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Der Löwe von Flandern

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 20

 

Der Löwe von Flandern.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 26

 

„Hm,“ meinte Harst und deutete auf einen kleinen Dampfer. „Er kommt drüben von Hollehne, jener kleinen Stadt an der Westseite des Fjords, deren dicken Kirchturm Du mit bloßem Auge erkennen kannst. Und ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht sofort irgend eine wichtige Nachricht erhalten. Mit uns, einer Privatjacht, hat ein Lotsenfahrzeug hier an der Mündung des Fjords nichts mehr zu tun.“

Wir befanden uns auf dem Kajütendeck der kleinen Segeljacht Optimus, die jetzt durch ihren Aushilfsmotor sich der nahen offenen See zutreiben ließ. Wir kamen von Christiania und wollten hinauf nach Island, wo wir auf ein Abenteuer ganz besonderer Art rechneten.

Wir wollten! – Gewiß – das Abenteuer entging uns nicht, aber zunächst mußten wir nochmals nach Christiania zurück, des – Löwen von Flandern wegen.

Der Lotsendampfer stoppte, winkte. Man reichte uns eine Depesche herüber. Sie war für Harst bestimmt.

„Harald Harst, Jacht Optimus, unterwegs nach Förder-Leuchtturm. – An Bord durch Lotsendampfer Hollehne abzugeben.“ So die Adresse. Dann:

„Bitte wenn irgend möglich zurück nach Christiania, da hier soeben holländische Brigg eingeschleppt worden ist, auf der ein Verbrechen verübt zu sein scheint. Die ganzen Umstände sehr rätselhaft. – Dank im voraus. – Polizeiinspektor Hjalmar Lundström.“

„Na – habe ich nicht richtig prophezeit!“ meinte Harald. „Was meinst Du, lieber Schraut, beißen wir an? – Ich denke ja. Vielleicht läßt sich die Sache in einem Tage erledigen. Und Lundström ist ein so netter Mensch, dem ich gern einen Gefallen tue.“

Er rief nach dem Lotsendampfer zurück: „Telephonieren Sie an Inspektor Lundström, daß wir sofort wenden und in zwei Stunden wieder in Christiania sind.“

Der Dampfer schoß davon. Harst aber holte sein goldenes Zigarettenetui hervor und blies bald mit halb geschlossenen Augen schnell zerflatternde Rauchwölkchen in die Luft. Er lag ausgestreckt in dem flach gestellten Liegestuhl vor mir und schwieg minutenlang, blinzelte mir dann zu und sagte:

„Die Brigg sah eigentlich gar nicht geheimnisvoll aus. Du hast sie ja auch bemerkt. Sie wurde gerade eine halbe Stunde vor unserer Abfahrt aus Christiania in den Westhafen Piperviken eingeschleppt und am Kai vertäut.“

„Bedaure, – ich habe sie nicht bemerkt,“ erklärte ich etwas kleinlaut.

„So so. Und dabei gab’s an ihr doch mancherlei zu sehen. Nichts Geheimnisvolles gerade. Nein – es ist ja wohl schon ein sehr alter Segler, aber der Anstrich machte ihn noch ganz stattlich. Der Name am Heck deutete nicht auf einen Holländer hin. „Löwe von Flandern“ ist für ein Kauffahrteischiff auch beinahe zu drohend. – Der Dampfer, der die Brigg einschleppte, war ein Fischdampfer! „Kuxhaven 3“ stand am Bug zu lesen.“

„Du sprachst doch von – „mancherlei zu sehen,“ wenn ich recht gehört habe,“ warf ich ein. „Bis jetzt hast Du eigentlich nur das Alter, den Anstrich und den Namen erwähnt.“

„Weshalb hast Du denn all das nicht auch bemerkt, mein Alter?“ sagte er und schüttelte wie mißbilligend den Kopf. „Zuweilen begreife ich wirklich kaum, daß gerade ich meine Augen so ganz anders zu gebrauchen verstehe, als die meisten Leute. Es ist doch zum Beispiel fraglos auffallend, wenn ein deutscher Fischdampfer ein Segelschiff, das keineswegs wrack ist, das eine tadellose Takelage hat und dessen Steuer ebenfalls in Ordnung ist, in einen norwegischen Hafen bringt. Mir jedenfalls fiel dies sofort auf. Und deshalb ließ ich meinen an sich ganz spannenden Roman sinken und schaute zu, wie der Löwe von Flandern am Bollwerk festgemacht wurde. Du saßest neben mir, aber Du hattest mit Karl so eifrig den doch bereits abgetanen Fall des Gespensterwracks durchzusprechen, daß Dir entging, wie zum Beispiel einer der Matrosen des Kuxhaven 3 sehr eilig nach der Stadt lief. Da schon sagte ich mir: Hier ist etwas nicht so, wie es sein soll! – Ebenso entging Dir, daß die Leute des Fischdampfers sehr erregt auf die Brigg deuteten. – Und schließlich –“ Er hüstelte, fuhr dann fort: „Schließlich sah ich noch etwas sehr Merkwürdiges. Aber davon später.“

„Dann hättest Du es lieber gar nicht andeuten sollen. Du machst es wie stets: Du reibst einem die geistige Blindheit unter die Nase – denn es handelt sich hier ja mehr um ein Sehen mit dem Verstande! – und behältst das Beste nachher für Dich! – Was war’s denn, – laß mich nicht lange bitten!“

„Hm –“ Pause. „Es war ein Mann.“

„Ein Mann? – Was heißt das?“

„Nun – ein bärtiger Mann in abgerissener Seemannstracht, der blitzschnell aus einem der Heckfenster der Brigg an einem Seil hinabkletterte, das Seil nach sich zog und die drei Meter bis zu dem nächsten Kohlenkahn unter Wasser schwamm, wieder auftauchte und sich schleunigst hinter dem dreckigen Kohlenkahn verbarg. Er kam auch nicht mehr zum Vorschein, bis wir abfuhren. Wenn ich nicht so versessen auf Island und Palperlons Rebus gewesen wäre, hätte ich mir den Menschen gern genauer angesehen. Aber so –“

Meine bisherige Gleichgültigkeit gegenüber dem Löwen von Flandern war wie weggewischt.

„Du – das ist ja aber von allergrößter Wichtigkeit,“ meinte ich eifrig. „Der Mann kann weiß Gott was auf dem Gewissen haben. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, Deine Beobachtung doch noch schnell der Polizei zu melden oder aber noch einfacher nach dem Kohlenkahn hinüberzufahren und den Kerl festzunehmen.“

„Stimmt! – Und – hätte ich’s getan, dann hätten wir als „Zeugen“ vielleicht noch stundenlang in Christiania bleiben müssen! – Ich bin eben zu begierig darauf, was unser intelligenter Todfeind James Palperlon dort auf Island für ein Bubenstück „ausgeheckt“ hat. – Jetzt, wo Lundström um meine „Unterstützung“ bittet, muß Palperlon freilich warten. Selbstverständlich verschweigst Du dem Inspektor gegenüber diesen Matrosen, lieber Schraut. Du kennst mich ja: ich gebe keine Trümpfe aus der Hand, spiele sie stets erst zum Schluß aus.“

Als wir dann kaum im Piperviken[1] wieder an der alten Stelle den Optimus vertäut hatten, kam auch schon der blonde Riese Lundström das Bollwerk entlang, stieg zu uns an Bord, schüttelte uns die Hände, setzte sich und begann:

„Vielen Dank, Herr Harst, daß Sie so liebenswürdig waren und umgekehrt sind. Ich hätte nie gewagt, Sie in dieser Weise zu belästigen, wenn eben nicht auf der Brigg sich sehr seltsame Dinge abgespielt hätten.“

„Was denn?“ fragte Harst, dem nichts unangenehmer war als Weitschweifigkeit.

„Der Fischdampfer begegnet 330 Seemeilen südwestlich der Fjordmündung einem Segler, der mit halb gerefftem Zeug (Segel) bei dem schwachen Winde dahintreibt. Die Leute des Kuxhaven 3 wären nun nie auf diese Brigg besonders aufmerksam geworden, wenn nicht einer der deutschen Matrosen gerade ein Glas bei der Hand gehabt und damit festgestellt hätte, daß an Deck der Brigg kein lebendes Wesen zu sehen war. Nur deshalb näherten sie sich ihr, setzten ein Boot aus und fuhren hinüber, kletterten an Bord, riefen, brüllten, – alles umsonst! Kein Rattenschwanz zeigte sich. Sie durchsuchten das ganze Schiff mehrmals, aber – es war kein Mensch dort zu finden. Nur in der Kajüte des Kapitäns, der nach den Schiffspapieren Pieter Planboom heißen mußte, bemerkten sie etwas, das ihnen zu denken gab: der Schreibtisch war gewaltsam erbrochen, der Inhalt der Fächer auf dem Boden verstreut und – mit Blut besudelt. Blutspritzer auf den Papieren, den Büchern, dem Teppich; und ein blutiges Dolchmesser lag auf dem Tisch mitten auf einer aufgeschlagenen deutschen Ausgabe von – Heinrich Heines Gedichten. – Der Kapitän des Kuxhaven namens Hollborn hat dann selbst nochmals aufs allergenaueste die Brigg von oben bis unten durchstöbert. Aber der Erfolg blieb derselbe: kein Mensch war an Bord; das Steuer war festgebunden, und in der Schiffsküche bewies ein bereits sauer gewordenes, auf dem Herde halb gar gekochtes Erbsengericht, daß die Besatzung des Löwen von Flandern kurz vor dem Mittagessen vor etlichen Tagen schon das Schiff verlassen haben mußte. Da nun aber die beiden Boote der Brigg noch vorhanden sind, so ist es geradezu unbegreiflich, wo die sechs Mann geblieben sein könnten.“

„Woher kam die Brigg?“ fragte Harst, der jetzt mit völlig geschlossenen Augen halb aufrecht in seinem Liegestuhl saß.

„Aus Kolombo auf Ceylon[2] mit Bananen für Christiania. Deshalb hat der Fischdampfer den Löwen von Flandern auch hier eingeschleppt. Die Ladung ist für die hiesige Firma Knudsen u. Kompagnie bestimmt. Nach den Schiffspapieren bestand die Besatzung aus dem Kapitän Pieter Planboom, einem Amsterdamer, dem Steuermann Rouvier, einem Franzosen, und vier indischen Matrosen. Die Brigg ist Eigentum des Kapitäns Planboom. – So – das wäre alles, Herr Harst. Vielleicht kommen Sie nun mal mit hinüber auf den Segler. Ich habe in der Kajüte alles so belassen, wie es war.“

Harst hob jetzt – sehr zu meinem Erstaunen – wie bedauernd die Schultern und erwiderte:

„Auch ich werde in diesem Falle nichts ausrichten können, bester Lundström. Ich bin in seemännischen Dingen fast gänzlich Laie. Für dieses Geheimnis – denn das liegt ja bestimmt vor – gehört ein Fachmann. Ich habe nun zufällig gestern abend hier in Christiania einen Berliner Kollegen getroffen, einen Berufsdetektiv namens – Hecker.“

Er log fraglos. Was sollte dies?!

„Dieser Hecker ist heute nach Frederiksstadt gefahren, kommt jedoch abends zurück. Sie treffen ihn sehr wahrscheinlich noch nach neun Uhr in der deutschen Bierstube in der Karl Johans Gade (Straße) an. Ich rate Ihnen dringend, Hecker zu bitten, Ihnen beizustehen. Er ist Fachmann für alles, was die Seefahrt angeht. Sie erkennen ihn leicht an dem rötlichen Spitzbart und der Hornbrille. Wo er hier in Christiania wohnt, weiß ich nicht. Er dürfte seinen Freund Schubert noch bei sich haben, einen Berliner Rechtsanwalt. – Wie gesagt: ich kann Ihnen wirklich hier kaum nützen. Also entschuldigen Sie schon, wenn ich mich wieder empfehle. Sie wissen, ich will noch nach London und dann nach Hause.“

Lundström erhob sich sofort. Er war offenbar etwas verletzt, weil Harst ihn jetzt plötzlich doch im Stiche ließ. Der Abschied war kühl und förmlich.

Unsere Jacht steuerte dann abermals den Fjord entlang. Es war jetzt gegen halb sechs, und es dunkelte bereits.

Harst war gleich nach dem Weggang Lundströms im Wohnsalon verschwunden, ohne mir irgend eine Erklärung für sein merkwürdiges Benehmen zu geben. Ich stand nun mit dem Besitzer der von uns nur gemieteten Jacht, dem alten Kapitän Tiessen mit unserem jungen Freunde Karl Malke und mit unserem Matrosen und Koch Pedersen am Heck neben der Treppe in den kleinen Maschinenraum, hinter dem auch das Steuerrad sich befand, das Tiessen bediente.

Ich hatte unseren Gefährten soeben mitgeteilt, weshalb Harst diesen „Fall“ abgelehnt hätte, und Tiessen hatte soeben gebrummt: „Unsinn – Harst versteht von seemännischen Dingen nicht viel weniger als ich!“ – da öffnete Harst die vertiefte Tür des Kajütenaufbaus und rief uns zu:

„Es geht wohl über mein Fell her?! – Na – beruhigt Euch nur! Detektiv Hecker ist schon an Bord des Optimus!“

Und – nun erst gewahrten wir, als er einen Schritt vortrat, daß es nicht mehr der bartlose Harald Harst, sondern ein bärtiger, Brille tragender Mann war, der sich diesen Scherz leistete.

Und – da ging mir ein Licht auf!

„Du willst dem Löwen von Flandern also in einer Verkleidung sein Geheimnis entreißen!“ sagte ich lachend. „Du wirst Hecker spielen, und ich soll den Rechtsanwalt Schubert mimen!“

„Allerdings! Denn – als Harst in Christiania auftreten, hieße von vornherein die Sache erschweren. Falls wirklich die Zusammenhänge dieser dunklen Geschichte des Löwen von Flandern so sind, wie ich vermute, hätten gewisse Leute in Christiania Vorsorge getroffen, daß ich überall auf Schwierigkeit stieße. Hecker dagegen werden Sie nur halb so sehr fürchten und sich daher weniger inachtnehmen. – Halbe Kraft nur noch, Pedersen, – halbe Kraft! Wir werden drüben zwischen den Inseln für unseren Optimus ein Versteck suchen, werden den Mast entfernen und die Jacht überhaupt möglichst unkenntlich machen. Sobald es dunkel ist, bringt Pedersen uns im Beiboot nach der Stadt zurück.“

– – – – – – – –

Von ¾9 an gingen wir vor dem Eingang der deutschen Bierstube in der Karl Johans Gade langsam auf und ab.

Harst wollte nicht erst drinnen Platz nehmen, um nicht Zeit zu verlieren.

Pünktlich 9 Uhr tauchte Inspektor Lundström auf. Wir stellten uns in den erleuchteten Eingang. Es glückte: Lundström stutzte, lüftete den Hut.

„Vielleicht Herr Hecker?“

Harst spielte den Überraschten. „Allerdings. Mein Name ist Hecker. Aber –“

Der Inspektor erklärte hastig, daß Herr Harst ihm geraten habe, – und so weiter. Er erkannte weder Harst noch mich.

Wir gingen, Lundström in der Mitte, die Karl Johans Gade hinunter nach dem Königlichen Schloß zu. Harst ließ sich die ganzen Einzelheiten des Falles genau erzählen, als wüßte er noch nichts davon.

„Gut, ich will mich in der Kajüte der Brigg gern mal umschaun,“ meinte er dann. „Können wir jetzt gleich an Bord gehen? Schubert und ich haben Taschenlampen mit.“

„Jetzt gleich?! – Meinetwegen, Herr Hecker,“ sagte Lundström verdutzt. „Aber – am Tage würden Sie vielleicht doch mehr –“

„– mehr sehen?“ warf Harst ein. „Oh – ich arbeite gern nachts. – Haben Sie eine Wache auf der Brigg?“

„Nein. Nur die Kajüte habe ich abgeschlossen. Den Schlüssel habe ich bei mir.“

„Sehr gut. Würden Sie ihn mir geben? – Sie brauchen sich nicht mit auf den Segler zu bemühen. Ich werde dort vielleicht Stunden zubringen. Ich arbeite langsam, aber sehr sorgfältig. Ihre Gegenwart würde mich nur stören. Hat Harst Ihnen nicht gesagt, daß ich nie mit der Polizei gleichzeitig etwas untersuche? – Ich habe so meine Schrullen.“

Lundström lächelte. „Das merkt man! – Bitte, hier ist der Schlüssel.“

Es hatte schon vorhin leicht zu tröpfeln begonnen. Wir waren jetzt in den Anlagen vor dem Schlosse.

Harst verabschiedete sich schnell von Lundström. „Es wird sofort ein Platzregen geben. Auf Wiedersehen. Ich suche Sie morgen früh im Polizeigebäude auf.“

Wir eilten den Munkedamsvejen (Weg) entlang, fanden eine Droschke, stiegen ein und ließen uns nach dem Westbahnhof fahren, der unweit des Piperviken-Hafens liegt.

Es goß jetzt in Strömen. Wir hatten inzwischen unsere Gummimäntel angezogen. Aus dem Bahnhof gingen wir in den Wartesaal, aßen schnell eins der warmen Gerichte, kauften noch eine Anzahl belegte Brötchen und eine halbe Flasche Rotwein und waren mit diesem Proviant versehen gegen halb elf an der Stelle des Hafens, wo unser Beiboot uns hatte erwarten sollen.

Pedersen hockte darin wie ein dunkler Klumpen. Er hatte sich in ein geöltes Segel eingewickelt, triefte vor Nässe und duftete nach Kognak, den er sehr liebte.

„Ein Sauwetter!“ brummte er. „Nun also zurück zum Optimus, Herr Harst?“

„Ne, bester Pedersen, deshalb sollten Sie nicht hier warten. Zum Löwen von Flandern – aber leise! Ich werde am besten selbst rudern. Halten Sie den Bootshaken bereit, damit wir mit dessen Hilfe schnell an Deck kommen.“

Es regnete Bindfäden. Man sah kaum die Hand vor Augen. Wir mußten daher erst nach der Brigg suchen.

Wir kletterten dann an der Wasserseite über die Reling, Harst voran, krochen auf allen vieren das Achterdeck entlang bis zur Tür der Kajüte. Diese lag in dem erhöhten Heck. Harst schloß sehr leise auf; wir schlüpften hinein, drückten die Tür wieder zu und befanden uns nun in schwärzester, unheimlichster Dunkelheit.

Harst rührte sich nicht. Er lauschte offenbar. Aber nur das Knattern der Regentropfen gegen das Kajütendach[3] war zu hören.

Dann – wie ein Hauch trafen die Worte mein Ohr:

„Vorsicht – wir sind –“

Und dann – schoß ein blendender Lichtkegel auf uns zu; dann eine Stimme, deren Klang beinahe gutmütig-ironisch war:

„Nicht den Finger rühren! Neben Ihnen steht jemand mit hiebbereitem Beil! – Ja – wozu kümmern Sie sich auch um Dinge, die Sie nichts angehen! Glaube gern, daß Sie auf diese Überraschung nicht vorbereitet waren!“

Ich schielte nach links. – Da stand wirklich ein Mensch mit erhobenem Arm.

