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Das Geheimnis von Ikapura

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.

 

Das Geheimnis von Ikapura.[1]

 

W. Belka.

 

Der Frachtdampfer Antje van Zuider kam von Amsterdam, passierte den Kanal bei ruhigem Wetter und war nun im offenen Atlantik angelangt. Es war ein neues, schönes Schiff, das gleichzeitig auch für die Beförderung von Auswanderern nach Holländisch-Indien, das heißt den Sunda-Inseln, die nötigen Einrichtungen besaß.

Die Antje hatte jetzt einige achtzig Leute an Bord, die in der Fremde ihr Glück versuchen wollten. Es war eine recht gemischte Gesellschaft, die durch Vermittlung eines holländischen Auswandererbureaus auf den Sunda-Inseln an verschiedenen Plätzen sich niederlassen wollte. Außer Kaftanjuden aus Russisch-Polen, meist stillen, ernsten Leuten, gab es da lärmende Ungarn, redselige Österreicher und auch eine deutsche, aus vier Köpfen bestehende Familie, die sich aber ganz für sich hielt, ohne jedoch etwa eine freundliche Annäherung mit Stolz abzuweisen.

Der frühere Gutsbesitzer Herbert Martel war durch eine Reihe von Schicksalsschlägen um sein ländliches Grundstück gekommen, wobei ganz besonders ein falscher Freund die Rolle des Halsabschneiders und erbarmungslosen Wucherers gespielt hatte. Martel versuchte sich nach dem Verlust seines Gutes in allen möglichen Stellungen. Doch – das Unheil schien sich an seine Fersen geheftet zu haben. Nichts glückte ihm. Immer tiefer geriet die Familie in Schulden, bis Martel eines Tages kurz entschlossen das letzte Wertvolle seiner Habe, einen alten Familienschmuck, veräußerte und dadurch die nötigen Barmittel gewann, einen längst schon in ihm schlummernden Plan zur Ausführung zu bringen. Er setzte sich mit dem Auswandererbureau in Amsterdam in Verbindung und schloß einen Pachtvertrag ab, laut dem die niederländische Kolonialregierung ihm die kleine, an der Westküste Sumatras gelegene Insel Ikapura für zwanzig Jahre gegen eine geringe Summe zu Ansiedlungszwecken überließ. Nachdem er dann noch in Deutschland die notwendigen Geräte und alles Sonstige, teilweise für alt, eingekauft und in zwölf große Kisten samt Kleidern, Wäsche und Familienandenken verpackt hatte, verließen Martels ihren letzten Wohnsitz Berlin und schifften sich auf der Antje ein, wo sie in den Heckräumen zwei benachbarte Kabinen angewiesen erhielten.

Des einstigen Gutsbesitzers Familie bestand aus ihm selbst, einen breitschultrigen Manne mit rötlich-blondem Vollbart, aus seiner zarten Frau, seiner neunzehnjährigen Tochter Gertrud und seinem[2] sechzehnjährigen Sohne Otto, einem schmalbrüstigen, langaufgeschossenen Jungen, der ganz der Mutter ähnlich sah und auch ihre Neigung zum träumerischen Grübeln hatte.

Otto Martel war auf der Schule stets einer der besten gewesen. Er war geradezu vollgepfropft mit Gelehrsamkeit, verstand aber kaum einen Nagel in die Wand einzuklopfen. Während jeden anderen Jungen seines Alters die Aussicht auf das ungebundene Leben auf einer kleinen Insel inmitten all der tropischen Pflanzenpracht der von der Natur so reich begnadeten Sunda-Inseln zweifellos entzückt hätte, war er schweren Herzens von der Schule abgegangen und sah nun mit recht wehmütigen Gefühlen der Zukunft entgegen, die ihm nichts als körperliche Arbeit bringen würde.

Am Morgen des zweiten Reisetages saß Otto mit einem Buch in einem Liegestuhl unter dem Sonnensegel des Achterdecks und erfreute sich an dem graziösen Schwung der Verse seines lateinischen Lieblingsdichters Ovid, als er plötzlich angesprochen wurde und zwar in deutscher Sprache.

„He, Du, – hast Du denn nichts Besseres zu tun als zu schmökern,“ sagte ein kleiner, stämmiger, in einem Matrosenanzug mit langen, weiten Hosen steckender Knabe zu ihm. „Du – ich denke, hier an Bord kann man sich manche Zerstreuung schaffen, die angenehmer ist als so ein lateinisches Buch. Ich war froh, als ich vor einer Woche all die dicke und dünne gedruckte Gelehrsamkeit in die Ecke feuern und meinen Eltern nachreisen durfte, die in Benkoelen auf Sumatra seit einem Jahre wohnen, wo Vater eine Hamburger Fabrik vertritt. – Du – wie heißt Du eigentlich? Daß Du auch ein Deutscher bist, weiß ich schon. Wir sollten hier an Bord recht zusammenhalten. Dann wird’s uns nicht langweilig werden. – Ich bin der Ulrich Jahnke, bin jetzt fast fünfzehn Jahre alt und habe auf der Schule vier Turnpreise errungen.“

Otto Martel fühlte zunächst eine leise Abneigung gegen den für seinen Geschmack allzu kecken Ulrich, der breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, sich vor ihm aufgepflanzt hatte. Eingedenk der Ermahnung des Vaters, sich mit allen Leuten an Bord recht gut zu stellen, klappte er nun jedoch seinen Ovid zu, nannte seinen Namen und das Reiseziel und fragte dann ein wenig geringschätzig, was Ulrich Jahnke denn unter Zerstreuungen verstehe.

„Na – zum Beispiel nach der Scheibe schießen,“ meinte der frische, sonnverbrannte kleine Kerl eifrig. „Ich habe einen Tesching mit tausend Patronen mit; der schießt brillant. Kapitän Degmers hat mir schon die Erlaubnis gegeben, mir dort an der Reling ein Brett als Scheibe aufzustellen. Komm’, Otto, ich will Dir mal zeigen, wie tadellos ich treffe. Wenn Dein Vater Ansiedler werden will, dann mußt Du doch auch mit ’ner Schußwaffe umgehen können.“

Otto erklärte, er interessiere sich nicht für Waffen, habe noch nie geschossen. – Da er aber einsah, daß Ulrich ganz recht damit hätte und ein Farmerssohn alles verstehen müßte, meinte er, er würde für einige Unterweisungen über die Handhabung des Teschings sehr dankbar sein.

Als er dann erst einige Schüsse abgefeuert und sich dabei recht geschickt angestellt hatte, lachte Ulrich vergnügt und meinte, er würde aus ihm schon noch einen Kunstschützen machen. –

Die Antje hatte die Straße von Gibraltar und das Mittelmeer passiert und ankerte nun in Suez, um hier Frachtstücke für Batavia, die Hauptstadt Niederländisch-Indiens, einzunehmen. Die Freunde benutzten diesen Tag zu einer Besichtigung des berühmten Kanalhafens und seiner Umgebung, kehrten erst abends an Bord zurück und trafen sich nach der Nachtmahlzeit wieder an ihrem Lieblingsplätzchen ganz vorn im Vorschiff hinter der großen Ankerwinde, wo sie stets allerlei Zukunftspläne schmiedeten, die zumeist darauf hinausliefen, einmal recht, recht reich zu werden. Besonders Ulrich mit seiner lebhaften Einbildungskraft sprach viel von den Edelsteinen, die in den Bergen Sumatras gefunden wurden, von verborgenen Schätzen und den Reichtümern der eingeborenen Fürsten der Sunda-Inseln, nebenbei auch oft davon, daß er Otto einmal besuchen würde, denn die Hafenstadt Benkoelen läge ja südlich der Pageh-Inseln, zu denen auch Ikapura gehöre.

Heute unterhielten sie sich jedoch lediglich über das, was sie von Suez gesehen hatten, und über die nächsten Reisetage, in denen sie nun auch das wegen seiner Hitze berüchtigte Rote Meer kennen lernen würden.

Dann näherte sich ein Mann ihrem Versteck, lehnte sich an die Reling, rauchte eine Zigarre und schaute des öfteren zu dem dicht bewölkten Himmel empor, an dessen westlichem Horizont des öfteren ein starkes Wetterleuchten aufflammte.

Es war jetzt sehr dunkel auf dem Vorderdeck geworden und ebenso still. Die Auswanderer und die Besatzung hatten sich längst zur Ruhe begeben. Nur auf der Brücke schritt die Bordwache langsam auf und ab.

Die Freunde verhielten sich ganz still. Sie konnten zwar die Gesichtszüge des Mannes dort an der Reling nicht deutlich unterscheiden, hatten aber doch erkannt, daß es ein neuer Schiffsgast war, der erst hier in Suez an Bord gekommen sein konnte. Sie wollten dem Fremden ihr gemütliches Plätzchen auf den Taurollen nicht verraten und tauschten daher nur leise flüsternd einige Bemerkungen über ihn aus.

