte. In kurzem war auch Erwin oben, und nun machte es weiter keine Schwierigkeiten, selbst den Verwundeten hochzuziehen.
Das Deck des Wracks war gleichfalls vollständig mit Seepflanzen bedeckt, die jedoch bereits getrocknet waren. Während Iversen nun den recht matten Arnold Schneider notdürftig verband, war der Junge langsam vom Vorschiff weiter nach hinten gegangen, um sich ein wenig näher auf diesem durch seine Bauart recht merkwürdigen Segler umzuschaun. Besaß dieser doch am Heck und Bug so hohe Aufbauten, wie sie wohl mal in früheren Jahrhunderten angebracht wurden, in der Neuzeit aber längst nicht mehr.
Gerade als Erwin dann an einem Haufen hell schimmernder, also noch neuer leerer Kisten vorüberkam, trat der Mond hinter einer Wolkenbank hervor und warf sein bläuliches Licht über das seltsame Wrack hin.
Erwin prallte zurück, schrie entsetzt auf.
Dicht vor ihm lag auf dem Rücken die Leiche eines Mannes mit schwarzem, langem Bart. Und dieser Leiche war ein Arm ausgerissen, der samt dem Ärmel quer über die Beine des Toten gelegt war.
Der Junge rannte zu den Gefährten zurück. Am ganzen Leibe zitternd berichtete er, was er gesehen. – Iversen und Schneider waren gleichfalls zunächst recht erschrocken über diesen grausigen Fund, den sie erst nur aus einiger Entfernung musterten. Dann wagte Schneider sich dichter heran. Der Vollmond gab genügend Licht, und so erkannte denn der Urheber dieser abenteuerlichen Reise in dem Toten trotz dessen verzerrten Gesichtszügen den ältesten jener drei Portugiesen, von denen er das Geheimnis der Santa Anna gegen ihren Willen erfahren hatte.
„Es ist bestimmt jener Doktor Porfirio Machado,“ sagte er nun zu Iversen. „Und – die Bauart dieses Wracks und dessen dicker Pflanzenüberzug lassen nur den einen Schluß zu: Es ist die Santa Anna – das Goldschiff!“
Iversen gab ihm recht. „Derselbe Gedanke ist sofort in mir aufgetaucht, als ich die hohen Aufbauten bemerkte, „erklärte er. „Wie es aber kommt, daß dieses uralte Wrack, das viele Jahrhunderte auf dem Grunde einer Meeresbucht gelegen hat, sich jetzt schwimmend zu erhalten vermag, begreife ich nicht, noch weniger, wie es hierher gelangt sein kann. – Ich denke, wir warten hier auf dem Vorschiff zunächst mal den Morgen ab, denn wer weiß, welche Überraschungen uns noch bevorstehen! Offen gesagt: mir kommt diese Santa Anna etwas unheimlich vor! Wenn ich könnte, würde ich sie am liebsten wieder verlassen –“
In dem Winkel zwischen dem Bugaufbau und der hohen Reling saßen die drei Gefährten dann eng beieinander bis zum Morgengrauen. Der Schlaf floh ihre Lider. Die Erkenntnis, die Santa Anna in diesem Zustand angetroffen zu haben, der ihnen so viele Rätsel aufgab, ließ sie trotz Müdigkeit und Erschöpfung munter bleiben.
– – – – – – – –
Im Osten wurde der Horizont lichter und lichter. Der neue Tag zog herauf. Noch aber lagerte die grauschwarze Dunkelheit über dem Atlantik und dem mit einer Meeresströmung dahintreibenden Wrack mit schweren Schleiern.
„Endlich der Morgen!“ flüsterte Iversen. „Diese Nacht war die unangenehmste, die ich bisher –“
Er schwieg. Erwin hatte seinen Arm gepackt. Und gleichzeitig reckte auch Arnold Schneider lauschend den Kopf nach vorn.
„Ein Geräusch im Innern des Wracks,“ hauchte der Junge.
Das Glucksen der Wellen an den Bordwänden war so wenig aufdringlich, daß die drei Gefährten nun recht deutlich ein Schaben und Kratzen etwa in der Mitte des Schiffes und gleich darauf ein Poltern wie von umfallenden Brettern hörten.
„Ohne Zweifel befinden sich noch Leute im Wrack, „ meinte Iversen leise. „Eine nette Lage für uns. Wir sind ganz ohne Waffen. Mit unseren Taschenmessern dürften wir gegen die, die den Portugiesen ermordet haben, kaum aufkommen.“
Da – abermals ein ähnliches Poltern.
