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In der Wildnis Labradors

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.

 

In der Wildnis Labradors.

 

W. Belka.

 

Der Schoner „Lene Pahlsen“ lag im tiefsten Winkel eines der Fjorde der Ostküste der zu Britisch-Nordamerika gehörigen Halbinsel Labrador dicht an dem steinigen, sehr bald steil ansteigenden Ufer vor Anker.

Er war Eigentum des Fischers Heinrich Pahlsen aus Kuxhafen und stellte dessen gesamte Ersparnisse vieler Jahre dar. Zum ersten Male hatte Pahlsen, ein breitschultriger Hüne mit rötlichem Vollbart, in diesem Jahre die Fahrt nach den berühmten Fanggründen der Ostküste Labradors gewagt, wo sich bereits seit dem 16. Jahrhundert von Juni bis September regelmäßig eine Unmenge von Fischereifahrzeugen anfinden, deren Besatzungen man zum Beispiel 1910 auf 30 000 Köpfe schätzte, ein Beweis, wie groß die Anziehungskraft der Ostgestade dieser Halbinsel für unternehmungslustige Seeleute ist.

Pahlsens Schoner war nach seiner Frau getauft worden. Und Frau Lene hatte im Mai mit den besten Segenswünschen ihren Mann, ihren fünfzehnjährigen Sohn Jochem, dessen Schulfreund Karl Stetter und die drei Matrosen hinaus in den Atlantik auf die weite Reise bis nach Labrador ziehen lassen.

Die Segenswünsche hatten scheinbar auch genügt. Der Laderaum des Schoners war bereits anfangs August bis zum äußersten mit Tonnen eingesalzener Fische aller Art gefüllt. Dann aber hatte ein plötzlich aufgekommener Sturm der Lene Pahlsen den einen Mast geknickt, und beim Einlaufen in den kleinen, namenlosen Fjord, einen von den unzähligen, die die Ostküste Labradors wie ausgefranst erscheinen lassen, hatte der Schoner sich auf einem Riff auch noch die Bodenplanken beschädigt, mußte schleunigst entladen und unter recht erschwerenden Umständen repariert werden.

Fischer Pahlsen hatte den beiden kräftigen Knaben während dieser Ausbesserungsarbeiten gern die Erlaubnis gegeben, ein wenig in der Nähe des Fjordes auf die Jagd zu gehen. An Bord befanden sich ja zwei ältere, doppelläufige Vorderladerbüchsen, die gelegentlich zum Entenschießen benutzt wurden.

Für die beiden Jungen, die Ostern aus der Schule gekommen waren und als unzertrennliche Freunde die ersten Anfangsgründe seemännischer Kenntnisse sich auf dem Schoner erwerben wollten, waren diese kurzen Jagdstreifen die Verwirklichung ihrer durch das Lesen der Lederstrumpf- und anderer Indianergeschichten geweckten Sehnsucht, ebenfalls einmal mit der Büchse über der Schulter einsame Wälder durchwandern zu dürfen. Wenn sie abends regelmäßig mit irgend einer Beute nach den beiden Reisighütten zurückkehrten, wo Vater Pahlsen und die drei Matrosen dann schon immer von des Tages schwerer Arbeit ausruhten, hatten sie allerlei zu erzählen. Stets erlebten sie etwas. Einmal hätten sie „beinahe“ sogar einen braunen Bär geschossen – beinahe. Aber sie hatten es doch vorgezogen, der Bestie aus dem Wege zu gehen. – Jedenfalls waren sie in diesen acht Tagen recht sichere Schützen geworden und hatten auch schon allerlei Erfahrungen gesammelt.

Am Abend des neunten Tages seit Beginn dieser Jagdausflüge saßen die sechs zur Lene Pahlsen gehörigen Gefährten gerade um ihr loderndes Lagerfeuer herum, und Vater Heinrich hatte soeben erklärt, man würde nun in drei Tagen etwa an die Heimreise denken können, als von den steil ansteigenden Uferfelsen her, die terrassenartig bis zu einer von Strauchkiefern dicht bewachsenen Schlucht emporführten, sehr schnell eine hochgewachsene schlanke Gestalt sich näherte.

Jochem und Karl hatten es sehr bedauert, bisher noch keinen der Ureinwohner Amerikas, einen der mit so viel Romantik in Büchern geschilderten Indianer, zu Gesicht bekommen zu haben. Sie wußten von anderen Fischern, daß auf Labrador außer den im nördlichsten Teile hausenden Eskimos auch noch einige tausend Algonkinindianer heimisch sind, von denen viele die Pelztierjagd betreiben.

Einen Algonkin, und zwar einen Naskapi (Unterstamm der Algonkin-Nation) sollten sie nun heute aus nächster Nähe bewundern dürfen.

Der Naskapi, ein noch junger Mann, trat mit höflichem, englisch gesprochenem Gruß an das Feuer und fragte, ob er Pulver und Blei sowie Zündhütchen gegen Goldkörner einhandeln könnte.

Fischer Pahlsen bat ihn, am Feuer Platz zu nehmen. Der Naskapi lehnte jedoch diese Einladung in hastigem Tone mit den Worten ab: „Mistasimo keine Zeit haben. Er zu einer Jagdabteilung der Naskapi gehört, die vier Stunden nach Osten zu lagert. Hier die Goldkörner sein –“

Er holte aus der Tasche seines Lederwamses ein Beutelchen hervor und schüttete den Inhalt in die flache Hand.

Pahlsen hatte keinen Grund, der Rothaut diese Bitte abzuschlagen, zumal er dabei noch ein gutes Geschäft machte. Er besaß noch einen Vorrat von sechs Pfund Pulver. Vier Pfund in einzelnen Päckchen überließ er dem indianischen Jäger, ebenso ein großes Stück Blei.

Der Naskapi dankte wortreich und verschwand sofort wieder auf den im Dunkel daliegenden Uferterrassen.

Während Jochem und Karl jetzt noch eifrig über den kurzen Besuch der Rothaut sich unterhielten und Fischer Pahlsen die Bemerkung einwarf, der Naskapi besäße von den gelben, kostbaren Körnern sicherlich noch eine ganze Menge, vernahmen die am Feuer Lagernden abermals Schritte und auch mehrere Stimmen. Gleich darauf erschienen drei Soldaten, die zur Besatzung des etwa drei Tagereisen nach Nordwesten zu gelegenen Forts Marconnay gehörten. Sie hatten zwei Schweißhunde bei sich, gelbliche, große Tiere, die außerordentlich bissig sein mußten, da der eine der Soldaten sie an den Halsbändern[1] festhielt.

Der Führer dieser Patrouille fragte Fischer Pahlsen, ob nicht soeben ein Indianer hier gewesen sei. – Aus der ganzen Art dieser Fragestellung schloß Pahlsen sofort, daß die Soldaten wahrscheinlich hinter der Rothaut her wären und hütete sich daher, zu erwähnen, was er soeben dem Indianer eingetauscht hatte, erwiderte vielmehr, ein Naskapi hätte wenige Minuten am Lagerfeuer geweilt und um ein Stück von der gebratenen Hirschkeule gebeten.

Hierauf meinte der Führer, Pahlsen habe dann einen Mörder mit Fleisch versehen, denn der Naskapi solle wegen Überfalls auf einen Handelsagenten, der Felle in Fort Marconnay einkaufen wollte, verhaftet werden.

Zu näheren Angaben ließen die Soldaten sich keine Zeit und kletterten sofort wieder das Steilufer empor, um die Verfolgung fortzusetzen.

Die Freunde waren am folgenden Tage bereits recht früh aufgebrochen, um diese letzte Zeit vor der Heimreise noch nach Kräften auszunützen.

Gegen Mittag – sie waren heute zum ersten Male tiefer in einen großen Wald von Fichten und Lärchen eingedrungen, der sich nach Norden hinzog – machten sie auf einer Lichtung Rast, die sich weiterhin als tiefes, dickichtbewachsenes Tal fortsetzte.

Sie hatten gerade ein Feuer angezündet und wärmten den in ihren Blechflaschen mitgenommenen Kaffee, als Karl Stetter mehr nach dem Tale zu ein kleines, zottiges Tier bemerkte, das die dort überall wuchernden reifen Heidelbeeren mit dem Maul abrupfte.

Jochem meinte dann flüsternd, es könne nur ein junger Bär sein. Karl nickte nur, griff schon nach seiner Büchse und schlich im Bogen an den kleinen Meister Petz heran. Dieser, der etwa die Größe eines Pudels hatte, bekam aber doch sehr bald die menschliche Witterung in die Nase und wollte sich nun schleunigst in das Tal zurückziehen.