Plötzlich brachte Ulrich seinen Mund ganz dicht an Ottos Ohr heran und raunte ihm zu: „Du – dort schleicht jemand von der Brücke her tief geduckt auf den Fremden zu. Gib acht – dieser Mensch hat nichts Gutes im Sinn –“

Auch Otto bemerkte jetzt eine kaum wahrnehmbare dunkle Gestalt, die lautlos auf allen Vieren im Schatten der Reling sich vorwärtsschob.

Der andere Mann, der eine helle Reisemütze auf hatte, rauchte ruhig seine Zigarre weiter, ahnte nicht, daß es jemand offenbar auf ihn abgesehen hatte.

Dann richtete der Anschleichende sich mit einem Male vor dem einsamen Raucher auf. Gleichzeitig vernahmen die Freunde eine leise, aber doch drohende Stimme, die auf Englisch sagte:

„Keinen Laut! Keine Bewegung, oder ich stoße zu! – Ich weiß, wer Sie sind! Sie haben mich von Genua bis hierher verfolgt, Sie verdammter Schnüffler. Nur Professor Sparrell kann Sie hinter mir drein gehetzt haben, weil er in mir den Dieb des Elfenbeinbildes vermutet! Wenn Sie mir jetzt nicht sofort Ihr Wort geben, morgen früh diesen Dampfer wieder zu verlassen, dann – sind Sie geliefert! – Also – wollen Sie oder wollen Sie nicht?! Sie sind der letzte, der mich daran hindern wird, nach Ikapura zu gehen und dem Professor zuvorzukommen! – Heraus mit der Sprache!“

Die Freunde hinter der Ankerwinde fieberten jetzt förmlich vor Aufregung.

Da – ein leiser Aufschrei, ein ebenso leise gezischtes „Halunke, so leicht bin ich nicht zu überrumpeln!“ und dann – dann flog der Mann mit der hellen Reisemütze über die Reling hinab ins Wasser, während der andere blitzschnell davonhuschte.

Die Wache auf der Brücke hatte ebenfalls den Aufschrei und das Aufklatschen des Körpers im Wasser gehört, kam nun nach vorn gelaufen und stieß hier auf die beiden Jungen, die dem Matrosen überhastet erzählten, was sie soeben beobachtet hatten.

Der Kapitän wurde geholt. Es fand sofort eine strenge Untersuchung des geheimnisvollen Vorfalls statt, die jedoch keinerlei Ergebnis hatte. Otto und Ulrich hatten nochmals genau wiederholen müssen, was sie erlauscht hatten, und aus ihrer Schilderung entnahm der Kapitän, daß beide Männer erst hier in Suez an Bord gekommen wären.

Die Antje hatte nun hier insgesamt achtzehn neue Passagiere erhalten, darunter acht männliche. Es war deshalb schwer festzustellen, wer von diesen der sein könnte, der den einsamen Raucher über Bord geworfen hatte.

Von diesen acht Männern fehlte nach der Passagierliste – es waren nämlich diese „Neuen“ sämtlich in des Kapitäns Kajüte gerufen worden, ein Holländer namens Pieter Draaken, der sich als Kaufmann ausgegeben hatte. Und Draaken hatte eine helle, weiche Mütze getragen. Mithin war er der Überfallene.

Wer aber sein Angreifer gewesen, war nicht zu ermitteln. Von den sieben übrigbleibenden Männern konnten vier nachweisen, daß sie in ihren Kabinen gewesen. Die restlichen drei wieder hatten im Speisesaal gesessen und Karten gespielt.

Inzwischen war auch ein Polizeibeamter aus Suez erschienen. Es wurde nun mit Netzen sofort nach der Leiche Pieter Draakens gefischt. Man fand sie bald. Sie hatte eine Stichwunde gerade im Herzen und deutliche Male würgender Finger am Halse. Bei dem Toten entdeckte man nun auch einen Ausweis mit Lichtbild, der auf den Angestellten des Amsterdamer Detektivinstituts Bleulenhook u. Co. lautete. Draaken war also wirklich ein Detektiv gewesen, wie die beiden Jungen, die beide das Englische leidlich beherrschten, aus den Worten des Mörders sofort geschlossen hatten. –

Am Morgen setzte die Antje nach dieser aufregenden Nacht die Reise fort. Es war jedoch ein Polizeibeamter aus Suez an Bord geblieben und untersuchte den Fall weiter, indem er besonders die sieben neuen männlichen Passagiere immer wieder scharf ins Verhör nahm. Alles war vergebliches Mühen: der Mörder ließ sich nicht ermitteln.

Selbst eine Radiodepesche, die an den Professor Sparrell, einen Lehrer an der holländischen Universität Leyden, von Suez aus abgeschickt worden war und deren Antwort der Funkenapparat der Antje auffing, brachte keinen Erfolg. Der Gelehrte hatte angegeben, daß sein Diener, ein geborener Österreicher namens Balsching, ihm allerdings ein Elfenbeinbild gestohlen hätte, daß ihm aber die Andeutungen über Ikapura unverständlich wären. Die Beschreibung, die der Professor von jenem Balsching gab, paßte auf keinen der Passagiere der Antje.

Der Polizeibeamte aus Suez nahm daher an, daß der Mörder sich überhaupt nicht an Bord befinde, vielmehr in Suez auf den Dampfer geschlichen und nach der Tat wieder an Land zurückgekehrt wäre.

– – – – – – – –

Für die Freunde bildete dieses schreckliche Erlebnis, das sie zu Zeugen eines Mordes gemacht hatte, eine unerschöpfliche Quelle für allerhand Mutmaßungen. Auch Herr Martel beteiligte sich oft an diesen Gesprächen. Erschien es ihm doch sehr beachtenswert, daß bei dieser ruchlosen Tat gerade auch der Name der Insel eine gewisse, wenn auch nebensächliche Roll spielte, wo er versuchen wollte, als Kaffee- und Tabakpflanzer ein Vermögen zu erwerben.

In Aden, der englischen Felsenfeste am Ostausgang des Roten Meeres, verließ der Polizeibeamte den Dampfer wieder. Der Mord geriet nun bald in Vergessenheit, zumal ein dreitägiger Aufenthalt in Kolombo auf der paradiesisch schönen Insel Ceylon so viel Abwechslung brachte, daß selbst Otto und Ulrich an ihr trauriges Abenteuer angesichts all der wundervollen Landschaftsbilder dieses Märchenlandes – denn das ist Ceylon in der Tat – nicht mehr dachten.

Dann nahm die Antje direkten Kurs auf Padang, eine Hafenstadt an der Westküste Sumatras, wo ein Teil der Auswanderer das Schiff verlassen sollte.

Während der Fahrt von Kolombo nach Padang wurde nun Herr Martel mit zwei Deutschschweizern näher bekannt, die mehrere Jahre in Ägypten gelebt hatten und die jetzt irgend eine Anstellung auf den Sunda-Inseln suchen wollten.

Es waren zwei Brüder namens Wilhelm und Friedrich Ützli, von Beruf Zimmerleute. Sie traten sehr bescheiden auf und gefielen Herrn Martel so gut, daß er ihnen den Vorschlag machte, mit ihm gemeinsam die beabsichtigte Plantage auf Ikapura zu gründen. Sie gingen auf dieses Angebot auch ein, und als die Antje nun von Padang südwärts steuerte, als erst die Pageh-Inseln und dann auch das kleine, bergige Eiland Ikapura in Sicht kam, machten auch sie sich zum Abschied von der Antje fertig.

Der Dampfer fand an der Ostseite des eine halbe Meile breiten und etwa gleich langen Inselchens eine tiefe Bucht, in die er vorsichtig einfuhr und an deren Ufer er dann die Familie Martel samt ihrem zahlreichen Gepäck sowie die Brüder Ützli mit ihren beiden bescheidenen Koffern absetzte.

Otto wurde die Trennung von Ulrich Jahnke sehr schwer. Als sie den letzten festen Händedruck ausgetauscht hatten, war Ulrich ganz nahe an den Freund herangetreten und hatte diesem zugeflüstert: „Du, – paß gut auf die Ützlis auf! Ich traue den beiden nicht. Ich habe so meine ganz bestimmten Vermutungen, weshalb sie sich hier so an Deinen Vater herangemacht haben. Denk’ an den Mord in Suez! – Auf Wiedersehen, Otto! Wenn’s irgend geht, besuche ich Euch hier recht bald!“ –

Die Antje verließ die Bucht. Am Ufer standen die Familie Martel und ihre beiden Gefährten und schauten dem Schiffe mit ernsten Gedanken nach. Wenigstens war dies bei den vier Martels der Fall. Und bei den Ützlis mußte man dasselbe ihrem Gesichtsausdruck nach schließen.