Schneider fluchte. „Wenn’s nur erst ganz hell wäre. Dann gehe ich den Dingen auf den Grund! Angst kenne ich nicht. Wenn man auch nur ein Leben zu verlieren hat – an dem meinen ist nicht viel gelegen!“ Er suchte mit der rechten Hand in seinen Taschen umher, holte ein Benzinfeuerzeug hervor, reichte es Erwin. „Da, Junge, probiere mal, ob’s noch funktioniert. Ich hoffe, der Deckel wird wasserdicht geschlossen haben.“
Erwin drehte das Stahlrädchen. Eine winzige Flamme zuckte auf, die Schneider sofort wieder ausdrückte.
„Nun können wir uns wenigstens aus dem Kistenholz dort Fackeln herstellen,“ meinte er. „Ah – nun erkennt man auch schon den Toten von hier aus. Es wird rasch heller –“
Er erhob sich, reckte die steifen Glieder, bewege auch den linken Arm hin und her. „Ein Glück, daß er wieder gebrauchsfähig ist!“ lachte er sorglos.
Mittschiffs befand sich ein niedriger, einem großen, flachen Kasten ähnlicher Aufbau, dessen nach dem Bug hinausgehende Tür nach innen offenstand, so daß man das moosbewachsene Geländer einer Treppe unterscheiden konnte, die in die unteren Räume hinabging. Neben der Tür lag je eine Fensteröffnung. Von den Fenstern waren noch einige algenüberwucherte Scheiben vorhanden.
Auch Iversen und der Knabe standen zögernd auf. Gunnar kam sich jetzt geradezu feige vor. Aber diese ganze unheimliche Umgebung war ja nur zu sehr geeignet, einen Menschen zu schrecken, der seine Nerven am Spieltisch ruiniert hatte.
Arnold Schneider ging auf den Toten zu. Aber – sehr bald stockte sein Fuß. Aus der Tür fuhr blitzschnell ein langes, dünnes Etwas hervor, schlängelte sich hin und her, verschwand wieder. Und alsbald begann im Schiffsinnern auch wieder ein arges Rumoren.
„Eine Schlange!“ rief Erwin jetzt mehr erstaunt als erschrocken. „Es muß ein riesiges Reptil gewesen sein. Ein Teil des Leibes befand sich ja noch auf der Treppe –“
„Allerdings – es war eine Schlange!“ meinte Schneider kopfschüttelnd. „Dieses verteufelte Wrack ist wirklich rein behext –“
Iversen trat neben Schneider, sagte nachdenklich:
„Hm – eine Schlange?! – Das Stück, welches wir zu sehen bekamen, schien doch der Oberleib zu sein. Ich schätze es auf zwei Meter Länge. Aber – ich habe daran nichts Kopfähnliches bemerkt –“
„Oh – doch!“ erklärte Erwin eifrig. „Es war doch etwas wie ein Kopf zu erkennen. Und der Leib sah so graugrün, so schleimig aus, – so feucht –“
Schneider ging weiter. Dicht vor der Leiche blieb er stehen, blickte ihr in das verzerrte, erstarrte Gesicht, bückte sich dann und hob einen Revolver auf, der halb unter den Falten der Jacke des Toten gelegen hatte.
„Drei von den sechs Schüssen sind abgefeuert,“ meinte er. „Übrigens – sehr lange kann die Leiche hier noch nicht liegen. Ich rieche nur wenig Verwesungsausdünstungen. Immerhin tun wir gut, den armen Doktor Machado nachher über Bord zu werfen.“
Er bog nun um den niedrigen Mittelaufbau herum. Iversen und der Knabe blieben dicht hinter ihm. – Jetzt hatte man das Achterdeck vor sich. Auch hier besaß der Mittelaufbau eine Tür und zwei Fenster. Und vor dieser Tür waren ein halbes Dutzend Kisten aufgestapelt, anscheinend gefüllte, und alle dem Aussehen nach neu. Sonst bot dieser Teil des Decks nichts Besonderes. Er glich gleichfalls einem Teppich getrockneter Tiefseepflanzen, die unter den Füßen der drei Gefährten sanft nachgaben und ihre Schritte unhörbar machten.
