Sie sind hier

Das Geheimnis der Robben-Bai

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.

 

Das Geheimnis der Robben-Bai.

 

W. Belka.

 

Müllers hatten gerade Besuch, als des alten Onkels langer Brief – seit fünf Jahren der erste wieder – eintraf. Ihre Nachbarn und besten Freunde, der Photograph Knircks und Frau, befanden sich genau in derselben bedrängten Lage wie Müllers, und man hatte soeben abermals über die hohen Lebensmittelpreise und manches andere gesprochen, was der unglücklich verlaufene Krieg zur Folge gehabt hatte, – da brachte der Postbote das Schreiben Onkel Alberts, den man in der Familie Müller nur „den Grönländer“ nannte, weil er vor einigen zwanzig Jahren sich an der Ostküste dieser riesigen, zum dänischen Kolonialbesitz gehörigen Halbinsel niedergelassen hatte und dort einsam und fern von allen Kulturstätten am Ufer einer großen Bucht als Robbenjäger hauste.

Albert Müller, der ältere Bruder des Kaufmanns Georg Müller, der im Berliner Osten einen Zigarrenladen besaß, war nicht ohne Grund zum Einsiedler und Sonderling geworden. Als Steuermann eines deutschen Dreimasters hatte er seinen besten Freund aus Unvorsichtigkeit erschossen, war dann, um einer Bestrafung zu entgehen, geflüchtet und hatte erst nach vier Jahren seinem Bruder Georg ein Lebenszeichen in Gestalt eines ausführlichen Berichts über sein weltfernes Dasein in Grönland gegeben.

Durch den Krieg war der Briefwechsel unterbrochen worden. Nun aber hielt Georg Müller, ein schlanker Mann in den fünfziger Jahren, das Schreiben des Grönländers, das er schnell überflogen hatte, in der Hand, schüttelte den Kopf und sagte zu dem Ehepaar Knircks und seiner Frau mit erhobener Stimme:

„Meine Lieben, wie ein Wink des Schicksals erscheint mir dieser Brief meines Bruders. Wir haben soeben hier darüber gesprochen, daß wir kaum mehr wissen, wie wir uns weiter bei den schlechten Zeiten durchschlagen sollen, und – da schneit uns diese Aufforderung Alberts ins Haus, zu ihm nach Grönland zu kommen.“

„Unsinn!“ rief Frau Anna Müller. „Nach Grönland! Wenn man schon auswandert, dann –“

„Nicht so vorschnell urteilen,“ unterbrach der Kaufmann seine Gattin mit ruhiger Bestimmtheit. „Ich werde Euch vorlesen, was so das Wichtigste aus Alberts Schreiben ist.“

Werner Knircks und Willi Müller, die Söhne der beiden so eng befreundeten Ehepaare, zwei etwa fünfzehnjährige Knaben, hatten bisher am Fenster gestanden und sich leise darüber unterhalten, ob sie morgen nicht einen Tagesausflug nach einem Dorfe unternehmen sollten, wo es hin und wieder etwas zu hamstern gab. Jetzt aber horchten sie hoch auf, als Frau Müller das Wort Auswandern hatte fallen lassen.

Der Zigarrenhändler, dessen einst so blühendes Geschäft durch den Krieg genau so heruntergekommen war wie das des Photographen Gottlieb Knircks, begann vorzulesen.

„– Sollten also meine Befürchtungen zutreffen und solltet Ihr, meine lieben Verwandten, infolge des Krieges jetzt Not leiden, so kann ich Euch nur raten, meinen Vorschlag zu prüfen und die Anweisungen, die ich Euch über die für eine Reise hierher nötigen Vorbereitungen gegeben habe, im Falle der Annahme dieses Vorschlages genau zu beachten.

Ich habe Euch ja bereits früher so und so oft geschildert, wie ich hier lebe, und Euch so klar gemacht, daß nichts verkehrter als die Ansicht ist, Grönland wäre ein unter ewigem Eis und Schnee begrabenes Gebiet. Kommt nur zu mir, und Ihr werdet staunen, wie schön hier der Sommer ist und wie abwechslungsreich auch die Wintermonate sind. Für Ansiedler, die fleißig sein wollen, bietet diese einsame Küste die besten Aussichten, nicht nur ein sorgenfreies Dasein zu führen, sondern auch Ersparnisse zurückzulegen, die nach Jahren die Rückkehr in die deutsche Heimat ermöglichen.

Außerdem mache ich Euch noch auf etwas aufmerksam, das ich bisher keinem Menschen anvertraut habe, – auf ein wertvolles Geheimnis, zu dessen Ausbeutung ich als einzelner Mann nicht imstande bin. Ich verspreche Euch nicht zu viel: Wenn Ihr meinen Rat befolgt und hier nach der Germania-Bucht kommt, wie ich diesen Meereseinschnitt getauft habe, dann sollt Ihr binnen fünf Jahren spätestens gemeinem mit mir als wohlhabende Leute wieder nach Deutschland zurück können –“

Georg Müllers von Sorgenfalten durchfurchtes bleiches Gesicht hatte sich jetzt merklich aufgehellt. Er legte den Brief beiseite und sagte:

„Mein älterer Bruder ist nicht der Mensch, der leichtfertig Versprechungen macht. Und ich wieder gehöre zu denen, die gern dem Sprichwort folgen: Frisch gewagt ist halb gewonnen! – Hört also, was ich soeben beschlossen habe: Ich und die Meinen – wir wandern aus nach Grönland! – Liebe Frau, mach’ nicht ein so entsetztes Gesicht! Du wirst Dich fügen! Und – Du wirst sehen, daß ich das Beste für uns erwählt habe! – Morgen gehe ich auf das dänische Generalkonsulat und beantrage die Erlaubnis zur Auswanderung. – Dabei bleibt’s!“

Herr Müller konnte sehr energisch werden. Und dann wagte selbst seine Gattin keinerlei Einwendungen.

Gottlieb Knircks hatte eine Weile sinnend vor sich hin geblickt. Er war ein kleines, dürres Männchen mit einem grauen Knebelbart und dünnen grauem Künstlerlocken, die seinem Gesicht im Verein mit der goldenen Brille einen Anstrich von Gelehrsamkeit gaben. Seine Frau Amanda, geborene Wild, überragte ihn um Haupteslänge und wog sicherlich auch doppelt so viel als er.

Jetzt schaute er sie fragend an. Sie nickte ernst, verstand sofort, was er wollte, und wandte sich an den Zigarrenhändler.

„Lieber Freund Müller,“ sagte sie, „wie wär’s, wenn wir uns Ihnen anschlössen? Ob Ihr Bruder wohl etwas dagegen hätte?“

„Sicherlich nicht,“ beeilte sich Müller zu erwidern. „Und – Sie könnten uns keine größere Freude machen, als wenn Sie –“

„Schon gut,“ unterbrach ihn Frau Amanda. „Die Sache ist also entschieden: wir kommen mit!“

„Hurra!“ riefen da Werner und Willi in einem Atem. „Hurra – wir werden Grönländer! Alle Jungens aus der Nachbarschaft werden uns drum beneiden.“

Vier Wochen später. Ende Mai also, finden wir die beiden aus je drei Köpfen bestehenden Familien bereits in Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks, wieder, von wo am 1. Juni ein Frachtdampfer nach den Niederlassungen an der Westküste Grönlands abgehen sollte.

Am 11. Tage nach der Ausfahrt tauchten die hohen, felsigen Gestade der Südspitze Grönlands auf. Und am Nachmittag lief der Dampfer in den kleinen Hafen von Frederiksdal, der südlichsten der grönländischen Ortschaften ein, von denen Upernavik wohl die bekannteste und auch die nördlichste ist.

Kaum hatte der Dampfer Anker geworfen, als auch schon Albert Müller, der von seinem Bruder rechtzeitig vom Tage der Ankunft benachrichtigt worden war, an Bord erschien und die Verwandten und auch die Familie Knircks aufs herzlichste begrüßte.