Gegen zehn Uhr vormittags hatten die sechs Ansiedler die Insel betreten, auf der sie nun wohl viele Jahre zubringen würden, fernab von allen Stätten der Kultur, fernab von den Menschen, denn die nächste Insel der Pageh-Gruppe lag ja über zehn Meilen weiter nördlich.

Herr Martel hielt nun eine kurze Ansprache an die Seinen, sagte, man solle mit Gottvertrauen sofort an die notwendigen Arbeiten herangehen und nur mehr vorwärtsblicken, – nicht der Heimat nachtrauern!

Während Otto dann bei Mutter und Schwester am Strande der Bucht zurückblieb, unternahmen die drei Männer zunächst eine Streife durch die Insel, um den günstigsten Platz für die neue Niederlassung auszuwählen.

Das Inselchen türmte sich nach Westen zu in breiten Terrassen zu einem vielleicht hundert Meter hohen Berge mit flacher Spitze auf. Von diesem Berge kam ein Bach mit starkem Gefälle herab, der in die östliche Bucht mündete. Im Norden erstreckte sich ein Urwald von tropischen Riesenbäumen bis zur Küste hin; im Süden fand man sumpfige Flächen und dicht am Meeresgestade ein bogenförmiges Gehölz von Palmen- und Pisangbäumen.

Herr Martel erkannte sehr bald, daß er mit diesem unbewohnten Eiland, das ihm der Auswandereragent so warm empfohlen hatte, wirklich einen günstigen Griff getan. Weiter erkannte er aber auch, daß gerade die fast tausend Meter lange Bucht mit ihren flachen Ufern sich in ihrem westlichsten Winkel am besten zur Errichtung des geplanten Wohnhauses und der anderen notwendigen Baulichkeiten eigne.

Bereits gegen Mittag begann man nun mit dem Auspacken einiger Kisten, die Dauerproviant, Werkzeuge aller Art und auch ein Zelt enthielten. In diesem Zelt sollten Frau Martel und Gertrud wohnen, bis das Haus fertig war. Die Männer wollten für sich aus Zweigen eine vorläufige Unterkunftshütte herstellen.

Nachdem die Hütte fertig war, die wie das Zelt unweit des Baches unter einigen Palmen stand, wurde sogleich mit dem Fällen von Bäumen begonnen. Hierbei benahmen die Brüder Ützli sich jedoch so ungeschickt, daß Herr Martel lachend meinte, man merke, sie hätten recht lange nicht mehr die Axt geschwungen.

Otto dachte sich sein Teil. Er hatte Ulrichs Warnung nicht vergessen und beabsichtigte, die beiden ständig unauffällig zu beobachten.

Am Abend lagerten die Ansiedler unter den Palmen im Freien und genossen voller Behagen die reine, milde Luft, bewunderten all das Fremde, Ungewohnte ringsum stets von neuem, staunten über die Schwärme von Papageien und von anderen, buntschillernden Vögeln und waren auch etwas erschrocken, als am Südufer der Bucht ein Rudel von kleinen, rotbraunen, dem europäischen Schweine sehr ähnlichen Tieren auftauchte und lärmend und quiekend ein Bad nahm. – Dies waren außer einigen Affen und ein paar Wasserratten die ersten für die Ansiedler nützlichen Säugetiere, die man hier bemerkte.

Als dann Herr Martel Frau und Tochter gute Nacht sagte und meinte, man müsse morgen ja recht früh wieder an die Arbeit, erklärten die beiden Ützlis, sie wollten noch von den mitgebrachten Angelschnüren versuchsweise einige mehr nach dem Meere zu in der Bucht auslegen. Ottos Begleitung lehnten sie mit den Worten ab: „Es ist besser, daß Sie sich nach dem anstrengenden Tage gehörig ausschlafen, junger Herr. Einer der kräftigsten sind Sie gerade auch nicht.“

Sie bestiegen dann das aus Baumstämmen am Nachmittag zusammengeschlagene kleine Floß und trieben es mit Hilfe der Stoßstangen dem Meere zu.

Kaum waren sie außer Hörweite, als Otto dem Vater hastig die Warnung Ulrichs mitteilte. – Herr Martel lachte darüber.

„Der Ulrich besitzt zu viel Phantasie,“ meinte er „Er wittert überall etwas Abenteuerliches. Aber meinetwegen kannst Du den beiden nachschleichen. Laß Dich aber nicht sehen.“

Otto verschwand denn auch sofort hinter den Bäumen, behielt das Floß im Auge und blieb am Nordufer stets in einer Höhe mit ihm. Die Bucht machte sehr bald einen Bogen und verengerte sich hier zu einem kaum vier Meter breiten Kanal. Diese Stelle war vom Lagerplatz aus nicht mehr zu sehen. Das Floß landete am Nordufer, und die Brüder stiegen aus. Anstatt nun aber nach Krebstieren als Köder zum Bestecken der Angelhaken zu suchen, wandten sie sich landeinwärts und strebten dem Berge im Westen der Insel zu, den Herr Martel bereits nach seiner Frau Helenen-Höhe getauft hatte.

Otto blieb stets hinter ihnen. Die beiden umgingen in großem Bogen das Lager und schienen sich völlig sicher zu fühlen. Leider trat dann der Mond hinter einer Wolkenwand hervor und beleuchtete die zumeist nur von hohem Grase bestandenen Terrassen des Berges so hell, daß Otto notgedrungen die Entfernung zwischen sich und den Brüdern vergrößern mußte. Auf diese Weise verlor er sie aus den Augen. Er gab sich alle Mühe, sie wieder aufzustöbern, aber nach halbstündigem Umherstreifen mußte er doch einsehen, daß er klüger täte, nach dem Floß zurückzukehren, sich ganz in der Nähe zu verbergen und sie zu belauschen. Zweifellos würden sie ja wenigstens irgend eine Bemerkung über Zweck und Ziel ihrer nächtlichen Wanderung austauschen.

Er hatte dann noch keine fünf Minuten hinter ein paar Felsen am Ufer gelegen, als die Ützlis auch wirklich auftauchten und nun sofort das Floß wieder ins tiefere Wasser schoben. Der Ältere sagte dabei ärgerlich:

„Es wäre ein verwünschtes Pech, wenn die ganze Sache lediglich ein Irrtum des Professors sein sollte. Es gibt da oben keine einzige Eiche, die das bewußte Kennzeichen trägt. Das haben wir nun schon mit ziemlicher Sicherheit festgestellt.“

Dieser ältere der Brüder namens Wilhelm war ein mittelgroßer Mensch mit glattrasiertem Gesicht, dunklem, spärlichem Haar und ein paar Augen, die recht verschlagen blicken konnten.

Der andere, Friedrich, erwiderte darauf ziemlich gleichgültig: „Ich habe nie etwas von der Geschichte gehalten. Überhaupt: ich hätte mich nicht mit Dir einlassen sollen, Balsching! Wenn ich geahnt hätte, daß Dir das Messer so locker in der Scheide sitzt, wäre ich –“

Das weitere konnte Otto nicht mehr verstehen.

Trotzdem wußte er nun ja übergenug. – In höchster Erregung lief er der Zweighütte zu, weckte hier den bereits schlafenden Vater und teilte ihm das Ergebnis seiner Lauschertätigkeit mit.

Herr Martel wollte erst gar nicht glauben, was Otto ihm berichtete. Dann aber erklärte er leise: „So hat Ulrich Jahnke doch richtig vermutet! Kein Zweifel: dieser angebliche Wilhelm Ützli ist der Diener des Professors. Und die beiden Kerle sind natürlich niemals Brüder! Nun – vorläufig müssen wir recht sehr auf der Hut sein, dürfen uns aber nicht anmerken lassen, daß wir ihnen mißtrauen. Wenn dann nach acht Tagen der Kutter von Benkoelen kommt, der für uns die beiden malaiischen Arbeiter und das Vieh bringt, werden wir die beiden festnehmen und nach Benkoelen transportieren lassen.“

Herr Martel und Otto schliefen wenig in dieser Nacht. Die Ützlis kehrten erst nach gut anderthalb Stunden zurück. Für Vater und Sohn war es ein sehr beunruhigender Gedanke, mit einem Mörder in einem so engen Raume fast Seite an Seite zu ruhen.

Am Morgen nahm Herr Martel seinen Jungen dann sofort beiseite und befahl ihm, der Mutter und der Schwester nichts von den Vorgängen der verflossenen Nacht zu erzählen. Er händigte ihm dann auch aus dem Waffenvorrat einen geladenen Revolver aus und riet ihm, diesen stets bei sich zu tragen. Er würde dasselbe tun. – Jedenfalls war die Freude Herrn Martels an seiner fruchtbaren, gesunden und landschaftlich so reizvollen Pachtinsel arg getrübt worden.