Erwin hatte soeben einen der nur lose befestigten Kistendeckel hochgehoben, rief nun: „Ah – das ist ja eine vollständige Taucherausrüstung. Da ist der kupferne Taucherhelm, der Gummianzug, die Schläuche –“
Schneider meinte, es wäre gut, die sämtlichen Kisten zu durchsuchen. „Ich halte uns derweilen unangenehme Überraschungen mit dem Revolver vom Leibe,“ fügte er hinzu.
Eine zweite Kiste, deren Deckel ebenfalls nur zugedrückt war, enthielt allerhand Werkzeuge: Beile, Äxte, große Bohrer, Nägel und so weiter.
„Das genügt,“ erklärte der kaltblütige Hochstapler. „Bewaffnet Euch mit Beilen, Gefährten, und dann hinab in das Innere –“
Gleich darauf hatten die Schiffbrüchigen aus Brettern der leeren Kisten ein paar primitive Fackeln hergestellt. Schneider, einen brennenden Scheit in der Linken, in der Rechten den Revolver, betrat als vorderster den Mittelaufbau, leuchtete die Treppe hinab, fand jedoch nichts Auffälliges. Rechts und links von der Treppe führte je eine niedrige Tür in die beiden Räume des Mittelaufbaus. Man sah deutlich, daß diese Türen gereinigt worden waren, damit sie wieder geschlossen werden konnten.
Arnold Schneider öffnete die linke Tür. Durch die Fenster fiel genügend Tageslicht in den quadratischen Raum. Auch hier war offenbar vor kurzem Ordnung geschaffen worden. Einige moderne Schiffsklappstühle und ein kleiner Holztisch befanden sich außer altertümlichen, halb verfaulten Wandschränken darin. Von der Decke hing an einem Draht eine große Petroleumlaterne herab. Die Luft hier war verpestet durch den Qualm eines verkohlten Petroleumdochtes.
Der andere Raum zur rechten Hand wieder war mit zwei aus Kistenbrettern hergestellten Lagerstätten, einem Tisch, drei Stühlen und einem kleinen eisernen Ofen ausgestattet, dessen Rohr wohl durch das eine Fenster hindurchgeführt hatte, jetzt aber umgefallen war.
Doch – dies war nicht alles, was Schneider bemerkte. Es gehörten schon seine guten Nerven dazu, um trotz des hier herrschenden, aufdringlichen Verwesungsgeruchs und trotz des – regungslos auf dem einen Bett ausgestreckten Toten, dessen bleiches Antlitz etwas zur Seite nach dem Fenster hin gedreht war, sich in den Raum hineinzuwagen.
Hinter ihm standen Iversen und der Knabe in der offenen Tür und beobachteten Schneider, wie er nun die auf dem Tische stehenden Gegenstände musterte, wie er jetzt ein Buch aufhob, es dicht an die Augen führte und –
In diesem Moment, wo er gerade den Mund hatte zu irgend einer Bemerkung auftun wollen, stieß Iversen einen gellenden Schrei aus.
Etwas Weiches, Feuchtes, Kaltes hatte sich von rückwärts blitzschnell um seinen Hals gelegt, zog ihn nun mit unwiderstehlicher Gewalt nach dem Treppengeländer hin.
„Die Schlange!“ brüllte Erwin. „Die Schlange! Herr Schneider – zu Hilfe!“
Da kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja das Beil mit der breiten, gebogenen Schneide in der Hand hatte.
Der Leib des graugrünen Ungetüms war jetzt zwischen dem Geländer und dem heftig widerstrebenden Iversen straff gespannt. Der Knabe holte aus, schlug zu, – und ganz glatt fuhr das Beil durch den über armdicken Schlangenleib hindurch.
Iversen taumelte nach vorn[3], riß die um seinen Hals liegende schleimige Schlinge ab und schleuderte sie von sich.
„Wie ein Blitz ist die Bestie nach unten zu verschwunden!“ frohlockte Erwin.
Schneider nahm den halb ohnmächtigen Iversen in die Arme und brachte ihn auf das Vorderdeck. Hier kam der junge Hamburger bald wieder vollends zu sich.
„Erwin, bleib’ bei ihm!“ befahl der einstige Hochstapler. „Ich hole einen Stärkungstrunk –“
Er kehrte sofort aus der rechten Oberdeckkajüte mit einer verkorkten Flasche zurück. Sie enthielt Kognak, wie auf dem Schildchen zu lesen war.