Die von den Auswanderern mitgebrachten Kisten und anderen Gepäckstücke wurden alsbald auf den Segelkutter verladen, der des „Grönländers“ Eigentum war. Und nach zweitägigem Aufenthalt in Frederiksdal stach der Kutter „Vorwärts“ mit Kurs nach Osten in See, passierte, sich stets in der Nähe der steilen Küste haltend, die teilweise recht engen und jetzt völlig eisfreien Durchfahrten zwischen den Inseln der Christian-Gruppe, deren südlichste in das Kap Farvel ausläuft, und schlug sodann eine nördliche Richtung die Ostküste Grönlands entlang ein, bis am neunten Tage dieser vom prächtigsten Sonnenwetter begünstigten Reise im Kutter Albert Müller nach Westen zu auf eine schmale Einfahrt zwischen den hier vorgelagerten Klippen deutete und erklärte: „Dahinter zieht sich die Germania-Bucht etwa eine Meile weit in das Land hinein. Und im westlichsten Winkel dieses Fjordes erhebt sich mein aus den Balken eines alten Wracks und aus Birkenstämmen errichtetes Heim.“

Es war gerade um die Mittagszeit, als der Kutter dann die letzte Krümmung der Bucht hinter sich hatte. Albert Müller rief jetzt: „Gebt acht, Freunde! Sofort wird meine Einsiedelei Euch zu Gesicht kommen!“

Da – nun traten die letzten Felsvorsprünge zurück, nun – entrang sich des Grönländers Lippen ein entsetztes: „Ah – was bedeutet denn das?!“

Aller Augen starrten dort hinüber, wo am Rande eines Birkenwäldchens deutlich die Trümmer von drei Gebäuden zu erkennen waren – die noch rauchenden Trümmer der kleinen, durch Feuer zerstörten Niederlassung Albert Müllers.

– – – – – – – –

Der Einsiedler starrte mit versteinertem Gesicht auf die Stätte, wo er so viele Jahre in Frieden und Ruhe seine Tage verbracht hatte. Dann kam wieder Leben in seine ganz in fein gegerbte Robbenfelle gekleidete Gestalt.

„Es ist mir unerklärlich,“ meinte er dumpfen Tones, „wie dieses Unglück sich hat ereignen können. Meine beiden Gefährten, von denen ich Euch bereits so viel erzählt habe, zwei Eskimos, sind durchaus zuverlässige und vorsichtige Leute, stehen nun bereits drei Jahre in meinem Dienst und –“

Er schwieg, fuhr dann lebhafter fort: „Seht, dort am Strande neben der kleinen Landungsbrücke liegt ein Mensch. Es ist einer der beiden Eskimos. Hier ist irgend ein Verbrechen verübt worden. Ich kann mir nur denken, daß die Stammesgenossen meiner braven Gefährten Rupsuak und Urmivik deren Aufenthaltsort hier bei mir doch endlich entdeckt und Rache an den beiden Flüchtlingen genommen haben, die ja, wie Ihr schon von mir gehört habt, ihre weit nördlich gelegene Heimat verlassen mußten, weil sie bei einem Streit einen ihrer Landsleute erschlagen haben.“

Gleich darauf legte der Kutter an der Landungsbrücke an. Kaum war er hier vertäut worden, als auch schon aus dem Birkenwäldchen laut bellend eine Schar von Eskimohunden, gegen zwanzig an der Zahl, dahergestürmt kam. Albert Müller pfiff, und auf dies bekannte Signal hin verwandelte sich das Bellen in ein wahres Freudengeheul.

Die Hunde, meist von gelblicher Farbe, sahen recht abgemagert aus, und einige von ihnen hatten auch noch frische Wunden aufzuweisen, manche wieder hinkten, und zwei Nachzügler schleppten sich sogar nur mühsam vorwärts.

Winselnd umdrängten und umsprangen sie jetzt ihren Herrn, der jedes einzelne Tier beim Namen kannte und besonders die Verletzten geradezu liebevoll streichelte. Dabei sagte er zu seinen Reisegefährten:

„Die Tiere sind durch Schrotschüsse verwundet worden. Vier fehlen. Sie dürften tot sein.“

Nachdem er dann noch den Leichnam des Eskimos – es war der ältere namens Rupsuak – besichtigt und bei ihm eine Kugelwunde in der Brust festgestellt hatte, begaben sich sämtliche Insassen nach den Überresten der etwa 200 Meter vom Fjordufer entfernten Baulichkeiten und fanden hier in dem hinter der einstigen Wohnhütte sich hinziehenden Garten auch den zweiten Eskimo ebenfalls erschossen auf.

Albert Müller erklärte jetzt, daß hier seiner Meinung nach doch nicht Eskimos, sondern andere Leute so mörderisch gehaust hätten, da, wenn es Eingeborene gewesen wären, diese die Häuser vorher vollständig ausgeplündert hätten. Ein Eskimo könnte ja alles gehrauchen, selbst die eisernen Türbeschläge.

Daß die Stimmung unserer Auswanderer jetzt eine recht gedrückte war, erschien leicht erklärlich. Kaum bemerkte der Grönländer, wie stumm und insichgekehrt seine neuen Gefährten waren, als er auch schon dafür sorgte, daß diese ersten traurigen Eindrücke hier an der Germania-Bucht schnell verwischt wurden.

Er, der vielerfahrene Mann hatte mit Hilfe seines Bruders und der beiden kräftigen, munteren Knaben sehr bald in dem Birkengehölz aus den Segeln des Kutters ein großes Zelt errichtet und dort die beiden Frauen und Gottlieb Knircks untergebracht, wo diese drei nun für die Kolonisten eine kräftige Mahlzeit zubereiten sollten. Auf des früheren Photographen Mitwirkung bei den jetzt zunächst dringlichsten Arbeiten mußte man verzichten. Der dürre, kleine Lichtbildkünstler war durch den Anblick der beiden Toten beinahe noch mehr als die Frauen erschüttert worden und hielt jetzt offenbar Grönland für den Treffpunkt aller Mörder und Banditen der ganzen Welt.

Nachdem die vier zu den Brandruinen Zurückgekehrten die beiden Toten bestattet hatten, begaben sie sich auf einen nicht allzufernen Felsenhügel, von wo der Einsiedler nach seiner Renntierherde, die in einer Umzäunung weiter westlich gehalten wurde, ausschauen wollte. Die Herde, einige dreißig Tiere, waren noch da, zeigte sich aber sehr unruhig, so daß Albert Müller die beiden Knaben hinüberschickte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er empfahl ihnen dabei größte Vorsicht, weil er sowohl mit der Möglichkeit rechnete, daß die Mörder und Brandstifter noch in der Nähe sein konnten, und weil ferner des öfteren schon Eisbären hier aufgetaucht waren.

Die Freunde Werner und Willi waren recht stolz, jetzt zum erstenmal selbständig einen Auftrag erledigen zu können, zumal sie ja auch ihre von Deutschland mitgebrachten Waffen, zu Büchsen umgearbeitete Militärkarabiner und Revolver, mitnehmen sollten.

Werner Knircks war entschieden der tatkräftigere und zielbewußtere von ihnen. Er hatte ja auch sowohl die breite, große Figur als auch die hauptsächlichsten Charaktermerkmale von der Mutter geerbt, während Willi ganz der mehr bedächtigen und in vielem etwas zaghaften Frau Anna Müller glich.

Während sie nun eiligst über den spärlichen, stellenweise nur dichter bewachsenen Grasboden dahinschritten, meinte Werner mit einem Seufzer der Erleichterung: „Du, Willi, – endlich sind wir an Ort und Stelle! Bevor wir nicht in die Germaniabucht mit dem Kutter eingelaufen waren, fürchtete ich noch immer, meinem Vater könnte die ganze Sache leid werden und er würde vielleicht wieder nach Frederiksdal und von da nach Deutschland zurückwollen. Jetzt aber heißt es: Hier bist de, hier mußt de bleiben! – Und ich finde es hier geradezu herrlich. Gewiß – mit der Wärme hält es sich sehr. Trotz des klaren Sonnenscheins dürften wir kaum mehr als zehn Grad haben. Aber – die Natur ist hier doch großartig! Dort drüben in der Ferne die Schneefelder und die weißen Berge, hier um uns wieder grüne Gräser, Sträucher und Bäume, – das ist doch ein anderes Bild als die Berliner Umgegend im Juni! –“

Er schwieg plötzlich. Sie waren jetzt im Bogen um ein Gehölz von Ebereschen und Erlen herumgeschritten und hatten den Ausblick nach der Renntierherde frei bekommen. Werner hatte dort dicht neben der Umzäunung sofort einen hohen Haufen von Abfällen offenbar geschlachteter Tiere und unweit davon einen Menschen wahrgenommen, der halb zusammengesunken an einen Felsblock lehnte.

Der Mann trug Lederhosen, einen blauen wollenen Sweater und eine Pelzkappe. Sein bärtiges Gesicht sah wenig vertrauenerweckend aus, obwohl er die Augen geschlossen hielt und überhaupt den Eindruck eines völlig Erschöpften machte.

Werner hatte den Freund sofort wieder zurück hinter die nächsten Bäume gezogen, von wo er nun den Fremden mißtrauisch beobachtete und auch die weitere Umgebung scharf musterte. Ohne Zweifel war es der Verwesungsgeruch der Abfälle der geschlachteten Tiere, der die noch lebenden in der Hürde in so hochgradige Aufregung versetzte. Ganz besonders fiel das Verhalten mehrerer männlicher Renntiere auf, die immer wieder sich von der in der Westecke der Umzäunung zusammengedrängten Schar trennten und vorsichtig windend sich der anderen Seite der Hürde näherten.