Der, der die Azetylenlaterne hielt, fuhr nun fort:

„Strecken Sie die Hände nach vorn aus – ganz weit. So – danke!“ Er stellte die Laterne auf das kleine Mitteltischchen. Und ich sah nun, daß da ein aufgeschlagenes Buch und ein langer Dolch lagen.

Der Sprecher hatte ein Ende starke Schnur aus der Tasche geholt, band erst Harst die Handgelenke zusammen, dann auch mir.

„So,“ meinte er, „jetzt rate ich Ihnen, nicht etwa um Hilfe zu rufen. Das hätte auch wenig Zweck bei dem Lärm, den der Regen macht.“

Er rieb ein Zündholz an, und gleich darauf brannte die Pendellampe an der Decke, beleuchtete nun die ganze Kajüte, die etwa drei Meter breit und vier Meter lang war. Links an der Wand stand ein kleines Glanzledersofa. Dort mußten wir Platz nehmen.

Die beiden Männer waren wie einfache Seeleute gekleidet, trugen blaue Wollsweater und blaue, gestrickte Kappen. Außerdem aber noch vor den Gesichtern Masken aus grünem Zeug, das von der Nase ab in Fransen geschnitten war. Diese Masken reichten bis auf die Brust hinab. – Sie waren etwa gleich groß, die beiden; nur der Sprecher war schlanker.

Dieser setzte sich nun in den vor dem Schreibtisch stehenden Sessel und begann das Verhör.

„Lundström hat uns liebenswürdigerweise auf Ihre Einmischung schon vorbereitet gehabt, Herr Hecker. Daß Sie trotz des Regens jetzt nachts hier erscheinen würden, glaubten wir allerdings nicht. Weshalb sind Sie trotz des Gusses hergekommen?“

„Weil ich morgen vormittag eigentlich nach Bergen weiterreisen wollte,“ erklärte Harst freundlich.

„So so. – Sie sind mit Harst bekannt, Herr Hecker, nicht wahr? Lundström erwähnte[4] das.“

„Ja – oberflächlich.“

Die Unterhaltung wurde immer gemütlicher.

„Ein Genie, der Harst! – Auch Sie sollen als Detektiv was leisten, Herr Hecker.“ – Er sprach das Deutsche leicht gebrochen und suchte auch verschiedentlich nach dem richtigen Ausdruck.

„Mit Harst bin ich nicht zu vergleichen,“ meinte „Hecker“ bescheiden.

„Glaub’ ich gern. – Was nun, Herr Hecker? Sie sind uns unbequem. Lundström allein kommt für uns nicht in Betracht. Aber Sie als Spezialist für Seeverbrechen“ – das war jetzt sehr ironisch gesagt – „müssen wir kalt stellen.“

„Kalt stellen!“ wiederholte Harst, als ob er sich den Ausdruck merken wollte.

„Ja. Nicht kalt machen! Das ist ein Unterschied. – Wir werden Sie also vorläufig einsperren. Aber, wenn Sie wollen, können Sie sich vorher hier noch alles ansehen, wie’s ja wohl Ihre Absicht gewesen ist.“ Das klang wieder stark ironisch. „Sie werden nämlich doch nicht aus dieser Geschichte klug, bestimmt nicht! Die ist zu verzwickt!“ Er lachte leise.

„Verzwickt!“ kams aus Harsts Mund wie ein Echo.

„Ja – und wie verzwickt! Schade, daß der große Harald Harst mit dem Optimus in der weisen Erkenntnis, hier sei doch wohl nur schwer für ihn neuer Ruhm zu ernten, wieder davongegondelt ist. Sehr schade. Ich hätte ihm diese Nuß gegönnt. – Also – wenn’s beliebt, – schauen Sie sich hier nur ruhig um. ’s sieht ’n bißchen wüst hier aus. Und all die Blutspritzer!“

„Mit Ihrer Erlaubnis!“ – Harst erhob sich, ging hin und her, beugte sich über den Tisch, las halblaut aus dem aufgeschlagenen Heine-Band[5] vor:

„Du hast Diamanten und Perlen,
Hast alles, was Menschenbegehr,
Und hast die schönsten Augen:
Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“

Schon wieder lachte der schlanke Maskierte spöttisch auf.

„Nicht wahr, – ein hübsches[6] Gedicht!“ meinte er. „Wissen Sie jetzt, wo die Besatzung geblieben ist?“

„Das weiß ich schon längst: Ermordet und ins Meer geworfen!“ erklärte Harst völlig ernst. „Sie sollten lieber nicht hier so höhnisch-sicher tun! Auch Sie wird die Strafe ereilen. Sie beide können ja nur die Mörder sein!“

„Im Heine steht’s!“ spottete der Maskierte. „Ja – ja, es gibt auch Dinge, die ein Detektiv nicht herausbekommt!“

Harst setzte sich wieder. „Es hat keinen Zweck, daß ich hier mich bemühe,“ meinte er. „Wann werden Sie uns freilassen?“

„Bald, Herr Hecker. Vielleicht nach vier, fünf Tagen. Ihnen soll nichts geschehen, wenn Sie sich manierlich benehmen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort – gleichzeitig muß es auch Ihr Freund Schubert tun, – daß Sie nicht um Hilfe rufen wollen, dann ersparen wir Ihnen die Knebel.“

Wir gaben unser Ehrenwort.

Ich wurde aus alledem nicht klug. Harsts Verhalten war mir genau so rätselhaft wie das des Maskierten, der sich in so zynischer Frechheit als Spötter aufspielte. Unwillkürlich dachte ich an den Mann, den Harst beobachtet hatte, als er hier aus einem der beiden Fenster stieg, die jetzt von innen durch Decken dicht verhängt waren, damit kein Lichtstrahl hinausdrang. – Ob etwa einer dieser beiden Leute jener Mann war? Sehr wahrscheinlich doch!

Der mit dem Beile flüsterte jetzt mit seinem Genossen. Dann zerschnitten sie den Vorhang eines Bücherbretts, auf dem allerlei Klassiker standen, verbanden uns die Augen und fesselten uns die Hände so an die Sofabeine, daß wir die Augenhüllen nicht entfernen konnten.

Sie begannen nun in der Kajüte hin und her zu gehen, beklopften die Wände, rückten Möbel ab, flüsterten, fluchten leise, gingen wieder hin und her und benahmen sich ganz so, als ob sie etwas suchten.

Wir standen dicht dabei. Kein Zweifel: die beiden wollten hier ein geheimes Fach, ein schlau angelegtes Versteck finden.

Nach einer schier endlosen Zeit gaben sie die Suche auf. Sie waren jetzt schlechterer Laune als vorhin. Das merkten wir an dem Ton, in dem der Schlanke mit uns sprach.

Ich will die folgenden Ereignisse nur kurz streifen. Sie sind nicht besonders wichtig. – Wir wurden bei strömendem Regen mit verbundenen Augen in ein Boot geschafft, das wohl eine Stunde mit uns unterwegs war. Dann brachte man uns auf irgend ein größeres Schiff, in dem es ekelhaft nach Fischen und nach dem charakteristischen Geruch von Dampfmaschinen stank. Ein kleiner Verschlag wurde unser Kerker. Hier nahm uns der Schlanke die Fesseln und die Tücher ab. Wir saßen auf ein paar großen Wolldecken. In einer Ecke stand eine brennende Schiffslaterne.

Vier Tage dauerte unsere Gefangenschaft. Am dritten Tage abends hörten[7] wir das Stampfen einer Schiffsmaschine. Unser Kerker begann zu schwanken. Der Dampfer war unterwegs. – Wohin?

Nun, das sahen wir am Abend des folgenden Tages. Der Schlanke erschien, band uns die Hände, steckte uns unsere Pistolen in die Tasche, und dann brachte uns ein Boot an Land. Auch die Augen hatte man uns wieder verbunden.

Jetzt hörten wir, als wir auf lockerem Sand eine Strecke vom Strande weggeführt worden waren, ganz höflich vor uns sagen:

„Leben Sie wohl, meine Herren! Nun ist Ihnen gestattet, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um hinter das Geheimnis der verlassenen Brigg zu kommen. Wir werden[8] uns nicht wiedersehen. Mag es Ihnen gut gehen. Uns wird es fortan gut gehen!“ Er lachte leise.

Das Lachen verklang. Wir waren allein; Harst knotete meine Handgelenkschlingen auf; wir entfernten die Tücher von den Augen.

Der Mond schien. Vor uns das Meer; rechts von uns Häuser – ein Dorf scheinbar.

Nein – es war doch eine Stadt, die dänische Hafenstadt Esbjerg an der Westküste. – Harst hatte genügend Geld bei sich. Wir fuhren sofort mit dem nächsten Zuge nach Kopenhagen, setzten nach Malmö in Schweden über und reisten nach Christiania zurück, wo wir am sechsten Tage nach unserer Gefangennahme abends eintrafen. Am Hafen erfuhren wir von einem Lotsen, daß niemand hier etwas von dem Verschwinden zweier Berliner Herren wüßte.

„Liegt vielleicht eine kleine[9] Privatjacht hier?“ fragte Harst weiter. „Sie heißt Optimus. Der Detektiv Harst war an Bord.“

„Bedauere. Hier ankert jetzt nur eine amerikanische große Motorjacht.“

Wir, die wir noch immer äußerlich Hecker und Schubert waren, schritten wieder der Stadt zu. Es war halb elf abends jetzt.

„Hm – ob der Optimus noch immer in seinem Versteck zwischen den Inseln auf uns wartet?“ meinte Harst. „Am besten, wir gehen zu Lundström.“

– – – – – – – –

Wir erkundigten uns nach des Inspektors Privatwohnung, trafen ihn auch noch am Schreibtisch an. Er war Junggeselle. Er hatte gerade das internationale Fahndungsblatt studiert.

Als er uns erkannte – und nun kam für uns abermals eine nicht schlechte Überraschung! – sprang er zurück, riß einen Revolver aus der Tasche und rief:

„Keine Bewegung, oder ich schieße! Ich weiß längst, was ich –“

Harst lachte herzlich, zog unbekümmert die Flurtür zu und sagte: „Aber Herr Lundström! So unliebenswürdig?!“

Er verstellte jetzt seine Stimme nicht mehr, löste den Bart von der Backe, nahm die Perücke und die Brille ab und war nun wieder Harald Harst mit dem schmalen Schauspielergesicht und dem ganz kurz geschorenen Kopf.

„Himmel, Sie – Sie –“ stotterte Lundström.

„Ja – ich bin stets Harald Harst gewesen,“ lächelte Harst.

Dann saßen wir in des Inspektors behaglichem Arbeitszimmer um den Sofatisch herum; dann gab Lundström uns Aufschluß über so manches.

„Am Morgen hatten Sie mich doch aufsuchen wollen, Herr Harst. Als Sie nicht erschienen, wurde ich unruhig und ging zum Hafen hinab, ließ die Kajüte der Brigg öffnen und fand auf dem aufgeschlagenen Heine-Band neben dem Dolch einen Zettel. – Hier ist er.“

Wir lasen gleichzeitig:

„Inspektor Lundström! Sie sind zwei Betrügern ins Garn gegangen. Ich habe die Brigg vom Bollwerk aus überwacht. Die beiden Leute, denen Sie, wie ich beobachtete, in den Anlagen vor dem Schlosse den Schlüssel gaben, sind fraglos an dem Verbrechen mitbeteiligt. Sie kamen an Bord, verhängten die Fenster der Kajüte, schickten das mit drei Mann besetzte Boot, das sie gebracht hatte, wieder weg und blieben in der Kajüte. Einen Detektiv Hecker gibt es in Berlin nicht, ebenso wenig dessen Freund Schubert. Das weiß ich ganz bestimmt. Ich mußte dann leider vor einer Polizeipatrouille meinen Beobachtungsposten verlassen, bin aber gegen zwei Uhr morgens in der Kajüte mit Hilfe eines Nachschlüssels gewesen und habe so feststellen können, daß die beiden Schwindler ganz fraglos nur deshalb Ihnen den Schlüssel abverlangten, um heimlich Dinge zu beseitigen, die zur Aufdeckung dieses Geheimnisses hätten führen können. Ich werde Ihnen nun beistehen, das Rätsel zu lösen. Glauben Sie mir, daß ich genau so viel leiste als Harald Harst, der Ihnen vielleicht aus Anlaß der Geschichte mit dem Gespensterwrack von mir einiges erzählt haben wird. – Lihin Omen, der große Unbekannte.“

Und – jetzt brachen Harst und ich gleichzeitig in ein schallendes Gelächter aus. Der Leser, der von unserem Konkurrenten Lihin Omen in den vorigen Heften bereits etwas gehört hat, wird dies begreifen. –

Also dieser Mann, der es mit Harst als Konkurrent aufnehmen wollte, hatte uns bei Lundström angeschwärzt, hatte die beiden Leute, die damals vor uns in die Kajüte eingedrungen waren und uns dann überwältigt hatten, für Hecker und Schubert gehalten!

Harst sagte nun, wieder ernst werdend: „Es stimmt ja, bester Inspektor. Ich hatte Ihnen gegenüber diesen Herrn Lihin Omen – von rückwärts Nihil Nemo – also Herrn „Nichts – Niemand“ erwähnt. Und – da wir dann uns nicht mehr sehen ließen, mußten Sie wohl annehmen, Herr Omen hätte recht mit seinem Verdacht. – Hat er noch was von sich hören lassen?“

„Nein – nichts, – der Herr Nichts!“ erwiderte Lundström etwas betreten.

„Aha – also versagt seine Kunst gegenüber diesem Löwen!“ scherzte Harst. „Immerhin, eins ist wertvoll aus dem Zettel: Herr Nichts schreibt, ein Boot mit drei Leuten hätte die beiden „Schwindler“ gebracht! Das ist mir ganz interessant. – Haben Sie was vom Optimus gesehen oder gehört?“

„Nein. – Wo befindet sich die Jacht denn?“

„Hoffentlich noch dort, wo wir sie verließen. Kapitän Tiessen wird durch unseren kleinen Freund Karl ganz sicher davon abgehalten worden sein, unser Verschwinden hier zu melden. Ich kenne Karl. Der vertraut mir blindlings. Der glaubt, ich käme selbst aus der Hölle frei. – Gleich nachher nehmen wir ein Boot und suchen den Optimus.“

Dann berichtete er Lundström von unseren Erlebnissen auf der Brigg und von unserer Gefangenschaft.

Der Inspektor war sprachlos. „Das ist ja ein reiner Roman!“ meinte er.

„Es soll erst ein Roman werden,“ sagte Harst sehr ernst plötzlich. „Ein Roman verlangt eine logische Handlung. Unser Fall aber entbehrt noch verschiedener Kapitel, die wir erst ergänzen müssen.

Ich will Ihnen nun auseinandersetzen, was ich bisher weiß. – Halt – noch eine Frage vorher: Haben Sie das in der Kajüte verspritzte Blut untersuchen lassen? Ist es Menschenblut?“

„Ja. Es ist Menschenblut.“

„Na – die Leute sind eben vorsichtig,“ nickte Harst. „Also hören Sie –: Kaum haben Kuxhaven 3 und die Brigg hier am Bollwerk festgemacht, als ich einen Menschen aus dem einen Fenster der Kajüte der Brigg hinausklettern und sich hinter einem Kohlenkahn verbergen sah. Dieser abgerissene Seemann gab mir genau so zu denken wie der Zustand der Kajüte, den Sie mir nachher schilderten. – Was es mit dem Flüchtling auf sich hat, der die Schwimmpartie nach dem Kohlenkahn unternahm, weiß ich noch nicht. Eins aber wußte ich bereits, als Sie mir sagten, wie wüst es in der Kajüte aussah: daß diese Kajüte „künstlich“ hergerichtet war! – Sie verstehen: es sollte der Eindruck erweckt werden, ein Kampf hätte dort stattgefunden! – Überlegen Sie, Lundström: Wenn, was doch am nächsten liegt, ein Teil der Besatzung der Brigg, etwa die vier indischen Matrosen, gemeutert und den Kapitän und den Steuermann ermordet hätten, dann würden sie doch wahrscheinlich in der Kajüte alle Spuren eines Kampfes beseitigt haben, bevor sie den Segler verließen. – Wie aber verließen sie ihn dann, womit? Die Brigg führte nur zwei Boote nach den Schiffspapieren. Die Boote aber waren noch vorhanden! – Weshalb eine Meuterei auf einem Segler, der gut verproviantiert war und der bequeme Räume auch für die Matrosen besaß?! – Nun – der erbrochene Schreibtisch und der umhergestreute Inhalt deutete auf Raub hin! Aber – wozu das gewaltsame Aufbrechen der Fächer, wenn doch der Kapitän vorher überfallen worden war, dem die Meuterer die Schlüssel hätten abnehmen können! – Kurz: schon nach Ihrer Schilderung von dem Zustande der Brigg, lieber Lundström, sah ich in einem Punkte klar: die Unordnung und die Blutspritzer in der Kajüte waren – na sagen wir: Bühnendekoration!“

Lundström nickte: „Ja – auch auf mich hat die Kajüte als Tatort eines Verbrechens einen stark fragwürdigen Eindruck gemacht. Ich wollte darüber Ihnen gegenüber damals jedoch mich nicht näher äußern, da ich doch wiederum mir nicht erklären konnte, was diese blutige Herrichtung sollte.“

„Sehr begreiflich!“ meinte Harst. „Genau weiß ich es selbst noch nicht. Das heißt: diese Dekoration muß natürlich den Zweck verfolgt haben, die Behörden auf eine falsche Spur zu lenken. Mithin liegt ein Verbrechen vor, das verheimlicht werden sollte und zwar mit allem Raffinement. Hierfür spricht ja auch folgendes: die höhnische Sicherheit des schlanken Maskierten, der ja durch verschiedene Bemerkungen bewies, daß er sich über uns, Hecker und Schubert, lustig machte und daß er selbst „Harst“ nicht fürchten würde; dann der aufgeschlagene Heine-Band, auf dem der Dolch lag: natürlich sollte das so eine Art blutiger Witz sein, eine Verhöhnung der Beamten hier, die die Brigg untersuchen würden! All das läßt auf ein recht starkes Sicherheitsgefühl der an dem uns noch unbekannten Verbrechen Beteiligten schließen.“

Harst machte eine Pause, rauchte nachdenklich ein paar Züge und schaute dabei den Inspektor so fragend an, daß dieser ganz unruhig wurde und sehr bald unsicher meinte:

„Sie – Sie fixieren mich so seltsam, Herr Harst. Halten Sie mich etwa für mitbeteiligt?“ – Das sollte ein Verlegenheitsscherz sein. – Harsts Antwort war durchaus nicht scherzend:

„Ja – in gewissem Sinne sind Sie mitbeteiligt, bester Lundström! – Oh – Sie brauchen nicht so entsetzt zusammenzufahren. Die Sache läßt sich schnell aufklären. – Als ich Ihnen riet, „Hecker“ um Beistand zu bitten, müssen Sie diesen Rat ganz bestimmt anderen mitgeteilt haben, denn der Maskierte sagte zu uns wörtlich: „Lundström hat uns liebenswürdigerweise auf Ihre Einmischung schon vorbereitet gehabt, Herr Hecker.“ – Mithin kannte er sogar den Namen Hecker! – Wem gegenüber haben Sie nun von dem Spezialisten für Seeverbrechen, den Harst empfahl, gesprochen? – Besinnen Sie sich ganz genau! Es ist von größter Wichtigkeit. Sie müssen „Hecker“ damals Fremden gegenüber in der Zeit zwischen der Abfahrt des Optimus und unserem Zusammentreffen vor der deutschen Bierstube erwähnt haben. Nur diese Zeitspanne kommt ja hierfür in Betracht.“

Lundström starrte grübelnd geradeaus. „Hm,“ erwiderte er dann, „ich erinnere mich an jenen Nachmittag noch ganz genau. Ich war ein wenig ärgerlich, weil Sie mit dem Optimus in See gingen und mich nicht hatten unterstützen wollen. Als Ihre Jacht den Hafen verlassen hatte, begab ich mich sofort auf den Fischdampfer Kuxhaven 3, wo ich in der Kajüte des Kapitäns Hollborn meinen jüngeren Kollegen Glensen, einen unserer Lotsen, Hollborn selbst und dessen Steuermann Schmidt antraf. Und da habe ich denn meiner Enttäuschung über Ihre Abfahrt Luft gemacht und –“

„Danke,“ unterbrach Harst ihn schnell. „Und wem erzählten Sie noch von Hecker und Schubert etwas?“

„Niemandem mehr! Das weiß ich ganz –“

„Schon gut!“ Harst war hastig aufgestanden, durchmaß das behagliche Zimmer mit Riesenschritten, hatte den Kopf gesenkt und murmelte allerlei vor sich hin.