Iversen trank. Und auch Schneider nahm einen langen Schluck. Aber Erwin ging leer aus. „Für Dich ist Alkohol nichts;“ meinte Schneider gutmütig.
Abermals verschwand er in der verpesteten Totenkammer, brachte nun das Buch heraus, das er vorhin in der Hand gehabt hatte.
Es war dies ein einfaches, in starke Pappe gebundenes Heft. Vorn auf der ersten Seite standen, mit Tinte geschrieben, in lateinischer, sehr deutlicher Schrift als Titel mehrere Worte.
„Wir wollen erst den Doktor Machado dem Meere übergeben, bevor ich Euch, Gefährten, dieses Tagebuch vorlese,“ erklärte Schneider. „Es ist ganz kurz gefaßt; nur wenige Seiten sind beschrieben. Es wird uns Aufschluß darüber geben, was hier geschehen ist –“
Nachdem die Leiche über Bord geworfen war, schlug Schneider die Fenster der linken Kajüte mit einem Beil ein und holte daraus mit Erwins Hilfe den Tisch und drei Klappstühle heraus. Er wollte den Weg durch die Tür vermeiden, wo man jeden Augenblick eines neuen Angriffs durch eines der riesigen Meeresungeheuer gewärtig sein konnte. Es war ja sehr gut möglich, daß mehrere davon sich im Schiffsinnern eingenistet hätten.
Tisch und Stühle wurden ganz vor den Bugaufbau gestellt. Dieser, dessen schwere Balkentür herausgefallen war, enthielt nichts als sechs alte Schiffsgeschütze. In den Wänden befanden sich ebenfalls sechs Geschützluken, die durch Klappdeckel verschlossen waren.
– – – – – – – –
Die Gefährten setzten sich, und Schneider begann sehr langsam den Inhalt des Tagebuches vorzulesen, da er den Text ja erst ins Deutsche übertragen mußte.
Unsere Erlebnisse auf der Suche nach den Schätzen der Santa Anna
vom
22. März 1919 ab.
Aufgezeichnet von Doktor Porfirio Machado.
22. März. – Unser Schoner Isabel ist heute vor Tagesanbruch in die enge Bucht, die im Nordteil der Azoreninsel Corvo in einer einsamen, unfruchtbaren Gegend liegt, eingelaufen und in dem seeartig sich erweiternden, von turmhohen Felswänden umrahmten tiefsten Teile vor Anker gegangen.
Daß hier in diesem Becken tatsächlich einst das Goldschiff gesunken ist, hatten wir schon vorher durch Ausflüge in unserem kleinen Motorboot von der Isabel aus festgestellt.
Lotungen ergaben, daß die Santa Anna in fünfzehn Meter Tiefe auf einem einzelnen, aus dem steinigen Grunde hochragenden Felsen liegt. Dieser Umstand wird unsere Arbeiten sehr erleichtern.
Mittags hat Thomas da Kosta im Taucheranzug das Wrack aufgesucht und ist zehn Minuten unten geblieben. Er teilte uns dann als Ergebnis seines Abstieges nach der Santa Anna mit, daß er wegen der durch die Explosion im Innern des Wracks entstandenen Zerstörungen es nicht ganz durchsuchen könnte.
Wir sind also gezwungen, es zu heben, womit wir ja auch von vornherein gerechnet haben.
25. März. – Die mitgebrachten großen Blechplatten haben wir nun zu acht großen, luftdichten Kästen zusammengelötet, aus denen wir nachher, wenn wir sie unten am Kiel befestigt haben, die Luft herauspumpen wollen.
Ich habe genau berechnet, daß die Auftriebskraft der Blechkästen genügen muß, die Santa Anna zu heben. Ein Fehler in meiner Berechnung ist ausgeschlossen.
26. März. – Thomas hat heute vier der Kästen an dem Schiffsboden angebracht. Er verträgt das Arbeiten unter Wasser sehr gut.
27. März. – Ein Tag des Schreckens! Wir haben unseren wackeren Freund eingebüßt. Thomas ist tot. Wie er sein junges Leben verlor, ahnen wir nicht.
Um vier Uhr nachmittags stieg er an der Strickleiter zum sechsten Male heute zu dem Wrack hinab, um den siebenten Blechkasten zu befestigen. All seine Signale, die er uns von unten mit Hilfe der Signalleine zukommen ließ, verstanden wir und taten, was er verlangte, beförderten an Tauen Werkzeuge und anderes hinab und freuten uns, daß er uns meldete, die Santa Anna läge jetzt nicht mehr auf dem Felsen auf, sondern schwebe bereits frei über diesem. Meine Berechnungen hatten also gestimmt. Der achte Kasten muß die Santa Ana an die Oberfläche treiben.