Um nun mit den beiden Verbrechern nicht noch länger die Laubhütte teilen zu müssen, ließ er am Tage so viele Stämme fällen, daß man gegen Abend aus diesem Holzvorrat ein langgestrecktes Gebäude zusammenstellen konnte, das später als Speicher benutzt werden sollte. Es enthielt vier Verschläge, und zwei davon bezog nun noch an demselben Abend die Familie Martel, während den Ützlis das Zelt überlassen wurde. In diese beiden Räume wurde auch der wertvollste Inhalt der Kisten, insbesondere alle Waffen, hineingebracht.

Otto hätte zu gern sich auf der Helenen-Höhe die nur dort vorkommenden Eichen einmal genauer angesehen. Es gab jedoch so viel Arbeit, daß er keine Zeit dazu fand. – Drei Tage emsigsten Schaffens gingen hin. Nichts Besonderes ereignete sich während dieser Zeit. Nur zwischen den angeblichen Brüdern war zweifellos eine starke Entfremdung eingetreten. Es fiel Herrn Martel und Otto auch auf, daß Wilhelm Ützli immer widerwilliger mit zugriff. Er schonte sich und faulenzte, wo er nur konnte. Anders Friedrich Ützli, ein ganz hübscher Mensch mit blondem Bärtchen und offenen, blauen Augen. Er arbeitete für zwei. Von morgens bis abends ruhte er kaum aus, half auch den Frauen in der Küche, sammelte für die Ansiedler die wildwachsenden Früchte ein und suchte in allem Herrn Martels vollste Zufriedenheit zu erringen.

Am fünften Tage nach der Ankunft auf Ikapura trat dann jedoch ein Ereignis ein, mit dem niemand auch nur im entferntesten gerechnet hatte.

– – – – – – – –

Inzwischen hatte Herr Martel zum bequemeren Verkehr auf der Bucht zwei Boote aus Brettern bauen lassen. Es waren eigentlich mehr Kähne, breit und plump, aber ihren Zweck erfüllten sie ganz gut. – An diesem fünften Morgen war nun Otto mit dem kleineren Kahn bis zu den Riffen hinausgerudert, die der Bucht vorgelagert waren und die selbst bei größeren Stürmen vor der Bucht nie stärkere Wellen aufkommen ließen.

Otto wollte nach den Angelschnüren sehen, die man weit vor der Buchtmündung ausgelegt hatte. Kaum konnte er jedoch die See nach Westen zu bequem überblicken, als er einen kleinen Schoner wahrnahm, der mit prall gefüllten Segeln auf die Einfahrt zwischen den Riffen zuhielt.

Er glaubte bestimmt, es sei dies das von Benkoelen her erwartete Fahrzeug, kehrte eiligst nach der Ansiedlung zurück und lief am Bachufer entlang bis zu dem einige 800 Meter entfernten Wasserfall, dessen Wasserkraft Herr Martel seit vorgestern als Antrieb für ein kleines, primitives Sägewerk benutzte, das immerhin täglich ein Dutzend Stämme zu Brettern zerschnitt. Die nötigen Eisenteile für das Sägegatter waren schon in Deutschland eingekauft worden.

Herr Martel und die Ützlis kürzten gerade mit Handsägen Bretter für das Wohnhaus. Als Otto das Eintreffen des Fahrzeugs aus Benkoelen meldete, versammelten sich die Ansiedler am Nordufer jenseits der engen Stelle der Bucht, die ja für größere Fahrzeuge unpassierbar war. Bald erschien denn auch der Schoner, der sich jetzt durch ein Boot, in dem sechs Malaien saßen, schleppen ließ.

Otto wunderte sich, daß auf Deck des Schoners lediglich Malaien sich zeigten. Nicht ein einziger Europäer war darunter. Dies mußte umso mehr auffallen, als der Regierungsvertreter aus Benkoelen von Herrn Martel erwartet wurde, den dieser durch den Kapitän der Antje um seinen Besuch hatte bitten lassen.

Vielleicht wäre Otto nun nicht so schnell mißtrauisch geworden, wenn ihm nicht Ulrich Jahnke erzählt hätte, daß sein Vater in einem seiner letzten, an seinen Sohn nach Deutschland gerichteten Briefe erwähnt hätte, seit einigen Monaten wären wieder verschiedene Küstensegler mit wertvoller Ladung spurlos verschwunden, so daß allgemein angenommen würde, es hätten sich irgendwo wieder Piraten, die in aller Heimlichkeit ihr Handwerk ausübten, eingenistet.

Jedenfalls tauchte in ihm zum Glück noch rechtzeitig der Verdacht auf, der Schoner könnte in einer ganz anderen Absicht hier nach Ikapura gekommen ein. Als er dies nun gegenüber seinem Vater äußerte, gab auch Herr Martel zu, das Benehmen der braunen Seeleute habe auch bei ihm bereits allerlei Bedenken geweckt, und es sei wohl in der Tat am ratsamsten, sich in das feste Vorratshaus zurückzuziehen.

Das den Schoner schleppende Boot war jetzt kaum noch sechzig Meter entfernt. Als die Insassen bemerkten, daß die Ansiedler nun sehr eilig davonliefen, hörten sie mit Rudern auf und griffen unter die Sitze nach ihren dort versteckt gehaltenen Waffen. Schüsse knallten hinter den Weißen her, und manche Kugel pfiff ihnen in recht bedrohlicher Nähe über die Köpfe.

Das Blockhaus, das auch ein Dach aus dicken Brettern und sehr dauerhafte Türen hatte, war im Nu in Verteidigungszustand gesetzt. Hier war Herr Martel ganz in seinem Element. Ruhig traf er die nötigen Anordnungen, sprach den Frauen Mut zu und meinte, daß man mit 6 modernen Gewehren und doppelt so viel Revolvern die braunen Halunken schon verjagen würde.

Auf dem nur wenig schrägen Dach war aus den leeren Kisten, Steinen und Balkenenden eine Art Bollwerk hergestellt worden. Die Dachluke vermittelte einen geschützten Verkehr mit den Innenräumen. Trinkwasser aus dem Bache, das Zelt, die draußen befindlichen Geräte und alles andere, was sich schnell noch bergen ließ, wurden in das Blockhaus geschafft, während Gertrud Martel, ein ganz nach dem Vater geratenes kräftiges und energisches Mädchen, oben auf dem Dach Wache hielt.

Es dauerte sehr zu Herrn Martels Verwunderung jedoch eine gute halbe Stunde, bis Gertrud dann den Männern zurief, sie sollten sich ins Haus begeben.

Ein Boot kam die Bucht entlang. Am Steuer saß ein Mann von hellerer Hautfarbe in einem Leinenanzug. Er trug sogar Kragen und Schlips. Sein breitrandiger Strohhut war tadellos weiß und hatte ein gestreiftes Seidenband. Um den Leib hatte er einen breiten Sportgürtel geschnallt, an dem die Ledertaschen von zwei Revolvern sichtbar waren.

Herr Martel, Otto und die beiden Ützlis hatten sich auf dem Dache so verteilt, daß jeder einen bestimmten Geländeabschnitt überwachte. Jetzt rief Martel seinen Sohn neben sich. Otto kroch auf allen Vieren über die mit Maisstroh belegten Balken.

„Die Halunken wollen verhandeln,“ meinte Martel. „Sieh, der Stutzer dort am Steuer – es scheint ein Europäer zu sein – schwenkt einen grünen Zweig. Aha – sie legen an. Der Kerl steigt allein aus.“ –

Der Hellhäutige kam ganz unbekümmert auf das Haus zu. Dann blieb er stehen und rief Martel zu, der sich aufgerichtet hatte:

„He, Master, wenn Ihr nicht sofort ohne Gegenwehr Euch ergebt, stecken wir Eure Bude an und lassen Euch darin verbrennen.“ Er hatte sich des Englischen bedient, das er ziemlich rein sprach.

Martel lachte laut heraus. „Und ich sage Euch, Master: wenn Ihr mit Eurem Schoner nicht schleunigst die Insel verlaßt, kommt nicht ein einziger von Euch lebend davon. Ihr glaubt wohl, es hier mit alten Weibern zu tun zu haben! Ihr irrt Euch!“

Der Mann im Leinenanzug, der einen dunklen Spitzbart trug und alles in allem eine Erscheinung war, die Respekt einflößte, drehte sich kurz um und schritt dem etwa achtzig Meter entfernten Boote zu.

Martel wußte, daß er von diesen Feinden kein Erbarmen zu erwarten hätte. Er hatte genug von den Taten malaiischer Seeräuber gehört, die nie jemand am Leben ließen, um jeden Zeugen ihrer Verbrechen zu beseitigen.