Karl Stetter war es um den Pelz zu tun. Er legte an, schoß und traf den Bär gerade in das Rückgrat, so daß die kleine Bestie aufheulend wie vom Blitz gefällt nach vorn sich überschlug. Eine zweite Kugel in den Kopf beendete schnell den Todeskampf des jämmerlich winselnden Geschöpfs, so daß der Knabe nun triumphierend, seine Beute hinter sich her ziehend, zum Feuer zurückkehren konnte.

Karl rechnete schon aus, was er an dem Fell verdienen würde, und bedauerte dabei, daß der Pelz im Rücken das Schußloch hätte, und Jochem wieder warf etwas neidisch trockenes Reisig in die Flammen, meinte, viel sei ein solches Sommerfell nicht wert, – da erklang von dem Taleingang her ein kurzes Aufheulen.

Die Freunde blickten sich um, erstarrten dann im ersten Schreck förmlich zu Salzsäulen.

Dort kam in langen Sprüngen ein riesiger, schwarzer Bär, ein Baribal, dahergerast. Kaum sechzig Meter war er noch entfernt. Und diese sechzig Meter verringerten sich im Nu, so daß, als Jochem nun als erster die halbe Lähmung von sich abschüttelte, er gerade noch die am Boden liegende Büchse hochreißen und hinter die nächste Fichte springen konnte. Von hier aus feuerte er beide Läufe auf die heranjagende Bestie ab, die es offenbar auf Karl Stetter abgesehen hatte, der nun endlich recht kopflos den untersten Aststumpf einer dicken Lärche ergriff, sich hochzog und dann weiter nach oben turnte.

Jochem hatte zum Laden keine Zeit. Der Bär schien ganz unverletzt geblieben, hatte sich um die Schüsse nicht im geringsten gekümmert. Nur den einen Erfolg hatten sie, daß er nun nach links abschwenkte und auf die Fichte zusprang, hinter der Jochem stand.

Der Baribal, kaum noch zehn Schritt ab, sah mit dem schaumtriefenden, halb offenen Rachen so gefährlich aus, daß nun auch Jochem schleunigst auf die nächste leichter zu erkletternde Lärche zulief und mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst nie zugetraut hätte, glücklich die untersten Äste erreichte. Sein Gewehr hatte er weggeworfen. Es konnte ihm nichts nützen. Nun saß er etwa vier Meter über dem steinigen Erdboden und schaute nach dem Freunde aus.

Karl winkte und rief hinüber: „Du, – eine böse Geschichte hab’ ich uns da eingebrockt! Natürlich ist’s die Bärenmutter! Und sie hätte uns übel zugerichtet aus Rache, wenn sie uns erwischt hätte! Das schwarze Vieh ist ja gut zwei Meter lang. – Ob ein Baribal wohl klettern kann, Jochem?“

Dieser brauchte gar nicht zu antworten. Die Antwort gab die Bärin selbst, indem sie nun Jochems Lärche umarmte und langsam, aber stetig am Stamme sich hochzog, wobei ihre langen Krallen große Rindenstücke abrissen.

Der arme Junge kletterte rasch weiter nach oben. Aber der Baribal bewies nun dort, wo die Äste sich abzuzweigen begannen, eine weit größere Geschicklichkeit. Jochem bemerkte zu seinem Entsetzen, daß die blutgierige Bestie, die hin und wieder ein zorniges Brummen hören ließ, ihm schnell näherrückte.

Da gab ihm die Angst einen guten Gedanken ein. Er balanzierte auf einem mittelstarken Ast, der bis in die Krone des Nachbarbaumes hineinreichte, entlang, indem er sich an einem höheren Ast mit emporgereckten Armen festhielt. Auf diese Weise turnte er auch glücklich in den Nachbarbaum, eine mächtige Birke hinüber, glitt hier eiligst am Stamm abwärts und hatte fast schon den Erdboden erreicht, wo er sehr bald seine oder Karls Büchse in der Hand zu haben hoffte, als der Freund ihm warnend zubrüllte – mit aller Stimmenkraft:

„Jochem – Jochem, wieder nach oben! Ein zweiter Baribal!“

Das war noch im letzten Moment gewarnt!

Jochem hatte blitzschnell den Kopf gedreht, sah nun zweierlei: erstens einen noch größeren Baribal als den, dem er bisher entronnen, und zweitens Karl Stetter, der offenbar versucht hatte, ebenfalls den Erdboden zu erreichen und seine Büchse an sich zu nehmen, der nun aber hastig wieder auf seiner Lärche sich höher und höher schwang.

Jochem tat dasselbe. Aber – gerade auf dieser vereinzelt stehenden Birke war es unmöglich, etwa ähnlich wie vorher einen anderen Baum zur Fortsetzung der Flucht zu benutzen.

Die Bärin – daß die zweite Bestie das Männchen der Familie war, unterlag keinem Zweifel! – heulte jetzt auf. Es klang wie ein Signal für den Herrn Petz, sich die Birke als Kletterstange auszuwählen.

Mit Entsetzen sah Jochem, wie der Bär sofort zu ihm nach oben windete und dann wirklich die Birke umfaßte, allmählich höher kam.

Des Jungen einzige Hoffnung war der Freund.

Karl hatte denn auch die Lage alsbald richtig erkannt, rutschte an seiner Lärche abwärts, rief nun Jochem zu:

„Keine Sorge! Ich werde mit den schwarzen Teufeln schon fertig werden!“

Er spannte beide Hähne seiner Büchse (er hatte sie sofort nach der kurzen Jagd auf das Bärenjunge wieder geladen!), schlich unter die Birke und jagte dem kaum sechs Meter über ihm befindlichen Baribal eine Kugel in die rechte Brustseite, wartete dann den Erfolg ab, indem er schnell wieder lud.

Der Bär hatte Halt gemacht, schaute zu dem Angreifer hinab.

Und dann – nie hätte Karl gerade mit einem solchen Angriff gerechnet! – dann ließ der Baribal den Birkenstamm fahren, ließ sich geschickt wie eine Katze auf die Füße fallen, tat einen Satz nach dem Schützen hin und hätte ihn wohl auch zu fassen bekommen, wenn Karl nicht noch im letzten Moment sich zur Seite geschnellt hätte und in seiner Todesangst sofort in langen Sätzen auf eine Felsgruppe zu davongerannt wäre, die etwa fünfzig Meter entfernt am Rande der Lichtung sich erhob und aus einem Gewirr übereinander getürmter Steinblöcke bestand.

Kaum hatte der Flüchtling diese erklettert, als auch schon der Bär, blutigen, hellroten Schaum vor dem Maul, am Fuße der Felsen anlangte. Karl, der vorhin erst den Pfropfen auf der Pulverladung festgestampft und den eisernen Ladestock im Laufe noch hatte stecken lassen, legte an, drückte ab. Er dachte nicht mehr daran, daß der Eisenstock statt der Kugel im rechten Laufe saß.

Donnernd hallte der Knall des Schusses in der Lichtung wider.

Dem Baribal war der eiserne Stock in den Hals gefahren, ragte beiderseits daraus hervor. Zwei Blutstrahlen sprangen aus den Wunden heraus, fast fingerdick. Die Schlagadern mußten also wohl verletzt worden sein.

Der Bär hatte sich niedergesetzt und suchte mit den Vorderpranken den Stock zu entfernen. Er heulte dabei so furchtbar, daß Karl ihm gern sofort den Fangschuß gegeben hätte, wenn er eben nicht an Jochem sich erinnert haben würde. Daher glitt er eiligst auf der anderen Seite von den Felsen herab und lief im Bogen der verhängnisvollen Birke wieder zu.

– – – – – – – –

Plötzlich blieb Karl jedoch stehen. Er hatte einen Mann bemerkt, der von rechts in langen Sätzen aus dem dickichtbewachsenen Tale hervorstürmte. Und dieser Mann war der flüchtige Mörder, der Naskapi-Indianer.

Karl erkannte ihn an der Fellmütze, erkannte aber auch gleichzeitig, daß der rote Jäger ohne seine Waffen wie ein gehetztes Wild dahinjagte.

Jetzt hatte der Indianer den Knaben gesehen, stutzte, kam dann auf ihn zu, riß ihm ohne weiteres die Büchse aus der Hand, schaute nach, ob die Pistons mit Zündhütchen besteckt, das Gewehr also geladen wäre, spannte den Hahn des noch geladenen Laufes und faßte dann ebenso plötzlich nach Karls in einer selbstgenähten Lederscheide steckendem Messer, zog es heraus, nahm es zwischen die Zähne und warf sich dann lang in das spärliche, von Moosstücken durchsetzte Gras hin.