Plötzlich hörten die Signale auf. Wir ruckten an der Leine: – keine Antwort!
Tuzzi meinte, wir sollten Thomas schnell hochziehen; es müßte ihm etwas zugestoßen sein.
Wir taten’s: wir legten ihn auf das Deck der Isabel, schraubten den Helm ab und – schauten in ein furchtbar entstelltes Totenantlitz.
Nie bisher habe ich in den Zügen einer Leiche einen derartigen Ausdruck entsetzlichster Angst gesehen.
Ich untersuchte Thomas sehr genau. Aber ich fand nicht die geringste Verletzung, auch keinerlei Anzeichen für einen Erstickungstod. Thomas muß daher infolge Schrecks gestorben sein.
Aber – was in aller Welt kann ihn so erschreckt haben, ihn, der vor nichts sich fürchtete, der ruhig bis in das Innere des Wracks vorgedrungen war, trotz der dort stellenweise eng übereinander liegenden Gerippe der einstigen Besatzung?!
Wir begreifen nicht, was es gewesen sein kann. Wir haben alles mögliche erwogen. Wir finden keine Erklärung für die Ursache seines plötzlichen Sterbens.
29. März. – Die Santa Anna schwimmt auf der Oberfläche der Bucht.
Um drei Uhr nachmittags hatte Tuzzi den achten Kasten glücklich befestigt gehabt, hatte den Luftschlauch daran verschraubt, so daß ich die Luft herauspumpen konnte.
Sehr bald tauchte das Wrack auf. Es liegt nun mit der Bordwand fast drei Meter über Wasser, nachdem durch das durch die Explosion im Boden entstandene Loch eine bedeutende Menge Wasser herausgeflossen und so die Santa Anna noch leichter geworden ist.
30. März. – Wir haben Thomas am Ufer in einer Felsspalte beerdigt. – Das Wrack ist in den untersten Räumen bis zur Höhe des Wasserspiegels mit Wasser gefüllt. Wir müssen also wieder den Taucheranzug benutzen, um diese Räume ebenfalls genau zu durchforschen. In denen, die man ungehindert betreten kann, befinden sich die Kostbarkeiten nicht, die doch fraglos in Kisten verpackt sind.
6. April. – Das Unheil verfolgt uns weiter. – Unser Schoner ist in Flammen aufgegangen. Ich selbst bin schuld daran. Ich stieß eine Petroleumkanne in der Kombüse um, und glühende Kohlen, die aus dem Herde gefallen waren, setzten das Erdöl in Brand. Im Nu war der Küchenverschlag ein Feuermeer. An Löschen war nicht zu denken. Mit Mühe und Not bargen wir das Nötigste, indem wir es auf das Wrack hinüberschafften.
Die Isabel, auch unser Motorboot sind dahin. Zu allem Unglück haben die Flammen, die haushoch emporschlugen, einige Bewohner der Insel herbeigelockt, die uns natürlich darüber auszuforschen suchten, was wir hier vorhätten, und die für das schwimmende Wrack sehr störendes Interesse zeigten. Sie ruderten in ihren Booten dann wieder davon, wollten aber zurückkehren und den Regierungsvertreter aus Vilmanes, dem größten Orte der Insel, mitbringen. Sie ahnten sicher, daß wir hier Schätze heben wollten. Deshalb haben wir sofort nachher die Santa Anna mühsam aus der Bucht durch Schleppleinen vom Lande aus ins offene Meer gezogen. Es war dies eine überaus mühselige Arbeit. Nun führt uns eine Strömung nach Süden zu. Wir treiben auf dem Atlantik.
9. April. – Wir haben uns leidlich bequem auf der Santa Anna eingerichtet. Morgen will Tuzzi im Taucheranzug in die untersten Räume hinab.
17. April. – Ein Orkan wütete bis heute. Aber die Santa Anna hat ihm getrotzt. Sobald die See wieder ruhiger geworden, wird nach den Schätzen gesucht. Wir müssen sie ja finden. Und dann – dann werden wir vielleicht zu den Reichsten der Erde hören.