Leise rief er nun auch Friedrich Ützli zu, gleichfalls nach dieser Seite zu kriechen. Dieser jüngere der angeblichen Brüder war nämlich ein guter Schütze. Außerdem hatte Martel zu ihm auch wieder Vertrauen gefaßt, seitdem er gemerkt hatte, daß es zwischen dem Mörder und seinem Genossen offenbar zu ernsten Zwistigkeiten gekommen war.

„Sobald das Boot abstößt, feuern wir,“ sagte der frühere Gutsbesitzer jetzt zu Otto und Friedrich. „Schonung wäre hier eine unverzeihliche Dummheit. Wenn irgend möglich, müssen wir diese sechs Ruderer abschießen und den Anführer gefangen nehmen. Dann haben wir ihn als Geisel. Stark kann die Besatzung des Schoners nicht sein. Je energischer wir von vornherein auftreten, desto schneller werden wir die Bande los.“

Der blonde Friedrich meinte, der Plan sei sehr gut. Man sah ihm an, daß er sich nicht fürchtete, ganz im Gegensatz zu Wilhelm Ützli, der schon bei der Herrichtung des Hauses zur Verteidigung recht kleinlaut gewesen war.

Jetzt sprang der Anführer in das Boot. In demselben Augenblick feuerte Martel als erster. Die Gewehre, die er mitgebracht hatte, waren Militärkarabiner. Auf diese Distanz schossen sie vorzüglich.

Die Kugel war zwei hintereinander sitzenden Ruderern durch die Brust gegangen. – Nun drückten auch Otto und Friedrich ab. – Noch fünf Schuß, und der in ohnmächtiger Wut mit der Faust herüberdrohende Anführer war der einzige Unverletzte. Das Boot trieb mitten auf der Bucht, in der es eine sogenannte Schleifenströmung gab, das heißt, am Nordufer ging die Strömung bis in den äußersten Winkel hinein, bog dann um und führte wieder dem Meere zu.

Der Piratenkapitän griff nach zwei Rudern. Bevor er aber noch das Boot in Fahrt gebracht hatte, schoß Martel abermals. Er hatte auf den linken Unterarm gezielt. Die Kugel ging fehl. Erst die dritte saß. Der Mann drüben ließ das eine Ruder fallen, glitt ins Wasser und suchte schwimmend das Südufer zu erreichen.

Friedrich Ützli war plötzlich verschwunden. Nun erschien er vor dem Hause, machte den kleineren Nachen flott, legte den Karabiner neben sich und hielt auf den Schwimmenden mit langen Ruderschlägen zu. Er hatte ihn fast erreicht, als aus einem Gebüsch unweit des Hauses Schüsse knallten. Dort hatten sich einige Malaien eingenistet, freilich alles miserable Schützen.

Kaum erkannte Martel die Gefahr, in der Friedrich schwebte, als er und Otto nach jenen Sträuchern hin Schuß auf Schuß abgaben. Dies half. Das Feuer von dort her verstummte. Inzwischen hatte Friedrich den Anführer eingeholt. Dieser versuchte noch, einen [Revolver abzufeuern. Er erhielt von Friedrich einen][3] Hieb mit dem Ruder quer über den Kopf und wäre nun wohl ertrunken, wenn Friedrich ihn nicht schnell gepackt und zu sich in den Kahn gezogen hätte.

Gleich darauf befand der Pirat sich als Gefangener im Blockhause. Er war ohne Besinnung. Martel verband ihm den Arm und fesselte ihn dann so auf ein Lager aus Maisstroh, daß jeder Fluchtversuch unmöglich war. –

All diese Ereignisse hatten sich so schnell hintereinander abgespielt, daß keiner der Ansiedler an etwas anderes hätte denken können als gerade an das, was im Augenblick vorging.

Otto kletterte nun schnell wieder auf das Dach, wo Wilhelm und Friedrich inzwischen hatten Wache halten sollen. Zu seinem Entsetzen fand er den blonden jungen Menschen, der vorhin so tollkühn den Anführer der Piraten geborgen hatte, bewußtlos mit einer schweren, offenbar durch einen Kolbenhieb hervorgerufenen Wunde vor. Wilhelm Ützli aber war – entflohen! Ein vom Dache herabhängendes Tau verriet, welchen Weg er genommen hatte. Die Vermutung, er würde wohl gar mit den Piraten gemeinsame Sache machen, lag nahe. Er hatte sowohl seine als auch Friedrichs Waffen – Karabiner und Revolver – mitgehen heißen.

Otto rief durch die Dachluke den Seinen zu, was geschehen. Und – seltsam genug: gerade Gertrud war’s, die nun bleich und verstört noch vor dem Vater die Leiter emporkletterte. Laut aufweinend kniete sie neben Friedrich nieder, streichelte ihm das Gesicht und wiederholte immerfort wie unbewußt: „Du darfst nicht sterben – Du darfst nicht sterben!“

Martel stand noch auf der Leiter, beobachtete mit schmerzerfülltem Blick seine Tochter. Er ahnte, was hier soeben nach diesen Szenen des Schreckens offenbar geworden: Gertrud liebte diesen Menschen, den Genossen eines Mörders.

Martel brauste nicht auf. Dazu war er ein viel zu verständiger Mann. Er sagte nur gütig und mahnend:

„Kind, Kind, weißt Du auch, wer dieser –“

Da hob die Kniende den Kopf, unterbrach ihn. „Ich weiß mehr als Du, Vater. Er hat mir gestern abend alles gestanden – alles! Er heißt mit richtigem Namen Friedrich Hutten, ist Techniker und hat Balsching erst in Kairo vor kurzem kennen gelernt. – Ich liebe ihn. Mein Herz kann sich nicht täuschen: er ist ein braver Mensch, der sich nur von Balsching hat verführen lassen –“

Martel seufzte und schwieg. – Auch das nun noch in all dieser Bedrängnis. Auch noch diese Neigung seiner so willensstarken Tochter.

Man schaffte den Verwundeten hinab. Er kam bald wieder zu sich. Otto war auf dem Dach als Wache zurückgeblieben.

Das Boot mit den toten oder schwer verwundeten sechs Malaien war unweit des Hauses an Land getrieben. Zwei der Leute regten sich noch, krochen nun in langen Pausen den Büschen zu. Otto ließ sie unbelästigt. Er hing sehr ernsten Gedanken nach. Gerade seine geistige Reife machte ihn fähig, die ernste Lage der Seinen richtig zu beurteilen. Als Verteidiger des Hauses kamen jetzt nur noch der Vater, er und Gertrud, die auch leidlich mit einem Gewehre umzugehen verstand, in Betracht. Am schlimmsten war, daß Balsching die beiden Karabiner mitgenommen hatte. Die Gewehre der Piraten taugten offenbar nicht viel. Nun aber hatten sie, falls der Mörder sich ihnen anschloß, zwei weittragende Schußwaffen von großer Durchschlagkraft zur Verfügung, gegen deren Kugeln selbst die Balken des Hauses nicht schützten. Und – wenn man sich die Angreifer auch am Tage vom Leibe hielt, wie sollte man nachts das Haus schützen?

Während Otto dies alles sich überlegte, fand zwischen dem Anführer der Piraten und Martel eine diesen nicht minder beunruhigende Unterredung statt.

Der Pirat hatte kaum das Bewußtsein wiedererlangt, als er auch schon in anmaßendstem Tone den Ansiedler zu sprechen wünschte. Frau Martel, die ihm gerade eine frische Kompresse auf die Kopfwunde gelegt hatte, rief ihren Mann herbei. Sofort begann der Pirat allerlei Drohungen auszustoßen, denen er dadurch besonderen Nachdruck zu verleihen suchte, daß er erklärte: „Wir führen ein Geschütz an Bord. Meine Leute werden Euer Haus in Trümmer schießen. Mag ich auch selbst dabei zu Grunde gehen, jedenfalls werde ich furchtbar gerächt werden.“

Martel spielte mit Geschick weiter den durchaus nicht Ängstlichen. Trotzdem hegte er jetzt in Wahrheit die ernstesten Besorgnisse für die Sicherheit der Seinen. Es war ja nur zu wahrscheinlich, daß der Schoner ein Geschütz besaß. –

Inzwischen war es Mittag geworden. Draußen lag klarer Sonnenschein über dem wunderbaren tropischen Landschaftsbilde der kleinen Insel. Nichts gemahnte an die furchtbaren Vorgänge der letzten Stunden als das Boot mit den toten Piraten und die Verschanzungen auf dem Dach des Blockhauses.