Werner konnte nichts Verdächtiges bemerken und meinte nun, man solle sich mit bereitgehaltenen Büchsen dem Fremden nähern. Inzwischen hatte aber Willi Müller erkannt, daß der Mann drüben gefesselt war. Als er den Freund hierauf aufmerksam machte, schüttelte der recht zweifelnd den Kopf und sagte leise, da man kaum dreißig Meter von dem scheinbar Wehrlosen entfernt war:

„Ich weiß nicht, – mir kommt die Sache hier nicht ganz geheuer vor. Mir war’s vorhin so, als ob der Mann zweimal die Lider ein wenig öffnete und nach uns herüberspähte. Vielleicht ist dies hier nur eine Falle. Gewiß, ich kann mich irren. Aber – sicher ist sicher! Ich werde erst einmal allein zu dem Bärtigen gehen, während Du mir den Rücken deckst.“

Er schritt denn auch langsam auf den Fremden zu, blieb dicht vor ihm stehen und rief ihn an.

„Hallo, Mann, – wer seid Ihr? Und weshalb hat man Euch hier gefesselt zurückgelassen?“

Der Bärtige regte sich nicht. Werner legte daher seinen Karabiner ins Gras, zerschnitt die Lederriemen, die nicht allzu eng um die Hand- und Fußgelenke des Mannes geschlungen waren, und rüttelte ihn dann kräftig.

Da erst schlug jener die Augen auf, schaute wild um sich und rief in gebrochenem Deutsch:

„Tut mir nichts zuleide! Ich bin unschuldig an der Verwüstung dieser Niederlassung. Meuternde, zumeist farbige Matrosen eines Robbenfänger-Schiffes haben hier gehaust. Ich war Steuermann jener amerikanischen Brigg namens Präsident Lincoln, deren sich die Meuterer bemächtigt haben. Zufällig fanden sie hier die kleine Ansiedlung und raubten sie aus, nachdem sie die beiden Eskimos getötet hatten. In der Hauptsache hatten sie es auf frisches Fleisch abgesehen –“

Werner Knircks Mißtrauen gegen diesen Menschen, der sich Howard Palwson nannte, wollte nicht weichen, selbst dann nicht, als auch Albert Müller ihn recht freundlich behandelte und ihm offenbar alles glaubte, was er über die Meuterei auf dem Robbenfänger und über die Einäscherung der Ansiedlung im einzelnen erzählte.

Als Werner von dieser seiner Abneigung gegen den redseligen Steuermann Palwson sich Willi gegenüber ganz offen aussprach, meinte dieser, Werner täte dem Amerikaner – Palwson behauptete in Neuyork zu Hause zu sein – sehr wahrscheinlich unrecht; der Steuermann sei doch ein ebenso bescheidener wie fleißiger Mensch; überall greife er mit zu, und es handele sich daher bei Werner doch wohl nur um eine Voreingenommenheit. – Dieses Gespräch spielte sich am vierten Tage nach dem Eintreffen in der Germania-Bucht ab. Inzwischen hatte Albert Müller mit gewohnter Tatkraft bereits mit der Wiedererrichtung der Gebäude beginnen lassen, denn längere Zeit im grönländischen Sommer in einem Zelte zu wohnen, ist gerade keine Annehmlichkeit. Gewiß – an sonnigen Tagen steigt das Thermometer mittags im Juli wohl bis zu 12 bis 14 Grad; die Nächte aber sind stets kühl und leichte Schneefälle keine Seltenheit.

Das zur Verfügung stehende Bauholz – Birken und Erlen – mußte zum Teil von weit hergeholt werden, da Albert Müller die Gehölze in der Nähe der Ansiedlung nicht vollständig niederschlagen wollte. Man brauchte für die Bauten auch aus dem Grunde sehr viele Stämme, weil das grönländische Klima diese beiden einzigen Baumarten, die man auch nur im südlichsten Teile der im Sommer eisfreien Küstenstriche antrifft, durchschnittlich nur sechs Meter hoch werden läßt. Es gehörten also zu einer Hütte eine ganze Anzahl dieser Stämmchen, deren Transport zum Glück sehr einfach war, da gezähmte Renntiere ja vortreffliche Zugtiere sind. Und Albert Müller besaß unter seiner Herde etliche zwanzig Stück, die an das Ziehen bereits vollständig gewöhnt waren.

Werner und Willi bereitete es großes Vergnügen, ihre Renntiergespanne zu lenken. Die gefällten Stämme wurden stets zu mehreren auf schlittenähnliche „Schleifen“ gelegt und dann in raschester Gangart nach der Bucht geschafft.

Nach weiteren fünf Tagen hatten die Ansiedler, denen der Amerikaner wacker half, nicht nur sämtliche Spuren des Brandes entfernt, sondern auch an derselben Stelle drei einfache Wohnhütten mit flachen Dächern und einen Vorratsspeicher neu errichtet. Erstere besaßen doppelte Wände aus Stämmen, deren Zwischenraum mit festgestampfter Erde ausgefüllt wurde. Auch die Dächer hatten eine doppelte Balkenschicht mit einer Einlage von Moos, das ja für Grönland etwa dieselbe Bedeutung wie bei uns das Stroh hat. Die äußeren und inneren Fugen zwischen den Stämmen wurden gleichfalls mit Moos abgedichtet und mit Brettern benagelt. Daß[1] die notwendigen Einrichtungsgegenstände sehr primitiv ausfielen und daß sowohl Frau Müller als auch die weit anpassungsfähigere Frau Knircks mit stiller Wehmut an ihr Berliner Heim zurückdachten, war nur allzu natürlich. Die beiden Frauen waren es auch, die jetzt immer häufiger, wenn sie allein waren, sich eingestanden, wie sehr diese neue Heimat sie enttäuscht hätte und wie gering ihre Hoffnung wäre, hier jemals so viel zu erwerben, um an eine Rückkehr ins deutsche Vaterland denken zu können. Diese ihre Gespräche endeten dann meist mit versteckten Vorwürfen gegen den Grönländer, der sie unter Versprechungen, die offenbar sämtlich eitel Wind gewesen, in diese Einöde gelockt hätte. Zu solchen Äußerungen waren die Frauen insofern einigermaßen berechtigt, als Albert Müller sein wertvolles Geheimnis, das er doch in jenem Briefe angedeutet hatte, nie auch nur mit einer Silbe erwähnte. Fragen mochte ihn danach niemand. Das hätte so ausgesehen, als ob man nur ausgewandert wäre, um hier schnell irgend welche güldenen Schätze einzuheimsen. Und doch beschäftigten sich sämtliche neuen Mitglieder der Kolonie – den Amerikaner allein wohl ausgenommen – so und so oft in Gedanken mit des Grönländers geheimnisvollen Verheißungen.

Abermals war eine Woche dahingegangen. Das Leben in der kleinen Kolonie hatte nun eine gewisse Regelmäßigkeit angenommen. Albert Müller wußte jeden einzelnen nach seinen Fähigkeiten zu beschäftigen. Jeder hatte seine bestimmte Tagesarbeit zu leisten. Selbst Gottlieb Knircks, der von allen sich zum Ansiedler am wenigsten eignete. Er mußte zumeist Tran auskochen oder die Felle der von den Knaben erlegten Robben einsalzen. An den Gestaden der großen Bucht war die Jagd auf diese Meeressäugetiere äußerst lohnend. Gewöhnlich begleitete Steuermann Palwson die beiden Freunde in dem großen, von Albert Müller gebauten Fellboot als Ruderer. Aus der Jagd selbst machte er sich nicht viel, da er ein zu schlechter Schütze war. Bei diesen Ausflügen, die die drei häufig einen halben Tag von der Niederlassung fern hielten, suchte Palwson immer wieder das Gespräch auf die frühere Heimat der beiden Familien zu bringen. Willi Müller war ein viel zu harmloser Junge, um an diesen Gesprächen etwas Auffälliges zu finden. Erst als Werner ihn eines Tages warnte, Palwson gegenüber ja nichts von dem von Albert Müller angedeuteten Geheimnis zu erwähnen, merkte auch Willi, daß der Amerikaner sie nur auszuhorchen trachtete. – Dann nahm Werner Knircks eines Abends den Freund mit nach der Renntierhürde, wohin er bereits in aller Heimlichkeit den Grönländer bestellt hatte.

Albert Müller war sehr gespannt, was Werner ihm wohl mitzuteilen hätte. Als dieser ihm dann eine ganze Menge von Verdachtsmomenten aufzählte, die alle dafür sprachen daß Palwson kein ehrliches Spiel treibe, da erklärte der Grönländer zu der beiden Knaben nicht geringem Erstaunen mit einem ruhigen Lächeln, er hätte den Amerikaner von Anfang an beargwöhnt und sich ihm gegenüber nur so freundschaftlich gezeigt, um Palwson in Sicherheit zu wiegen und so desto leichter herauszubekommen, weshalb dieser eigentlich, scheinbar als Opfer der Meuterer gegen seinen Willen, hier zurückgeblieben sein könnte.