21. April. – Heute ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Tuzzi hatte eine brennende Laterne auf die Treppe des Mittelaufbaus gestellt. Nachher war sie verschwunden. Und mittags vernahmen wir im Innern des Wracks allerlei Geräusche.
Tuzzi fürchtet jetzt mit Recht, sich im Taucheranzug hinabzuwagen. Gewiß – wir haben die Schiffsräume ganz sorgfältig durchforscht, so weit man hinab kann; wir fanden nichts Verdächtiges. Aber gerade diese Tatsache macht Tuzzi ängstlich.
Wir stehen nun wieder vor einem Rätsel. – Wer stahl die Laterne? Wer rumorte unten im Wrack?
4. Mai. – Unser Leben hier auf der Santa Anna ist jetzt nichts als eine Kette größter Aufregungen. Ein unbekanntes, unheimliches Wesen, irgend ein Meeresbewohner erschreckt uns so und so oft, ohne daß wir ihn je zu Gesicht bekommen.
Tuzzi wagt sich nicht hinab. – Wir treiben jetzt wieder nach Osten.
9. Mai. – Heute ist Tuzzi, nachdem unser Schreckgespenst drei Tage nichts hatte von sich hören lassen, endlich in den wassergefüllten Räumen gewesen.
Doch – welch herbe Enttäuschung! Kisten hat er gefunden – vermoderte, eisenbeschlagene, leere Kisten mit losgesprengten Deckeln.
Sonst nichts – nichts! – Kein Zweifel: die Schätze sind bereits von anderen aus dem Wrack herausgeholt worden! Die leeren Kisten beweisen es. All unsere Ausdauer, unsere Mühe, unsere Geldkosten sind umsonst gewesen! Der arme Thomas hat sein Leben eingebüßt für nichts.
18. Mai. – Wenn nur ein Dampfer erschiene. Was sollen wir noch hier auf dem unheimlichen Wrack, das jetzt wieder nach Nordwest zu über den endlosen Ozean träge dahinschaukelt?!
Unheimlich ist dieses Jahrhunderte alte Schiff. Das Schreckensgespenst rumort wieder in den untersten Räumen. – Wenn wir auch noch übergenug Proviant und Trinkwasser haben – wir wollen schleunigst fort von diesem grünen, schwimmenden Holzbau, der die Geister der darin umgekommenen Besatzung zu beherbergen scheint. –
Arnold Schneider ließ das Buch sinken und sagte:
„Hier sind des Doktors Aufzeichnungen beendet. Es folgen nun solche von anderer Hand, von der Tuzzis, mit Bleistift.“ –
4. Juni. – Ich, Ricardo Tuzzi, weiß, daß ich in kurzen sterben werde. Mühsam habe ich mich bis auf mein Lager geschleppt, schreibe nun mit letzter Kraft das Ende meiner, unserer Tragödie nieder. –
Vormittags gegen elf Uhr standen Machado und ich vor der Tür des Mittelaufbaus und sprachen darüber, ob es nicht möglich wäre, die Maststümpfe des Wracks mit Segeln zu versehen, damit wir nach den Azoren zurückkönnen, um deren nördlichste Gruppe wir einen völligen Kreis beschrieben haben.
Wir standen mit den Rücken nach der Tür hin.
Da – urplötzlich wurde Machado von zwei riesigen Schlangen von hinten umfaßt.
Wenigstens glaubte ich, es wären Schlangen.
Machado schrie in seiner Todesangst wild auf.
Und – da erkannte ich, um welche Art Schlangen es sich handelte.
Es waren zwei Fangarme einer Riesentintenschnecke, die von der Treppe her sich bis zu uns hin vorgeschoben hatten.
Einer Riesentintenschnecke! Eines Kraken! – Daß es solche ungeheuren Geschöpfe mit acht bis zehn Fangarmen von zuweilen zwölf Meter Länge in den Ozeanen gibt, hat die Wissenschaft längst einwandfrei festgestellt. Tote Riesentintenschnecken sind ja hier und dort an die Küste gespült und genau untersucht worden. Ihr unförmiger Kopf besitzt einen Schnabel aus Hornmasse und Leuchtorgane; ihr Körper ist nichts als eine schleimige, gallertartige Masse. Und doch verfügen diese phantastischen Riesenwesen über furchtbare Kräfte.
Das sollte ich nun selbst beobachten, selbst spüren. Der Doktor wehrte sich, während ich noch wie gelähmt dastand, wie ein Verzweifelter, feuerte seinen Revolver, die Mündung auf einen der Fangarme drückend, auf diesen ab – ohne Erfolg.