Martel lag jetzt neben seinem Sohn hinter einer der Kisten und besprach mit ihm die trübe, verhängnisdrohende Gegenwart. Dabei beobachteten sie unausgesetzt aufs schärfste die Umgebung des Hauses. Jenseits der Buchtkrümmung sahen sie die Masten des Schoners über das Ufer emporragen. Was auf dem Fahrzeug selbst geschah, konnten sie nicht sehen.

„Wenn wir uns nur noch ein paar Tage halten könnten, Vater,“ meinte Otto. „Der Kutter von Benkoelen muß ja bald erscheinen. Er würde uns retten –“

„Ein paar Tage?!“ Martel seufzte schwer. „Ich fürchte, die Banditen werden schon in der kommenden Nacht das Haus stürmen. Wie sollen wir beide und Gertrud bei der Dunkelheit die Schurken verscheuchen?!“

– – – – – – – –

Da tauchte Gertrud auf der Leiter auf. Sie brachte Vater und Bruder ein warmes Gericht, auch eine Kanne kalten Tee.

„Fritz ist bei Besinnung,“ berichtete sie. „Es geht ihm überraschend gut. Er hofft in einer Stunde wieder auf den Beinen zu sein.“

Das war wenigstens eine frohe Botschaft! – Die beiden Martels aßen nur, um dem Magen etwas zuzuführen. Wo sollten sie auch wohl den Appetit hernehmen?!

Dann hielten sie wieder ringsum Ausschau, besonders nach den nahen Büschen hin. Doch – nirgends zeigte sich etwas Verdächtiges. So verging eine Stunde. Dann wurde Otto auf einen Schwarm Papageien aufmerksam, der drüben am anderen Buchtufer unruhig von Baum zu Baum flatterte. Auch aus den Gehölzen, die stellenweise die Terrassen der Helenen-Höhe bedeckten, stiegen Wildtauben, die merkwürdigen Nashornvögel und kleinere Vogelarten in Menge auf und strichen, als würden sie stets wieder aufgescheucht, hin und her. Jeder Lufthauch war jetzt eingeschlafen. Die vorher noch so erquickende Seebrise milderte nicht mehr die sengende Glut der Sonnenstrahlen. Und wieder nach einer Weile zogen sich leichte Dunstmassen vor die Sonne, die nur noch als heller Fleck durch diese trüben Schleier hindurch schimmerte.

Eine furchtbare Schwüle lastete über Meer und Insel. Das Brandungsgeräusch war verstummt, das doch durch die Bucht wie durch einen Schalltrichter stets bis zu der Ansiedlung deutlich zu hören gewesen war.

Dann verspürten Martel und Otto gleichzeitig etwas wie einen Stoß, der das Blockhaus förmlich hin und her schwanken ließ. – Erst glaubten sie beide an eine in der Nähe erfolgte Explosion einer Granate aus dem Geschütz des Piratenschoners. Sie hatten jedoch keinerlei Knall gehört. Bevor sie über die Ursache dieser Erschütterung sich noch hatten besprechen können, wallte das Wasser der Bucht ebenso urplötzlich zu hohen Wellen auf, während zwei neben dem Blockhause stehende Palmen, entwurzelt durch unsichtbare Gewalten, ihre Kronen neigten und immer schneller umsanken.

Dann – aus den Tiefen der Erde etwas wie ein dumpfes Grollen und Dröhnen. Dann – ein neuer Erdstoß – ein dritter – ein vierter. – Das Haus erzitterte. Die Balken rieben sich knarrend aneinander. – Frau Martel kam die Leiter empor, schreckensbleich.

Und gerade als sie nun den flachen Gipfel des nach ihr benannten Berges vor sich hatte, gewahrte sie, daß dessen Oberteil gleichsam hin und her taumelte.

Ihren Lippen entrang sich ein Schrei.

„Dort – dort –“ – Ihre Zunge versagte ihr den Dienst. Mit einem Male war die ganze ungeheure Felsenmasse der Bergkuppe nach Westen zu, nach der steil abfallenden Seite, abgestürzt.

Ohrbetäubendes Krachen, in das sich das Kreischen und Lärmen aufgescheuchter Vogelscharen mischte, begleitete diese Katastrophe. Dabei wurde es dunkler und dunkler. Irgendwoher kam ein feiner Aschenregen herab, fiel dichter und dichter. Bald lastete ringsum schwärzeste Nacht.

Die Erdstöße hörten nicht auf. Manche waren so stark, daß das Blockhaus in Trümmer zu gehen drohte. Man vernahm immer häufiger auch das Krachen stürzender Baumriesen.

Gertrud und Fritz Hutten befanden sich jetzt ebenfalls auf dem Dache. Man hockte dicht beieinander. Sehen konnte man sich kaum. Der Aschenregen setzte zuweilen aus, wurde dann nur noch dichter.

Alle wußten, was sie hier zum ersten Mal in ihrem Leben durchmachten: ein Erdbeben, gleichzeitig einen Vulkanausbruch eines der auf dem nahen Sumatra noch tätigen feuerspeienden Berge!

In dieser pechschwarzen Finsternis zeigte sich nun nach Osten zu ein horizontaler, heller Streifen, dessen Breite zusehends wuchs. Und dieses Anwachsen geschah unter einem ständig sich verstärkenden tosenden Brüllen.

„Sturmflut!“ schrie Martel jetzt, seiner Sinne kaum mehr mächtig. „Sturmflut! Eine Riesenwoge ist’s, die dort heranrollt. Ihre Oberschichten phosphoreszieren. Das ist der helle Streifen!“ Er umfaßte seine Frau und Otto, drückte sie an sich. Er sah den sicheren Tod voraus.

Gertrud hatte sich an Fritz Hutten geschmiegt. So erwarteten sie das Verderben.

Die ungeheure Wasserwand rückte näher. Jetzt mußte sie den Schoner erreicht haben. Jetzt vielleicht nur noch Sekunden, dann –

Die unterirdischen Gewalten rührten sich wieder. Ein wellenartiges Beben schüttelte die kleine Insel hin und her. Und gerade vor dem Blockhause wurde eine Erdfalte hochgetrieben, die den Wasserinhalt der Bucht weit über die Insel verteilte.

Die auf den Tod Gefaßten erkannten nicht, was geschehen. Nur der leuchtende Strich war verschwunden. Daß dieselben Kräfte, die die Sturmflut erzeugt, jetzt hier vor ihnen schützend einen Wall aufgetürmt hatten, vermuteten sie erst später.

Ein entsetzliches Krachen, als sollte die Welt untergehen, folgte dem plötzlichen Verschwinden der Flutwoge. Der wandelnde Wasserberg war gegen das Hindernis gerannt; seine Kräfte zerschellten; er glitt ostwärts zurück in die Tiefen des Meeres, das ihn geboren.

Und immer noch fiel die Asche. Gewitter begannen zu toben; ganze Blitzbündel fuhren durch den Aschenregen hin.

Frau Martel betete mit fest zugedrückten Augen.

Neue Erdstöße, vielleicht noch schwerer als vorher.

Und nun: ganz unvermittelt ein jäher Übergang zu unheimlicher Ruhe.

Kein Laut mehr ringsum. Nur von fern das Branden der See.

Jetzt einzelne Tropfen: Regen, – der bald zum Wolkenbruch wurde. –

Man flüchtete hinab in das Blockhaus. Wie betäubt saßen die fünf Menschen auf den rauhen Holzschemeln. Martel hatte eine Petroleumlampe angezündet. Die dem Tode Entronnenen stierten sich gegenseitig wie Gespenster an.

Kohlschwarz waren ihre Gesichter. Die Asche war auf der schweißfeuchten Haut haften geblieben.

Otto war’s, der jetzt in ein befreiendes Gelächter ausbrach.

Selbst Martel lachte. Und nur seine Frau hob beschwörend die Hände, meinte: „Wie könnt Ihr nur! Jetzt – jetzt – lachen!“

„Mutter,“ sagte Martel begütigend. „Die Gefahr ist vorüber. Die Titanen der Tiefe haben den Kampf gegen uns arme Menschlein aufgegeben. Und – auch die Piraten dürften wir los sein. Der Schoner muß in Stücke zerschellt sein.“ –

Es regnete ununterbrochen bis zum anderen Morgen. Dann klärte sich der Himmel auf. Ein starker Seewind reinigte die Luft. –

Die fünf Menschen standen wieder oben auf dem Dache der Blockhütte. Sie standen und schauten in die Runde; schauten sich an, schüttelten die Köpfe.

Wenn nicht die vielen entwurzelten Bäume, nicht die haufenweise von dem Regen aufgetürmten Aschenmassen gewesen wären, wenn sie nicht dort am Südufer der Bucht den Schoner mitten zwischen ein paar Palmen eingekeilt gesehen hätten, – sie würden geglaubt haben, das ganze Erdbeben sei nur ein wüster Traum gewesen.