Karl waren diese Diebstähle so unerwartet gekommen, daß er jetzt erst recht begriff, was geschehen. Doch – gegen den Naskapi sich irgendwie zu wehren, hätte er kaum gewagt. Ihn beherrschte auch nur ein Gedanke: der an Jochems gefährliche Lage! Deshalb rief er nun auch dem Indianer zu, der scharf nach dem Tale hinüberspähte und auf ihn gar nicht achtete:

„He, Mistasimo, – mein Freund Jochem sitzt dort auf jener Birke und wird von einem Bären hart bedrängt –“ – Zum Glück beherrschte er das Englische genügend, um sich dem Indianer verständlich machen zu können.

Der junge Naskapi erwiderte nichts, deutete nur mit der Rechten nach dem Tale hin.

Dort waren soeben zwei gelbliche, große Hunde aufgetaucht, die mit den Nasen dicht über dem Boden auf die beiden zujagten.

Ein Knall. Einer der Hunde heulte auf, taumelte, sank zu Boden. Der zweite aber raste weiter – nur noch wenige Schritte. Mistasimo hatte ein paar Sätze vorwärts getan, hatte den Schweißhund bei der Kehle gepackt, stieß ihm nun das Messer mehrmals in die Brust und schleuderte das verendende Tier von sich.

Dann wandte er sich Karl zu.

„Kleiner Jäger, wo Ladestock von Büchse?“ fragte er schnell.

Karl wies auf die Felsgruppe, wo der jetzt in den letzten Zuckungen daliegende Baribal zwischen dem Gestrüpp gut zu erkennen war.

Der Indianer lief hin, zog den Ladestock aus dem Halse des Bären, verlangte von Karl dann Pulver, Kugeln und Zündhütchen, lud sehr schnell beide Läufe, wobei er mit langen Schritten der Birke zustrebte.

Hier hatte die Bärin bisher vergebliche Anstrengungen gemacht, ebenfalls auf einem Ast nach der Birke hinüber zu gelangen. Sie war aber so schwer, daß die Lärchenäste sich unter ihrem Gewicht allzu sehr abwärtsbogen.

Der Naskapi zielte sorgfältig. Auf den Schuß hin blieb die Bärin gut zehn Sekunden regungslos, schwankte nun hin und her und fiel dann mit dumpfem Krach auf den steinigen Boden hinab, wo sie sich kaum mehr regte.

Mistasimo winkte Jochem zu, rief: „Soldaten bald hier sein werden. Kleine Jäger mit mir kommen, sonst von Soldaten nach Fort Marconnay gebracht werden. Mistasimo kein Mörder ist. Nachher alles erzählen –“

Als Jochem nun neben den beiden stand, sagte Karl, indem er dem Naskapi die Hand hinstreckte:

„Gut, wir wollen Dir folgen. Du wirst nicht durch Hinterlist denen danken, die Dir gestern abend mit Munition aushalfen.“

Mistasimo ergriff die ihm dargebotene Hand, drückte sie leicht gegen seine Brust und erwiderte ernst und stolz:

„Mistasimo Hinterlist nicht kennt. Die kleinen Jäger werden den Häuptling der freien Naskapi bald verstehen.“ –

Gleich darauf wandten die drei sich durch den Wald nach Westen zu. Der Naskapi schritt voran. Zu Karls und Jochems Erstaunen suchte er jedoch stets solche Stellen als Weg aus, wo Gras wuchs, so daß eine recht deutliche Fährte zurückblieb.

Als Jochem den Indianer nach einer guten halben Stunde fragte, weshalb er sich so gar keine Mühe gäbe, Spuren zu vermeiden, erwiderte Mistasimo: „Die kleinen Jäger haben richtig beobachtet. Die Soldaten sollen hinter uns her, bis der Abend kommt. Dann wird Mistasimo sich seine Waffen von ihnen holen.“

Der Marsch ging immer nach Westen. So weit wie jetzt hatten die Freunde sich noch nie von der Küste entfernt. Sie lernten nun auch den Landschaftscharakter dieses Teiles der riesigen Halbinsel Labrador, deren Flächenraum nicht viel geringer als der Deutschlands ist, genauer kennen. –

Der Naskapi bog erst gegen Abend von der bisherigen Richtung nach Norden ab und führte seine meist stumm ihm folgenden Begleiter in eine jener kahlen Felsebenen, auf denen nur Moose, Flechten und hin und wieder Zwergbirken und Weiden gedeihen und die unter dem Namen Barren Grounds („unfruchtbare Böden“) eine traurige Berühmtheit genießen.

Hier änderte er sein Verhalten völlig, suchte stets kahles Gestein zur Fortsetzung des Marsches aus und ermahnte die beiden Knaben, ja kein Steinchen zu zertreten. – Nach einer Stunde, kurz vor Dunkelwerden, erreichten die drei ein nach Westen zu abfallendes Tal, das von zwei Bergketten umrahmt war. Es ging zunächst sehr steil am Ufer eines Wildbaches abwärts. Dann zeigte sich der erste lebhaftere Pflanzenwuchs: Rhododensträucher, Heidel- und Preißelbeeren[2], Zitterpappeln, Lärchen und bald auch ein Waldstück von Schwarzfichten dicht am Ufer eines kleinen Sees.

Am Nordufer dieses erhob sich ein einzelner, würfelförmiger, mächtiger Felsen von gut zwölf Meter Höhe. Daneben wuchsen zwei Balsamtannen, so benannt, weil sie ein sehr wohlriechendes Harz liefern.

Mistasimo deutete hier in die Höhe.

„Die kleinen Jäger mögen mir folgen,“ sagte er kurz.

Es zeigte sich, daß in die beiden dicht zusammenstehenden Stämme Holzpflöcke so eingekeilt waren, daß man mit ihrer Hilfe bequem bis zu einem starken Ast gelangen konnte, der bis über die Kuppe des steilen Würfels hinausragte und den der Indianer dazu benutzte, sich auf den Felsen zu schwingen, wo es eine grottenartige Vertiefung gab, die offenbar des öfteren schon als Wohnung gedient hatte.

Der Naskapi kletterte dann nochmals zum Seeufer hinab, blieb eine halbe Stunde aus und kehrte mit zwei frisch geschossenen Wildgänsen zurück, erklärte den Freunden, sie sollten jetzt hier auf ihn warten, er wolle nur seine Waffen den drei Soldaten wieder abnehmen.

Gewehr und Messer hatte er Karl bereits auf dem Hermarsch zurückgegeben, verlangte sie auch jetzt nicht zurück, sondern verschwand ohne jede Waffe in der längst eingetretenen Dunkelheit.

Die Freunde machten es sich nun in der Grotte bequem. Diese enthielt außer einem Lager aus weich gegerbten Wolfsfellen noch einen Herd aus Steinen, ferner einen eisernen Kochtopf, ein paar Stücke Steinsalz und in einem Winkel einen Vorrat Kartoffeln.

Karl hatte auf der Plattform des Felsens bald eine tüchtige Menge Brennholz gesammelt und auch schnell ein Feuer im Herde angefacht. Die trockenen Tannenzweige brannten knisternd mit heller Flamme und verbreiteten recht weihnachtliche Gerüche.

Inzwischen war auch Jochem mit dem Rupfen und Ausnehmen der einen Wildgans fertig geworden. Sie wurde an einem Ladestock als Spieß gebraten. Ebenso mußte die heiße Herdasche einige Dutzend Kartoffeln gar dünsten.

Als die Freunde noch mit bestem Appetit bei der Abendmahlzeit waren, ging ein heftiges Gewitter nieder, dessen Donnerschläge in dem Tal mit schreckenerregender Kraft widerhallten. Die aufflammenden Blitze, Hagelschauer und kurze Regengüsse wechselten wohl eine Stunde lang ab und brachten unseren beiden jungen Jägern so recht zum Bewußtsein, wie wohlgeborgen sie hier in der Grotte waren.

Da – gerade einer der letzten Blitze war’s, der eine der beiden Balsamtannen traf, die nun sofort als Riesenfackel hochlohte und im Nu auch ihre Nachbarin mit in Brand steckte.

Von dem furchtbaren Donner, der dieser verderblichen elektrischen Entladung folgte, waren die Freunde so betäubt, daß erst der Feuerschein der brennenden Bäume sie aus der Grotte herauslockte.