Dann streifte sein Blick zufällig den Schreibtisch Lundströms.

Ich habe bereits erwähnt, daß wir den Inspektor bei der Durchsicht des Fahndungsblattes gestört hatten.

Das Blatt lag aufgeschlagen auf der Schreibtischplatte. Harst blieb nun plötzlich davor stehen, beugte sich mit aufgestützten Händen über das Blatt, verharrte so mit dem Rücken nach uns hin vielleicht eine halbe Minute und nahm dann sein Auf und Ab durch das Zimmer wieder auf.

Ich ahnte damals nicht, wie ungeheuer wichtig gerade diese halbe Minute war!

„So – es wußten also immerhin eine Anzahl Leute von der bevorstehenden Einmischung „Heckers“,“ meinte Harst nun und ging immer langsamer hin und her. „Leute, die zu anderen noch davon gesprochen haben können – vielleicht, – vielleicht auch nicht. – Na – lassen wir das zunächst. Sehen wir uns mal die Beteiligten, die die Kajüte mit echtem Menschenblut besudelten und den Inhalt des Schreibtisches umherstreuten, näher an. Es müssen zum mindesten fünf gewesen sein: Die beiden Maskierten und die drei Männer, die die beiden im Boot nach der Brigg brachten, wie der famose Herr Nihil Nemo beobachtet hat. Also fünf bestimmt. Von diesen ist uns über zwei Näheres bekannt, nämlich über die Maskierten, und von diesen wieder am meisten über den Schlanken, einen zynischen Spötter, der – Na, lieber Schraut, nun springe Du mal ein! Besinne Dich darauf, daß der Schlanke das Deutsche gebrochen sprach. Aber – was tat er trotzdem? Und was war auffallend an diesem Deutsch? – Hm, Du schweigst Dich aus! Weißt Du noch, daß ich verschiedene Worte, die er benutzte, wiederholte? Wozu das wohl?! – Du schweigst weiter. Nun denn: wenn ein Mann das Deutsche kaum leidlich beherrscht und doch Redewendungen benutzt wie z. B.: „müssen wir ihn kalt stellen“ und „die Geschichte ist zu verzwickt“, – dann muß man sofort sich sagen –“

„– der Kerl tut nur so, als ob er nicht recht Deutsch kann!“ ergänzte ich eiligst, um mich nicht allzusehr vor Lundström zu blamieren.

„Ja, mein Alter, – stimmt: der Schlanke konnte Deutsch fraglos nicht schlechter als Du und ich! – Das hatte ich damals sehr bald heraus. – Also: der Mensch wollte seine Nationalität verleugnen; er ist ein Deutscher, gerade weil er den Ausländer in dieser Weise spielte. – Wer ist’s? – Hm – die Frage ist jetzt nach Lundströms Geständnis, von Hecker in Gegenwart des –“

„– des Kapitäns Hollborn und des Steuermanns Schmidt gesprochen zu haben, unschwer zu beantworten,“ fügte ich ganz stolz hinzu. „Es kann einer dieser beiden gewesen sein. Wenn wir sie gesehen hätten, dann –“

„Hollborn – Hollborn!“ rief Lundström da und sprang erregt auf.

„Er ist einer von denen! Es ist Hollborn!“ sagte Harst, indem er stehen blieb. „Er ist es gewesen, der über „die verzwickte Geschichte“ witzelte, denn – wir wurden ja nachher auf einem nach Fischen stinkenden Dampfer an die dänische Westküste geschafft, – einem Fischdampfer, eben dem Kuxhaven 3. – Bitte, Lundström, wann verließ der deutsche Fischdampfer Christiania?“

„Am vierten Abend nach der Ausfahrt des Optimus!“

„Aha – und an diesem Abend ging auch „unser“ Dampfer in See! Also es war der Kuxhaven 3, und Hollborn war der Schlanke!“

Lundström sank wieder in seine Sofaecke, schüttelte den Kopf, meinte: „Dann – dann haben die Schufte von dem Fischdampfer uns hier ja nett angelogen! Dann sind sie es höchstselbst gewesen, die –“

„– dem Löwen von Flandern die Besatzung raubten, die also so ein wenig Piraten spielten,“ setzte Harald den begonnen Satz fort. „Ja – dies oder ähnliches haben sie auf dem Kerbholz! Aber – was raubten sie sonst wohl noch?“

Der Inspektor und ich schwiegen und blickten Harst gespannt an.

„Was also?“ fuhr dieser fort. „Sehen wir zu, ob wir auch das herausbringen. – Na, Schraut, wie wär’s, wenn Du nun mal Dein Licht unter dem Scheffel hervorholtest, wohin Du es so gern aus Bescheidenheit stellst? Überlege Dir: was taten die beiden Maskierten in der Kajüte: Sie – suchten etwas! – Was suchten sie?“

„Vielleicht Wertobjekte, die Kapitän Pieter Planboom, der Eigentümer des Löwen von Flandern, dort versteckt hatte,“ erklärte ich zögernd.

„Richtig! Diese Antwort mußtest Du nach dem, was Du über den Fall bisher kennst, unbedingt geben!“ Er betonte das „Du“ so sehr, daß ich schon mit einer Frage hierüber Aufschluß erbitten wollte, als er sehr hastig weitersprach und mir dies unmöglich machte.

„Also vielleicht eine Beraubung des Kapitäns Planboom! Dieser war reich, nehmen wir mal an, und Hollborn wußte es, überfiel die auf dem Wege nach Christiania befindliche Brigg, und – Bitte, nun kommt’s – nämlich das Heer der Widersprüche, das uns gezeigt, wie falsch diese Annahme ist, Planboom sollte beraubt werden! Grundfalsch! Denn – wenn ich Pirat spiele, dann schleppe ich doch nachher nicht mein Schiffsopfer in einen Hafen ein, sondern – versenke das Schiff, mache dadurch jede Entdeckung meiner Untat unmöglich.“

„Allerdings,“ bestätigte Lundström eifrig. „Dieser Widerspruch –“

„– ist nicht der einzige. Es gibt eine ganze Menge, die die sich aus dem Verhalten Hollborns nach dem von uns vermuteten Überfall auf den Löwen von Flandern ableiten lassen. So nur zum Beispiel die naheliegende Frage: Weshalb dringen Hollborn und der andere hier im Hafen von Christiania in die Kajüte ein und durchsuchen sie?! Warum taten sie es nicht auf See, wo sie es doch in aller Ruhe besorgen konnten?! – Weshalb also schonen sie die Brigg, bringen sie hierher, setzen sich hier der Gefahr aus, bei der Durchsuchung überrascht zu werden, behandeln uns dann recht anständig, zeigen in jeder Kleinigkeit ihres Verhaltens eine geradezu freche, herausfordernde Sicherheit, – warum das alles?! – Diese Fragen könnte man bis ins Unendliche ausspinnen: Sparen wir uns das. Wir sehen ja ein: Mit unserer Annahme „Beraubung Planbooms“ ist es nicht! Nein – die Sache ist wirklich verzwickter, als sie je schien! Ich erinnere nur an den abgerissenen Matrosen, den Flüchtling hinter dem Kohlenkahn. Ich behaupte sogar: dieser Mensch ist sozusagen der Kern des Rätsels! Wir wollen nicht noch länger mit Worten spielen. Nur noch eine Frage, Lundström: Was ist mit der Brigg geschehen oder was soll mit ihr geschehen?“

„Planbooms Frau hat aus Amsterdam als Antwort auf die Meldung von dem Verschwinden ihres Gatten zurückdepeschiert, der Löwe von Flandern solle hier versteigert werden. Das ist heute vormittag erledigt worden. Der Käufer ist ein Deutscher namens Reinhold Krebs, der zufällig hier weilte. Nicht einmal ein Seemann, sondern ein Rentier. Wenigstens gab er dies als seinen mühelosen Beruf an.“

„Halt,“ meinte Harst und setzte sich halb auf den Schreibtisch. „Ich möchte nur –“ Das weitere murmelte er mit geschlossenen Augen.

Dann: „Was will denn dieser Krebs mit der Brigg beginnen, Lundström?“

„Keine Ahnung! Vorläufig hat er sie jedenfalls bezogen, – das heißt: er wohnt in der Kajüte.“

„Wirklich?!“ Harst wurde wieder lebhaft. „Wirklich – er wohnt dort?! Dann – dann möchte ich ihn mal sofort besuchen!“

– – – – – – – –

Es war mittlerweile beinahe zwölf Uhr geworden. Wir eilten zum Hafen hinab. Die Brigg lag noch an derselben Stelle am Bollwerk im Piperviken. Die Kajütenfenster am Heck waren erleuchtet. Wir schlichen über die Laufplanke, über das Achterdeck, standen nun vor der Tür der Kajüte, die so viel Rätsel barg.

Wir hörten sprechen. Zu verstehen war jedoch nichts.

Harst suchte nach einem Tau, ließ sich dann am Heck ein Stück herab, bis er die Fenster in einer Höhe vor sich hatte. Sie waren jedoch verhängt. Als er wieder emporklettern wollte, wurde die Kajütentür plötzlich aufgerissen. Der helle Lichtschein traf Lundström und mich, und der kleine, magere, bärtige Mensch, der in der Rechten eine Pistole schußbereit hoch hielt, krähte sofort:

„Was wollt Ihr Halunken hier?! Schert Euch zum Teufel! Ich fackele nicht lange!“

Das war kerniges Deutsch. – Lundström grüßte und erklärte schnell gefaßt:

„Ich bin der Kriminalinspektor Lundström. Ich wollte bitten, ob Sie uns beiden gestatten würden –“

„Beiden – beiden! Da ist doch noch ein dritter auf dem Kajütendach! Ich habe ihn sehr wohl gehört. – Herr Inspektor – ich gestatte nichts, gar nichts! Ich kenne Sie von Ansehen. Wenn Sie als Beamter verlangen, daß ich Sie einlasse – bitte! Aber nur Sie. Unbeteiligte haben hier nichts zu suchen – gar nichts!“

Da – von oben Harsts Stimme:

„Mein Name ist Harald Harst, Landsmann. Ich bin zuweilen aus Liebhaberei –“

„– ja – Detektiv! Weiß ich! Liebhaberdetektive können mir gestohlen bleiben! – Ich fordere Sie und den anderen Herrn da auf, mein Schiff schleunigst –“

Harst war mit einem Satz dicht vor der Kajütentür, spähte hinein in den hellen Raum, sagte dann, da der Kleine, Jähzornige erschrocken zurückgetreten war: „Wir gehen ja schon. Guten Abend, Herr Krebs!“

Und dieser Krebs schimpfte nun hinter uns drein, daß Lundström seinerseits grob werden wollte.

„Ruhe!“ flüsterte Harst. „Ruhe! Wir hörten doch zwei in der Kajüte sich unterhalten. Der zweite ist vielleicht –“

Er lachte leise.

Und mir ging eine Ahnung auf! – „Herr Nichts Niemand gewesen!“ vollendete ich.

„Ja – und dieser Herr Nichts war nicht mehr in der Kajüte oder hatte sich versteckt,“ meinte Harst gutgelaunt. „Krebs wird sein Gehilfe sein. Na – nun können wir vielleicht unseren Konkurrenten so etwas „enthüllen“ – vielleicht!“

Da es bereits zu spät war, auch zu dunkel, ein Boot zu nehmen und nach dem Optimus zu suchen, schliefen wir bei Lundström, der genügend Lagerstätten für Gäste hatte. Als wir dann morgens gegen ¼9 Uhr beim Frühstück saßen, kam ein Matrose mit einem Brief für den Inspektor und verschwand sofort wieder.

Der Brief lautete:

„Der Löwe von Flandern ist vor einer Stunde in den Besitz des hiesigen Steuermanns Olaf Afsgreen übergegangen. Ich hatte die Brigg nur erworben, um die Kajüte ganz genau durchsuchen zu können. Sie hat nach der rechten kleinen Seitenkammer zu ein sehr fein angelegtes Versteck mit Geheimtür, das groß genug ist, sogar schmale Kisten aufzunehmen. Die Polizei hier hat dies Versteck, das leer war, nicht entdeckt. Ich habe es entdeckt! Vielleicht hilft Ihnen und Ihrem plötzlich hier wieder aufgetauchten Bekannten Harald Harst diese Mitteilung ein wenig weiter! – Ich selbst verschwinde hiermit wieder in der Versenkung. – Lihin Omen.“

Wir[10] lachten. Und Harst meinte: „Dieser Omen muß reich sein. Er kauft eine Brigg für einen Tag. – Na – sehen wir uns das Versteck an.“

Wir taten’s. Harst kniete vor der wirklich sehr geschickt angelegten Geheimtür, tastete mit der Hand auf dem Boden des Verstecks herum, sagte dabei halblaut:

„Ein Mann kann hier zur Not drin hocken! Und – dies hier sind Reste von Schiffszwieback und dies –“ er holte aus der dunkelsten Ecke ein zusammengeballtes Zeitungsblatt hervor – „sind eingewickelte Bananenschalen!“

Dann schien er kein Interesse mehr für die Kajüte zu haben. – Eine Stunde drauf hatten wir den Optimus von unserem gemieteten Segelboot aus zwischen den kleinen buschbewachsenen Inseln erspäht. Ein lautes „Hurra – da sind sie!“ klang uns entgegen. Karl Malke, unser kleiner Freund, hatte es hinausgejubelt.

Und wieder eine Stunde drauf sagten wir Lundström lebewohl, den Harst durch die Worte in hoffnungsfreudigste Stimmung versetzt hatte: „Nach einer Woche ist das Geheimnis der Brigg kein Geheimnis mehr. Das verspreche ich Ihnen!“ –

Vier Tage später waren wir in Amsterdam. Den Optimus hatten wir in Kuxhaven zurückgelassen, waren mit der Bahn nach Holland gefahren.

Wir hatten in einem kleinen Hotel Wohnung genommen, unter anderen Namen wieder, als Vater und Sohn. Ich war zum weißbärtigen alten Herrn geworden. Deutsche Agrarier auf einer Vergnügungsreise wirken so harmlos. Abends waren wir angelangt. Während der Eisenbahnfahrt hatte Harst den Löwen von Flandern mit keiner Silbe mehr erwähnt. Unseren kurzen Aufenthalt in Kuxhaven habe ich hier absichtlich übergangen. Er bot nichts besonderes. Nur das eine eben, daß Harst dem Inspektor Lundström erklärt hatte, er hoffe in Deutschland das Rätsel zu lösen. Aber – daraus war nichts geworden. Kuxhaven war scheinbar eine Niete. Harst war dort vier Stunden allein ausgegangen. Daß er nach dem Fischdampfer sich erkundigen wollte, war ja selbstverständlich. Als er zurückkehrte, sagte er nur: „Kuxhaven 3 liegt hier zwar vor Anker, hat jedoch eine andere Besatzung. Wo die bisherige geblieben, weiß kein Mensch. Ich kann mich damit nicht aufhalten, Hollborn, Schmidt und den drei anderen Leuten – denn der Dampfer hatte ja in Christiania fünf Mann an Bord – nachzuspüren. Machen wir, daß wir nach Amsterdam zu Frau Antje Planboom kommen, die, wie wir von Lundström wissen, Jodenbreestraat 21 wohnt. Wenn wir dort kein Glück haben, steht die Sache oberfaul für uns. Dann wird Harald Harst vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als Detektiv sich blamieren!“ –

Es war neun Uhr jetzt. Wir hatten auf unserem Zimmer gegessen. Harst saß und rauchte eine seiner geliebten Mirakulum, schaute den tadellosen Rauchringen sinnend nach und hatte die Augen halb zugekniffen.

Ich studierte die deutschen Zeitungen, die wir hier auf dem Bahnhof gekauft hatten.

„Was Neues?“ fragte Harst plötzlich. „Du starrst so interessiert auf eine bestimmte Stelle, daß ich vermute, es gibt dort etwas, das in unser Fach schlägt.“

„Stimmt. Ein Mord in Hamburg. Ein Seemann ist vorgestern abend im Hafenviertel erstochen worden. Den Täter hat man verfolgt. Aber er sprang ins Wasser, tauchte und verschwand. Offenbar ein Raubmordversuch. Bei dem Opfer fand man einen Leinwandbeutel mit ein paar Diamanten und einem halben Hundert wertvoller Perlen.“

„Name des Opfers?“

„Der Mann hatte keinerlei Papiere bei sich. Man weiß bisher nicht, wer es ist.“

„Gib bitte mal die Zeitung her.“ – Harst las den Artikel, überflog dann suchend die Spalten des Beiblatts.

„Aha – hier unter „Letzte Nachrichten“ steht’s. – Höre:

„Der Ermordete (vergl. Mord im Hafenviertel) ist durch ein paar Seeleute als der mehrfach vorbestrafte Steuermann der Handelsmarine Franz Hollborn identifiziert worden. Man kann nur annehmen, daß Hollborn die Diamanten und Perlen auf unredliche Weise erworben hat. Er war ein internationaler Abenteurer schlimmster Sorte“ – und so weiter.“

Harst ließ das Blatt sinken. „Na, mein Alter, was sagst Du nun? – Sagen mußt Du jetzt etwas. Oder Du bist nicht wert, mein Privatsekretär zu sein.“

„Ich bin es wert,“ scherzte ich. „Ich sage: Vielleicht hängen die Diamanten und Perlen mit dem Löwen von Flandern zusammen.“

„Ganz recht. Nur: das „Vielleicht“ streiche. Ich wette: sie stammen von der Brigg. Denke an die höhnische Frechheit des Schlanken und – an Heine!“

Ich ruckte förmlich zusammen, rief leise: „Das Gedicht – das Gedicht!“

„Ja –: Du hast Diamanten und Perlen, hast alles was Menschenbegehr! – Nun, ich will Dir verraten, daß ich damals, als ich diesen Vers las, sofort mir dachte: Ohne Grund ist diese Seite des Heine-Bandes fraglos nicht aufgeschlagen und der Dolch darüber gelegt worden! – Und – bei Lundström wurde mir bestätigt, daß es sich hier um Diamanten und Perlen handelt, als wir in seinem Arbeitszimmer spät abends unseren Fall erörterten und als ich das Fahndungsblatt aufgeschlagen auf dem Schreibtisch sah. Der gute Lundström hätte ebenfalls auf den Gedanken kommen können, daß der Juwelenraub bei dem chinesischen Händler in Kolombo auf Ceylon vielleicht zu dem Löwen von Flandern in recht enger Beziehung steht. Mir fiel diese Möglichkeit sofort ein, – weil nämlich der Raub gerade zwei Tage vor der Abfahrt der Brigg aus Kolombo verübt wurde, wobei die beiden von dem Gehilfen des Chinesen beobachteten Täter dem Gelbgesicht die Kehle durchgeschnitten haben. Der Gehilfe konnte die beiden einigermaßen der Polizei beschreiben: gutgekleidete Europäer, Vollbärte, Brillen. – Und die Polizei in Kolombo vermutete dann, diese Gauner seien per Schiff ausgerückt.“

„Ah – Hollborn vielleicht und dessen Steuermann Schmidt!“

Harst schüttelte den Kopf. „Glaube ich nie und nimmermehr. Überlege Dir doch das, was wir über die Brigg und den Fischdampfer wissen. Es ist ja als sicher anzunehmen, daß Hollborn die Brigg wirklich überfallen hat. Er hat ja – ich will dies jetzt nachholen – den Kuxhaven 3 nämlich nur für vierzehn Tage gemietet gehabt, hat Sicherheit hinterlegt und mit eigenen Leuten den Dampfer dann bemannt und ist ausgefahren – angeblich, weil er neue gute Fischgründe entdeckt hätte, die er abgrasen wollte.“

„Allerdings, dann –“

„Ja – wenn Lundström so schlau gewesen wäre, sich auch ein wenig näher mit Kuxhaven 3 zu beschäftigen, hätte er unbedingt sofort herausfinden müssen, daß dieser Hollborn ein recht fragwürdiges Subjekt war und daß alles darauf hindeutete, nur er selbst könne den Löwen von Flandern in der Nordsee angehalten haben. Ich betone: angehalten haben. Den Ausdruck „überfallen“ wollen wir besser streichen. Ich würde mich für Frau Antje Planboom nicht interessieren, wenn ich eben nicht den Verdacht hätte, ihr Mann habe mit Hollborn gemeinsame Sache gemacht!“

„Verdacht?! Hm – der Grund hierfür?“

„Weil Hollborn die Brigg nach Christiania einschleppte. Dadurch wurde Planboom vor pekuniärem Schaden bewahrt. Die Ladung gelangte in den Besitz der betreffenden Firma, und der Versteigerungserlös fiel Frau Antje zu, der – hm – der Witwe, die – keine Witwe ist. Planboom dürfte noch leben, schätz’ ich!“

Mir wurde wieder mal ganz wirr im Kopf. „Du, das ist in der Tat eine verwickelte Geschichte!“ meinte ich.

„Scheinbar. Sobald wir erst wissen, wer der Flüchtling ist, der aus dem Kajütenfenster hinter dem Kohlenkahn verschwand und der ein Stück unter Wasser schwamm, also tauchte –“ – er betonte das „verschwand“ und „tauchte“ unmerklich, und in demselben Moment fiel mir die Notiz unter „Letzte Nachrichten“ ein, wo es doch auch hieß: „– sprang ins Wasser, tauchte und verschwand,“ so daß ich nun ausrief:

„Du vermutest, dieser Mörder und der Flüchtling –“

„Natürlich vermute ich, daß es sich um denselben Mann handelt, der vielleicht Hollborn das wieder abnehmen wollte, was dieser ihm geraubt hatte, ein Gauner dem anderen: Diamanten und Perlen!“

Wie ein Blitz wurde es Licht in meinem Hirn. „Der Flüchtling kann einer [der][11] Räuber aus Kolombo sein –“

„– und kann in dem Versteck in der Kajüte, wo doch Brotkrumen und Bananenschalen auf bescheidene Mahlzeiten hindeuteten, sich verborgen haben, bis er dann in Christiania sich herauswagte. Es kann einer der Mörder des Chinesen sein! Kann! Aber – das schwebt noch alles zu haltlos in der Luft. Genau so wie meine Annahme, daß Hollborn sowohl die vier indischen Matrosen der Brigg als auch deren Steuermann Rouvier und den anderen Kolomboer Räuber zu den Fischen geschickt hat, mit Planboom gemeinsame Sache machte, der die beiden Diamantendiebe in Kolombo heimlich an Bord nahm. – Alles Vermutungen, Kombinationen, die uns[12] ja nun ein ungefähres Bild von den wirklichen Vorgängen geben, die aber mir nicht genügen können. Ich will Klarheit haben, mein Alter. Also gehen wir nach der Jodenbreestraat 21.“ –

Dort, wo die Jodenbreestraat zu einem winzigen Platz sich erweitert, wo rechts und links kleine Gärtchen an den Kanälen sich hinziehen, wo hohe Lagerspeicher armselige Häuschen zu erdrücken scheinen, lag Nr. 21. – Wir waren im Schatten der Gebäude bis an das Haus herangeschlichen. Keine Menschenseele ringsum; nur wenig erhellte Fenster. Wir drückten uns Nr. 21 gegenüber in der Einfahrt eines Speichers zusammen und betrachteten das zweistöckige, uralte Wohnhaus, neben dem links ein Garten lag. Über den Zaun nach dem Kanal zu hingen Netze. Eine Laterne stand gerade vor dem Gärtchen.

„Nirgends Licht!“ flüsterte Harst. „Es dürfte dort drei Wohnungen geben, Erdgeschoß und die beiden Stockwerke. Aber – wo wohnt nun unser Mann?“

Ein Polizist schlenderte vorüber. Harst huschte ihm nach, kam nach einer Weile zurück.

„Erdgeschoß!“ sagte er. „Der Beamte war weniger maulfaul als sonst hier das Volk. Er kennt Kapitän Planboom, hat auch schon von dem geheimnisvollen Verschwinden der Besatzung der Brigg gehört. Frau Antje will morgen Amsterdam verlassen[13] und nach dem Haag[14] ziehen. Die Möbel werden morgen früh per Kahn fortgeschafft. – Hm – hier darf der „tote“ Planboom sich ja nicht mehr sehen lassen. Im Haag aber –“ Er schwieg, packte meinen Arm.

Ich sah einen Mann, der sich soeben blitzschnell über den Gartenzaun schwang und nach dem Kanal zu in der Dunkelheit untertauchte.

„Vorwärts!“ mahnte Harst. „Die Glocken stimmen einen ganz feierlich. Aber – unser Geschäft hat nichts mit Poesie und Frömmigkeit zu tun. Wir sind hinter Mördern her. – Halt!“ Er zog mich wieder in die Einfahrt zurück. „Da – ein zweiter Mann! Der hat bestimmt keine guten Absichten. Schau’, auch er klettert über den Zaun. Nun hat er sich der Länge nach hingeworfen; er kriecht weiter. – Du, daß ist einer, der dem ersten auf den Fersen war. Sollte etwa –“ Kurze Pause. „Ein Gedanke: wir nehmen ein Boot dort weiter links und rudern an die Wasserfront von Nr. 21 heran. Vielleicht kommen wir so schneller zum Ziel!“

– – – – – – – –

Ein kleiner Bretterkahn war bald losgekettet. Es lag nur ein halb zerbrochenes Ruder darin. Auf dem kaum vier Meter breiten Kanal war’s dunkel wie in einem Sack. Modergeruch quoll uns in die Nase.

Harst ruderte. Bald hatten wir Nr. 21 erreicht. Und – im Erdgeschoß waren die vier kleinen Fenster erleuchtet! Blumenkästen standen davor mit welken Tulpen und Rankengewächsen. Die Ranken wehte der Wind raschelnd hin und her. Aus den Fenstern fiel ein matter Schimmer auch auf die Steintreppe, die von einer niedrigen Pforte bis zum Wasserspiegel hinabging.

Abermals drückte Harst meinen Arm. Aber ich hatte die verschwommene Gestalt schon bemerkt, die da vor der Pforte kniete und die Arme dauernd bewegte. – „Er will das Schloß öffnen!“ flüsterte Harst.

Nach wenigen Minuten ein ganz leises Kreischen. Der Mann war verschwunden. – Und wieder nach ein paar Minuten legten wir an der Treppe an, ketteten den Kahn fest und waren gleich darauf im Hause, in tiefer Finsternis, lauschten, standen da mit aufs äußerste gespannten Sinnen.

Irgendwoher aus der Tiefe drangen abgerissene Worte zu uns herauf. – „Kannst Du etwas verstehen?“ flüsterte Harst.

„Nein – nichts!“

Er schaltete seine Taschenlampe ein, deren weißer Finger nun in das Dunkel hineintastete. Wir befanden uns in einem kleinen Flur, dessen Wände nur aus Türen bestanden, – tief nachgedunkelten, starken Türen mit Schnitzereien und seltsamen Türdrückern, die Löwenleibern glichen.

„Viele alte Häuser hier führen Namen,“ raunte Harst mir zu. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Bude „Löwe von Flandern“ heißt. Die Türdrücker und die Löwenköpfe in der Schnitzerei deuten darauf hin. Vielleicht gehört das Haus gar der Familie Planboom. Daher auch der Name der –“

Das „Brigg“ blieb unausgesprochen. Ich mußte es mir ergänzen. Es schoß mir als letztes durch den Kopf, bevor wir den kleinen Flur verließen – unfreiwillig!

Heute, wo ich dies in aller Sicherheit und Behaglichkeit am Schreibtisch niederschreibe, empfinde ich bei dieser Erinnerung nicht mehr im entferntesten das eisige Entsetzen wie damals, als der Boden unter unseren Füßen urplötzlich schwand, als wir, uns unwillkürlich aneinander klammernd mit blitzschnellem Griff, in die Tiefe sausten, auf feuchtes Heu, das widerlich stank, aufprallten und – neben uns jemand einen halblauten Schrei ausstieß.

Wir waren ganz unverletzt. Bevor ich mich noch aufgerappelt hatte, blitzte schon Harsts Lampe wieder auf. Wir waren in einen gemauerten Schacht von etwa sechs Meter Tiefe gefallen, in dem fußhoch faulendes Heu, Holzwolle, alte Säcke, eine zerrissene Schiffsflagge und in einer Ecke ein paar leere Kisten lagen.

Neben uns aber, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, saß mit angezogenen Beinen ein jüngerer, blasser Mensch ohne Hut in einem blauen Leinenanzug, wie ihn die Schiffsheizer tragen. Sein strohblondes Haar stand wie eine Bürste aufrecht. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Und seine hellen, farblosen Fischaugen suchten zu ergründen, wer ihm nun hier Gesellschaft leistete.

Harst kniete in dem modernden Heu und betrachtete den Menschen in aller Ruhe, fragte dann:

„Wer sind Sie?“

„Graf Stanislaus, Viktor Jaromier von Proszinski,“ grinste der Mensch und wischte sich mit der Hand den kalten Schweiß von der Stirn. „Ich habbe gewollt suchen eine kleine Libbesabbenteier, und da bin ich gefallen in disse Keller.“

„Hm!“ machte Harst. „Genau so ist es uns ergangen, Herr Graf. Wir suchten auch ein Libbesabenteuer. Aber unsere Liebe heißt – Löwe von Flandern!“

Der Mensch fuhr hoch, sank aber sofort wieder in die alte Stellung zurück. „Sie scherzen eine bißchen,“ meinte er heiser und beleckte nervös die dünnen blutleeren Lippen.

„Ich scherze nie in gewissen Fällen, Herr Graf,“ sagte Harst, langte nach einer Kiste und setzte sich. Auch ich hatte darauf noch Platz. „Wie hat es Ihnen in Kolombo gefallen, Herr Graf?“ fuhr er fort, während der weiße Lichtkegel dauernd das verstörte Gesicht des Polen umspielte.

Abermals zuckte der Blasse zusammen. Und Harst fügte hinzu: „Sie waren doch letztens in Hamburg, nicht wahr? Ihr Besuch dort ist Hollborn schlecht bekommen. – Oh – Sie schwitzen schon wieder, daß Ihnen die Tropfen übers Gesicht rinnen. Sie sind durch den Aufenthalt in dem Versteck der Kajüte offenbar sehr geschwächt.“

Der „Graf“ hatte den Kopf sinken lassen.

„Sie sind Kriminalbeamte,“ sagte er dumpf. Und sein Deutsch wurde jetzt recht gut, nur ganz schwach hörte man den Engländer oder Amerikaner heraus.

„Nein. Sie irren. Wir sind Privatleute wie Sie, – das heißt, unser Beruf ist nicht der Ihrige, – eher das Gegenteil.“

Der Blasse hob den Kopf. „Nicht Beamte?!“ wiederholte er ungläubig. „Und – was wissen Sie denn von meinem Beruf?“

„Verschiedenes. Ich habe –“

Da – über uns ein Geräusch. Ich hatte meine Taschenlampe in der Hand. Der Lichtstrahl schoß augenblicklich nach oben.

Was wir sahen? Was geschah? Woher das Geräusch?

Nun – etwa zwei Meter über dem Boden hatte an den Wänden eine zeitweilige, zweite Falltür bis dahin offen gestanden. Sie fiel jetzt langsam zu. Noch ein Knarren, ein dumpfes Poltern, dann – war unser Kerker weit niedriger geworden.

Wir drei starrten nach oben, verhielten uns ganz still. Auch mir trat kalter Schweiß auf die Stirn. Dieser Falle war ja nicht zu entrinnen; hier konnten wir um Hilfe rufen, so viel wir wollten. Niemand würde uns hören.

Harsts linke Hand hob sich. Der Zeigefinger deutete auf das faulende Heu.

„Wasser!“ sagte er leise.

Und – auch ich hörte jetzt ein Glucksen und Rauschen unter uns.

Harsts Füße arbeiteten bereits, stießen das Heu beiseite. Darunter kamen Eichenplanken zum Vorschein.

„Wir sitzen über einem der unterirdischen Kanäle,“ erklärte er. „Hier in Amsterdam ist schon mancher Fremde spurlos verschwunden. Die Graachten[15] könnten manche Tragödie berichten.“ (Graachten, Kanäle).

„Du meinst, daß –“

Er nickte ernst. „Ja, ich meine, daß wir auf einer Falltür, der dritten Falltür, sitzen. Wenn man sie öffnet, verschlucken uns die morastigen Kanäle, in denen kein Mensch schwimmen kann. Nur eine dünne Wasserschicht gleitet da über Schlamm von Jahrhunderten hinweg. Niemand hat ein Interesse, diese verdreckten Graachten auszubaggern. Warten wir ab, was weiter geschieht. Immerhin empfiehlt es sich, einige Vorkehrungen zu treffen, die vielleicht von Nutzen sein können. Drehen wir aus den Säcken da und der Fahne Taue.“ Er zog sein Messer. Wir trennten schmale Streifen ab, flochten sie hastig zusammen. Der Graf sah stumpfsinnig zu. – Ich fieberte vor Aufregung. Ich ahnte nur ungefähr, was Harst vorhatte.

Das Mauerwerk zeigte überall tiefe Risse. Harst zerbrach einen Kistendeckel und trieb an zwei Stellen starke Holzstücke in die tiefsten Spalten, befestigte daran zwei der primitiven Taue, band sich das eine um die Brust und prüfte, ob die Pflöcke sein Gewicht trugen. Sie hielten.

Ich folgte seinem Beispiel. Auch der „Graf“ regte sich nun, murmelte: „Vortreffliche Idee“ und hatte mit großer Geschicklichkeit in kurzem sich ebenfalls angeseilt.

Wir waren kaum wieder einige Minuten untätig, als über uns die Falltür knarrend eine Handbreit sich öffnete und an einem Bindfaden eine – Schiefertafel mit daran festgebundenem Griffel zu uns herabschwebte.

Harst nahm sie, las ein paar holländische Sätze halblaut vor und verdeutschte sie mir dann:

„Sie sind Hecker und Schubert in einer neuen Verkleidung. Der dritte Mann gehört nicht zu Ihnen. Wir werden Ihnen Leinen hinablassen. Binden Sie den Menschen, damit wir ihn emporziehen können. Ihnen beiden wird nichts geschehen. Sie sollen Lebensmittel erhalten und werden nach vier Tagen frei sein. Denken Sie an Ihre erste Gefangenschaft und vertrauen Sie uns. – Bitte Antwort hierauf.“

Der „Graf“ hatte den Kopf vorgereckt, hatte alles mitangehört.

„Wollen Sie mich etwa diesen Leuten ausliefern?“ kreischte er jetzt förmlich. „Sie werden mich ermorden! Sie kennen kein Erbarmen, diese – diese –“

„Still! – Ausliefern werde ich Sie nur, wenn Sie mir nicht gestehen, wer Sie sind und was auf dem Löwen von Flandern vorgegangen ist. Wollen Sie die Wahrheit sagen?“

„Ja – ja!“ Das klang nicht sehr ehrlich.

Trotzdem schrieb Harst auf die Tafel: „Antwort gebe ich nach einer halben Stunde. Bitte dann nochmals um die Tafel. – Hecker.“

Die Schiefertafel wurde gleich darauf hochgezogen, und die Falltür schloß sich wieder.