Die unterirdischen Gewalten hatten alles, was sie an Veränderungen auf der Insel hervorgerufen, wieder beseitigt. Selbst die Helenen-Höhe hatte ihre alte Form beinahe zurückerhalten.

Und als Martel und Otto sich dann, freilich gut bewaffnet, hinauswagten, als sie auch das Wrack des Schoners besichtigten, das wie in einem natürlichen Dock zwischen den Bäumen hing, da fanden sie als erste die Leiche des Mörders Balsching. Quer über der Brust lag ihm ein Pisangstamm. Unzählige hellrote Ameisen krochen auf dem verzerrten Totengesicht herum, dieselben Ameisen, die die Malaien Suela Bawa, Leichenfresser, nennen und die es fertig bekommen, einen großen Tierkadaver in wenigen Tagen bis auf die Knochen rein zu nagen.

Weiter gingen Vater und Sohn, durchsuchten die ganze Insel stundenlang. Sie entdeckten keinen der Piraten mehr. Nur vier Leichen fanden sie noch. –

Als sie sich dem Blockhause wieder näherten, kam ihnen Fritz Hutten entgegen.

„Ich war vorhin bei dem Wrack des Schoners,“ erklärte er ganz aufgeregt. „Es müssen noch Menschen darin sein. Ich hörte auch halberstickte Rufe und dumpfes Pochen –“

Man holte schleunigst die Leiter aus dem Hause und eilte zu dem Schoner hin. Er lag etwa fünf Meter über der Erde festgekeilt. Jetzt vernahmen auch Martel und Otto die leisen Rufe und das Klopfen.

Otto kletterte als erster empor, fand ein von der Reling herabhängendes Tau und schwang sich auf Deck. Hutten folgte, dann auch der etwas schwerfälligere Martel. Mit gespannten Revolvern begannen sie nun das vielleicht 18 Meter lange Fahrzeug zu durchsuchen.

Die Rufe kamen offenbar unten aus dem Kielraum. Man zündete eine Laterne an, die man in der kleinen Kajüte des Kapitäns gefunden hatte.

Endlich dann entdeckte man hinter den feuchten Ballastsandsäcken drei menschliche Gestalten.

Der Lichtschein der Laterne glitt über die Gesichter der Gefesselten hin.

„Ulrich!“ schrie Otto auf. „Ulrich – Du – Du?!“

Schon kniete er neben dem Freunde, zerschnitt dessen Stricke. Taumelnd erhob der Knabe sich.

„Ich – ich habe furchtbaren Hunger,“ meinte er. „Und – und die beiden Herren da, – das sind der Regierungsvertreter aus Benkoelen und ein Kaufmann, der mit Ihnen, Herr Martel, etwas besprechen wollte. Unser Kutter wurde von den Piraten unweit der Insel gekapert. Unsere malaiischen Matrosen schlachteten die Schurken ab. Dann kam das Erdbeben –“

– – – – – – – –

An demselben Tage gegen fünf Uhr nachmittags durchwanderten die wiedervereinten Freunde die Insel.

Inzwischen hatte Fritz Hutten ganz eingehend erzählt, wie er Balsching kennengelernt und wie ihn dieser dazu überredet hatte, mit ihm gemeinsam als Gebrüder Ützli die Sunda-Inseln zu besuchen, wo er eine sehr ergiebige Diamantenfundstelle wüßte. – Er hatte Hutten vorgelogen, von einem befreundeten Seemann ein sehr altes, auf Elfenbein gemaltes Bild als Geschenk erhalten zu haben, das, aus zwei Teilen bestehend, eine Inselgruppe und eine Bergpartie darstellte. In der Inselgruppe war ein einzelnes Eiland mit einem roten Stern bezeichnet, während auf dem zweiten Teil der Malerei eine sehr alte Eiche dasselbe Zeichen trug. In die Rinde dieser Eiche war ein Quadrat mit einem liegenden Kreuz eingehauen. Und vom Fuße dieses Baumes wieder liefen rote Striche nach einem Felsen hin, dessen vordere, glatte Fläche wie mit geschliffenen Edelsteinen verziert aussah.

Hutten hatte das Elfenbeinbild dann auch selbst gesehen. Daß Balsching es dem Professor gestohlen hatte, ahnte er nicht. Erst als Balsching in Suez, kurz nachdem sie auf der Antje eine gemeinsame Kabine bezogen hatten, den Detektiv ermordete, gingen Hutten über seines Genossen wahren Charakter die Augen auf. Nur aus Klugheit hatte er dann noch scheinbar weiter mit ihm gemeinsame Sachen gemacht, denn er traute es Balsching sehr wohl zu, daß dieser auch ihn beseitigen würde, sobald er nur irgendwie Argwohn schöpfte. Das Schicksal hatte Hutten nun von seinem gefährlichen Verführer befreit. Und die schnell erwachte Liebe zu Gertrud Martel war’s gewesen, die die letzten Schlacken von seiner Seele nahm.

Eine Durchsuchung der Leiche Balschings hatte dann auch das Elfenbeinbild, das jener in der Innentasche seiner Weste bei sich trug, zu Tage gefördert.

Jetzt nun wollten Otto und Ulrich jene besonders gekennzeichnete Eiche, die irgendwo auf der Helenen-Höhe stehen mußte, herausfinden. Sie hatten bisher jedoch kein Glück dabei gehabt.

Abermals begannen sie nun die höheren Partien des zerklüfteten Berges zu durchstreifen. Dann blieb Ulrich Jahnke vor einer wohl schon seit Jahren entwurzelt daliegenden Eiche stehen und meinte:

„Vielleicht ist’s gar diese. Vielleicht ist das eingehauene Quadrat auf der Unterseite des Stammes zu suchen, wo dieser von Gras und Schmarotzerpflanzen so dicht umwuchert ist.“

Er zog sein Messer und begann die Gräser und Ranken wegzumähen. Otto half ihm, denn auch er sah ein, daß Ulrich mit seiner Vermutung sehr wohl recht haben könnte.

Nun war der Stamm ganz frei gelegt. Ulrich kroch darunter, legte sich auf den Rücken, rief dann auch sofort:

„Otto – er ist’s! Hier haben wir das Quadrat!“

Die Freunde schauten sich jetzt nach dem Felsen um, der auf dem Elfenbeinbilde so seltsam verziert war. Sie hatten die Auswahl zwischen drei mächtigen Steinblöcken. Der größte davon schien ihnen etwa die Form wie der auf dem Bilde zu haben. Er erhob sich dicht am Rande einer tiefen Felsspalte, die so schmal war, daß ein Mensch kaum hineingelangen konnte. Sie führte schräg nach Westen ziemlich steil abwärts. Als Ulrich einen Stein hinabrollen ließ, dauerte es eine Weile, bevor dieser unten aufpolterte.

„Mindestens zehn Meter tief,“ meinte Ulrich. „Komm’, Otto, holen wir uns eine Laterne und eine Leine. Aber – vorläufig nichts davon zu den anderen, daß wir die Eiche gefunden haben.“

Nach einer halben Stunde waren sie wieder an Ort und Stelle. Die Leine wurde an das Wurzelwerk der Eiche gebunden, und dann kletterte Ulrich mit der Laterne hinab. Nach einer Weile rief er dem Freunde zu:

„Folge mir. Hier gibt’s eine große Grotte mit einer Art Tempelraum und ein paar scheußlich bemalten Götzenbildern –“

Otto ließ sich hinab. Der Zugang zu der Grotte war glatt und erweiterte sich nach unten immer mehr. Die Grotte selbst war vielleicht sechs Meter hoch und bildete ein unregelmäßiges, längliches Viereck. An der Rückwand war aus Tonziegeln ein Kasten aufgemauert, über dem eine völlig zermürbte Decke lag. Die Decke zeigte kostbare, altertümliche Stickereien. Auf diesem Altar hockten drei Götzen. Als Ulrich sie nun aus der Nähe beleuchtete, sah man genau, daß aus den Diademen, die sie auf dem Kopf hatten, gewaltsam Steine herausgebrochen sein mußten.

„Wir kommen zu spät. Hier haben schon andere vor uns geplündert!“ lachte Ulrich gutgelaunt. „Du brauchst kein solch enttäuschtes Gesicht zu machen, Otto! Ich pfeife auf alle Edelsteine. Ich bin froh, daß wir wieder beisammen sind und daß ich vorläufig bei Dir bleiben darf.“ –

Als sie dann nachher den Männern erzählten, wie sie die Grotte entdeckt und was sie darin gefunden, besichtigten auch Martel, Hutten und die beiden Herren aus Benkoelen den unterirdischen Raum.