„Leider habe ich in dieser Beziehung bisher nichts feststellen können,“ fuhr der Grönländer fort: „Nunmehr bin ich überzeugt, daß es mit dem angeblichen Meutererschiff Präsident Lincoln, eine ganz besondere Bewandtnis hat, nämlich die, daß Palwson und die Bestatzung des Seglers irgendwie halb und halb hinter mein Geheimnis gekommen sind und daß sie es auf die – Diamanten der Robben-Bai abgesehen haben, ohne freilich zu wissen, wie und wo man diese Diamanten findet.“

– – – – – – – –

Kein Wunder, daß Werner und Willi bei dem Worte Diamanten geradezu wie versteinert waren.

Diamanten! Wer hätte das gedacht! Also das war Albert Müllers Geheimnis! Und – gerade Diamanten, die jetzt doch so sehr im Preise gestiegen waren!

Der Grönländer sah es den Gesichtern der Knaben an, welche Gedanken ihre jungen Seelen bewegten.

Und – wieder lächelte er so eigenartig, sagte dann:

„Ihr müßt hier jedoch nicht an Diamanten denken, wie man sie zu Schmuck verarbeitet. Nein – meine Diamanten sind nützlicher, – es sind schwarze Diamanten, das heißt Steinkohlen! – Ihr scheint enttäuscht zu sein. Wie töricht, Jungens! So lange die Chemiker keine andere, bessere Wärmequelle erfinden, werden Steinkohlen stets ein gesuchter Handelsartikel bleiben –“ Er sprach noch mancherlei zu den beiden Knaben, die bald mit glänzenden, begeisterten Augen ihm zuhörten, und fügte zum Schluß hinzu: „Ich will also Klarheit schaffen! Wir drei und Palwson werden übermorgen mit dem Kutter nach der einige zehn Meilen weiter nördlich und recht versteckt liegenden Robben-Bai segeln. Alles weitere müssen die Umstände ergeben.“ –

Als der Grönländer dann eine Stunde später dem Steuermann mitteilte, daß dieser, wenn er Lust dazu hätte, sie nach einer entfernteren Bucht begleiten könnte, leuchteten Palwsons Augen für einen Moment triumphierend auf. Albert Müller entging das nicht, und er dachte sich sein Teil dabei. Gleich darauf nahm er Werner Knircks, der gerade am Ufer Lachsschnüre einzog, an deren Haken sich eine ganze Menge der wohlschmeckenden Fische gefangen hatten, beiseite und legte ihm nahe, gerade heute für den Rest des Tages und auch morgen ein wachsames Auge auf Palwson zu haben, da er diesen nebenbei auch noch im Verdacht hätte, mit den angeblichen Meuterern irgendwie auf besondere Art in Verbindung zu stehen.

Werner wußte sofort, worauf es „Onkel Albert“ (so durfte er diesen seit einiger Zeit nennen) ankam. Er war ja überhaupt sehr „helle“, wie der Berliner gern jene Leute bezeichnet, die Mutterwitz, Schlauheit und schnelle Auffassungsgabe in sich vereinen. Er beeilte sich, auch noch die letzten Lachsschnüre einzuholen, schlenderte dann nach den Gebäuden hin und stieß hier auf seinen Freund Willi, der auf einem Tretschleifstein die Äxte und Beile sowie mehrere Hobelschneiden schärfte. Als er Willi alles Nötige über Onkel Alberts neuesten Auftrag erzählt hatte, entwarfen sie sofort leise flüsternd einen Plan, wie man Palwson unauffällig nachschleichen könnte, falls er sich in der Nacht entfernen sollte.

Bei der gemeinsamen Abendmahlzeit erklärte Werner dann, er und Willi würden noch versuchen, ein paar Polarfüchse zu schießen, deren Spuren sie heute an dem Kadaver eines verendeten Renntiers im Süden der Ansiedlung gefunden hätten.

Es war nun schon sehr auffallend, daß der Amerikaner sich nicht als Begleiter anbot, wie er dies in seiner Dienstbeflissenheit doch zumeist tat. Im Gegenteil: er gähnte viel und suchte auf jede Weise zu zeigen, daß er sehr müde sei.

Palwson bewohnte zusammen mit Albert Müller und den Knaben die am weitesten nach Westen stehende Blockhütte, die einen Vorraum und drei Wohngemächer enthielt. Links hauste der Amerikaner, in der Mitte die beiden Jungen und rechts Onkel Albert, dessen Wohnraum doppelt so groß als die der anderen war.

Gegen halb neun brachen Werner und Willi, wie gewöhnlich mit Karabiner, Revolver und Messer bewaffnet, auf und schlugen die Richtung nach Süden ein. Doch nur scheinbar strebten sie jener Stelle zu, wo das verendete Renntier jenseits einiger steiniger Hügel lag. Kaum hatten sie die Gewißheit erlangt, daß man sie von der Ansiedlung aus nicht mehr sehen könne und daß der Steuermann ihnen auch nicht etwa heimlich folge, als sie im Bogen nach den Gebäuden zurückkehrten und sich in dem Birkenwäldchen auf die Lauer legten. Von ihrem Versteck aus konnten sie die gemeinsame Blockhütte gut beobachten. Nachdem sie zwei Stunden geduldig gewartet hatten, bemerkten sie, daß der Amerikaner das Fenster seines Gemachs öffnete, hinausstieg und es wieder zudrückte. Er hatte seine Büchse mit, trug auch den Revolver umgeschnallt und eilte nun, indem er sich immer wieder scheu umblickte, am Westufer der Bucht nach Norden zu davon, passierte einen kleinen Gletscher, der in den Nordwestwinkel des Meereseinschnittes mündete und gelangte so in die wildzerklüftete Felseneinöde, die sich von hier in breitem Strich nordwärts bis zum nächsten, engeren Fjord hinzog. Gerade nach dieser Richtung hin verirrten sich die Ansiedler niemals, da es hier weder jagdbares Wild, noch irgend welchen Pflanzenwuchs gab. Werner und Willi kannten daher die nördlicheren Meeresbuchten überhaupt noch nicht, hatten nur von Onkel Albert gehört, daß alle jene Fjorde turmhohe Steilufer besäßen, die einem Fahrzeug nirgends das Landen gestatteten.

Sie blieben jetzt stets etwa 150 Meter hinter Palwson, dessen ganzes Benehmen darauf hindeutete, daß er auf faulen Pfaden wandele, wie man zu sagen pflegt. Sehr oft drehte er sich um, blieb auch sehr häufig stehen und musterte argwöhnisch den soeben zurückgelegten Weg. Wenn die Knaben jetzt nicht bereits durch ihre zahlreichen Jagdausflüge mit allen Schlichen der berühmten Trapperkünste so vertraut gewesen wären, hätten sie es kaum fertiggebracht, so unbemerkt sich Palwson an die Fersen zu heften. Oft genug mußten sie freilich größere Bögen schlagen, um Gelände zu vermeiden, das allzu leicht zu überschauen war.

Nachdem sie in die Felswildnis gelangt waren, hatten sie die schlimmsten Schwierigkeiten überwunden. Hier fühlte sich der Amerikaner offenbar sehr sicher. Er strebte nun ohne Aufenthalt vorwärts, und es konnte nach der ganzen Art, wie er durch die zerklüfteten Schluchten sich mühelos hindurchfand, keinem Zweifel unterliegen, daß er nicht zum erstenmal hier entlangschritt.

So vergingen gut anderthalb Stunden. Dann blinkte vor den Knaben der Wasserspiegel eines Fjordes in schmalem Streifen auf. Der Steuermann hatte sich jetzt nach links gewandt und stand nun dicht an dem schroffen Uferabhang dieser kaum dreihundert Meter breiten Bucht eine Weile regungslos still, drehte sich darauf plötzlich um und musterte nochmals scharf die Umgebung.

Die Freunde hockten zusammengekauert hinter einem Felsen. Als Palwson so unerwartet sich umgeblickt hatte, war Werner ebenso blitzschnell auch mit dem Kopf hinter dem Felsstück verschwunden.

„Donner noch eins!“ meinte er nun ganz erregt, „hoffentlich hat er mich nicht bemerkt! – Warte mal, ich will da nach links hinüber, und von dort nach ihm ausspähen.“ – Er kroch auf allen Vieren davon. Erst eine gute Viertelstunde später erschien er wieder neben dem Freunde.