Beide hatten sofort denselben Gedanken: wie sollte man nun von dem Felsen wieder hinunter, nachdem diese natürliche Leiter vernichtet war? –

– – – – – – – –

Jochems ganze Sorge war die eine Frage, auf welche Weise man nun von dem mächtigen Felsblock herabgelangen würde. Der weit leichter veranlagte Karl meinte: „Kommt Zeit, kommt Rat! – Mistasimo wird schon Mittel und Wege finden, die Baumleiter zu ergänzen. Er muß ja spätestens, schätze ich, gegen Mittag wieder zurück sein. Weit unangenehmer ist es, daß Dein Vater um uns sehr in Angst sein wird. Ich fürchte, diesmal wird er gehörig wettern! Wenn wir wenigstens noch die Pelze der Bären mitbringen würden! Dann könnten wir ihn mit dem Hinweis darauf beruhigen, daß wir doch ein paar hundert Mark verdient hätten. Aber so!“

Jochem nickte. „Vater wird sich sehr ängstigen. Vielleicht setzt’s für uns auch was mit dem Tauende –“

Nach einer Weile gähnten beide wie auf Kommando. Jetzt erst merkten sie, wie müde sie waren. Auf den weichen Wolfsfellen schlief es sich dann auch wirklich wie in Abrahams Schoß.

Karl erwachte als erster. Er merkte sofort, daß es in der Grotte auffallend kühl war. Ganz leise erhob er sich, spähte hinaus auf die Plattform des Felsens, weiterhin in das langgestreckte Tal. Er traute seinen Augen nicht, glaubte erst, noch zu träumen. Aber – es war Wirklichkeit: es hatte über Nacht geschneit! Und fast eine Handhoch lag die weite, gleichmäßige Decke über Erde, Sträuchern und Bäumen.

Daher auch diese kalte, klare Luft, daher auch von den beiden Balsamtannen noch zwei hohe, schwarze Stümpfe, die der herabrieselnde Schnee vor dem völligen Verkohlen geschützt hatte. –

„Schade,“ meinte Jochem, „schade! Dieser Augustschnee sah so hübsch aus! – Ein seltsames Land, dieses Labrador. Die Heidelbeeren sind reif, und – es schneit!“

Dann besichtigte er die Stümpfe der niedergebrannten Bäume, erklärte: „Die Pflöcke wären noch zu benutzen. Aber – vier Meter sind’s bis dorthin! Man müßte gerade den Sprung mit Anlauf wagen und versuchen, ob man den einen Stamm umklammern kann. Die Geschichte ist aber etwas gefährlich.“

Da kam Karl ein guter Gedanke. „Jochem, wir haben ja die Wolfsfelle! Wir können sie in dünne Riemen schneiden und einen Lasso daraus flechten,“ sagte er sehr zuversichtlich. „Wenn der Naskapi bis Mittag nicht wieder hier ist, machen wir uns allein auf den Heimweg.“

Mistasimo blieb aus. Jochems Nickeluhr zeigte gerade zwei, als die Freunde an dem festen Lasso, zu dem sie sieben Felle gebraucht, hinabkletterten. Nachdem sie das Tal verlassen hatten, schwenkten sie nach Südosten ab. Ihrer Berechnung nach mußten sie auf diese Weise bestimmt an die Meeresküste gelangen.

Zum zweiten Male passierten sie nun die schaurig öde Steinwildnis der Barren Grounds. Gegen vier Uhr nachmittags verschwand die Sonne. Es wurde recht kühl, und dickes, schwarzes Gewölk im Norden drohte vielleicht mit neuem Schneefall. Noch immer hatten Jochem und Karl die Felswüstenei nicht überwunden. Hastiger schritten sie aus. Bald erkannten sie jedoch, daß sie nicht mehr wußten, ob sie noch die Richtung nach Südost beibehalten hätten. Zögernd nur setzten sie ihren Marsch fort. Keiner von ihnen wollte das aussprechen, was sie jetzt fürchteten: sich zu verirren und zwecklos weiterzuwandern – vielleicht gerade nach Norden zu, immer tiefer hinein in die ödesten Teile der Halbinsel.

Dann machte Jochem halt, als sie eine schmale Waldzunge erreicht hatten, sagte bedrückt: „Wir wollen hier lagern, Karl. Wir finden den richtigen Weg jetzt bei der zunehmenden Dunkelheit doch nicht –“

Karl Stetter war damit sehr einverstanden. Auch er war recht kleinlaut geworden. „Schneiden wir Tannenäste ab, und bauen wir uns eine Hütte,“ meinte er. „Wenn wir sie mit großen Moosstücken belegen, kann uns die Kälte nichts anhaben. Meine Hände sind ganz steif. Es wird wohl wieder schneien.“

Sie machten sich sofort an die Arbeit, trennten sich beim Aussuchen passender Äste und hörten bald voneinander nur das gelegentliche Krachen des brechenden Holzes.

Karl hatte sich tiefer in den Wald hineingewagt, hatte hier einen Windbruch auf einer kleinen Lichtung entdeckt, der das Auswählen des Baumaterials für die Hütte sehr erleichterte, und wollte nun den Freund durch einen Pfiff herbeirufen, als ihm ein brenzliger Geruch in die Nase kam. Da der Wind von der anderen Seite der Waldblöße herüberwehte, schlich Karl, jetzt schon bei fast völliger Dunkelheit, dorthin, merkte, daß der Geruch stärker wurde und dachte sofort an ein Lagerfeuer, über dem Fleisch gebraten wurde. Er kehrte um, holte Jochem herbei und nun suchten sich beide möglichst geräuschlos an das Feuer anzupirschen, das tatsächlich in einer engen Schlucht jenseits der Lichtung brannte. Die rötlichen Flammen waren ganz deutlich durch das in der Schlucht wuchernde Gestrüpp hindurch zu erkennen. Wer dort lagerte, ließ sich jedoch nicht feststellen, wenigstens nicht vom Rande der Schlucht aus.

Karl als der unternehmungslustigere wollte jetzt allein in die Schlucht hinabkriechen, während Jochem ihm den Rücken decken sollte. Obwohl sie nämlich überzeugt waren, ganz harmlose Leute vor sich zu haben, gaben sie diesem Erlebnis doch einen recht gefährlichen Anstrich. Sie hatten sich jetzt schon so vollständig in die Rolle von Lederstrumpf-Trappern eingelebt, daß sie absichtlich so taten, als witterten sie überall Gefahren.

Karl verschwand langsam in dem Gestrüpp. Ganz nach Indianerart schob er sich vorwärts, schnitt ihm hinderliche Ranken und Zweige weg und tastete den Boden vor sich erst sorgfältig ab, ehe er sich weiter wagte. Daher dauerte es auch eine gute Viertelstunde, bis er endlich hinter einigen Strauchkiefern angelangt war, von wo aus er das Feuer bequem überblicken konnte. Es brannte in einer Art natürlicher Laube. Zwei Männer saßen dort auf Moospolstern. Ein dritter lag lang ausgestreckt.

Der Knabe erkannte die drei sogleich wieder: es waren die Soldaten aus Fort Marconnay.

Sie wechselten nur in langen Pausen einige Worte. Ihre Hauptaufmerksamkeit galt einer Hirschkeule, die der Liegende am Spieße über dem Feuer drehte, wobei er den Fleischsaft mit einem großen Blechlöffel auffing und wieder über das brotzelnde Wildpret goß.

Plötzlich hörte Karl deutlich den Namen Mistasimo. Er lauschte angestrengt. Es war der Anführer der Patrouille gewesen, der den Naskapi erwähnt hatte.

Jetzt erwiderte der, der lang am Feuer lag: „Es ist ein Mörder. Mag er hungern –“

„Nein,“ erklärte der Anführer kurz. „Er bekommt sein Teil ab. Ob er den Handelsagenten wirklich in räuberischer Absicht erschossen hat, ist auch noch sehr zweifelhaft – sehr! Mistasimos Ruf ist der allerbeste, wenn er auch der Häuptling jener Bande Naskapis ist, die uns Engländer noch immer nicht als Herren des Landes anerkannt haben. – Ist der Braten fertig, Boswell?“

„Ja. Wir können essen.“

„Dann hole den Naskapi her, Bourke. Vorwärts! Hier habe ich zu befehlen.“

Der neben dem Führer Sitzende stand unwillig auf, ging in den Hintergrund der natürlichen Laube und hob aus dem Grase – den gefesselten Indianer auf.

In demselben Augenblick schob sich Jochem lautlos neben den Freund, raunte ihm zu: „Du bliebst so sehr lange aus. Deshalb schlich ich hinter Dir her. – Wahrhaftig: sie haben Mistasimo wieder gefangen genommen –“

Der Soldat schleppte den Naskapi an das Feuer. Dann machte er ihm den rechten Arm frei, während er ihm gleichzeitig drohte: „Du weißt Bescheid, roter Halunke! Sobald Du auch nur eine verdächtige Bewegung machst, erhältst Du eine Revolverkugel!“

Der junge Häuptling schwieg. Er saß jetzt so, daß er den kaum fünf Schritt entfernten Freunden den Rücken zukehrte.

Dann begannen die Soldaten zu essen. Der Naskapi erhielt lange Streifen des Fleisches zugerichtet, die er gemächlich verzehrte.

Karl und Jochem tauschten nun, stets die Sätze sich ins Ohr flüsternd, allerlei Bemerkungen aus. Karl hätte Mistasimo zu gern befreit, wußte nur nicht, wie er dies anstellen sollte. Dann verschwand er plötzlich tiefer in den Strauchkiefern. Jochem ahnte, daß der Freund etwas Besonderes vorhatte. Nach einigen Minuten war Karl wieder neben ihm. Er hatte von einem vertrockneten Tannenstämmchen die Äste abgeschnitten und oben mit einem Riemen lose sein Messer angebunden. Diese lange Stange schob er nun vorsichtig auf den Naskapi dicht über dem Boden zu, lenkte sie so geschickt, daß er wirklich des Indianers linke Hand, die auf den Rücken festgebunden war, berührte.

Mistasimo zuckte nicht im geringsten zusammen. Karl sah, daß er mit den Fingern das Heft des Messers erfaßte, daß er es an sich nahm.

Was würde nun werden?! – Die Freunde waren außerordentlich gespannt darauf, wie der Indianer den Besitz des Messers zu seinem Vorteil ausnutzen würde.

Sie brauchten nicht lange zu warten.

Der Naskapi hob, gewandt wie ein Taschenspieler, beim Essen ganz unauffällig ein Steinchen auf und schleuderte es nach vorn in das Gebüsch.

Das Rascheln des kleinen Steines lenkte die Aufmerksamkeit der Soldaten sofort auf jene Stelle. Der Anführer meinte: „Vielleicht eine Klapperschlange. Das verdammte Gewürm bevorzugt ja solche Schluchten wie diese besonders.“

Da ein zweites Steinchen – ein neues Rascheln.

Die drei wurden unruhig. Für ein paar Sekunden war Mistasimo unbeobachtet. Und blitzschnell hatte er die beiden Riemen durchschnitten, die ihm um den Leib geschlungen waren und die seinen linken Arm festhielten.

Der Soldat Bourke schleuderte jetzt ein brennendes Aststück in das Gestrüpp. Ein paar trockene Gräser flammten knisternd auf.

Als sich nun dort nichts mehr regte, lachte Bourke:

„Ja – so ein glimmendes Scheit hilft immer. – Ich denke da an eine Geschichte, die –“

Er kam nicht weiter. Mistasimo hatte inzwischen auch seine Fußfesselung durchschnitten, sprang wie ein Blitz auf, riß Boswell den Revolver aus der Hand, legte auf ihn an, rief:

„Hände hoch, Ihr drei! Ihr kennt mich. Ich drücke ab, wenn Ihr nicht –“

Die Soldaten gehorchten. Nur Boswell hatte seine Waffe bereit gehabt.

„Legt Euch dort einer über den anderen lang hin,“ befahl der Naskapi weiter. „Ich will nichts als meine Waffen wieder haben. Ich bin kein Mörder. Der weiße Agent war’s, der mir einen Beutel mit Goldkörnern rauben wollte, der mich hinterrücks zu erschießen suchte –“

Die drei gehorchten abermals. Mistasimos Büchse, Pulverhorn, Ledertasche und sonstiges Eigentum lagen unweit des Feuers.

Immer auf die Daliegenden zielend, nahm er ein Stück nach dem anderen auf, schließlich auch die drei Gewehre der Soldaten.

Inzwischen hatte Karl dem Freunde einen leisen Puff versetzt und war davongeschlichen. Jochem folgte. Als sie oben am Schluchtrande waren, hörten sie des Naskapis Stimme abermals. „Ich lege Eure Gewehre dort oben am Fuße der großen Birke nieder. Holt sie Euch nachher.“

Die von ihm genannte Birke stand an der anderen Seite der Schlucht. Jochem und Karl eilten nun sogleich dorthin, um hier mit Mistasimo zusammenzutreffen.

Dieser warnte die drei jetzt: „Bleibt noch regungslos liegen! Ich beobachte Euch. Wer sich bewegt, der lernt mich als Revolverschützen kennen!“

Gleich darauf tauchte er vor der Birke auf. Es war hier so dunkel, daß er von den Gestalten der Knaben wohl kaum die Umrisse sehen konnte. Trotzdem mußte er sich zusammengereimt haben, wer ihn gerettet hatte, denn er flüsterte nun:

„Die kleinen Jäger kamen zur rechten Zeit, Mistasimo wird dankbar sein. – Folgt mir –“

Er warf die drei Gewehre in das Moos und schritt schnell der nahen Lichtung zu. Es begann jetzt leicht zu schneien. Als der Indianer und seine weißen Gefährten die Wildnis der Barren Grounds betraten, pfiff ihnen ein starker Wind um die Ohren. Der Schneefall wurde zum Schneetreiben. Ringsum nichts als wirbelnde Flocken. Trotz dieser völlig undurchsichtigen Schneeschleier strebte der Naskapi, ohne je auch nur eine Sekunde zu zögern, offenbar einem bestimmten Ziele zu.

– – – – – – – –

Nach einer Stunde betraten die drei einen dichten Wald. Am Ufer eines eilig und geräuschvoll dahinschießenden Baches ging es abermals eine halbe Stunde weiter. Dann machte der Naskapi einen Umweg um große Stromschnellen, die von einem Flusse gebildet wurden, in den der Bach sich ergoß. Und nun waren sie am Ufer eines Sees angelangt. Hier holte der Häuptling aus einem Brombeergebüsch ein kleines, muldenförmiges Rindenboot hervor, in dem zwei kurze Ruder lagen.

Im furchtbarsten Schneegestöber trieb Mistasimo den Nachen über die plätschernden Wogen hin. Karl und Jochem merkten jetzt erst, wie verklammt ihre Hände waren. Der eisige Wind, die Schneekristalle, die auf ihren Gesichtern und Händen schmolzen, machten die Haut völlig gefühllos.

Nun schien die andere Seite des Sees erreicht. Der Indianer lenkte in eine enge Bucht ein, sprang dann an Land und sagte zu den Freunden: „Wir sind an Ort und Stelle. Die kleinen Jäger werden zufrieden sein.“

Karl und Jochem stiegen aus, halfen dem Naskapi das Boot verbergen, schritten dann wieder hinter ihm her bis zu einem Dickicht, in das ein schmaler, vielfach gewundener Pfad hineinführte. Mitten in diesem Riesengestrüpp stand ein kleines Blockbaus.

Der junge Häuptling hatte sehr bald auf dem Herde ein Feuer angezündet. Der Rauch zog oben durch eine Öffnung ab. – Jochem und Karl rieben sich die erstarrten Hände am Feuer. Aber der Naskapi schickte sie wieder vor die Tür. „Die kleinen Jäger müssen sich die Hände mit Schnee reiben,“ meinte er. „Sonst werden die Finger dick und die Haut springt auf. Der Wind in Labrador ist wie tausend Messer.“

In der Blockhütte, die aus einem einzigen Raum bestand, war’s in kurzem behaglich warm. Die Einrichtung hier war ähnlich der der Grotte in jenem Tale jenseits der Barren Grounds, nur daß es hier noch einen roh zusammengeschlagenen Tisch und zwei ebenso primitive Bänke gab.

Die Knaben setzten sich jetzt und ließen ihre nassen Anzüge durch die Wärme des nahen Feuers trocknen, beobachteten dabei den Indianer, der an einer Stelle das den Boden bedeckende Moos beiseite scharrte und so eine Falltür aus Balken freilegte. Er öffnete sie und sprang in einen Kellerraum hinab, reichte dann Karl einen Kessel, eine verschlossene Büchse, einen geräucherten Schinken und einen Weidenkorb voll Kartoffeln zu.

Nachher erklärte er den Freunden, es sei Bärenschinken. – Die Blechbüchse enthielt gebrannte Kaffeebohnen, die der Naskapi zwischen Steinen zerrieb.

Es wurde dann eine sehr behagliche Mahlzeit für die drei, gewürzt durch den Austausch der gegenseitigen Erlebnisse. – Mistasimo erzählte mit knappen Worten, wie er den Soldaten in die Hände geraten sei. Diese hatten sich durch seine List, eine recht deutliche Fährte zurückgelassen, um die Verfolger bis an einen bestimmten Punkt hinzulocken, doch nicht täuschen lassen und waren mitten auf dem Wege an einer Stelle, wo sie ringsum das Gelände übersehen konnten, zurückgeblieben, indem sie mit Recht annahmen, der Naskapi würde versuchen, in weitem Bogen hinter sie zu kommen und seine Waffen ihnen wieder abzunehmen. Kurz nach Tagesanbruch war Mistasimo auf der alten Fährte dahergekommen und dann von den dreien förmlich eingekreist worden. Er mußte sich ergeben, wenn er sich nicht niederschießen lassen wollte. – Als er seine Überrumpelung schilderte, sagte er ehrlich: „Die Soldaten aus Fort Marconnay sind klüger als Mistasimo gewesen. Mistasimos Fehler bestand darin, daß er mit ihrer Unerfahrenheit zu bestimmt rechnete.“

Später erklärte er dann, dieses Blockhaus sei eine von den vielen Jagdhütten, die er sich weit verstreut angelegt habe. Er deutete auch an, daß er am liebsten allein jage.

Zu ihrem Erstaunen vernahmen die Freunde jetzt erst, daß die Blockhütte auf einer kleinen Insel und nicht etwa am Seeufer sich befinde. – Auf ihre Frage, ob Mistasimo sie morgen zurück nach dem Fjord geleiten würde, wo der Schoner lag, meinte der junge Häuptling, er gedenke recht früh dorthin aufzubrechen: die kleinen Jäger sollten daher auch bald ihre Lagerstätten aufsuchen.

Karl und Jochem schliefen sofort ein. Sie waren so erschöpft, daß sie nicht einmal von dem Toben des Unwetters etwas merkten, das gegen Morgen, begleitet von heftigen Gewittern, auch auf der Insel verschiedene Bäume entwurzelte.

Mistasimo war verschiedentlich von seinem Fellbett aufgestanden und ins Freie gegangen. Er als Einheimischer erkannte, daß der starke Schneefall die Bäche und Flüsse infolge der am Tage wieder zu erwartenden Schneeschmelze so anschwellen lassen mußte, daß ein Passieren unmöglich sein würde.

So kam’s, daß die Freunde bis gegen Mittag durchschlafen durften. Sie erwachten von selbst. Die Tür der Blockhütte war weit geöffnet. Draußen lagerte klarer Sonnenschein über Insel und See. Als sie vor die Tür traten, gewahrten sie Mistasimo, der am Boden kniete und einen riesigen, über ein Meter langen Lachs ausnahm, den er soeben mit der Angel gefangen hatte.

Labrador ist genau so ein Land der Seen wie etwa Mittelkanada und Finnland. Die seenartigen, meist sehr flachen Wasseransammlungen bedecken ein volles Viertel der Bodenfläche der Halbinsel, sind außerordentlich fischreich und enthalten unter anderem eine Art Krebs, der dem Hummer an Größe nicht viel nachsteht.

Als der Häuptling den beiden Schiffsjungen der „Lene Pahlsen“ erklärte, weshalb zunächst an einen Marsch nach der Küste nicht zu denken sei, machten sie erst sehr erschrockene Gesichter, nahmen das Unabänderliche dann aber ruhiger hin, da der Naskapi meinte, man würde den Schoner in dem Fjorde schon noch vorfinden und Jochems Vater würde auch nicht allzu streng mit ihnen umgehen, wenn sie ihm dies hier (er hielt dabei einen Lederbeutel in die Höhe) mitbrächten.

„Der Beutel enthält mehr Goldkörner, als die Fischladung Eures Schiffes wert ist,“ sagte der Häuptling freundlich ihnen zunickend. „Ich habe Euch meine Befreiung zu danken, und Ihr sollt erkennen, daß ein Labrador-Indianer eine gute Tat zu belohnen weiß.“ –

Am fünften Tage nach diesem Gespräch finden wir die drei nachmittags am Ufer jenes Fjordes wieder. Aber – der Schoner war nicht mehr da. Nur in der verlassenen Reisighütte lag unter einem Stein ein Zettel von Fischer Pahlsens Hand des Inhalts, daß die Knaben, falls sie noch am Leben wären, versuchen sollten, mit einem anderen Fischereifahrzeug nach Europa heimzukehren.

Die schweren Stürme der letzten Tage und die ersten Anzeichen des nahenden Winters hatten jedoch sämtliche Schiffe aus den Fjorden vertrieben. Unter diesen Umständen nahmen Karl und Jochem den Vorschlag Mistasimos, bis zum Sommer mit ihm gemeinsam Pelztiere zu jagen und so einen großen Vorrat von Fellen sich zu erwerben, nach einigend Zögern an, zumal der Naskapi ihnen versprach, dafür zu sorgen, daß sie den Ihrigen einen Brief mit den nötigen Aufklärungen zusenden könnten.

Nachdem so die Entscheidung über ihre nächste Zukunft gefallen war, machten sich die drei Gefährten auf den Rückweg nach der Insel und der Blockhütte, in der Mistasimo den Winter zuzubringen gedachte.

Der Naskapi fertigte dann sofort nach Eintreffen in der Hütte zunächst für Karl und Jochem Lederanzüge und für den Winter auch die nötige Pelzbekleidung an. Gleichzeitig mußten die Knaben ihm aber auch beim Aufstellen der Fallen für Biber, Fischottern, Fischmarder und kleineres Raubwild helfen. Ebenso lernten sie die verschiedenen Arten des Fischfanges mit Angel, Fischspeer und aus Weidenruten geflochtenen Reusen kennen. Die Tage vergingen so förmlich im Fluge. Als die Lederanzüge, die der junge Häuptling reich verziert hatte, vollendet waren, kamen die Pelzanzüge an die Reihe. Dann erst konnten die drei – mittlerweile war der September längst angebrochen und die zeitweiligen Schneefälle mehrten sich sehr – daran denken, nach der nächsten größeren Ansiedlung im Süden sich zu begeben, wo die Knaben den Brief an ihre Eltern schreiben sollten.

Diese Niederlassung lag am Schilton-Fluß. Eine volle Woche gebrauchten die Gefährten, bevor sie dort anlangten. Mistasimo blieb in den Wäldern zurück. Er fürchtete, ergriffen zu werden, wenn er sich in dem Orte zeigte.

Karl und Jochem fanden auch den Kramladen, den der Häuptling ihnen bezeichnet hatte, schrieben ihre Briefe, kauften noch verschiedenes, besonders Pulver, Blei, Zündhütchen und Kaffee ein und erklärten dem neugierigen Ladeninhaber, sie gehörten zu einer Jagdgesellschaft, die nördlich am Klast-Maker-See überwintern wolle.

In dem Verkaufsraum, der gleichzeitig Kneipe war, saßen auch mehrere Soldaten des in der Niederlassung stationierten Militärpostens. Als Karl nun die Einkäufe mit Goldkörnern bezahlte, erhob sich einer der Soldaten, trat neben die beiden Jungen und begann ein förmliches Verhör mit ihnen.

Karl merkte sofort, daß es irgendwie bekannt geworden sein müßte, sie hätten sich dem angeblichen Mörder Mistasimo angeschlossen. Er war daher bei den Antworten sehr vorsichtig, konnte es aber doch nicht verhindern, daß der Soldat – es war ein Unteroffizier und der Führer dieses Militärpostens hier, immer argwöhnischer wurde und schließlich erklärte, sie sollten ihm nur die Wahrheit sagen; sie wären doch jene Burschen, die es dem Naskapi erleichtert hätten, die Schweißhunde zu töten und seinen Verfolgern zu entgehen.

Karl leugnete. Er allein hätte sich auch wohl aus dieser Patsche herausgewunden. Aber Jochem, der leicht verlegen wurde und nicht so schnell begriffen hatte, worauf es ankam, verdarb dann durch eine einzige ungeschickte Antwort alles und war schuld daran, daß man die Jungen für verhaftet erklärte und nach der Arrestzelle des Wohnhauses des Militärpostens brachte. Sie wurden gut behandelt, mußten dann aber noch am selben Tage alles weitere Leugnen aufgeben, weil der Unteroffizier inzwischen in dem Orte einen Mann gefunden hatte, der ihre an ihre Eltern daheim gerichteten deutschen Briefe ins Englische übersetzt hatte.