Plötzlich stieß er einen kaum mehr menschlichen Schrei aus. – Die Fangarme hatten ihm den einen Arm buchstäblich vom Leibe gedreht und abgerissen. Blutstrahlen spritzten aus der Wunde. Machado sank um.
Und dann kam ich heran. Ein dritter Fangarm schoß von der Treppe her auf mich zu, umklammerte meine Brust, drückte mir – die Rippen ein.
Vor Schmerz wurde ich ohnmächtig. Als ich erwachte, lag ich unten auf der Treppe. Ich kroch in die Kajüte auf mein Bett, auf mein Sterbelager.
Nun kenne ich das Gespenst der Santa Anna. Ein Krake ist’s. – Ein Krake hat den armen Thomas zu Tode geängstigt; ein Krake holte die Laterne. Dieses Ungeheuer hängt fraglos für gewöhnlich unten am Schiffsboden und kriecht dann zuweilen durch das große, durch die Explosion verursachte Leck ins Innere. –
Meine Blicke umfloren sich. Ich werde das Tagebuch auf den Tisch zurücklegen, erwarte den Tod.
Das Gold der Inkas, geraubt durch die bestialische Tortur des siedenden Öles, – dieses fluchbeladene Gold hat meinen Gefährten und mir das Verderben gebracht. –
So schlossen diese Aufzeichnungen.
– – – – – – – –
Arnold Schneider klappte das Buch zu.
„Freunde,“ sagte er leise, „auch meine Hoffnungen und Erwartungen sind nun in Trümmer gegangen. – Gut – mag es sein! – Hört meinen weiteren Plan. Wir wollen, so gut es geht, Notsegel herstellen und hissen und versuchen, die Ostküste der Antillen, der Südamerika nach Norden zu vorgelagerten Inseln, zu erreichen. Oder, wenn diese nicht, dann anderswo zu landen, wo wir drei in harter Arbeit uns eine neue Heimat schaffen können. – Zunächst aber müssen wir uns von diesem unheimlichen Mitbewohner, dem Kraken, befreien. Wir werden uns aus den in der Kiste gefundenen Eisenstangen lange schwertähnliche Waffen schmieden, die dann vollauf genügen werden, der Bestie weichen Leib und Fangarme zu zerstückeln.“
Iversen war mit allem einverstanden.
Sofort ging man ans Werk, schmiedete drei scharfe lange Klingen, befestigte Holzgriffe daran, legte diese Waffen bereit, und fing nun mit dem Zusammennähen der in den leeren Kisten gefundenen Säcke an, aus denen dann ein einziges großes Segel entstand.
Iversens seemännische Kenntnisse kamen den Abenteurern sehr zustatten. Das Segel wurde an dem verlängerten Vordermast angebracht und tat gute Dienste, zumal auch das Steuer des Wracks sich hatte ausbessern lassen.
Die Santa Anna schlich nun träge gen Westen durch den Ozean. Die Gefährten mußten mit dem Proviant und dem Trinkwasser, das von der Isabel her noch vorhanden, sehr haushalten, da sie damit rechnen mußten, wochenlang vielleicht auf hoher See zu bleiben, ehe sie Land erblickten.
So vergingen acht Tage. Am Vormittag des neunten – inzwischen war auch längst die Leiche Tuzzis dem Meere übergeben worden – hörte man wieder einmal Poltern und Scharren im Schiffsinnern. Sofort wurden zwei Petroleumlaternen angezündet und bewaffnet mit ihren Schwertern stiegen die Freunde die Treppe hinab, Schneider wieder voran.
Dicht hinter der Treppe bereits hatte die Explosion den Boden der Zwischendecks in großem Umkreis aufgerissen. Aber an dem wild durcheinander liegenden Gebälk konnte man durch die weite Öffnung bequem tiefer hinabklettern.
Arnold Schneider hatte gerade einen der schräg stehenden Balken umklammert und suchte weiter unten mit den Füßen einen Halt, als aus der Tiefe zwei Fangarme hochschnellten, ihn packten und hinabziehen wollten.
Iversen erkannte die Gefahr. Zwei Hiebe – und die Fangarme waren durchtrennt. Doch was tat dies dem Kraken! Zwei neue Fangarme reckten sich hoch.