„Du, Willi, – ein Glück, daß Onkel Albert uns hinter dem Halunken drein gehetzt hat,“ berichtete er ganz atemlos. „Denk’ Dir, der Palwson stieß erst einen besonderen Pfiff aus, woraufhin sehr bald oben am Rande des Steilufers ein Mann in Seemannstracht auftauchte, mit dem er sich sehr freundschaftlich begrüßte. Dann verschwanden die beiden Kerle nacheinander vom Rande des Abhanges. Sie müssen dort irgendwie hinabgeklettert sein. Jedenfalls dürfen wir uns aber ganz sicher fühlen. Er hat uns nicht gesehen. Folge mir nun. Wir müssen feststellen, wo die beiden geblieben sind.“

Sie näherten sich nun dem Steilufer des Fjordes, abermals auf allen Vieren kriechend, und Werner fand dann auch die Stelle, wo Palwson und der fremde Seemann doch ohne Frage an dem jähen Abhang abwärts gestiegen waren.

Werner schob den Kopf über den Rand des Abhanges hinaus. Unter ihm fiel dieser einige vierzig Meter schroff bis zum Wasserspiegel ab. Aber – etwa vier Meter nach unten zu gab es an der Felswand eine schmale, natürliche Terrasse, die wie ein nur wenig nach unten geneigter Bergpfad einige achtzig Meter weit nach Osten zu verlief und an einer dunklen Schlucht endete.

Werner flüsterte dem Freunde jetzt zu: „Verbirg Dich hier in der Nähe und warte auf mich. Ich muß sehen, was jene breite Felsspalte enthält, in die man unschwer hineingelangen kann.“

Willi wollte widersprechen. Es war ihm nicht angenehm, daß Werner stets gerade das, was am gefährlichsten war, allein ausführte. Schon wiederholt hatten sie bei der Robbenjagd aufregende Zwischenfälle erlebt, die immer durch Werners tatkräftiges Eingreifen günstig verlaufen waren. Kein Wunder, daß Willi unter diesen Umständen geradezu darauf brannte, auch einmal zu beweisen, daß er durchaus nicht ängstlich oder etwa weniger energisch wäre als der Freund. Kaum hatte er daher jetzt von oben genau verfolgt, wie Werner mit Hilfe einiger Vorsprünge und Risse hinab auf den Felsgrat gelangt und dann, diesen entlangeilend, in dem dunklen Schlund verschwunden war, als er sofort sich anschickte, denselben Weg zu nehmen.

Werner war inzwischen keck in den finsteren Spalt eingedrungen, in den Hinein sich auch der Felsvorsprung fortsetzte. Mit aller Vorsicht freilich tastete er erst immer jeden Fußbreit Boden ab, bevor er einen Schritt weiter vorwärts tat. Nun machte die Felswand, die er stets zu seiner Rechten hatte, eine scharfe Biegung ebenfalls nach rechts, und gleichzeitig sah der mutige Junge in der Ferne einen flackernden Lichtschein, der aber tief unter ihm lag.

Hier hatte jedoch auch der natürliche Pfad ein Ende. Werners vorgestreckter, tastender Fuß trat ins Leere. Er kniete daher nieder und befühlte mit den Händen die Umgebung. Bald hatte er so eine über einer starken Felsnase hängende Strickleiter gefunden, die offenbar den weiteren Weg nach jenem Feuer dort in der Tiefe vorstellte. Er zögerte nicht, die Strickleiter hinabzuklettern, nachdem er sie genau auf ihre Festigkeit geprüft hatte. Sie hing frei in der Luft, aber nur etwa ein halbes Meter von der Felswand ab, so daß sie nicht allzusehr hin und her pendeln konnte. Als Werner die letzte Sprosse erreicht hatte, trat sein Fuß auf sandigen Boden. Er befühlte ihn und merkte, daß der Sand feucht war. Und er sagte sich sofort, daß diese Felskluft mit dem Wasser des Fjordes in Verbindung stehen und gleichfalls zum Teil Wasser enthalten müßte.

Jetzt hatte er das offene Feuer schon bedeutend näher vor sich. Es brannte aber noch immer etwas tiefer als sein augenblicklicher Standort. Wiederum schob er sich nun ebenso behutsam dem Lichtschein zu. Bald hatte er wieder steinigen, abschüssigen Boden unter sich, und vielleicht vier Minuten drauf konnte er bereits an jenem Feuer die Gestalten von acht Leuten erkennen, ebenso auch die Umgebung dieses Lagerplatzes in ihren Einzelheiten unterscheiden.

Das Feuer war sehr groß und knisterte stark, erzeugte auch viel Qualm, der jedoch nach oben zu ungehinderten Abzug haben mußte. Links von dem Feuer ging es steil zum flachen Uferstreifen eines Wasserlaufes hinab, auf dessen Oberfläche sich der rötliche, flackernde Lichtschein in tanzenden Flämmchen widerspiegelte. Und dort lag auch ein größeres Fahrzeug mit zwei Masten, die jetzt aber ihres gesamten Takelwerks entkleidet waren. Werner verstand genug von der Benennung der verschiedenen Arten von Seglern, um jenes vielleicht zwanzig Meter lange, schlanke Schiff, das nur in der Mitte einen höheren Aufbau besaß, als Schoner zu unterscheiden. Eine Laufplanke führte von der hohen Uferböschung auf das Verdeck, so daß die Männer am Feuer ganz bequem hinübergelangen konnten.

Als der Knabe nun, stets die verstreut daliegenden Felsblöcke als Deckung benutzend, sich dem Feuer bis auf sechs Meter genähert hatte, konnte er nun auch von der lebhaften Unterhaltung der acht Leute, von denen sieben auf Decken sich ausgestreckt hatten, während Palwson sich auf eine Kiste gesetzt hatte, fast jedes Wort verstehen.

Der Amerikaner sagte soeben, wobei er die Rechte zur Faust drohend ballte und schüttelte:

„Ein ganz verwünschtes Pech ist’s! Ich habe den kleinen Burschen genau erkannt. Er muß mir trotz all meiner Vorsicht heimlich gefolgt sein! Ein Beweis, daß die Deutschen mich beargwöhnen! – Was tun wir jetzt nur? – Ich bleibe dabei: es ist am besten, den verdammten Boy für alle Zeiten stumm zu machen. Wenn wir sofort zu vieren aufbrechen, können wir ihm den Rückweg nach der Ansiedlung abschneiden. Auf ein Menschenleben mehr oder weniger kommt’s wahrhaftig jetzt nicht mehr an, nachdem wir schon die beiden Eskimos, die durchaus nicht verraten wollten, woher der Müller die prächtigen Kernkohlen in solcher Menge wiederholt nach Frederiksdal schaffen konnte, niedergeknallt haben. – Vorwärts – wer begleitet mich? Macht hurtig! Der Boy wird, so hoffe ich, noch oben am Fjordufer herumschnüffeln –“

Sofort erhoben sich drei der ebenfalls in Matrosentracht gekleideten Männer, von denen einige ihrer dunklen Hautfarbe nach Mulatten sein mußten.

– – – – – – – –

Werner bekam keinen geringen Schreck, als er hörte, was Palwson beabsichtigte. Er selbst fühlte sich ja geborgen. Aber Willi – Willi, der doch draußen am Steilufer ihn erwarten sollte.

Er mußte hinauf – schleunigst, mußte vor Palwson und den drei Leuten das Freie gewinnen.

Schleunigst machte er kehrt. Aber gerade in der Hast dieses Rückzuges ließ er die nötige Vorsicht außer acht. Er kannte ja auch nur ungefähr die Richtung, in der er die Strickleiter zu suchen hatte. Und – so kam’s, daß er sich zu weit nach links hielt, daß plötzlich unter seinen Füßen sich eine kleine Felsspalte auftat, in die er nun kopfüber hineinstürzte.

Ein lauter Aufschrei jähen Schrecks entschlüpfte ihm. Dann schlug er mit der Stirn irgendwo hart auf und verlor das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, lag er neben dem Feuer. Palwson kniete vor ihm und hatte ihm soeben ein nasses Tuch um den Kopf gelegt.

Der arme Junge suchte sich aufzurichten. Aber die stechenden Schmerzen in den Schläfen und ein starkes Schwindelgefühl ließen ihn schnell wieder zurücksinken.

„Ah – er ist schnell munter geworden,“ meinte der Amerikaner. „Boy, Du wirst mir jetzt ehrlich Rede und Antwort stehen,“ wandte er sich dann an Werner. „Bist Du allein mir nachgeschlichen? Oder war auch der andere kleine Spitzbube, der Willi, dabei? Dann hat etwa Albert Müller gegen mich irgendwie Verdacht geschöpft? – Lüge nicht, Boy! Ich sage Dir gleich: es geht hier ums Leben! Wir sind nicht die Leute danach, unnütz zu drohen. Also heraus mit der Sprache!“

Werner überlegte blitzschnell. Dann entgegnete er, indem er leiser sprach, als dies seine Mattigkeit nötig gemacht hätte:

„Ich allein folgte Euch, Master Palwson. Es war ein Zufall, daß ich Euch begegnete. Willi und ich hatten einem Eisbär, den wir an dem Renntierkadaver angetroffen hatten, den Weg nach dem Innern abschneiden wollen und uns getrennt. Der Bär suchte nach Norden durchzubrechen. Ich kam nicht zum Schuß. Und dann bemerkte ich Euch. Ihr schautet Euch immer so argwöhnisch um. Und da vermutete ich, Ihr könntet etwas besonderes vorhaben –“

Palwson lachte höhnisch auf. „Boy – Du schwindelst nicht schlecht! Aber – glauben tue ich Dir von alledem kein Wort! Nein – kein Wort! Einem Bären den Weg abschneiden! Und – nicht einen einzigen Schuß habt Ihr abgegeben! – Nein, Boy, – Du lügst! Nun – die Folgen hast Du zu tragen. Jetzt weiß ich ganz genau, daß ich alle Ursache habe, Dich mundtot zu machen! Vorher aber werden wir Dir die Wahrheit ausprügeln! – Sambo, hol’ mal ein Tauende her!“ befahl er einem der Mulatten. „Und Ihr beide, Schipwell und Doster, Ihr haltet den kleinen Spion fest! Reißt ihm die Lederhose herunter, damit die Hiebe aufs nackte Fell –“

Er schwieg, stieß dann einen Fluch aus.

Werner war urplötzlich hochgeschnellt, war mit einem Satz aus der Nähe des Feuers und hinab auf den flachen Strandstreifen gesprungen, lief hier gut dem weichen Sande in die Dunkelheit der weiten Felskluft hinein.

Hinter ihm drein feuerte Palwson jetzt alle sechs Schüsse seines Revolvers ab, ergriff nun ein brennendes Scheit und rannte dem Flüchtling nach. Auch einige seiner Gefährten taten das gleiche. Inzwischen war Werner jedoch, von einem plötzlichen Schwächeanfall gepackt, matt zu Boden gesunken und hatte nur noch so viel Kraft gefunden, nach links an der Uferböschung ein Stück hinauf und zwischen ein paar Felstrümmer zu kriechen. Von hier aus sah er nun Palwson und den Mulatten Sambo vorübereilen, hörte auch des Amerikaners Zuruf an die anderen, sofort die Strickleiter zu entfernen, damit dem verd… Boy der Rückweg verlegt würde. –

Inzwischen war Willi in derselben vorsichtigen Art dem Freunde gefolgt und hatte aus der Ferne die Vorgänge am Feuer genau beobachtet. Als er hörte, daß Werner durch Schläge zur Preisgabe der Wahrheit gezwungen werden sollte, war er sofort umgekehrt, da er den Freund nur durch schleuniges Herbeiholen der Männer aus der Ansiedlung retten zu können glaubte. Er hatte gerade die Strickleiter wieder erreicht, hatte schon die Arme hochgereckt, um die Holzsprossen zu umfassen, – da fiel von oben herab ein Mensch auf ihn herauf, riß ihn durch das Körpergewicht zu Boden und umklammerte seinen Hals so fest, daß er nicht einmal einen noch so leisen Schrei ausstoßen konnte.

Die nachtschwarze Dunkelheit machte es dem Jungen unmöglich, den Angreifer zu sehen. Er fühlte nur dessen Finger an seinem Halse und – noch etwas so widerlich Scheußliches, daß er sofort an Onkel Alberts Schilderung der Eigentümlichkeiten der noch in völliger Ungebundenheit fern vor allen Ansiedlungen lebenden Eskimos dachte, – an den Gestank, den ihre eingefetteten, nie gewaschenen Körper und ihre Fellanzüge verbreiten, ein Gestank, der für eine Europäernase unerträglich ist und ein Verweilen in einem geschlossenen Raume zusammen mit diesen Naturkindern unmöglich macht.

Eskimos! – Doch – woher sollten die wohl so plötzlich hier auftauchen?! – Onkel Albert hatte ja auch erwähnt, daß das nächste Dorf dieses Polarvolkes wenigstens sechzig deutsche Meilen weiter nördlich liege und daß dort auch seine beiden nun ermordeten treuen Gehilfen Rupsuak und Urmivik beheimatet gewesen seien.

Nun – Willi sollte noch länger Zeit haben, sich so allerlei zu überlegen, denn im Nu wurde er jetzt mit Riemen gefesselt und bekam auch einen stinkenden Zeugfetzen als Knebel in den Mund.

Noch immer herrschte um ihn herum nachtschwarze Finsternis. Er hörte aber eine Menge Stimmen in leisem Flüsterton erregte Bemerkungen austauschen und roch auch die keineswegs lieblichen Düfte in solcher Stärke, daß ihm fast übel wurde.

Dann erklangen die von den Felswänden der Kluft in den donnerndem Widerhall zurückgeworfenen Revolverschüsse Palwsons, die er hinter dem fliehenden Werner abgefeuert hatte. Und bald darauf sah der gebundene, am Boden liegende Junge auch den Lichtschein des brennenden Holzscheites, das der Amerikaner in der hoch erhobenen Linken trug. Der Lichtschein kam näher und näher. Jetzt beleuchtete diese Fackel den gefesselten Knaben, jetzt prallte Palwson erschrocken zurück.

„Ha – was bedeutet das?!“ rief er und beugte sich über den Jungen. „Hier haben wir ja den anderen Boy.“

Zwei Mulatten und ein Weißer mit pockennarbigem Gesicht traten hinzu.

Willi erhob den Oberkörper. Er erblickte nun Palwson und dessen Genossen. Die Eskimos waren verschwunden.

Doch – sie meldeten sich jetzt in einer Weise, die für den Amerikaner und seine Sippe unangenehm werden sollte.

Urplötzlich leuchteten hinter einer steinigen Erhebung drei helle Punkte auf. Es war das Licht von Harzfackeln, die die Eskimos angezündet hatten, nachdem sie erkannt, wer die Leute waren, die um ihren Gefangenen herumstanden.

Gleichzeitig fast ertönte eine rauhe Stimme, die drohend in sehr schlechtem Englisch rief:

„Werft Eure Waffen weg, Ihr Mörder, oder wir schießen! Werft sie weg, wenn Ihr nicht sofort wie eine Robbe eine Kugel in den Kopf haben wollt!“

Palwson und die drei anderen verharrten einen Augenblick ganz regungslos vor Schreck. Ihre Augen eilten über den schwach erleuchteten Rand jenes Hügels hin. Und sie sahen dort die mit Fellkappen bedeckten Köpfe eines Dutzends Eskimos, die ihre Gewehre, zumeist zwar unmoderne Vorderlader, auf sie gerichtet hatten.

Palwson ließ sein brennendes Scheit fallen, duckte sich und rannte im Zickzack dem Lagerplatz zu, gefolgt von seinen Genossen, die schnell begriffen hatten, was er beabsichtigte.

Aber – die Feinde drüben hatten nicht umsonst gedroht. Schüsse knatterten. Dann kurz hintereinander ein paar gellende Schreie.

Und Willi beobachtete nun weiter, wie die kleinen, ganz in Leder gekleideten Gestalten der Eskimos hinter den Fliehenden dreinhuschten. Doch nicht alle taten’s. Einer blieb bei dem Knaben zurück, nahm ihm die Fesseln und den Knebel ab, half[2] ihm auf die Beine und sagte wieder in gebrochenem Englisch:

„Der kleine Freund des Mannes von der Germany-Bucht braucht die Inuit[3] (Menschen; so nennen sich die Eskimos. Den Namen Eskimo (Rohfleischesser) haben sie von den Algonkin-Indianern der Halbinsel Labrador erhalten) nicht zu fürchten. Wir sind nur hergekommen, um unsere Stammesgenossen Rupsuak und Urmivik zu rächen und deren Mörder dem dänischen Richter in Frederiksdal zu übergeben.“

Inzwischen hatten die anderen Eskimos die durch Schüsse verwundeten drei Gefährten Palwsons gefunden. Dieser selbst war glücklich an das Lagerfeuer gelangt, wo er sofort den übrigen befahl, sich auf den Schoner zurückzuziehen. Dies geschah in größter Eile. Kaum hatten die Banditen die Laufplanke eingezogen, als auch schon die ersten Eskimos in der Nähe des Feuers eintrafen und sogleich auf die an Deck befindlichen Leute zu schießen begannen, so daß diese schleunigst in den Kajütaufbau flüchten mußten. –

Einige Stunden später hatten dann auch Albert Müller und sein Bruder Georg, die von den Knaben nach der Felskluft geholt worden waren, die aus vierzehn Männer bestehende Schar der Eskimos um zwei weitere Büchsen vermehrt, so daß der jetzt durch zahlreiche Feuer beleuchtete Schoner von allen Seiten bequem beschossen werden konnte.

Albert Müllers Anordnungen wurden von den schwarzhaarigen kleinen Gesellen ohne weiteres befolgt, zumal er deren Anführer bereits von früher her kannte.

Dieser, ein älterer Eskimo, der vor mehreren Jahren in Europa längere Zeit zusammen mit einer ganzen Horde der Seinen, verpflichtet für Schauzwecke durch die bekannte Firma Hagenheck in Stellingen bei Hamburg, an den verschiedensten Orten geweilt und den Namen Nugumiut hatte, gab über sein und seiner Stammesgenossen Auftauchen hier folgende Aufklärung:

Rupsuak und Urmivik, die bekanntlich eines Totschlages wegen ihren Stamm verlassen hatten, waren heimlich durch einen Unterhändler, der ebenfalls ein Eskimo war, mit den Verwandten des von ihnen Erschlagenen wegen Vereinbarung eines Sühnegeldes in Verbindung getreten und hatten auch bereits ihre bei dem Einsiedler der Germania-Bucht gemachten Ersparnisse dem Unterhändler übergeben, so daß ihrer Rückkehr nach ihrem Heimatsdorfe nichts mehr im Wege stand. Dieser Unterhändler war nun gerade an demselben Tage wieder bei der Niederlassung erschienen, als der Schoner mit Palwson und seinen Banditen in die Bucht einlief. So war der Eskimo heimlich Zeuge geworden, wie die Verbrecher Albert Müllers Gehilfen erst durch die brutalsten Mißhandlungen gepeinigt und dann erschossen hatten. Nach dem fernen Dorfe kehrte er aber erst zurück, nachdem er das Versteck des Schoners in diesem nördlicheren Fjord durch Beobachtung der Verbrecher festgestellt hatte. Auf diese Weise hatte dann der alte Nugumiut, den die Seinen als ihr Oberhaupt anerkannten, obwohl die Eskimos sonst ohne jede Oberhoheit in völliger Gleichberechtigung dahinleben, den Rachefeldzug gegen die Mörder vorbereiten und ausführen können.

Albert Müller kam es darauf an, sich Palwsons und dessen Leute ohne weiteres Blutvergießen zu bemächtigen. Der einfachste Weg hierzu war, daß man die auf dem Schoner Eingeschlossenen aushungerte. Doch wollte er vorher wenigstens den Versuch machen, die fünf Banditen, die drei von den Eskimos verwundeten waren sehr bald ihren Verletzungen erlegen – dazu zu überreden, sich gutwillig gefangen zu geben.

Er rief Palwson vom Ufer aus an und erklärte dann dem auf Deck Erschienenen, daß dieser und die vier übrigen Banditen nicht die geringste Aussicht hätten, irgendwie zu entwischen. Sie sollten daher keinen Widerstand weiter leisten, sondern einzeln unbewaffnet an Land kommen; sie würden sodann zur Aburteilung dem zuständigen Richter übergeben werden.

Palwson antwortete mit einer Auslese rohester Flüche. Er machte jetzt aus seinem wahren Wesen kein Hehl mehr. Die Maske des braven Seemannes, die er bis dahin getragen, warf er vollends ab. Aus seinem ganzen Auftreten sprach die höhnische Sicherheit eines Menschen, der genau weiß, daß man ihm nichts anhaben kann und daß er[4] trotz seiner scheinbar verzweifelten Lage entschlüpfen wird.

Albert Müller gab es bald auf, diesen rüden Burschen eines Besseren zu belehren. Immerhin hatte ihn aber dessen ganzes Verhalten nachdenklich gestimmt. Er sagte sich, daß die Verbrecher sehr wahrscheinlich bereits ein Mittel gefunden hätten, wie sie entwischen könnten. Deshalb schärfte er den Eskimos und den Seinen auch größte Wachsamkeit ein, ließ die Feuer noch vermehren, damit der Schoner ganz hell beleuchtet dalag.

Die von ihm ausgestellten Wachen, die gleichzeitig auch die Feuer unterhalten mußten, durften sich nie so weit hinter den Felsstücken hervorwagen, daß sie den Belagerten ein Ziel darboten, da diese dann sofort zu schießen begannen. Zum Glück waren sämtliche fünf Kerle miserable Schützen und verschwendeten lediglich ihre Munition. Werner und Willi, die natürlich freiwillig und mit größtem Eifer dauernd mit Wächter spielten, begleiteten jeden Fehlschuß der Leute des Schoners mit lautem Gelächter.

Die Nacht war inzwischen längst dahingeschwunden. Es wurde Mittag, und die Lage in der riesigen Felskluft, die sich vom Fjord aus wie ein Kanal in die Gesteinmassen hineinzog, war unverändert.

Gottlieb Knircks war gerade mit drei Eskimos nach der Ansiedlung unterwegs, um von dort Lebensmittel herbeizuschaffen, als Werner bemerkte, daß der Schoner sich langsam dem Ausgange der Schlucht zubewegte. Sofort meldete er dies Onkel Albert, der draußen auf dem Steilufer des Fjordes mit dem alten Nugumiut darüber verhandelte, ob nicht wieder eine Anzahl Eskimos in seine Dienste treten würden. – Kaum hatte Werner ihm mitgeteilt, daß der Schoner ganz von selbst aus dem natürlichen Kanal hinausgleite, als Albert Müller auch schon rief: „Natürlich haben die Halunken die Taue durchgeschnitten, mit denen der Schoner dort festgemacht war, und die jetzt infolge der Ebbe aus der Schlucht hinausgehende Strömung nimmt den Segler mit von dannen –“

Eiligst kletterte er dann, gefolgt von dem alten Eskimo und dem Knaben, in die Schlucht hinab, konnte hier jedoch nichts ausrichten, da der schlaue Palwson jetzt offenbar irgendwie den Schoner vom Innern aus steuerte und es kein Mittel gab, dem Schiffe die Ausfahrt in den Fjord unmöglich zu machen, zumal die Banditen jetzt noch eifriger als vordem auf jeden der Belagerer feuerten.

Albert Müller fürchtete bereits, untätig dulden zu müssen, daß die Verbrecher ungestraft auf und davon segelten, als der alte Eskimo ihn darauf aufmerksam machte, daß gerade jetzt die Mündung des Fjordes, die kaum sechzig Meter breit an einer Stelle war, durch einen wohl vor kurzem von einem der in den Fjord hinabgleitenden Eisströme abgesetzten Eisberge vollständig versperrt sei. – Der Schoner saß also wie in einer Mausefalle fest. Und ehe der Eisberg so weit weggetaut war, daß er durch die Fjordmündung ins offene Meer hinausschwamm, konnten Wochen vergehen. Bis dahin aber würde den Leuten auf dem Schoner irgendwie schon beizukommen sein, tröstete sich Albert Müller nun.

Bald darauf hatte der Segler die Mitte des Fjordes erreicht. Hier, wo ihm Schüsse vom Ufer her nichts anhaben konnten, brachten Palwson und seine Leute eiligst die Takelage in Ordnung und steuerten dann, begünstigt durch einzelne schärfere Windstöße, die[5] die Segel prall füllten, der Einfahrt zu. Hier in der schlauchartig sich verengenden Mündung gab es für sie jedoch keine Möglichkeit, den Schoner zu wenden und wieder in das größere Becken zurückzukehren, und hier konnten sie ebenso leicht von der Höhe des südlichen Steilufers aus, wohin Albert Müller mit den Seinen schnell dem Schoner gefolgt war, beschossen werden.

Ihre Lage war daher nunmehr eine weit schlechtere als zuvor. Unter diesen Umständen entschloß Palwson sich, den Schoner preiszugeben und an der einzigen Stelle des Nordufers, die ein Erklettern der turmhohen Felsen gestattete, emporzuklimmen und die Flucht zu Fuß fortzusetzen. Diese Stelle nun war nichts anderes als ein Gletscher, dessen Eismasse sich bereits so weit über den Rand der Steilküste hinweggeschoben hatte, daß sie, wie eine ungeheure Eistraube herabhängend, fast schon den Wasserspiegel berührte. Jeder Gletscher führt nun eine Menge festgefrorener Steinbrocken und Felsstücke mit sich, und diese Vorsprünge benutzten die fünf Verbrecher dazu, sich gewandt an der geneigten Eisfläche hochzuarbeiten.

Kaum hatte Müller und die Eskimos die Absichten der Flüchtlinge durchschaut, als sie auch schon rücksichtslos zu feuern begannen, denn es mußte ja unbedingt vermieden werden, daß dieses gefährliche Gesindel ein Schrecken der ganzen Küste würde. Mittlerweile war jedoch bereits der Abend angebrochen, und die Dämmerung erschwerte immerhin das Zielen so sehr, daß die Kugeln sämtlich daneben gingen.

Dann aber ereignete sich etwas, woran niemand gedacht hatte, etwas so Furchtbares, daß den Zuschauern das Blut in den Adern förmlich gerann und daß selbst über die Lippen der gewiß nicht nervenschwachen Eskimos sich Ausrufe des Entsetzens drängten.

Ganz plötzlich ertönte von der Eistraube des überhängenden Gletscherendes her ein donnerndes Knallen und helles Klingen, ein Gemisch von Tönen, das Albert Müller nichts Neues mehr war.

„Die Gletschertraube löst sich!“ schrie er überlaut. „Da – seht, der obere Teil kippt über!“

Durch das schrille Knistern der berstenden Eismassen drang das Angstgebrüll der fünf Verbrecher wie die Stimmen von Wahnsinnigen hindurch.

Dann fiel der ganze, ungeheure weiße Block mit ohrenbetäubendem Platschen in das Wasser des Fjordes hinein. Eine haushohe Woge sprang auf, brandete gegen die Ufer, schäumte weiter, flutete zurück und verwandelte die Einfahrt in einen brodelnden Hexenkessel, in dem nun der sofort wieder aufgetauchte, neu erstandene Eisberg schwerfällig hin und her taumelte.

Der Schoner selbst war wie durch ein Wunder der Katastrophe entgangen. Die Riesenwoge hatte ihn mit sich fort in das Hauptbecken getragen.

Bereits eine Viertelstunde später zeigte der Fjord ein völlig friedliches Bild. Der neue Eisberg hatte sich als zweiter Keil vor die Fjordmündung geschoben. Und soeben hatten die Eskimos, die mit Hundeschlitten von Norden her über die Schneefelder ihren Weg genommen und auch mehrere Kajaks (Fellboote) mitgebracht hatten, die zum Teil furchtbar verstümmelten Leichen der fünf Verbrecher aufgefischt. –

Am nächsten Morgen finden wir den Häuptling Nugumiut mit seinen Leuten als Gäste der Ansiedler am Gestade der Germania-Bucht wieder. Und jetzt war auch der Augenblick gekommen. wo Albert Müller es für angebracht hielt, seinen deutschen Verwandten und Freunden über das von ihm in der Robben-Bai entdeckte Steinkohlenlager näheren Aufschluß zu geben.

„Meine Freunde,“ begann er, „ich hätte Euch längst in dieses meiner Ansicht nach sehr wertvolle Geheimnis eingeweiht, wenn wir eben nicht hier nur rauchende Trümmer vorgefunden und daher erst wieder uns die nötigen Baulichkeiten hätten errichten müssen. So lange diese nicht fertig waren, hatte es keinen Zweck, mit meinen weiteren Plänen herauszurücken. Nun aber sollt Ihr erfahren, daß vor zwei Jahren mich ein Zufall in der nördlich gelegenen, sehr großen Robben-Bai eine mächtige Höhle finden ließ, in deren östlicher Wand Steinkohle in breiten Flözen zu Tage tritt. Der Abbau der Kohle ist sehr leicht, da keinerlei Bergwerksarbeiten dazu nötig sind. Ich und meine beiden Eskimo hatten mühelos bereits ziemliche Menge Kohle gewonnen und teils für uns zu Heizzwecken verbraucht, teils auch nach Frederiksdal mit dem Kutter geschafft. Ich habe mein Geheimnis bisher streng bewahrt. Daß es trotzdem die Habgier der Menschen erregt hat, zeigte der Überfall durch Palwson und seine Leute, von denen wir ja jetzt durch die in dem Schoner aufgefundenen Papiere wissen, daß Palwson in Wahrheit ein Peruaner und rechtmäßiger Besitzer des für den Robbenfang ausgerüsteten Seglers war. Als er dann in Frederiksdal – so nur können die Zusammenhänge der weiteren Geschehnisse sein – gehört hatte, daß ich ganz offenbar ein reiches Kohlenlager entdeckt hätte, gedachte er dieses selbst auszubeuten. Um den Ort zu erfahren, wo es zu suchen sei, spielte er dann den von Meuterern zurückgelassenen braven Seemann. Nun – die Strafe hat ihn und seine Leute ereilt. Wir aber sind auf diese Weise in Besitz eines seetüchtigen Fahrzeugs gelangt, das uns zum Transport der gewonnenen Kohlen noch gute Dienste leisten wird. Ich habe auch bereits von Nugumiut die Zusicherung erhalten, daß er uns zwölf seiner Stammesgenossen als Arbeiter beschaffen will. Wir können mithin mit dem Abbau der Steinkohle sofort in größerem Maßstabe beginnen. Leider eignet sich die felsige, unwirtliche Umgebung der Robben-Bai in keiner Weise zu einer Niederlassung. Wir müssen also schon hier wohnen bleiben und die Unbequemlichkeit mit in Kauf nehmen, daß unsere Erwerbsquelle, die Kohlengrube, einige zehn Meilen weiter nördlich liegt –“ Er entwickelte nun im einzelnen seine Ideen, wie er sich die Ausbeutung des Kohlenlagers dächte, und stellte auch eine ungefähre Gewinnberechnung auf, die überaus günstig war. Jedenfalls genügten diese Angaben, den neuen Ansiedlern die Zukunft in ein ganz anderes Licht zu rücken.

Während man dann noch dies und jenes gemeinsam besprach, erklärte Gottlieb Knircks plötzlich, – und er bewies so, daß das Sprichwort von der blinden Henne und dem Korn auf ihn sehr wohl zutraf.

„Wär’s nicht am richtigsten, für die Wintermonate, in denen auch hier alles unter Eis und Schnee begraben liegt, ganz nach der Höhle überzusiedeln, die doch so groß sein soll, daß man darin sehr bequem hausen kann, und die uns noch vor Schneefällen und eisigen Winden schützen wird? Wir könnten dort dann während des Winters so viel Vorräte an Kohlen anhäufen, daß wir im Sommer vollauf mit deren Verfrachtung zu tun hätten!“

„Freund Knircks,“ rief Albert Müller sofort, „der Gedanke verdient, daß wir Brüderschaft machen! Also fortan auf Du und Du, – und Ende August siedeln wir nach der Robben-Bai über.“ –

Ein halbes Jahr später.

Die Ostküste Grönlands war von hohen Schneemassen, das Meer weithin mit endlosen Feldern von Treibeis bedeckt. Auch die Robben-Bai war fest zugefroren, und an ihrem Nordufer lag dicht an einem weiten Felsloch der jetzt „Onkel Albert“ getaufte Schoner in seinem Eisbett. Von seinem Verdeck führte eine Laufplanke nach dem Eingang der Riesenhöhle, in der Tag aus Tag ein eine Menge große Petroleumlaternen brannten und den Ansiedlern und den Eskimos bei ihrer Arbeit leuchteten. –

Es war am Vorabend des Weihnachtstages. Am nördlichen Himmel strahlte ein prachtvolles Nordlicht und verwandelte die Winternacht der Polargegenden in ein zauberhaft schönes Bild einer romantischen Winterlandschaft.

Über ein Schneefeld westlich der Bai kamen zwei Hundeschlitten in sausender Eile daher und strebten dem Höhleneingang zu. Auf jedem der Schlitten saß eine dicht in Pelze gehüllte Gestalt. Es waren Werner und Willi, die soeben von einer erfolgreichen Eisbärenjagd heimkehrten und die gleichzeitig auch ein paar Erlenstämmchen mitgebracht hatten, um daraus künstlich so etwas wie einen Weihnachtsbaum herzustellen.

Und wirklich: am folgenden Abend erstrahlte in dem gemeinsamen Versammlungsraum der größten der drei in der Höhle errichteten Blockhütten ein echt deutscher Christbaum. Weihnachtslieder erklangen; Bratendüfte durchzogen das Haus; selbst Gebäck aller Art war vorhanden. Und die Eskimo machten große Augen und freuten sich nicht minder über ihre Geschenke als ihre deutschen Freunde. Gottlieb Knircks aber hielt eine lange Festrede, die in die Worte ausklang:

„Einige Jahre fleißiger Arbeit hier, und wir können in die deutsche Heimat zurück! Drum: es lebe Grönland, es lebe unser Grönländer, dessen Brief uns hierher geführt hat, – es lebe die Arbeit – die Zukunft!“

Die mit Weihnachtspunsch gefüllten Gläser klangen aneinander. –

Das war der Auswanderer erste grönländische Weihnacht, ein Fest zufriedener, glücklicher Menschen.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Insel-Erbe.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Das“.
  2. In der Vorlage steht: „halfen“.
  3. In der Vorlage steht: „Innuit“.
  4. In der Vorlage steht: „re“.
  5. In der Vorlage steht: „dier“.