So wurden sie überführt, die Jagdgefährten des noch immer eifrig gesuchten angeblichen Mörders zu sein. Der Unteroffizier erklärte ihnen nun, er würden sie freilassen und für ihre Heimbeförderung sorgen, wenn sie ihm den Indianer in die Hände spielen wollten. Sie lehnten empört ab, worauf der Soldat zu ihrem Erstaunen meinte:

„Ich habe nichts anderes als diese Antwort von Euch erwartet. Ihr seid wackere Boys. Trotzdem müßt Ihr aber leider eingesperrt bleiben, bis meine Vorgesetzten bestimmt haben, was mit Euch geschehen soll. Vielleicht gelingt es mir, Mistasimo, der ja sicher hier in der Nähe im Walde lagert, auch ohne Eure Mitwirkung zu ergreifen.“

Dieses Gespräch fand am Abend statt. – Die Knaben erhielten noch ein gutes Abendessen, dann nahm ein Soldat ihnen die Lampe weg und befahl ihnen, schlafen zu gehen. Die starke Tür wurde verschlossen, und Karl und Jochem waren mit ihren trüben Gedanken allein.

Das war ein schlechter Abschluß ihrer Labrador-Erlebnisse. Eingesperrt! Und dann würde man sie wohl zwangsweise heimsenden! Dann würde Vater Pahlsen mit seinem Jochem wohl ein sehr ernstes Wort reden!

Karl lag da und grübelte. Er hatte sich noch bei Tageslicht die Zelle sehr genau angesehen. Das Haus war aus luftgetrockneten Lehmziegeln mit Bretterverschalung errichtet. Alle Waffen hatte man den Knaben natürlich abgenommen.

Karl grübelte und grübelte, kramte sozusagen im Schatze seiner Erinnerungen herum, dachte an ein Buch, in dem die Flucht eines Gefangenen geschildert war, der mit Hilfe eines von seinem Bett abgebrochenen Eisenstabes sich die Freiheit wieder verschafft hatte.

Plötzlich richtete der Junge sich auf, warf die wollenen Decken von sich und stellte sich am Kopfende des Bettes auf das Kopfpolster. So konnte er mit den Fingerspitzen den Rand der Lüftungsklappe erreichen, die nach außen führte und die innen mit einem durchlöcherten Blech benagelt war.

Nachdem er Jochem flüsternd von seinen Absichten verständigt hatte, bauten sie nun gemeinsam ganz geräuschlos unter der Klappe aus dem Tischchen und dem Schemel ein Gestell auf, das hoch genug war, um Karl bequem an das Blech heranreichen zu lassen.

Von dem zweiten Schemel konnte das eine Bein unschwer herausgenommen werden. Es diente Karl als Brechstange zum Loswuchten eines der Stäbe der eisernen Feldbetten.

Und – es gelang. Er hatte nun ein eisernes Werkzeug in der Hand, mit dem er dem Blechbeschlag zu Leibe gehen konnte, dessen Nägel sich nicht allzu schwer herausziehen ließen.

Die Luftklappe war so eng, daß es eben nur schlanken Knaben möglich war, sich hindurchzuzwängen. – Karl tat’s als erster, sprang in den Hof hinab. Die Nacht war dunkel und stürmisch. Auch Jochem landete glücklich im Freien. Dann ging’s sofort zur Ortschaft hinaus und den Wäldern zu. Es war gegen zwei Uhr morgens, als die Freunde nach einigem Umherirren den Bach fanden, an dessen rechtem Ufer der Häuptling die Rückkehr seiner weißen Freunde hatte erwarten wollen.

Karl hatte auch bald das Gestrüpp entdeckt, in dem Mistasimo hatte lagern wollen. Es war durch drei in einer Linie dicht davor stehende Birken gekennzeichnet.

Aber – der Naskapi war nicht dort. Nur die Asche des erloschenen Feuers war noch heiß und bewies, daß der Häuptling vor nicht langer Zeit noch hier gewesen sein müßte.

– – – – – – – –

Karl tröstete sich und Jochem mit der Annahme, der Naskapi wäre vielleicht nur nach der Ansiedlung geschlichen, um nach ihrem Verbleib zu forschen. Daß er etwa von den Soldaten erwischt worden sein sollte, konnten sie nicht recht glauben.

Sie lagerten sich daher an diesem versteckten Platze gleichfalls, suchten in dem Gestrüpp nach den dort von ihnen verborgenen Bündeln, die ihre Pelzbekleidung und wollene Decken enthielten, zündeten ein kleines Feuer an und fühlten sich nun ganz geborgen. Nur der Verlust ihrer Waffen schmerzte sie sehr, besonders der jener kleinen Wurfbeile, die Mistasimo ihnen geschenkt und in deren Gebrauch er sie als eifriger Lehrer mit gutem Erfolg unterrichtet hatte.

Die Stunden gingen hin. Und mit jeder weiteren Stunde wurden die Freunde immer besorgter um das Schicksal des Häuptlings, an dem sie nun bereits mit aufrichtiger Bewunderung und Treue hingen.

Dann, es war kurz vor Tagesanbruch, hörten sie in der Ferne zwei Schüsse; nach einer Weile wieder Hundegebell und abermals Schüsse.

Sie sprangen auf. – „Kein Zweifel: Mistasimo wird verfolgt,“ flüsterte Karl. „Was tun wir? – Jedenfalls laß uns die Bündel schnell packen, damit wir zur Flucht bereit sind. Ich werde auch das des Häuptlings zurechtlegen.“

Kaum waren sie damit fertig, als der Naskapi lautlos wie ein Gespenst vor ihnen auftauchte. Er hatte zwei Büchsen umgehängt, seine eigene in der Hand, trat nun das Feuer aus, winkte den Knaben zu, schulterte sein Bündel und eilte ihnen voraus in den Wald. Hier näherte er sich im Bogen wieder dem Bache, stieg in das kalte Wasser bis zum Gürtel hinein und watete, gefolgt von Karl und Jochem, so schnell wie möglich der Strömung entgegen nach Norden. Nach zehn Minuten – inzwischen begann es immer heller zu werden – ergriff er einen tief über den Bach hinwegragenden starken Birkenast und zog sich daran empor. Der dichte Baumbestand erleichterte es den Flüchtlingen, eine gute halbe Stunde von Stamm zu Stamm zu klettern. Dann erst stieg der Naskapi zur Erde hinab, und mit unverminderter Eile ging es immer tiefer in die Wälder hinein. Als die Sonne erschien, befanden die Gefährten sich bereits in einer wildromantischen, zerklüfteten Bergwildnis. Hier suchte Mistasimo nun einen geschützten Winkel zum Lagern aus, warf sein Bündel auf die Erde und erklärte, sie seien nun geborgen.

Bald flackerte ein Feuer hoch, bald hatte der Häuptling auch mit dem Wurfbeil, um den verräterischen Knall der Büchse zu vermeiden, am Ufer eines nahen Sees vier Wildenten erledigt. Während diese am Spieße gebraten wurden, berichtete er, wie er die Überführung der kleinen Jäger nach dem Militärgebäude von fern beobachtet habe und wie es ihm dann gelungen sei, deren Waffen aus dem Hause herauszuholen, wie jedoch ein paar Hunde der Niederlassung ihn gewittert hätten und sehr bald eine wütende Hetze hinter ihm drein begonnen hätte.

Karl und Jochem konnten sich gar nicht genug tun mit Dankesworten. Hatten sie doch nun all ihre Waffen wieder, auch die Wurfbeile mit den verzierten Stielen, auf die sie so stolz waren.

Nach dreistündiger Rast mahnte Mistasimo abermals zum Aufbruch. „Wir wollen vorsichtig sein,“ meinte er. „Wenn ich auch nicht glaube, daß die Verfolger unsere Fährte finden werden, so ist’s doch besser, wir verlassen diese Gegend recht bald.“

Gegen drei Uhr nachmittags erreichten die drei einen neuen Waldgürtel. Etwa einen Tagesmarsch westlich davon lag eine große Faktorei der Hudsonbaikompanie, wie der Naskapi erklärte. Und der Wald vor ihnen sei berühmt als Standquartier zahlreicher Bären, fügte er hinzu. Vielleicht könne man hier noch zu einem wertvollen Pelz gelangen.

Das von Schluchten durchschnittene Waldgebiet bot allerdings den Bären die besten Verstecke und auch reiche Pflanzen- und Tiernahrung. Karl und Jochem begegneten hier zum ersten Mal einer Herde jener kleinen, schwarzen Wildschweine, die, wenn man sie reizt, gegen den Menschen in blinder Wut zum Angriff übergehen und dann sehr gefährlich werden können. Die Indianer nennen sie Paschewai, weil ihre Haut mit Warzen bedeckt ist (Paschewai, Warzenmensch).

Man überschritt gerade eine weite Lichtung, als Mistasimo plötzlich stehen blieb und argwöhnisch eine undeutliche Spur betrachtete, die sich durch das spärliche Gras hinzog.

„Zwei Männer sind hier vor kurzem nach Norden gegangen,“ meinte er. „Sie haben ihre Pferde in der Nähe. Hier sieht man die Abdrücke der Sporenräder in diesem Sandhäufchen.“

Die Fährte lief offenbar geradeaus in den Wald hinein. Der Häuptling schwenkte daher rechts ab, schlich behutsam am Rande der Lichtung weiter und erreichte so nach zehn Minuten die Stelle, wo die beiden Männer wieder den Wald betreten hatten.

Als er hier nun Karl und Jochem zeigte, wie man eine Spur auch auf dem harten Waldboden weiterverfolgen könnte, hörte man nicht allzu fern erst zwei, dann wieder zwei Schüsse, denen ein gellender Hilferuf folgte.

Mistasimo eilte sofort in langen Sprüngen dort hin. Die Knaben konnten mit ihm nicht gleichen Schritt halten, blieben ein Stück zurück und langten erst etwa eine Minute nach dem Häuptling auf der kleinen, felsigen Waldblöße an, welche nun der Schauplatz eines der gefährlichsten Abenteuer mit Bären werden sollte, die der Naskapi je erlebt hatte.

Als er die Lichtung erreicht hatte, bot sich ihm folgendes Bild dar. Etwa zehn Meter vor ihm lag regungslos ein in ein elegantes Jagdkostüm gekleideter Mann am Boden, über dem ein riesiges Baribalmännchen stand, die eine Vorderpranke auf dem Rücken des Jägers, die andere auf seinem Kopf. Schaumiges Blut floß der Bestie aus dem Maule, und das laute Brummen zeigte die Wut des mächtigen Tieres deutlich an.

Ein paar Schritte weiter rechts wieder hing an einer dünnen Birke ein zweiter, ähnlich gekleideter Mann, in dessen Wade sich ein nicht minder kräftiger Baribal verbissen hatte. Dieser Jäger hatte sich offenbar auf die Birke retten wollen.

Ein dritter Bär richtete sich jetzt gerade an der Birke hoch und schnappte nach dem anderen Fuße des sich krampfhaft festhaltenden Mannes, der mit dem Sporn seines Reiterstiefels verzweifelt nach dem Kopf des an ihm verbissenen Baribals stieß.

Mistasimo überlegte auch nicht den Bruchteil einer Sekunde, wem er zuerst zu Hilfe eilen sollte. Im Laufe seine Büchse spannend, feuerte er nun jenem Bären, der den Mann gepackt hatte, von der Seite eine Kugel in das rechte Auge.

Die neben diesem Baribal stehende Bestie, der aus einer Halswunde das Blut hervorspritzte, hatte den neuen Feind jedoch rechtzeitig bemerkt, tat einen Satz auf den Häuptling zu und erhielt dessen zweite Kugel des anderen Büchsenlaufes daher nur als Streifschuß quer über die Stirn, warf den Naskapi zu Boden und suchte ihre Zähne in seinen Hals zu vergraben. Mistasimo hatte schon sein langes Jagdmesser gezogen, stieß es mit der Rechten dem Bären in die Kehle, während er mit der Linken dessen Kopf hochdrückte.

Der Stich bewirkte, daß der Baribal einen Moment etwas zurückwich. Mistasimo sprang auf die Füße, riß den Revolver aus dem Gürtel und feuerte dem Urian[3] drei Kugeln dicht hinter das rechte Ohr.

Dann wandte er sich um, sprang auf den lang daliegenden Mann zu und lenkte die Aufmerksamkeit des diesen bedrohenden Bären durch schrilles Schreien auf sich.

Der Baribal stellte sich sofort aufrecht auf die Hinterbeine, kam langsam auf den Häuptling zu, der nur noch drei Schüsse im Revolver und sein Messer zur Verfügung hatte.

Da – vom Rande der Lichtung gleichzeitig fast zwei Büchsenschüsse. Karl und Jochem hatten sie abgefeuert, hatten auf die Stelle der Rippen unter der rechten Vorderpranke des Baribals gezielt.

Der Bär blieb stehen, heulte auf, wandte den Kopf nach rechts.

Jetzt zeigte Mistasimo, wie kaltblütig, wie erfahren er war. Er tat einen Satz auf die Bestie zu. Sein Messer fuhr ihr zwischen die Rippen, gerade dort, wo das Herz mit getroffen werden mußte.

Der Baribal sank zu Boden, suchte sich wieder aufzurichten, verendete dann sehr bald.

Der Häuptling hob den noch immer regungslos daliegenden Jäger auf. Dieser war bewußtlos. Ein Tatzenhieb gegen die Schläfe hatte ihm nicht nur die Kopfhaut in einem fast handgroßen Stück halb abgerissen, sondern ihm auch die Besinnung geraubt.

Der andere Mann, dessen Bein der Baribal nach dem tödlichen Kopfschuß sofort hatte fahren lassen, war neben seinen vierbeinigen Feind in das Gras gesunken. Er hatte einen blonden, kurzen Vollbart und ein edelgeschnittenes Gesicht. Er war kein anderer, als der englische Resident (höchster Verwaltungsbeamter) des Bezirks Labrador, Lord Porwell.

Mistasimo kannte er von Ansehen sehr gut. Er rief ihn jetzt an: „He, Mistasimo, – lebt der Oberst?“

Der Häuptling nickte, trat auf den Lord zu und sagte ernst: „Du bist es, der mich als Mörder verfolgen läßt. Es ist Deine Pflicht, Verbrecher zu bestrafen. Ich bin kein Mörder –“ Er erzählte kurz, daß der Handelsagent ihn hatte berauben wollen. „Mistasimo lügt nie,“ setzte er hinzu. „Er will mit den Weißen in Frieden leben. Wenn ihm aber weiter von den Soldaten nachgestellt wird, werden die freien Naskapis alle Ansiedlungen zerstören.“

Lord Porwell streckte ihm die Hand hin. „Ich glaube Dir. Du wirst nicht weiter belästigt werden.“

Der Häuptling reinigte dann sofort die Wunden der beiden Engländer, verband sie und erreichte es, daß Lord Porwell und sein Jagdgast nach drei Tagen bereits zu Pferde nach Fort Marconnay zurückkehren konnten. Mistasimo und die Knaben begleiteten die beiden bis zum Fort. Hier schenkte der Lord dem Häuptling seine vorzügliche moderne Repetierbüchse nebst 500 Patronen, während der Oberst ihm seinen Dank durch zwei neue, achtschüssige Selbstladepistolen abstattete.

Die drei Gefährten blieben eine Woche als Gäste des Lords im Fort. Dann verschwanden sie, noch reich versehen mit allem, was sie nur irgend brauchen konnten, in den Wäldern und suchten die Insel und die Blockhütte wieder auf. Lord Porwell sandte dann auch an Karls und Jochems Eltern neue Briefe nach Deutschland. –

Als der Schoner Lene Pahlsen im Juni des folgenden Jahres wieder in den Fjord einlief, stand dort am Ufer ein sehr geräumiges Blockhaus, wo die drei Jäger seit kurzem wohnten und wo sie ihre Beute an Pelzen aller Art aufgestapelt hatten.

Vater Pahlsen traute seinen Augen nicht, als er seinen Jochem und Karl Stetter wiedersah. Knaben hatte er hier zurückgelassen, und kräftige, stattliche Jünglinge traten ihm nun entgegen.

Die Pelztierjagd des verflossenen Winters war so erfolgreich gewesen, daß Fischer Pahlsen einsehen mußte, wie recht die beiden Freunde hatten, fortan sich ganz dem Beruf des Trappers hinzugeben.

Außer den wertvollen Fellen brachte die Lene Pahlsen aber auch anfangs Juli einen großen Beutel Goldkörner, ein Geschenk Mistasimos, mit heim, so daß Vater Pahlsen sich einen Fischdampfer bauen lassen konnte, der dann alljährlich die Fanggründe an der Ostküste Labradors aufsuchte.

Alljährlich kehrten auch Karl und Jochem im Sommer für einige Zeit in die Heimat zurück. Doch – die Sehnsucht nach der Wildnis Labradors und nach ihrem roten Freunde Mistasimo trieb sie stets bald wieder in die Einsamkeit der weiten Jagdgründe der großen Halbinsel zurück, wo sie noch heute gemeinsam mit dem Häuptling der Naskapis den Bären, dem Luchs und dem anderen Raubzeug nachstellen. Ihre neue Heimat ist die Wildnis Labradors geworden.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Geheimnis der Robben-Bai.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Halsbänden“.
  2. Für die damalige Zeit war sowohl die Schreibweise „Preiselbeeren“ als auch „Preißelbeeren“ richtig. Daher so belassen.
  3. Unerwünschter Gast.