Abends saß man dann gemeinsam vor dem Blockhause und tat den Speisen alle Ehre an, die Frau Martel und Gertrud zubereitet hatten. Der Regierungsvertreter aus Benkoelen, ein Herr van Bloeven, erzählte so allerlei von den Erdbebenkatastrophen und hob hervor, daß die Inseln weiter südlich weit mehr gefährdet seien, erwähnte, daß zum Beispiel bei einem Ausbruche des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa einmal 42 000 Menschen umgekommen wären und der Vulkan selbst dabei 2000 Meter an Höhe eingebüßt hätte, beruhigte aber zum Schluß auch die entsetzte Frau Martel und meinte lächelnd, er wohne ja schon über zwanzig Jahre auf Sumatra, habe über dreißig Erdbeben mitgemacht und – lebe noch immer.

Dann kam er auf den Piratenanführer zu sprechen, den er am Tage schon scharf ins Verhör genommen hatte. – „Ohne Zweifel ist’s ein Europäer,“ sagte er. „Aber – über Namen und Herkunft schweigt er sich aus. Auch die in dem Schoner gefundenen Papiere geben über ihn keinen Aufschluß. Er wird eine jener gescheiterten Existenzen sein, die schließlich in ihrer Sucht nach Reichtum Schwerverbrecher werden. – Nun – er wird kaum mehr Pirat spielen können. Wir knüpfen jeden auf, der auch nur einigermaßen des Seeraubes überführt ist.“ –

Am nächsten Tage wurde dann auf Vorschlag Huttens von dem[4] Schoner eine Gleitbahn aus Brettern und Balken bis nach der Bucht gebaut. Die Entfernung betrug etwa fünfzig Meter. Diese Arbeit nahm vier Tage in Anspruch. Dann mußte noch eine Art Wagen hergestellt werden, auf den man den Schoner durch Weghauen der ihn stützenden Bäume hinabgleiten lassen wollte.

Der Versuch, das Wrack des im übrigen leicht wieder auszubessernden Fahrzeugs auf diese Weise zu Wasser zu bringen, gelang vollständig. Auch die Masten, die kurz über dem Deck geknickt waren, hatte man bald ergänzt.

Genau eine Woche nach dem Erdbeben stach der jetzt Gertrud getaufte Schoner, den Herr van Bloeven ohne weiteres dem deutschen Ansiedler als Eigentum zugesprochen hatte, in See. An Bord waren die beiden Gäste aus Benkoelen und Otto und Ulrich.

Bloeven, der genug von der Führung eines Schoners verstand, brachte ihn denn auch wohlbehalten nach der Hafenstadt Benkoelen, wo die Gertrud allerlei Fracht einnahm und dann unter dem Befehl eines malaiischen Steuermanns namens Djawa und bemannt mit drei anderen Malaien mit den Freunden nach Ikapura zurückkehrte.

Die vier Malaien, alles erprobte, arbeitsame Leute, blieben gleich als Farmarbeiter auf der Insel und wurden von Martels und Hutten von vornherein so freundlich behandelt, daß sie bald mit hingebungsvoller Treue an den weißen Ansiedlern hingen. –

Zwei Monate später wieder waren die Gebäude der Niederlassung fertig und auch ganz so ausgefallen, wie Martel sie sich gewünscht hatte: praktisch, groß, luftig und äußerlich gefällig. – Inzwischen war auch das Sägewerk weiter ausgebaut worden, ebenso der Boden für die Tabak- und Reispflanzungen urbar gemacht.

Vor den Gebäuden zog sich eine feste Anlegebrücke in die Bucht hinein. Daran lag die schmucke, frisch gestrichene Gertrud vertäut, die mittlerweile wiederholt in Benkoelen gewesen und allerlei geholt hatte, was den Ansiedlern noch fehlte.

Nun sah es auf Ikapura bereits etwas anders aus als in jenen Tagen des Schreckens, die für die Familie Martel scheinbar eine so schlechte Vorbedeutung gewesen. Nur scheinbar! Alles hatte sich jetzt zum Guten gewendet, alles.

Martel und Hutten planten noch so allerlei. Sie gedachten die Wasserkraft des Baches noch besser auszunutzen, schufen für die Gebäude eine elektrische Lichtanlage und ließen in den Schoner einen Elektromotor einbauen, der durch Akkumulatoren getrieben wurde. Diese luden sie wieder mit Hilfe der Dynamomaschine. So war aus der Gertrud ein Motorschoner geworden.

Nun endlich wurde auch des Brautpaares Herzenswunsch erfüllt. In Benkoelen wurde bei Ulrichs Eltern die Hochzeit gefeiert. Drei Tage blieben Martels dort. Dann brachte der Schoner alle, auch Ulrich wieder, nach Ikapura zurück.

Für das junge Ehepaar war ein eigenes Heim errichtet worden. Es lag auf der zweiten Terrasse der Helenen-Höhe und bot einen weiten Fernblick über die Insel und das Meer.

Genau vierzehn Tage nach der Hochzeit bemerkte Fritz Hutten dann morgens einen Segler, der offenbar nach der Einfahrt zwischen den Riffen suchte. Es war ein Schoner etwa von der Größe der Gertrud. Sofort kamen Hutten allerlei böse Erinnerungen. Schleunigst rief er seine Frau herbei und eilte mit ihr nach der Bucht hinab, alarmierte hier Martels und die vier Malaien und ließ das Geschütz, das auf dem Piratenschoner gefunden worden war, auf das Dach des Wohnhauses bringen. Obwohl man jetzt einen Überfall unschwer abwehren konnte, war doch alles in Aufregung, weil bei einem Angriff vieles vernichtet werden konnte, was man mühsam geschaffen hatte.

Der fremde Schoner lief in die Bucht ein. Dann erschien ein Boot, in dem außer vier braunen Ruderern noch zwei Weiße saßen.

Hutten ging diesen, die einen ganz harmlosen Eindruck machten, entgegen. Der eine stellte sich als Professor Sparrell aus Leyden vor. Der andere war ein holländischer Marineoffizier.

Der Professor erklärte, er wolle hier nach einer Diamantenfundstelle suchen und erzählte auch von seinem ungetreuen Diener, der ihm das Bild gestohlen hätte, dessen Bedeutung von ihm erst nach langem Forschen herausgefunden wäre.

Die Sorge der Ansiedler war also überflüssig gewesen. – Die beiden Holländer wurden aufs freundlichste aufgenommen. Otto und Ulrich führten sie dann nach der Felsspalte hin, durch die der etwas dicke Gelehrte kaum hindurchkam.

Er besichtigte die Grotte sehr eingehend. Bisher hatte niemand daran gedacht, die Götzen einmal von dem Altar herunterzuheben, zumal sie sehr schwer waren. Er tat’s mit Hilfe der beiden Freunde. Und – siehe da – es zeigte sich, daß dort, wo die Untergestelle der häßlichen, bunten Standbilder den Altar bedeckt hatten, sich vertiefte Metallplatten befanden. Als man sie hochhob, gaben sie tiefe Öffnungen frei, die bis obenan mit allerlei Tempelgeräten, teilweise aus gediegenem Golde, angefüllt waren.

Es war geradezu eine Auslese kostbarster Altertümer einer längst dahingeschwundenen Kulturepoche. Ganz unten in dem mittelsten der Löcher hatte auch ein Becken gestanden, in dem all die aus den Diademen entfernten Edelsteine lagen.

Der Professor, selbst vermögend, schenkte jedem der Freunde, die ja als erste die Eiche und die Felskluft entdeckt hatten, von den Diamanten so viel, daß sie mit einem Schlage reich wurden. Aber – Ulrich Jahnke ließ das sehr kalt! Er meinte nur: „Ja, meine Eltern werden sich fraglos freuen. Ich?! – Ich habe dafür keine Verwendung!“

Als Otto die Edelsteine seinem Vater übergab, fragte der schmunzelnd: „Na, Junge, nun hast Du ja die Mittel, nach Deutschland zurückzukehren und ein Gelehrter zu werden, – wie denkst Du darüber?“

„Ich denke, Vater, daß ich zum Gelehrten nicht mehr recht tauge. Ich liebe unser Ikapura zu sehr, um mich davon trennen zu können.“

„Genau wie ich! Der Zauber der Tropen hat uns gefangen genommen, und das, was wir hier geschaffen haben und noch schaffen wollen, hat uns glücklich und zufrieden gemacht. Der Boden dieser Insel birgt nun kein Geheimnis mehr, höchstens noch das eine, daß rastlose menschliche Arbeit ihm neue Schätze in Gestalt gesegneter Ernten entlocken kann, also Schätze, die mehr wert sind als Gold und Edelsteine.“

 

Der nächste Band enthält:

Im unerforschten Lande.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Bildunterschrift auf der Titelseite steht „Martell“ statt „Martel“.
  2. In der Vorlage sind zwei Zeilen vertauscht.
  3. Hier ist eine Zeile doppelt, dafür fehlt eine andere Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  4. In der Vorlage steht „den“.