„So,“ meinte Harst. „Nun beginnen Sie. – Wie heißen Sie?“

„Edward Armstrong. Ich war Ingenieur –“

„Halt! Sie lügen ja schon. Ingenieur waren Sie nie. Sie haben nach den Angaben des Fahndungsblattes zusammen mit einem gewissen Tom Preston als Elektromonteure in Kolombo gearbeitet und bei dem chinesischen Händler Mi Luang bei einer Lichtlegung die Gelegenheit zum Raube der Perlen und Diamanten ausgekundschaftet. Der Chinese wurde dann von Ihnen ermordet, und –“

„Nicht von mir – bei Gott! nicht von mir! Ich war ehrlich bis dahin. Ich bin Ingenieur, nur viel Pech habe ich im Leben gehabt.“

„Mag sein. Das wird sich alles ja wohl nachweisen lassen. – Sie beide flohen dann auf die Brigg. – Hat Planboom Sie gegen eine Belohnung mitgenommen und verborgen gehalten?“

„Nein. Wir vertrauten uns dem Steuermann Rouvier an, bestachen ihn und er hat Planboom denn erklärt, wir seien Juwelenhändler, die den hohen Einfuhrzoll in Europa sparen wollten. Planboom wußte nichts von dem Raube. Wir beide, Preston und ich, hielten uns in der Kammer neben der Kajüte verborgen. Die vier indischen Matrosen ahnten nichts von unserer Anwesenheit an Bord. Alles ging gut, bis wir in die Nordsee kamen.“

„Ja – da erschien der Kuxhaven 3 –“

„– nachts. Die Inder wurden von Rouvier erschossen. Preston erhielt einen Beilhieb, flog über die Reling, ich ebenfalls. Aber – ich hatte das Bewußtsein nicht verloren. Ich tat, als ob ich versank, schwamm unter Wasser unter der Brigg weg und kletterte wieder an Bord, verbarg mich –“

„– in dem geheimen Verschlag –“

„– ja, von dessen Vorhandensein ich durch Planboom erfahren hatte, der mich gut leiden mochte. Selbst Rouvier ahnte nichts von dem Versteck, wo ich bis –“

„– Christiania mich verborgen hielt. – Was wurde aus Planboom?“

„Hollborn drohte ihm mit dem Tode, falls er nicht mit ihm gemeinsame Sache mache. Ich belauschte diese Unterredung. Rouvier redete Planboom gleichfalls zu. Und da es diesem nicht gerade gut ging, gab er nach und erhielt einen Teil der Beute. Er ahnte nicht, daß ich noch lebte.“

„In Christiania flohen Sie dann hinter den Kohlenkahn. Sie trugen eine Verkleidung –“

„Den Bart habe ich mir jetzt erst abnehmen lassen –“

„– und in Hamburg wollten Sie Hollborn die Beute wieder –“

„– Oh – er stach zuerst auf mich ein. Ich bin kein Meuchelmörder – wirklich nicht!“

Harst sann jetzt über irgend etwas nach. – Mein Hirn aber kam nun nach diesem blitzschnellen Entrollen so vieler Bilder, aus denen sich das Rätsel des Löwen von Flandern zusammensetzte, ein wenig zur Ruhe.

„Rouvier und Hollborn waren fraglos alte Bekannte und einander ebenbürtig,“ sagte Harst nun, indem er nach der Falltür emporschaute. „Rouvier wird Hollborn gleich aus Kolombo noch brieflich mitgeteilt haben, daß auf der Brigg etwas zu holen war. Dieser Brief mußte ja wochenlang vor der Brigg in Deutschland sein, da er mit Postdampfer befördert wurde. So hatte Hollborn Zeit, den Kuxhaven 3 zu mieten, mit anrüchigem Gesindel zu bemannen und dem Löwen von Flandern aufzulauern. Vielleicht –“

Über uns plötzlich eine Stimme: „Nun – wie steht’s mit der Antwort, Herr Hecker?“

Harst flüsterte Armstrong erst etwas zu, rief dann: „Gut – einverstanden! Stricke her!“

Dann zog er seine Pistole, schlug auf Armstrong an. „Rühren Sie sich nicht! – Schubert – binde ihn!“

Ich merkte, es war Komödie. Ich wußte nicht, was Harst beabsichtigte. Erst als er mir zuraunte: „Weg mit der Lampe! Ich lasse mich hochziehen!“ durchschaute ich den Streich, den er den Leuten oben spielen wollte.

Zwei Stricke schwebten herab. Harsts Lampe lag so auf der Kiste, daß der Lichtkegel uns nicht traf. – Die Komödie ging weiter. Armstrong benahm sich sehr schlau, bat, schimpfte, fluchte, brüllte. Dann rief Harst: „Schieb ihm einen Knebel zwischen die Zähne!“; dann – wurde Harst langsam hochgehißt; die zweite Falltür stand weit offen; Harst hatte die Arme auf dem Rücken, tat, als sei er gefesselt. So schwebte er empor in die Dunkelheit.

Sekunden atemloser Spannung. Dann – oben irgendwo ein ächzender Laut; wieder Stille; nun Harsts Stimme:

„Die Stricke kommen! – Schraut – her zu mir! Ich habe den Kerl hier vorläufig erledigt!“

Nun sah ich, daß zwischen den beiden Falltüren in der Mauer eine kleine eiserne Tür sich befand. Dahinter lief eine Treppe aufwärts. Auf den untersten Stufen lag ein breitschulteriger, schwarzbärtiger Seemann mit gefesselten Händen und Füßen. Er war bewußtlos. Harst hatte ihn mit dem Pistolenkolben gegen die Schläfe getroffen.

Nachdem Harst die beiden Stricke, die mit dem einen Ende an der Eisentür befestigt waren, wieder in den Schacht hatte hinabgleiten lassen, gingen wir leise nach oben, gelangten durch eine Falltür in eine Kammer neben einer blitzsauberen Küche und dann in ein Zimmer –!

In ein Zimmer, in dem auf Stühlen angebunden – das Ehepaar Planboom saß, mit Tüchern über dem Kopf, mit Knebeln im Munde.

Wir befreiten sie. Harst erklärte sofort, wer er sei, fügte hinzu:

„Kapitän Planboom, der Mann, den ich soeben unschädlich gemacht habe, dürfte Rouvier sein, Ihr Steuermann. Ich kenne jetzt so ziemlich die ganze Geschichte des Geheimnisses Ihrer Brigg, und –“

„Gestatten Sie: Sie kennen nicht alles. Ich gab Hollborn und Rouvier mein Wort, zu schweigen und mich zu fügen, forderte aber, daß mein Schiff nicht versenkt würde. Hollborn war der menschlicher denkende Schurke. Er sorgte auch dafür, daß Sie beide nicht beseitigt wurden, als er und Rouvier Sie gefangen nahmen.“

„Er soll seinen Lohn erhalten, Kapitän!“ sagte Harst kalt. „Gehen Sie, holen Sie die Polizei und legen Sie ein offenes Geständnis ab. Sie müssen ja mit einer leichten Strafe davonkommen. Ich werde mich für Sie verwenden.“

Wir brachten Rouvier nach oben in das Zimmer. Inzwischen hatte Armstrong die Gelegenheit benutzt, aus dem Verließ an den Stricken hinauszuklettern. Er war und blieb verschwunden. Harst tat sehr überrascht. Aber ich hatte das Gefühl, daß er Armstrong habe die Flucht ermöglichen wollen. Auch auf mich hatte der Ingenieur keinen ganz ungünstigen Eindruck gemacht.

Rouvier hatte den größten Teil des Raubes bei sich. Er ist später hingerichtet worden. Planboom wurde freigesprochen, kaufte seine Brigg zurück und schreibt noch heute regelmäßig zu Haralds Geburtstag einen langen, dankbaren Brief. –

 

 

Die Horna-Fee.

 

Der Oktober war damals mild und zahm wie ein Frühlingsmonat. Unsere kleine Jacht Optimus hatte daher auf dem Wege nach Island nur ein einziges Mal rauhes Wetter zu überstehen. Motor und Segel gaben ihr eine Geschwindigkeit von durchschnittlich 16 Knoten, so daß wir am Abend des siebenten Reisetages in Sicht der Ostküste dieser so hoch nördlich gelegenen dänischen Insel-Kolonie zu kommen hofften.

Am Nachmittag des sechsten Tages nach unserem Auslaufen aus Kuxhaven saßen wir zu dreien auf Klappstühlen auf dem kleinen Achterdeck, gegen den Wind durch den Kajütaufbau gut geschützt. Kapitän Tiessen bediente das Steuer, was bei dem stetigen Winde nicht viel Aufmerksamkeit erforderte. Harst rauchte und hatte unseres alten Todfeindes Palperlons seltsame Zeichnung in der Hand. Ich wieder las in einem Spezialwerk über Island, das Harst in Hamburg gekauft hatte.

Da plötzlich vom Vorschiff unseres jungen Freundes Karl Malke helle Stimme:

„Der große Fischkutter dort winkt. Die Flagge fliegt nur so auf und nieder. Er hält auf den Optimus zu.“

Tiessen spähte hinüber, drehte das Steuerrad, und fünf Minuten drauf lagen wir Bord an Bord mit dem Emdener Heringsfänger „Anna Gilpe“.

So lernten wir dessen Besitzer, den alten Traugott Gilpe, kennen. – Er freute sich, Landsleute hier getroffen zu haben. Man merkte es ihm an. Er saß in unserem Wohnsalon und ließ sich den Begrüßungsgrog schmecken. Aber er wurde sehr bald recht einsilbig, druckste und druckste, fragte dann wieder:

„Also ’ne Vergnügungsfahrt machen die Herren. Hm – und Sie haben nur die Absicht, sich Island so ein bißchen anzusehen. – Hm – da – da –“

„Sie haben eine Bitte,“ half Harst nach. „Raus damit. Was gibt’s denn? Was bedrückt Sie? – Sie scheinen nur heiter. In Ihren Augen liegt Kummer.“

Gilpe nickte. „Ja – es ist so, Herr – Herr. Wie war doch der Name?“

„Harald Harst. Ich bin Liebhaberdetektiv. Vielleicht haben Sie von mir –“

„Herr Gott – welch ein Glück!“ rief Gilpe dazwischen. „Also der Harst sind Sie! – Ja – dann – dann kann ich wohl noch hoffen, den Jan Schmeling wiederzusehen. Er ist nämlich mit meiner Ältesten verlobt, der Jan.“ Er seufzte. „Und nun – nun bringen wir ihn nicht mit heim. Das – das wird Tränen geben!“

„Er ist also verschwunden,“ meinte Harst. „Wäre er tot, brauchten Sie meine Hilfe nicht!“

„Ja – das ist nun eigentlich für Barnjaröp gar nichts so Seltenes, daß dort ein Mann der Fee wegen auf die Felsen steigt und nachher nicht mehr zu finden ist,“ begann Traugott Gilpe mit traurigem, ins Weite schweifendem Blick.

„Sie sprechen da von einer Fee, Landsmann?“ fragte er kurz. „Ist das der Spuk?“

„Das ist er. Und – selbst in Kopenhagen weiß man davon. Die Regierung hatte voriges Jahr einen Detektiv geschickt, so einen ganz berühmten. Aber – der blieb den Sommer über in Barnjaröp, nahm 25 Pfund zu und das ungelöste Rätsel mit heim. Das war alles, was er erreichte.“ –

Er sog an der Stummelpfeife. „Hm – vielleicht glauben Sie den ganzen Schnack nicht, Herr Harst,“ meinte er dann trübe. „Und doch ist’s Wahrheit. Sonst wäre ja nicht der Detektiv aus Kopenhagen gekommen im vorigen Mai.“

„Pardon, Landsmann,“ sagte Harst jetzt. „So wird das nichts. Ich werde fragen. Bitte um recht genaue Antworten. – Also: Wann zeigte sich diese Fee zum ersten Male? Wo zeigt sie sich? Weshalb hatte die dänische Regierung Veranlassung, einen Beamten dorthin zu senden?“

„Im Herbst vor zwei Jahren begann der Spuk. Ich bin jedes Jahr in Barnjaröp. Es liegt an der Ostküste im tiefsten Winkel des Horna-Fjords.“

„Horna-Fjords?!“ ertönte es von Tiessens und meinen Lippen gleichzeitig. „Das ist ja –“

„– ja – das ist unser Ziel!“ ergänzte Harst mit warnendem Blick. „Wir wollten nämlich zunächst nach diesem Fjord, der landschaftlich so sehr viel bieten soll.“

„Na – dann hätten Sie ja fraglos auch den kleinen Hafen Barnjaröp besucht, Herr Harst. 500 Einwohner gibt’s dort, meist reinblütige Isländer. Nur wenige Deutsche, Engländer und Franzosen haben sich da angesiedelt.“ –

Harst hüstelte. „Im Herbst vor zwei Jahren fing der Spuk an. Gut.“

„Und der Kopenhagener Detektiv kam dann im Mai, weil inzwischen vier junge Leute aus Barnjaröp verschwunden waren.“

„Die vier Leute wollten also wohl zu der blonden Fee emporklettern,“ sagte Harst langsam. „Sind wohl auch die Steilküste hinaufgelangt, dann aber –“

„– dann verschwanden sie eben!“ vollendete der alte Gilpe dumpfen Tones. „Ihre Freunde, die unten im Boote alles beobachteten, sahen, wie der Spuk die Arme sehnsüchtig ausstreckte, wie die Ärmsten auf die Gestalt zueilten und – – urplötzlich wie weggeblasen waren. – Dasselbe spielte sich jedesmal ab. Und nun sind’s mit Jan gerade zehn, die die Fee sich geholt hat.“

„Zehn?“ riefen Tiessen und ich ganz entsetzt. „Das ist doch geradezu –“

„– unglaublich!“ führte Gilpe den Satz zu Ende. „Es ist aber wahr! Aus Barnjaröp sind fünf Leute auf diese Weise abhanden gekommen, und von den fremden Fischern auch fünf, drei Franzosen und zwei Deutsche.“

Harst lehnte sich wieder zurück in seine Sofaecke, langte mechanisch nach einer neuen Zigarette und starrte vor sich hin.

Der alte Gilpe blickte ihn forschend an.

„Herr Harst!“ sagte er dann leise. „Herr Harst – wollen Sie nicht helfen, den Jan wiederzufinden?“

Harsts Augen waren plötzlich geschlossen.

„Ich suche ja schon nach ihm,“ meinte er zerstreut. „Wann verschwand Ihr Schwiegersohn?“

„Am 8. August, also vor etwa zwei Monaten. – Es war ein Sonntag. Ich wußte nichts davon, daß die vier Freunde, der Jan und drei andere Matrosen von den deutschen Fischkuttern, sich verabredet hatten, daß einer von ihnen, den das Los traf, der Fee so etwas auf den Leib rücken sollte. Nur daß die vier in das Trugbild rein vernarrt waren, das merkte man so an ihren Reden. Auch der Jan war ganz anders geworden. Aber bei ihm war’s mehr so die Abenteuerlust. Er hat Schneid, der Jan! Furcht kennt er nicht. Und weil doch der neunte Verschwundene, der Steuermann Wilhelm Jasper vom Fischdampfer Weser 5 sein Schulkamerad war, hatte er schon immer gedroht: „Der Fee von der Horna-Insel dreh’ ich das Genick um!“ – Na – die vier Freunde nahmen ein Boot, ruderten bis unter die Steilküste, würfelten, und der Jan warf nur ’ne Zwei, mußte also hinauf. Und – alles kam wieder wie immer –“

„Dolle Geschichte!“ brummte Tiessen. „Na, Herr Harst, was sagen Sie dazu?“

„Sehen geht vor sagen, bester Tiessen! Ohne Zweifel aber steckt dahinter eine ungeheure Schurkerei. Von Spuk natürlich keine Rede. Die Zeiten, wo Damen a la Lorelei Schiffer und Kahn in Strudel lockten, sind gewesen.“

Gilpe zuckte die Achseln. „Ich hab’ das Weib ja selbst viermal gesehen,“ meinte er widerwillig. „Die Küste ist dort gegen 150 Meter hoch. Die Felsterrasse, über die sich das nackte Gestein wölbt, also mehr eine flache offene Grotte, liegt etwa 90 Meter über dem Meere. Mein Fernglas brachte mir die Gestalt ganz nahe. Ein Prachtweib ist’s. Blond, etwas dunklere Augenbrauen, dunkle Augen, ein Gesicht wie Milch und Blut. Und der Körper – wie für ’ne Schönheitskonkurrenz geschaffen! Kein Wunder, daß die jungen Burschen rein des Teufels danach sind!“

„Noch eine letzte Frage, Landsmann: Sind diese zehn Verschwundenen sämtlich gerade dann oben auf der Felsterrasse gewesen, wenn die Gestalt zu sehen war? Sind auch mal gleichzeitig mehrere Leute so spurlos abhanden gekommen?“

„Für beides ein Ja,“ nickte Gilpe. „Einmal sind zwei französische Matrosen gleichzeitig oben gewesen. Beide kehrten nicht zurück.“

„So – dann weiß ich vorläufig genug. – Sie können sich darauf verlassen, Landsmann, daß von mir aus alles geschehen wird, diese Schurkerei zu enthüllen. Nur eine Bedingung: Sie geben mir Ihr Wort, daß niemand erfährt, wer ich bin und daß die Herren auf dem Optimus Ihnen versprochen haben, dieses immerhin etwas gefährliche Geheimnis zu ergründen!“

„Ich werde schweigen, Herr Harst!“ Gilpe streckte ihm die Hand hin.

Traugott Gilpe verabschiedete sich dann nach dem zehnten Glase Grog, den er halb auf halb trank. Seine Stimmung hatte sich wesentlich aufgebessert. Am liebsten hätte er Harst umarmt.

– – – – – – – –

Die Jacht näherte sich am folgenden Mittag der Küste Islands. Die Sonne schien. Die Gletschermassen des Vatna-Jökull schillerten und gleißten in ungeheurer Ausdehnung über dem schwarzgrauen Landstreifen.

Harst, der seit Gilpes Abschied jedes Gespräch über das Inselgespenst abgelehnt hatte, prüfte nochmals die Skizze Palperlons und sagte plötzlich:

„Es unterliegt ja nun keinem Zweifel mehr, daß James Palperlon mich auf diese unheimliche Fee hat aufmerksam machen wollen. – Lieber Tiessen, das Inselchen, auf dessen Ostseite nach der See zu die Gestalt stets erscheint, muß ganz nahe an der Fjordmündung liegen. Nach Gilpes Beschreibung hoffe ich die Stelle zu finden, und wenn gerade kein Fischkutter in der Nähe, klettere ich bis zu der Terrasse empor. Jakob Pedersen (das war unser Maschinist, Matrose und Koch) kann mich mit dem Beiboot hinüberrudern. Der Optimus selbst verbirgt sich irgendwo in der Nähe in einer Bucht.“

Tiessen schüttelte sehr bedenklich den Kopf. Auch ich warnte Harst. Und Pedersen meinte:

„Herr Harst, – den Dübel ook, dat hefft (hat) doch noch Tid (Zeit)! Wir möten Sei festzurren, dat Se uns nich utkniepen (auskneifen)!“

„Lieber Pedersen, es ist nicht die geringste Gefahr dabei. Das weiß ich. Ich weiß noch mehr: es muß einen zweiten Zugang zu der Terrasse geben! Den will ich eben suchen. Wenn wir erst in Barnjaröp sind, werden wir vielleicht von mißtrauischen Augen dauernd belauert. Dann haben wir nicht mehr die rechte Bewegungsfreiheit. – Ich will Ihnen allen jetzt sofort folgendes einschärfen: Schraut und ich sind Maler namens Schmidt und Henke. Wir beide werden so tun, als ob wir nicht nur einen, sondern mehrere Spleens hätten. Wundert Euch also nicht, wenn wir plötzlich etwas komisch wirken. Verratet Euch nicht! Seid überaus argwöhnisch gegen jeden. Verplappert Euch nicht, meidet den Alkohol am Lande und haltet allezeit die Augen offen. Ganz besonders Du, Karl, mit Deiner feinen Spürnase kannst uns viel nützen.“

Eine halbe Stunde drauf lag der Optimus dicht vor einer Reihe von Klippen, hinter denen sich die Felsmassen eines ungeheuren Granitblocks von Insel auftürmten.

Es war die Horna-Insel. Deutlich konnte man droben an der von Rissen, Vorsprüngen und balkonähnlichen Felsnasen durchzogenen, etwas schrägen Wand die Terrasse mit ihrer weit vorspringenden Felsendecke erkennen.

Harst stieg in unser Aluminiumboot, in dem Pedersen schon Platz genommen hatte.

Pedersen stieß von der Jacht ab, zog die Riemen durch. Das kleine Boot entfernte sich schnell. Weit und breit war kein lebendes Wesen außer Möwen aller Arten zu sehen.

Zehn Minuten drauf kehrte Pedersen mit dem Beiboot zurück. Wir erblickten dann auch Harst, der bereits langsam und stetig seinen gefahrvollen Weg nach oben fortsetzte. Die Klippen hatten uns zunächst die Aussicht versperrt.

Er hatte Pedersen befohlen, ihn nach zwei Stunden wieder abzuholen. Der Optimus aber sollte nun sofort die Insel nach Westen zu umrunden und feststellen, wie breit der Meeresarm zwischen ihr und der schmalen Landzunge war, die die Einfahrt in den Horna-Fjord so sehr verengerte.

Die Jacht, getrieben von dem Aushilfsmotor, war in kurzem um die Südwestecke der kleinen Insel herum, und wir konnten nun sofort erkennen, daß dieser ungeheure Granitberg von Insel diese Bezeichnung kaum verdiente, da sich eine vielleicht 50 Meter dicke, natürliche Felsenbrücke nach der Landzunge über den schmalen Wasserarm hinweg erstreckte, während unter dieser, in etwa 30 Meter Höhe liegenden Brücke die Fahrrinne durch Riffe und Klippen gänzlich gesperrt war.

Wir stoppten nun, denn ein besseres Versteck für den Optimus konnte es kaum geben als diese Bucht zwischen dem Inselchen und der gleichfalls felsigen, steilen Landzunge.

Es war bereits empfindlich kalt. Wir hatten auch schon warme Kleidungsstücke angelegt, ebenso wie Harst noch in Kuxhaven für uns [für][16] alle Fälle Schafpelze eingekauft hatte.

Endlich war’s Zeit, daß Pedersen mit dem Beiboot sich auf den Weg machte. Kurz entschlossen stieg ich mit ein.

Die Sonne war längst verschwunden. Eisige, dünne Nebel führte der Nordost herbei. Wir hatten den kleinen Motor am Heck aufgesteckt. Knatternd sauste das leichte Boot über die schon bedenklich hochgehende See dahin. – Wir wanden uns zwischen den Klippen durch, kamen in ruhiges Wasser, legten an, schauten empor zu der nebelumwogten Höhe der Steilwand.

Von Harst nirgends eine Spur. Der Uhrzeiger rückte vor. Zehn Minuten über zwei Stunden, – zwanzig Minuten.

Pedersen reichte mir die Kognakflasche. Ich fieberte förmlich. Ich trank und es half. Der Alkohol ist ja oft wie eine rosige Brille, täuscht uns vieles vor.

Hinter uns jenseits der Klippen brandete das Meer immer stärker.

„Noch eine halbe Stunde, dann sitzen wir hier mit dem offenen Boot fest,“ brummte Pedersen. „Die See geht immer höher. Ich wünschte –“

Da – links von uns ein Pfiff: Harst!

Gleich darauf saß er im Boot. Pedersen kurbelte schon den Motor an.

Ich hatte Harald nur stumm die Hand gedrückt. Er selbst sprach kein Wort. – Und – eine Unterhaltung war auch unmöglich. Wir bekamen dauernd Spritzer über Bord, wurden bis auf die Haut naß. Es war eine Fahrt, bei der wir unser Leben jede Sekunde verlieren konnten. Ich schöpfte fortwährend Wasser aus. Harst tat nichts. Er saß zusammengeduckt da und brütete vor sich hin.

Wir erreichten glücklich den Optimus. Aber Pedersens große Kognakflasche war leer geworden.

„Wir bleiben bis zum Morgen hier!“ bestimmte Harst, nachdem er zu den ihn freudig begrüßenden Tiessen und Karl achselzuckend gesagt hatte: „Ich wußte ja: die Rückfahrt soeben war das schlimmste!“

Nachdem wir uns angezogen hatten, saßen wir fünf in der Kajüte bei heißem Kaffee, den Jakob Pedersen schnell gebraut hatte.

Vier Augenpaare mahnten Harst zum Sprechen. Er rauchte schon die vierte Mirakulum.

„Ich fand aber etwas anderes,“ erklärte Harald nun und legte zwei winzige Gegenstände auf den Tisch.

Ich griff danach. In meiner flachen Hand lagen zwei weißliche Splitter, der eine etwa von Erbsengröße, der andere länglicher und glänzender.

Die Deckenlampe des Wohnsalons brannte so hell, daß ich eigentlich hätte erkennen müssen, um was es sich handelte. Schließlich fragte ich unsicher:

„Stearin – von Kerzen?“

„Beinahe, mein Alter, beinahe!“

Karl Malke bat sich die beiden Stückchen aus, musterte sie, hielt sie dicht unter die Lampe, machte ein Gesicht, als ob er vor einer geheimnisvollen Leiche stände und – legte beide wieder auf den Tisch.

„Stearin – würde auch ich sagen!“ erklärte er. „Nur etwas rötlich schimmert das eine Stückchen.“

„Ganz recht. Und das ist wichtig,“ nickte Harst.

Hiermit war aber auch „die Fee“ für heute erledigt. Harst steckte die Stückchen wieder ein und begann mit Tiessen eine Schachpartie. –

Morgens um acht Uhr kam ich an Deck. Ringsum alles weiß. Es hatte in der Nacht geschneit. Drüben im Nordwesten schimmerte die Eiswüste des Vatna-Jökull.

Hinter mir eine Stimme. „In all dieser Reinheit, in dieser so gut wie unberührten Natur sinnen Menschen auf unfaßbare Schandtaten!“ sagte Harst leise. „Menschen, die vielleicht mit dem Verbrechergenie Palperlon in Verbindung stehen. – Schraut, was meinst Du wohl: Wozu ließ man die zehn jungen Leute verschwinden – wozu?“

Ich hatte selbst schon darüber nachgedacht. „Ich weiß es nicht. – Etwa um sie zu berauben?“

„Niemals! Überlege: Was können denn Seeleute und einfache isländische Bauernsöhne oder Fischer an Wertgegenständen bei sich haben?! – Nein – hier handelt es sich um etwas anderes, – aber – um was?! Ich finde keine Erklärung. Tatsächlich nicht, mein Alter. Harald Harst versagt hier. Versagt heute noch. Aber – ich werde von hier nicht eher weichen, bis ich denjenigen entdeckt habe, der die weibliche Gestalt dort als Lockmittel auf den Felsen schickt! Ein Lockmittel ist’s natürlich. Die ganze Sache ist darauf angelegt, gerade junge Leute zu verführen, sich auf die Steilwand zu wagen. Ich wünschte, ich könnte mal hinauf, wenn diese böse Fee droben sichtbar ist. Dann – sollte es ihr übel ergehen!“

Daß dies keine leere Drohung war, sah ich seinem Gesicht an.

Bald tauchte die Ortschaft Barnjaröp auf. In einem kilometerbreiten Einschnitt zwischen den hohen Fjordufern lagen weit zerstreute Steinhäuser, sämtlich mit Grastorf gedeckt. Nur um die Holzkirche herum machte das Ganze den Eindruck eines Dorfes. Der Hafen mit zwei langen Anlegebrücken und einem Wellenbrecher war größer, als man’s hier vermutete.

Wir machten dicht neben einem hart am Ufer stehenden Gasthof fest. Es war der einzige in Barnjaröp. Ein Zollbeamter kam an Bord. Die üblichen Formalitäten waren schnell erledigt. Eine Privatjacht von so schmuckem Aussehen wie der Optimus schmuggelt nicht. – In kurzem sammelten sich Neugierige an. Der Ortsvorsteher erschien und machte uns sozusagen seine Antrittsvisite. Er sprach fließend englisch und war ein älterer, schwerblütiger Mann.

Harst begann jetzt (wir hatten uns inzwischen schöne blonde Bärte wachsen lassen, Harst sogar eine üppige Künstlermähne) den etwas angeknacksten Maler zu spielen. Der Isländer erhielt Rotwein vorgesetzt, die besten Zigarren und – allerlei harmloses Gerede, das Harst wie Wasser über die Zunge kam. Allerdings – mit Kunstpausen! Denn der Maler Henke stotterte stark, was häufig auf Tiessens braunes Indianergesicht ein Lächeln lockte. – Harsts Geschick, ein Gespräch ganz unmerklich auf einen bestimmten Gegenstand zu lenken, erstrahlte in hellstem Glanze. Nach zehn Minuten hatte er den Herrn Ortsvorsteher beim Thema Aberglaube, und bei der dritten Flasche Rotwein erzählte uns Sven Björka alles, was er Grausig-Geheimnisvolles von der Horna-Fee wußte und größtenteils ja als Amtsperson miterlebt hatte. Wir taten, als wüßten wir von alledem nichts – nichts! – Neues erfuhren wir kaum.

Harst schien nicht recht an diesen Spuk zu glauben. Da wurde Sven Björka ganz erregt. Der Wein hatte seine Schuldigkeit getan.

„Selbst die klügsten beiden Männer von Barnjaröp zweifeln nicht daran,“ meinte er fast beleidigt. „Ihr Landsmann Schlimp, der hier seit zehn Jahren ansässig ist, und der Privatgelehrte Master Thomas Preegrave, ein Engländer, haben sich persönlich überzeugt, daß es sich um eine wirkliche Erscheinung handelt, bevor noch der Detektiv aus Kopenhagen kam. Und die beiden Herren hören das Gras wachsen. Schlimp ist in den zehn Jahren hier ein reicher Mann geworden, und auch Preegrave ist ein Praktikus, wenn auch Gelehrter, der jetzt mit dem Schoner „Old England“, der hier gerade entladen wird, gute Geschäfte macht. Er sammelt Versteinerungen, packt sie in Kisten und schickt sie nach London, verdient viel Geld damit.“

„Wa – as für Ver – Versteinerungen?“ fragte Maler Henke da und warf mir einen Blick zu, den ich nicht recht zu deuten wußte.

„Nun – versteinerte Krebse, Muscheln und ähnliches.“

„So – so!“

Ich stutzte. Dieses „So – so“ war für mich wie das Signal „Achtung“.

Aber Harst sprach bereits von anderen Dingen, – ob es hier besonders malerische Punkte gebe, und so weiter.

Sven Björka empfahl uns unter anderem die natürliche Felsenbrücke zwischen der Horna-Insel und der Landzunge. „Die ist schon oft photographiert und gezeichnet worden. Auch Preegraves Frau ist Malerin, aber nur so zum Vergnügen. Aber seit langem geht sie kaum mehr aus. Sie ist kränklich. Die rauhe Luft hier verträgt nicht jeder. Wer sich in drei Jahren nicht daran gewöhnt, zieht am besten wieder weg von hier. Preegrave ist jedoch schon zu sehr mit seinem schönen Landsitz verwachsen, um uns wieder zu verlassen.“

Sven Björka verabschiedete sich dann bald, lud uns für den Abend zu sich ein und ging etwas unsicher auf den Beinen von dannen.

Wir schauten ihm nach. – „Du hast Verdacht gegen diesen Preegrave geschöpft?“ fragte ich leise.

„Ja – aber nicht hinsichtlich des Spuks, mein Alter. Nur der Versteinerungen wegen. Es ist nämlich barer Unsinn, daß jemand damit viel Geld verdienen kann! Und – gar kistenweise sendet er sie per Schiff nach London! Schwindel ist das! Ich werde dahinterkommen. Schau’ nicht nach links jetzt, Schraut. Ich nehme an, daß es der Engländer ist, der dort auf dem Deck des Schoners steht. Ah – da werden ja bereits Kisten von den Wagen abgeladen und aufgestapelt. Wahrscheinlich enthalten sie die – Versteinerungen! – Besinne Dich: Björka erwähnte, daß Preegrave auch ein chemisches Laboratorium in seinem Hause hätte. Der Engländer wohnt ganz abgelegen drüben nach Südwest zu in einem Tale. Nur einen einzigen Diener hält er, einen Spanier. – Wir werden uns nachts die Kisten mal genauer ansehen.“

– – – – – – – –

Als wir dann gerade beim Mittagessen im Wohnsalon saßen, meldete Pedersen unseren Landsmann Schlimp an. Das war ein kleiner, hagerer, quecksilbriger Mensch von einigen fünfzig Jahren. Er freute sich offenbar ehrlich, hier ein deutsches Schiff mit Deutschen drauf begrüßen zu können. Er blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit, und von ihm bekamen wir die Tragödie der zehn Verschwundenen zum dritten Male zu hören.

Und abermals lenkte Harst die Unterhaltung nur nach seinem Willen. – Freilich – was er mit diesem sprunghaften Wechsel des Gesprächsgegenstandes beabsichtigte, ahnte ich zunächst nicht, bis ich plötzlich aufmerksam wurde, als Harst aus dem Landsmann herauslockte, daß dessen Frau blond und sehr groß sei.

Also: eine blonde, große Frau! – Und – da zuckte mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Wenn Schlimp etwa diese „Fee“ erscheinen ließ? Wenn es seine Frau war?

Ich beobachtete ihn nun mit Augen, die der Argwohn geschärft hatte. – Er war ein Prahlhans. Er rühmte sich seines ehrlich erworbenen Reichtums zu sehr. 2300 Schafe besaß er. Die Wolle allein warf viel Gewinn ab. Im Frühjahr wollte er einen Versuch mit der Herstellung von Fleischkonserven machen.

Mir fiel jedoch nichts weiter an ihm auf. Als er gegangen, hatte „Maler Henke“ versprochen, wir würden morgen seine Tischgäste zu Mittag sein.

Harst etwas von meinem Argwohn hinsichtlich Frau Schlimps mitzuteilen, hütete ich mich. Als wir dann nach dem neben der Kirche liegenden Hause des Ortsvorstehers gingen, fing er selbst von Schlimp zu sprechen an.

„Der Mann ist wertvoll,“ meinte er unter anderem. „Ich wette, er weiß mehr, als er sagt.“

„Über die Horna-Fee?“

„Nein, über Preegraves Versteinerungen. Als ich diese so nebenbei einflocht, wurde sein Fuchsgesicht noch fuchsähnlicher.“ –

Der Abend bei Sven Björka wurde recht feucht-fröhlich. Ich gebe zu: ich hatte zu viel getrunken. Maler Henke spielte aber nur den Angeheiterten.

Wir kehrten gegen halb zwölf an Bord zurück. Die Nacht war eisig kalt. Ein scharfer Wind kam den Fjord hinunter. Wir saßen dann noch bis nach Mitternacht in der Wohnkajüte im Dunkeln. Ich schlief verschiedentlich ein. Harst weckte mich schließlich nur mit Mühe, zog mich halb die Treppe empor und sagte ärgerlich: „Bist Du denn auf den Kisteninhalt gar nicht neugierig?“

Ich nahm mich zusammen. Wir schlichen nach links das Bollwerk entlang auf den Schoner Old England zu, hockten dann dicht an dem Stapel der mit Eisenbändern benagelten Holzkisten. Harst hatte ein kleines Brecheisen und eine Zange mitgebracht. Wir schauten uns erst vorsichtig nach allen Seiten um, bevor wir von einer der Kisten, die sehr schwer waren, möglichst leise den Deckel so weit lockerten, daß Harst hineinlangen konnte.

Er holte einen schmalen, kantigen Gegenstand unter der Heuschicht hervor. Ich fühlte: es war Metall!

Für einen Moment beleuchtete Harsts Lampe diese Metallbarre.

„Silber!“ flüsterte er.

Dann legte er die Barre wieder zurück.

Silber! – Und – kistenweise! Preegrave mußte hier eine überaus reiche Silberader entdeckt haben, wenn er ganz allein imstande war, so viel Barren einzuschmelzen. Sven Björka hatte uns ja erzählt, der Schoner ginge alle sechs Wochen nach London ab – stets mit einigen dreißig Kisten voll „Versteinerungen“, außerdem mit Schafwolle, Häuten und anderer Fracht.

Harst verschloß die Kiste wieder sehr sorgfältig, in dunkler Nacht keine Kleinigkeit. Denn es sollte ja nicht auffallen, daß sie geöffnet war.

Ich hatte mich auf eine andere, aus dem Stapel herausragende Kiste gesetzt und war schon wieder in eine Art Halbschlaf verfallen, schreckte erst hoch, als – es zu spät war.

Ein Hieb traf meinen Hinterkopf, und wie ein Sack kippte ich bewußtlos nach vorn über. Zum Glück hatte meine dicke, wollene Mütze (Björka hatte uns jedem eine vorhin geschenkt) den Schlag gemildert, da ich sie tief über die Ohren der Kälte wegen herabgezogen hatte.

Ich kam bald wieder zu mir. Langsam wurde ich mir bewußt, daß ich in einem Wagenkasten gebunden lag. Außerdem war ich noch in eine Decke eingewickelt, die wie eine Rolle mit Stricken umwunden war.

Der Wagen fuhr schnell, aber ziemlich lautlos. Ich hörte nur das Quietschen der Achsen[17] und das Klappern der Renntierhufe auf dem gefrorenen Boden.

Dann – ein Stoß in die Seite! Dann eine dumpfe Stimme:

„Schraut – bei Bewußtsein?“

„Ja!“ – Es war Harst.

„Meine Fesseln lassen sich nicht abstreifen. Versuch’s mit den Deinen!“

Es war umsonst. Es waren dünne, weiche Riemen.

„Unmöglich!“ meldete ich mich nach wohl fünf Minuten krampfhafter Anstrengungen.

„Dann spielen wir weiter die Ohnmächtigen,“ befahl Harst.

Nach vielleicht einer halben Stunde hielt der Wagen. Über uns raschelte es. Es waren die Geräusche, die eine geölte Leinwand macht, wenn sie beiseite geschoben wird.

Man hob mich auf, trug mich von dannen. Es waren zwei Personen. Sehen konnte ich nichts. Nur fühlen, hören und – riechen! – Ja – ich roch jetzt, als man mich niedergelegt hatte, Apothekendüfte.

Preegraves Laboratorium – kein Zweifel!

Ich hörte flüstern, hörte auch das Rascheln von Weiberröcken.

Da – soeben hatte jemand auf Englisch gesagt:

„Es bleibt dann nichts als Asche von ihnen übrig. Man soll nur nach ihnen suchen!“

Mir drang eiskalter Schweiß aus allen Poren.

Schmelzofen – Silber – verbrennen! irrten Gedankenfunken durch mein halb irres Hirn.

Dann Stille ringsum. Nur Türen hörte ich noch öffnen und schließen. Jetzt seit endlosen Minuten kein Laut mehr.

Herr Gott – lag ich etwa schon in einem Schmelzofen?! Würde vielleicht in kurzem sengende Glut mich umspielen, mich rösten, mich in Staub verwandeln?

Ah – jetzt doch ein Geräusch. Ein Scharren, Poltern.

Ich lauschte. Dann – Harsts so dumpf wie aus einem Keller hervordringende Stimme:

„Schraut?“

„Hier!“ meldete ich mich. Nochmals dann: „Hier!“

Wieder das Scharren, Poltern. Nun wußte ich, was es war: Harst rollte und wand sich trotz seiner wohl ähnlichen Umschnürung auf mich zu.

Jetzt lag er neben mir.

„Schraut, wir sind verloren, wenn wir nicht sehr bald uns befreien,“ hörte ich ihn sprechen. „Wir müssen irgendwie uns retten! Die Schufte wollen uns verbrennen! Die Räder des Wagens hatten sie umwickelt. Keine Spur wird verraten, wo wir geblieben sind. Ich glaube nicht, das Preegrave, in dessen Laboratorium wir liegen, mit der Horna-Fee etwas zu tun hat. Er ist um sein Silbergeheimnis besorgt, hat sicher schon Unsummen Zoll unterschlagen. Solltest Du von hier fliehen können, ist es eine Kleinigkeit, Preegrave, seinen Diener und seine Frau verhaften zu lassen. Sie alle drei sind Mitwisser, falls man mich beseitigt. Wie – weißt Du! – So, und nun laß mich überlegen, ob mir nicht etwas einfällt, wodurch wir diese verdammten Renntierriemen los werden.“

Ich wartete – wartete. Ich hörte, wie Harst sich sehr bald dauernd bewegte, hörte Töne wie das Zerreißen von Stoff. Dann – Harsts deutlichere Stimme: „Ich habe ein Loch in die Decke gebissen. Ich kann sehen. Der Mond scheint durch die drei Fenster herein.“

Wieder eine lange Pause. Dann rutschte er von mir weg. Er hatte gehofft, auf einem Tisch ein Messer zu finden. Er richtete[18] sich auf, kniete, – fand eine kleine – Stichsäge, bekam sie mit den Zähnen zu packen, kehrte zu mir zurück, hatte den Griff der Säge im Munde, durchschnitt die Riemen meiner Decke, so daß ich mich herausrollen konnte, durchsägte meine Handfesseln.

Da – waren wir frei! Standen nun mitten im Laboratorium, horchten atemlos.

Kein Laut. Nur der Wind heulte leise um das Gebäude.

Harst befühlte seine Taschen.

„Alles hat man uns abgenommen!“ flüsterte er. „Schauen wir uns nach irgend einer Waffe um.“

Er huschte hierhin und dorthin. In einer Ecke war ein Bücherschrank. Er zog die Schublade unten auf, winkte mir zu.

Zwischen allerlei Handwerkszeug lagen da drei Revolver, System Colt[19]. Patronenschachteln waren ebenfalls vorhanden.

Harst lud die Revolver, gab mir den einen.

„So – nun werden wir hier Polizei spielen!“ sagte er drohend.

Das Laboratorium hatte zwei Türen. Eine führte ins Freie und war von innen verschlossen. Die andere mündete in einen Flur und war nur eingeklinkt.

Hier im Flur rieb Harst ein Hölzchen an. Wir sahen links einen Garderobenständer, rechts eine Tür und geradeaus eine.

Ich will nicht allzu eingehend schildern, wie wir schließlich bis zu Preegraves Schlafzimmer gelangten. Er schnarchte laut.

Harst ließ ihn vorläufig schlafen. Wir fanden auch in einem Anbau das Zimmer des Spaniers, der ebenfalls bei unverschlossener Tür im Bett lag. Sein Atem ging tief und regelmäßig.

Sein Erwachen war für ihn sehr unangenehm. Harst hatte ihn halb erwürgt, ehe es uns gelang, den kräftigen, schwarzbärtigen Menschen zu fesseln und zu knebeln. Wir banden ihn so an die Bettpfosten ausgestreckt fest, daß er kein Glied rühren konnte.

Dann kam Thomas Preegrave an die Reihe. Um ihn schneller zu bewältigen, versetzte Harst ihm einen Hieb mit dem Revolverkolben gegen die Stelle rechts von der Schläfe. Der Engländer war ein baumlanger Kerl und hätte es wohl mit uns beiden aufgenommen. So aber kehrte ihm die Besinnung erst zurück, als er bereits gebunden war.

Wir konnten nur annehmen, das Preegraves Frau im Obergeschoß schlief. Sehr bald hatten wir dort auch ein Damenschlafzimmer entdeckt. Aber – das Bett war unberührt.

„Sie muß außerhalb des Hauses sein,“ meinte Harst. – Wir gingen in den Hof hinab. Wir stellten fest, daß der Kastenwagen fehlte. Im Stall stand nur ein zweirädriger, ganz leichter Zweisitzer, ein sogenannter Sandschneider.

„Warten wir. Sie dürfte bald zurückkommen. Jedenfalls vor Tagesanbruch,“ erklärte Harst und trat vor das Haus, musterte die Umgebung.

„Wir müssen die Renntiere schon auf weite Entfernung hören,“ meinte Harst. „Mag es ruhig ganz dunkel werden. – Geh’ doch nach oben in das Frauenschlafzimmer und sieh zu, ob Du nicht etwas findest, wodurch wir den Vornamen dieses Weibes erfahren. Ich möchte gern feststellen, wo sie mit dem Wagen so allein gewesen ist. Vielleicht gelingt es mir durch plumpe List.“

Ich fand auf dem Nachttischchen oben ein Buch, einen englischen Roman. Darin stand mit Tintenstift in sehr energischer, großer Schrift:

Edith Alix Preegrave.
Juli 1902.

Harst war zufrieden. „Mit dem Edith Alix läßt sich schon etwas anfangen! Glückt’s nicht, ist’s auch nicht schlimm!“

Der Mond hatte sich längst hinter die Berge gesenkt, als gegen sechs Uhr morgens etwa das Klappern der Renntierschalen (Hufe) das Nahen des Wagens anmeldete.

Der Wagen bog in den Hof ein. Wir standen hinter der angelehnten Hintertür. Undeutlich war die Gestalt einer Frau zu erkennen, die nun leichtfüßig vom Wagen sprang und die drei Renntiere abschirrte.

Harst öffnete die Tür weiter, rief leise:

„He – wie steht’s, Edith?“

Die Frau fuhr hoch, erwiderte dann:

„Alles in Ordnung, Tom.“

Jetzt trieb sie die Tiere in eine Umzäunung, kam nun die drei Steinstufen hoch.

Wir standen weiter zurück im Dunkeln.

Und dann – dann erhielten wir den besten Beweis, daß das Weib Harsts List durchschaut hatte, und wie schlau und energisch sie war.

Schüsse knallten – eins – zwei – sechs hintereinander. Die Kugeln sausten an uns vorbei. Hätte Harst mich nicht schon nach dem ersten Schuß blitzschnell zu Boden gerissen, dann wären wir sicher verwundet worden.

Dann ein Krach. Die Tür flog ins Schloß.

Harst war mit einem Satz wieder hoch, riß sie auf – aber das Weib war schon im Dunkel der Nacht untergetaucht.

„Eine mißliche Lage!“ meinte Harst. „Am sichersten sind wir mit unseren Gefangenen oben.“

Wir schleppten Preegrave und den Spanier die Treppe empor, zündeten drei Lampen an und saßen auf der obersten Stufe, bis der Morgen heraufzog. Erst als es hell genug war, auch auf weitere Entfernung draußen alle Gegenstände unterscheiden zu können, gingen wir in den Hof hinab.

Harst hob die Ölleinwand von dem Kastenwagen. Darin lagen ein leerer Korb und ein leeres Fäßchen.

Harst zog den Stöpsel aus dem Spundloch des Fäßchens und prüfte den Inhalt.

„Hm – klares Wasser ist’s,“ sagte er kopfschüttelnd. „Sehen wir uns den Korb genauer an.“

Aber er schien nichts von Wichtigkeit entdeckt zu haben.

Dann besichtigten wir noch oberflächlich den an das Laboratorium angebauten Schmelzofen, den Preegrave sehr raffiniert scheinbar als Räucherofen hergerichtet hatte.

Harst war jetzt mit einem Male sehr einsilbig geworden. Schweigend spannte er (es kostete Mühe genug) die drei Renntiere vor den Wagen. Und auch während der Fahrt nach Barnjaröp blieb er wortkarg, obwohl doch unsere Gefangenen hinten im Wagenkasten Stoff genug zu Gesprächen geboten hätten.

Der Weg war unschwer an den Räderspuren zu erkennen.

Nur einmal machte Harst eine besondere Bemerkung:

„Mein lieber Alter,“ sagte er, „vielleicht finden wir den Weg zu der Lösung des Rätsels der Horna-Insel ebenfalls – sehr bald!“

Wir hielten vor dem Hause des Ortsvorstehers an. Der brave Isländer fiel aus allen Wolken, als wir ihm unsere Gefangenen ablieferten und Harst erklärte, weshalb der sehr ehrenwerte Master Preegrave ein sicheres Gefängnis verdiene.

„Verhaften Sie auch den Kapitän und den Steuermann des Schoners,“ fügte Harst hinzu. „Sie dürften miteingeweiht sein in diese – Ausfuhrgeschäfte in Versteinerungen.“

Wie wir noch vor dem Hause standen, kam unser Landsmann Schlimp dazu, begrüßte uns herzlich, hörte mit an, daß Preegrave und der Spanier uns hatten rösten wollen, rief dann:

„Himmel – da habe ich ja was Schönes angerichtet! Ich will nur ehrlich sein, meine Herren: Der Schoner hatte mir die neuesten deutschen Zeitungen mitgebracht, und darin fand ich eine Jacht Optimus erwähnt, die im Christianiafjord einen gewissen Harald Harst an Bord gehabt hatte, jenen Detektiv, der dann dort das Geheimnis des Gespensterwracks enthüllte. Als nun hier der Optimus auftauchte, da habe ich mir gleich gedacht: Ob nicht Herr Harst jetzt bei uns eine Gastrolle geben will?, habe Sie beide schärfer beobachtet und kam zu der Überzeugung, Sie seien Harst und Schraut. Dies erzählte ich abends Preegrave, ohne zu ahnen, was ich damit anrichtete. Er wird –“

„Schon gut!“ meinte Harst. „Nun wissen wir ja, weshalb Preegrave seine Kisten bewacht und uns dann niedergeschlagen hat!“

– – – – – – – –

Kapitän und Steuermann des Old England verrieten durch ihr Benehmen bei ihrer Verhaftung ihr schlechtes Gewissen. Aber auch sie schwiegen genau so hartnäckig wie Preegrave und der Spanier.

Dem ersten Verhör durch den Ortsvorsteher wohnten wir bei. Wenn Blicke hätten töten können, so wären wir beide damals nicht am Leben geblieben. In des herkulisch gebauten Engländers Augen loderte ein Haß, der zur Vorsicht mahnte. Keiner der vier Verhafteten gab auf irgend eine Frage Antwort. Es war kein Verhör, es waren nur verzweifelte Versuche des braven Björka, diese ihm geistig fraglos weit überlegenen Menschen zum Reden zu bringen.

Schließlich ließ er sie wieder in das Gefängnis abführen. Dieses hatte nur eine Zelle und war an das Spritzenhaus angebaut. Da Harst der Festigkeit dieses Kerkers nicht traute, riet er Björka, ständig eine Wache vor die Tür zu stellen. Dies geschah auch.

Mittlerweile war es elf Uhr geworden. Ich war zum Umfallen müde. Aber Harst gönnte mir keine Ruhe. Wir frühstückten bei Sven Björka inmitten einiger fünfzig Isländer, die flüsternd dastanden und Harst mit den blauen Nordmänneraugen staunend betrachteten.

Tiessen und Karl waren bei uns. Karl bettelte, Harst möge ihn doch mitnehmen. Wir wollten ja gleich nachher versuchen, Edith Preegraves habhaft zu werden. Schließlich gab Harst nach. Inzwischen hatte Björka vier junge Leute nach der Besitzung des Engländers als Wachen geschickt.

Wir fuhren dann zu dreien ab. Der Renntierwagen, von Harst gelenkt, raste im Galopp über den steinigen Boden dahin. – Ich muß noch nachholen, daß wir schon in der Nacht den gesamten Inhalt unsrer Taschen im Hause Preegraves wiedergefunden hatten.

Als wir dort jetzt anlangten, meldeten die vier Isländer, daß bei ihrem Nahen Edith Preegrave auf einem Pony das Gehöft in wilder Flucht verlassen hätte. Die Verfolgung sei ergebnislos geblieben.

Im Hause fanden wir anscheinend alles unverändert vor. Nur in einem Ofen lag ein Berg noch warmer Asche von verbrannten Papieren. Harst entdeckte sie, durchwühlte sie, aber auch nicht ein Eckchen Papier war unversehrt geblieben.

Dann verließen wir drei zu Fuß das Gehöft und wandten uns nach Osten. Eine Strecke weit zeichnete sich deutlich ein Weg ab. Dann aber, am Ostrande des Tales, hörte jede Spur von Rädern auf. Harst fand aber in einem Gewirr von Felsen Decken und Riemen, die offenbar dazu bestimmt waren, die Hufe der Renntiere und die Räder zu umwickeln.

Er war auch jetzt sehr schweigsam. Immer wieder schritt er den Fuß der östlichen Anhöhen ab und suchte nach einer Fährte. Nach einer Stunde bog er dann in einen Einschnitt zwischen den Bergen ein, der paßähnlich den Zugang zu einem sogenannten Hraun bildete, einem öden nackten Lavafeld, das sich kilometerweit hinzog und in eine Ebene, bestehend aus Schuttflächen, Steinblöcken und Sumpflöchern, Halsar genannt, überging, deren östlichster Ausläufer an nackte, steile Felswände stieß.

Bis zu diesen starren, rissigen, dunklen Granitwänden drangen wir scheinbar auf gut Glück vor. Harst war uns immer einige fünfzig Meter voraus. Wir hatten wohl gegen zwei Meilen zurückgelegt, und mir war es daher sehr lieb, als Harst nun erklärte, wir sollten uns hier nur ausruhen. Er würde noch versuchen, die Wände zu erklimmen.

Karl Malke und ich setzten uns hinter ein paar dürre Birken, die auf Island zumeist strauchartig auftreten.

„Herr Schraut,“ meinte unser junger Freund und Gehilfe, „es gibt hier sehr wohl Spuren von Rädern und Renntierhufen, allerdings nur so undeutliche, daß ich sie nie bemerkt hätte, wenn ich mich nicht auch überall dort gebückt hätte, wo Herr Harst dies getan hat. Er tut nur so, als ob wir aufs Geratewohl durch diese Wildnis gewandert sind. In Wahrheit ist er stets auf einer Fährte geblieben, die allerdings nur er herausfinden konnte, da es sich nur um weit auseinanderliegende, verschwommene Eindrücke handelte. Der Boden ist hier ja zumeist steinhart, und lediglich ein paar zermalmte Steinchen, aus ihrem Lager geschobene Felsstückchen und ähnliches deuteten an, daß hier vielleicht öfters ein Wagen vorübergekommen ist. Außerdem sah ich, daß Herr Harst verschiedentlich Wollfäden vom Boden aufhob, – also Teile der Räder- und Hufhüllen.“

Ich war beschämt. Karl hatte besser beobachtet als ich. Und – er hörte jetzt auch mehr als ich, sagte nämlich:

„Da links von uns jenseits der steilen Anhöhe rauscht es wie von einer Brandung. Geben Sie nur acht, Herr Schraut. Der Wind trägt das Geräusch uns zuweilen zu.“

Er hatte recht. Und gerade dieses ferne Rauschen machte mich stutzig. Sollten wir uns so nahe der Küste befinden?! Sollte vielleicht hinter den schroffen Wänden dort die Horna-Insel liegen? Sollten diese Anhöhen etwa zu der Landzunge gehören, die sich vor dem Horna-Fjord von Süden nach Norden wie eine Mole hinzog?!

Ich überlegte mir, wann und wie wir die Richtung geändert hatten, bevor wir hierher gelangten. Ich stand auf und schaute nach Westen. Auch dort die Aussicht versperrende Berge. Und diese Talebene hier setzte sich wirklich immer schmaler werdend nach Norden zu fort. Alles dies machte es wahrscheinlich, daß wir hier auf der Landzunge waren!

Und – die Horna-Insel so in der Nähe! Ob Harst etwa hier doch mehr dem Geheimnis der Horna-Fee als Edith Preegrave nachspürte?!

Ich sprach mit Karl darüber. Meine Müdigkeit war vergessen. Karl teilte meine Ansicht, meinte: „Herr Harst sagt ja nie, was er eigentlich vorhat, wenn er allein etwas unternimmt.“

Vor einer vollen Stunde war Harst nun bereits dort zwischen den Felsblöcken am Fuße der Steilwände verschwunden. Es begann zu dunkeln. Meine nervöse Erregung wurde zu peinvoller Sorge um das Leben des Freundes. Wenn dieses Weib, das uns so rücksichtslos in der Nacht hatte niederschießen wollen, ihm einen Hinterhalt gelegt hatte?! Wenn Harst tollkühn zu viel gewagt hatte?!

Ich sprang auf. „Karl, suchen wir nach Harst!“

Wir drangen zwischen den Felsblöcken vor, fanden dahinter eine mehrere Meter breite Spalte im Gestein, die wie ein Tunnel beinahe horizontal verlief. Wir betraten die Spalte, kamen aber nicht weit. Die Batterie meiner Taschenlampe war verbraucht. Die Finsternis ringsum zwang uns zur Umkehr.

Meine Uhr zeigte auf ½5. Gerade als ich sie wieder in die Tasche schob, Schritte – Harst!

Wir standen und starrten ihn an wie eine Erscheinung. Sein Gesicht war bleich, – so bleich, wie ich ihn selten gesehen habe. Wir erkannten dies trotz der mangelhaften Beleuchtung.

„Was ist geschehen, Harald?“ fragte ich und griff nach seiner Hand.

„Geschehen? Nichts! – Vorwärts – zurück nach Barnjaröp! – Ich – habe – die zehn Leute – bemerkt!“

Schwer und widerwillig kamen ihm die Worte über die Lippen. Er stierte vor sich hin, sagte dann ganz geistesabwesend:

„Eine Schurkerei, wie die Welt sie selten erlebt haben dürfte!“

Dann raffte er sich auf, schritt davon, schlug bald einen kurzen Trab an.

Halbtot kam ich als letzter in Preegraves Gehöft an. Harst und Karl standen mit den vier Isländern auf dem Hofe.

Harst rief mir entgegen: „Soeben ist Landsmann Schlimp auf seinem Pony hier gewesen und hat die Nachricht gebracht, daß das Weib ihre Genossen aus der Zelle befreit hat – vor einer Stunde. Sie hat den Wächter hinterrücks niedergeschlagen. Ich soll schleunigst nach Barnjaröp kommen.“

Die vier jungen Leute hatten für uns den Wagen schon bereitgehalten. Wir stiegen ein, Harst knallte mit der Lederpeitsche, und die Renntiere sprangen an.

An diese Fahrt werde ich denken! Daß der Wagen dabei nicht in Stücke ging, wir nicht hinausgeschleudert wurden, war ein Wunder. – Gegen acht Uhr hielten wir vor Sven Björkas großem Hause. Aus der Tür quollen uns Männer mit Laternen entgegen; Schlimps scharfe, helle Stimme gellte uns in die Ohren:

„Die Schufte sind mit dem Optimus auf und davon. Zwei Fischer beobachteten den Überfall auf die Jacht. Eine halbe Stunde ist’s her!“

Und diesen deutschen Worten folgten aus Björkas Munde zur Ergänzung die Sätze: „Den Kapitän und den Maschinisten haben sie in der Kajüte überrascht. Deren Hilfegeschrei verstummte schnell.“

Harst sprang vom Wagen. Ich war so entsetzt, daß ich kein Glied rühren konnte. Unser Optimus entführt! Tiessen und Pedersen in der Gewalt dieser schlauen Schurken.

Harsts laute, befehlende Stimme brachte wieder Leben in meinen Körper. Ich wollte gleichfalls aus dem Wagen klettern, als Karl mich wieder auf das als Sitz dienende Moosbündel zog.

„Schlimp, wir brauchen Taue!“ hatte Harst dem kleinen Landsmann zugerufen, „lange, starke Taue, die zusammen eine Länge von etwa achtzig Meter haben müssen. In zehn Minuten müssen sie hier sein. – Vorwärts – besorgen Sie sie! Wir kehren mit unserem Wagen sofort wieder um.“

Schlimp tauchte in der Dunkelheit nach dem Hafen zu unter.

Karl hatte also ganz recht: es hatte keinen Zweck, auszusteigen, wenn wir sogleich nach Preegraves Gehöft zurückwollten. – „Nach Preegraves?!“ schoß es mir durch den Kopf. „Vielleicht geht’s auch abermals nach der Landzunge, den Felsblöcken und dem tunnelartigen Spalt in der Steilwand!“

Wieder Harsts Stimme, jetzt zu dem Ortsvorsteher:

„Sorgen Sie für Laternen und Stricke. Lassen Sie einen zweiten Wagen anspannen. Sie, Schlimp und der Herr Pfarrer müssen uns als Zeugen begleiten. Dann – haben Sie ein Motorboot hier?“

Aus dem Haufen der Männer brüllte jemand:

„Yes – ich besitze eins!“

„Gut – dann kreuzen Sie an der Südwestseite der Horna-Insel. Nehmen Sie noch zwei, drei Leute mit Gewehren mit. Bemerken Sie unsere Jacht, so suchen Sie lautlos heranzukommen. Und – sparen Sie keine Kugel, wenn’s nottut! Diese Schurken verdienen keine Schonung!“

– – – – – – – –

Die beiden Wagen, der unsrige voran, schienen ein Wettrennen abzuhalten. Harst schlug unbarmherzig auf die vier frischen Renntiere ein, die man für unsere drei abgetriebenen eingespannt hatte. Schlimp auf seinem Pony, in der Linken eine Laterne, bildete den Vortrab.

Ohne Aufenthalt ging es an Preegraves Besitzung vorüber. Der Himmel war sternenklar. Am nördlichen Horizont strahlte der Widerschein eines schwachen Nordlichts. Es war daher auch leidlich hell ringsum. Hatten sich die Augen erst an diese Art Halbdunkel gewöhnt, vermochte man sich recht gut zurechtzufinden. Das bewies auch Harst jetzt. Mit unfehlbarer Sicherheit erreichte er genau dieselbe Stelle der Landzunge, wo deren östliche Uferberge sich zu dem breiten Tunnel öffneten.

Wir hielten, sprangen ab. Den Zugtieren wurden die Vorderbeine kurz gefesselt, damit sie sich nicht weit entfernen könnten.

Fünf große Laternen warfen ihr rötliches Licht auf die rissigen, ungleichmäßigen Wände des Tunnels; vier Männer und ein schlanker Junge hasteten hinter dem Führer drein, – immer tiefer in die Felsmassen abwärts, herum um Winkel und Bögen, oft tief geduckt infolge der niedrigen Wölbung, oft stolpernd über Geröll.

Eine Viertelstunde so: dann wehte uns kühlere Luft entgegen; dann blinkten über uns die Sterne wieder.

„Laternen aus!“ hatte Harst befohlen, bevor noch der Tunnel in diesen Felsenkessel mündete.

Harst kroch auf allen Vieren. Ich war dicht hinter ihm. Er drehte sich um: „Schraut, weitersagen: Jedes Geräusch muß vermieden werden!“

So wand sich die menschliche Schlange von sechs dunklen Gestalten durch die Felsblöcke hindurch. – Dann ein Halt. Harst winkte. Wir blieben liegen. Nach wenigen Minuten war er wieder bei uns.

„Weiter!“ flüsterte er. „Sie sind noch nicht da – leider! Sollte ich mich verrechnet haben?“

Bei mir hatte sich längst wieder jene nervöse Erregung eingestellt, die mit Kulissenfieber so viel Ähnlichkeit hat. Auch Landsmann Schlimp, der dritte in der Schlange, atmete kurz und keuchend.

Nach wenigen Metern abermals halt. Vor mir reckte sich die nördliche Wand des Kessels hoch, die jedoch unten eine flach gewölbte Öffnung hatte. Harst tauchte darin unter, reichte mir nun die Hand.

„Aufstehen – Kette bilden – leise mir nach!“ befahl er.

So kamen wir in dieser völligen Finsternis irgend wohin, blieben stehen, vernahmen Haralds Stimme:

„Waffen bereithalten! Sie kommen!“

Wir sahen nichts – hörten nichts!

Dann ganz leise Geräusche: Schritte, – ein helles Kreischen – wieder Stille – eine lautere Stimme nun, englische Worte:

„Lächerlich! Wozu überhaupt die Umstände! Wenn es schon sein muß: wirf den Korb hinab!“

„Damit alles unten zu Atomen zerschellt, nicht wahr!“ erklang die Antwort.

Darauf ein energisches, helleres Organ, – eine Frau, Edith Preegrave: „Es fehlt nur noch, daß Ihr Euch zankt! Ich denke, wir haben allen Grund, fester denn je zusammenzuhalten.“

„Sehr richtig, Edith. Aber Ihr Bruder will den armen Teufeln ja nicht mal die kurze Gnadenfrist gönnen, ehe der Wahnsinn des Hungers sie packt.“

Da – ein Flüstern bei uns von Ohr zu Ohr; wieder die Kette; nach rechts herum aus der kleinen Seitengrotte hinaus, – hinein in einen riesigen Felsendom.

Vor uns blendend weißer Laternenschein; drei Gestalten unweit des Randes eines offenbar senkrecht in die Tiefe führenden Schachtes, – drei: Preegrave, der Spanier Guatala und Edith Preegrave.

Sie standen halb mit dem Rücken nach uns hin; neben ihnen lag eine Stahltrosse, die nach einem nahen, vereinzelten Felsblock hinführte; ein großer Henkelkorb war mehr im Hintergrunde neben einer Holzkiste zu unterscheiden.

Harst winkte mir, flüsterte Schlimp etwas zu.

Dann – dann geschah das Entsetzliche.

Harst rief die drei an. Das Gewölbe der Höhle verstärkte seine Stimme noch.

„Keine Bewegung – oder wir schießen!“

Kaum war die letzte Silbe verklungen, kaum hatten sich die drei blitzschnell nach uns umgewendet, kaum hatte das große, stattliche Weib als erste sich gefaßt, setzte zum Sprunge nach rückwärts an, – da verfing sich ihr Fuß in der Trosse; sie stolperte, griff einen Halt suchend nach dem Spanier, bekam dessen Joppe zu packen, taumelte über den Rand des Loches hinweg, verschwand mit gellendem Schrei, riß beide Männer mit sich – beide, denn auch Guatala hatte in jäher Angst sich an den Arm Preegraves geklammert.

Preegrave stand nur noch mit einem Fuße auf festem Boden, suchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen, warf sich nach vorwärts. Doch die Last der beiden Menschen an seinem linken Arm war zu groß.

Wahnwitzige Angstschreie.

Dann war die Stelle leer.

Sekunden nichts.

Nun – nun …

Aus der Tiefe des Schlundes hervor ein dumpfes Geräusch.

Der Pfarrer faltete die Hände:

„Gott sei ihnen ein gnädiger Richter!“ sagte er mit zitternder Stimme.

Sven Björka hatte sich schwerfällig auf einen Steinschutthaufen sinken lassen.

Harst nickte ihm zu. „Es ist das beste, – gönnen wir unseren Nerven Zeit, wieder zur Ruhe zu kommen,“ sagte er und folgte Björkas Beispiel. „Wir werden sie noch brauchen – nachher, wenn wir das Grab der Lebendigen öffnen.“

Wir saßen dann im Halbkreis vor dem Felsenloch, dessen Öffnung, eirund und zackig, eine größte Breite von vier Meter hatte. Und Harst begann:

„Ich will die Gelegenheit benutzen und den Herren so einiges erklären, was mit diesem nächtlichen Ausflug zusammenhängt. Dem Herrn Pfarrer gegenüber habe ich bereits angedeutet, daß die zehn Leute, die der Fee von der Horna-Insel wegen scheinbar ihr Leben einbüßten, nicht tot sind, sondern – dort unten in der Tiefe für Thomas Preegrave das silberhaltige Gestein loshacken – als Sklaven, als willenlose, billige Arbeiter, als – lebendig Tote, dazu verdammt, nie wieder das Licht der Sonne zu erblicken, nie wieder an die Oberwelt zu gelangen. Nein – nie mehr durfte Preegrave diese seine Sklaven freigeben, wenn er nicht die eigene Freiheit aufs Spiel setzen wollte! – Das ist das Geheimnis der Horna-Fee: ein Mittel war sie, kräftige Gesellen auf die Terrasse der Steilküste zu locken. Nichts weiter! Und dort oben dann haben Preegrave und der Spanier die Ärmsten wahrscheinlich durch Stahlschlingen zu Boden gerissen und in einen geheimen Eingang zu einem Tunnel gezerrt, der mit dieser Höhle in Verbindung stehen dürfte. Bis dorthin bin ich an diesem Nachmittag nicht vorgedrungen. Ich ließ mir keine Zeit dazu. – Wie ich dahinter kam, daß die zehn Verschwundenen dort unten für immer eingesperrt waren? – Ich will das kurz erläutern. – Zunächst hielt ich die Horna-Fee für eine Wachspuppe. Hier in Barnjaröp schöpfte ich gegen Landsmann Schlimp Verdacht. Ich glaubte, er sei derjenige, der den Spuk ersonnen habe und die Wachspuppe besäße. Aber – der Zweck des Spuks blieb mir völlig unklar. Inzwischen hörte ich von Preegraves Handel mit Petrefakten, Versteinerungen. Ich ahnte nicht, welche Folgen die Durchsuchung einer der Kisten am Bollwerk haben sollte. Gegen Preegraves schöpfte ich keinerlei Argwohn, was die Horna-Fee anbetraf, bis – ja – bis Edith Preegrave, die nicht die Gattin, sondern seine Schwester ist, von ihrer nächtlichen Fahrt heimkehrte, vor uns floh und ich in dem Wagen ein Trinkwasserfäßchen und einen großen Korb, beide leer, fand, – bis ich in dem Korbe Brotkrumen, winzige Reste von gebratenem Schaffleisch und Schafkäse entdeckte und mich fragte: Wo kommt das Weib zu dieser Stunde mit diesen Dingen her? Weshalb Trinkwasser, weshalb ein so großer Korb, der Lebensmittel enthalten hat? – Und weiter überlegte ich mir: Preegrave hat in Barnjaröp verbreitet, seine Frau sei leidend. Daß sie sich aber der allerbesten Gesundheit erfreute, sah ich selbst. Wozu also diese Lüge? Vielleicht zu dem Zweck, damit ja niemand auf den Gedanken käme, Edith Preegrave könnte die gefährliche Fee sein? – Schließlich dachte ich auch an die Silberbarren, daran, daß Preegrave und der Spanier niemals in so kurzen Zwischenräumen so viel reines Silber gewinnen könnten. Sie – mußten eben Leute haben, die die Erze losschlugen, während sie selbst den Schmelzofen bedienten, – Leute, die ganz im Verborgenen lebten oder – und da kam mir die Erleuchtung! – die als willenlose Werkzeuge zur Arbeit in der Silbermine gezwungen wurden, die – man auf der Terrasse der Horna-Insel überwältigt hatte und deren Arme nun tätig waren, für Preegrave Reichtümer zu erwerben! – Bald sah ich ein: nur so konnte, so mußte es sein! – Edith hatte den Gefangenen Lebensmittel und Wasser gebracht; sie war die Horna-Fee; sie gab ihr durch Schminke verändertes Gesicht, ihren gutgeformten Leib, ihren energischen Kopf, versehen mit blonder Perücke, um ihr dunkles Haar zu verbergen, dazu her, heißblütige Matrosen hinab in die Tiefen der Erde zu ziehen.“

Harst stand auf, schritt auf die Kiste neben dem aufgerollten Teile der Stahltrosse zu, brachte das Kistchen angeschleppt, öffnete es gewaltsam. – Es war gefüllt mit Banknoten und Papieren!

„Noch etwas hat also die drei hierher geführt,“ erklärte er nun. „Das Kistchen lag in demselben Versteck wie die Trosse. Es war die Sparbüchse der Verbrecher. Sie wollten sie holen, mitnehmen.“ –

Auch ich kann mich jetzt kurz fassen.

Eine Stunde später war auch der letzte der Sklaven Thomas Preegraves aus der Silbermine oben in die Höhle geschafft.

Aschgraue, abgezehrte Gesichter, kraft- und saftlose Gestalten waren diese Unglücklichen nur mehr. Sie weinten wie die Kinder vor Freude, vor unnennbarem Glück über ihre Befreiung.

Der körperlich noch frischeste der Befreiten war Jan Schmeling, des alten Gilpe Schwiegersohn. Er bestätigte, daß Harsts Vermutung zutraf: es gab auf der Terrasse der Steilküste wirklich eine Art Geheimtür, die aus einem genau eingepaßten Felsstück bestand. Ebenso hatten auch tatsächlich Drahtschlingen die kühnen Kletterer dann zu Boden geworfen und wehrlos gemacht, worauf die Verbrecher sie in den Schacht hinabließen, aus dem es kein Entrinnen gab.

Erst bei Tagesanbruch langte unser Zug in Barnjaröp an. Landsmann Schlimp war vorausgeeilt. Hunderte von Menschen kamen uns entgegen; die Glocke der Kirche läutete.

Auch der Besitzer des Motorbootes war unter der Menge, drängte sich an Harst heran, teilte mit, daß der Optimus im Hafen liege, daß es einen kurzen Kampf mit den beiden auf der Jacht befindlichen Genossen Preegraves gegeben hätte.

„Wir haben uns nicht lange besonnen, Herr Harst. Als die Schufte die Revolver zogen, knallte es schon bei uns. Sie sind beide tot.“ –

Harst fand in der Geldkiste der Verbrecher eine Art Tagebuch Preegraves, aus dem hervorging, daß der Engländer von Beruf Chemiker war und die Silbermine zufällig entdeckt hatte, als er in den Bergen nach Edelmetallen suchte.

Von diesem Tagebuche erfuhr ich erst, als der Optimus bereits auf der Rückreise nach Hamburg war. Nur wir beide, Harst und ich, waren auf der Jacht noch wach. Es war gegen Mitternacht. Harst steuerte, und ich stand neben ihm auf dem kleinen Achterdeck. Da sagte er, daß er das Tagebuch heimlich an sich genommen hätte.

„Weshalb?“ fragte ich erstaunt.

Sein Kopf wandte sich nach rechts, nach Westen.

„Weil in diesen Aufzeichnungen erwähnt ist, daß Thomas Preegrave jemand kennt, der – unser Todfeind ist: Palperlon! – Und weil darin weiter erwähnt ist, daß Preegrave seit anderthalb Jahren nichts mehr von Palperlon gesehen, nichts mehr von ihm gehört hat, weil schließlich dieser Bemerkung folgender Satz hinzugefügt ist:

Ob er (also James Palperlon) wohl noch immer sein Steckenpferd reitet und jedes Jahr viermal nur deshalb Lissabon besucht, um festzustellen, ob der angeblich hundertundfünfzigjährige[20] Seher Slami Zchumla[21] noch immer lebt. Und ob hinter diesem Interesse nicht etwas ganz besonderes steckt?

Du ahnst wohl schon, lieber Schraut, daß ich mir diesen Slami Zchumla mal aus nächster Nähe ansehen möchte. Vielleicht – fangen wir dabei unseren Palperlon!“ –

Hiermit will ich dieses Abenteuer Harald Harsts beschließen. Das nächste will ich nennen:

 

Der ewige Jude.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Pipervilken“.
  2. In der Vorlage steht: „Zeylon“.
  3. In der Vorlage steht: „Kajütendoch“.
  4. In der Vorlage steht: „ewähnte“.
  5. „Heine-Band“ / „Heineband“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Heine-Band“ geändert.
  6. In der Vorlage steht: „hüsches“.
  7. In der Vorlage steht: „hrten“.
  8. In der Vorlage steht: „werde“.
  9. In der Vorlage steht: „keine“.
  10. In der Vorlage steht: „Wr“.
  11. Fehlendes Wort „der“ ergänzt.
  12. In der Vorlage steht: „und“.
  13. In der Vorlage steht: „vorlassen“.
  14. Veraltete Schreibweise (auch: des Haags, der Haag, im Haag usw.). Siehe auch Wikipedia: Den Haag.
  15. Niederländische Schreibweise.
  16. Fehlendes Wort „für“ ergänzt.
  17. In der Vorlage steht: „des Achseln“. – Auch wenn „Achse“ und „Achsel“ miteinander verwandt sind, so wurde aber auch damals schon unterschieden zwischen Achse (Wagen) und Achsel (Körper).
  18. In der Vorlage steht: „rchtete“.
  19. In der Vorlage steht: „Kold“.
  20. In der Vorlage steht: „hundertundfünfzigjähriger“.
  21. „Zschumlar“ / „Zchumlar“ – Einheitlich und bandübergreifend auf „Zchumla“ geändert, da im folgenden Band durchgehend diese Schreibweise verwendet wird.