Ein Schrei. Schneider verschwand in der dort unten lastenden Dunkelheit, wo nun sofort etwas wie zwei riesige Kreise aufleuchtete – die phosphoreszierenden Augen des Ungetüms.
Iversen besann sich keinen Moment.
Ein Sprung. Er schlug auf eine weiche Masse auf – auf den Leib des Kraken.
Und nun begann er blindlings darauf loszustechen und -zuhauen. Sehr bald erhielt er Hilfe.
Auch Erwin war hurtig abwärts geklettert, stellte seine Laterne auf einen Balken, packte seine Waffe mit beiden Händen, ließ sie gerade auf die leuchtenden Telleraugen niederschmettern, holte nochmals aus – nochmals …
Der völlig zerfleischte Krake war tot. Die Stummel seiner Fangarme bewegten sich zwar noch in letzten Zuckungen, konnten aber niemandem mehr etwas anhaben.
Der Boden war bedeckt mit den Teilen des zerhackten Untiers, triefte von jener dunkelbraunen Flüssigkeit, die diese Ungeheuer in einem besonderen Behälter ihres Leibes aufspeichern und ausspritzen, sobald sie Gefahr wittern. Dadurch hüllen sie sich im Wasser in eine undurchsichtige Wolke und erleichtern sich so das Entkommen. Diese Flüssigkeit, Sepia genannt, gelangt von kleineren Arten der Tintenschnecken auch in den Handel und liefert die bekannte Sepiafarbe. –
Schneider lag in tiefer Ohnmacht da, wurde schnell nach oben auf Deck geschafft und erlangte nach einer Stunde das Bewußtsein wieder. Die Umschlingung der Fangarme hatte eine schwere Brustquetschung verursacht, von der er erst völlig sich erholt hatte, als das Wrack zwei Wochen später von Iversen in eine weite Bucht einer unbekannten, flachen Küste hineingesteuert wurde, deren bis an das Wasser sich hinziehende, tropische Urbilder auf irgend eine Gegend des nördlichen Südamerikas hindeuteten.
Ein fünfzig Meter breiter Fluß ergoß sich hier in die Bucht. Die Gefährten segelten diesen etwa eine Meile aufwärts, fanden hier eine weite, hochgelegene Urwaldlichtung und beschlossen, sich hier niederzulassen.
Bereits nach drei Wochen hatten sie ein Wohnhaus errichtet, hatten aber auch durch Jagdausflüge festgestellt, daß meilenweit keine menschliche Ansiedlung sich befand.
Erst Mitte der vierten Woche erschien ein von halbzivilisierten Indianern besetztes großes Boot, das neben dem am Ufer vertäuten Wrack anlegte.
Die Gefährten hatten sich bei Anblick der Farbigen schnell in ihrem Hause verschanzt, erkannten dann aber, daß die Indianer durchaus friedfertig waren, und erfuhren von ihnen, daß dieser Fluß zum nordöstlichsten Brasilien gehöre und die Rothäute selbst vom Stamme der Kariben waren, ferner, daß zwanzig Meilen flußaufwärts die Farm eines Holländers liege, von dem sie Vieh, Pferde und anderes einhandeln könnten. –
Ende Juli war dann der Betrieb auf der neu gegründeten und Santa Anna getauften Farm der drei Deutschen in vollem Umfang aufgenommen. Fünf indianische Knechte halfen bei der Arbeit, und der freundliche holländische Nachbar wieder stand ihnen mit Rat und Tat bei.
Arnold Schneider hatte sich nie so glücklich gefühlt wie jetzt, wo er in ehrlichem Schaffen vom Morgen bis zum Abend tätig war. Jene Zeit, wo er als Hochstapler die Großstädte unsicher gemacht hatte, erschien ihm bald wie ein wüster Traum.
Und ebenso glücklich und zufrieden waren Gunnar Iversen und Erwin. Auch sie sahen voraus, daß sie hier nach Jahren durch ihrer Hände Fleiß das erreichen würden, was ihnen einst das grüne Wrack als verlockendes Trugbild vorgegaukelt hatte: Wohlhabenheit und die Möglichkeit, in die deutsche Heimat zurückzukehren. –
So war für unsere drei Schatzsucher das Gold der Inkas doch zum Segen geworden, freilich an anderer Weise, als sie es je geahnt hatten.
Das Gold, das sie gefunden, war die Erkenntnis, daß nur ehrliche Arbeit wahre Zufriedenheit zu bringen vermag.
Das nächste Heft enthält:
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Anmerkungen: