Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 100:
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Es war am 28. Juni 1922 nach jener Nacht, in der die Verbrecherin Jane Brack als Postbeamter verkleidet der polizeilichen Einkreisung entkam, in der wir ihren Vater, der jahrelang als harmlose Witwe uns gegenüber in der Mansarde des Hauses Blücherstraße 68 gewohnt hatte, der Polizei übergeben konnten. Antonie Lenk hatte er sich genannt. Anton Lenk hieß er in Wirklichkeit.
Noch mehr war ja in dieser Nacht geschehen. Für den von Jane Bracks Bande gefangen gehaltenen Deutschamerikaner Albert Panzer[2] hatte die Befreiungsstunde geschlagen. Und die drei Männer, die dem jungen Weibe blindlings ergeben gewesen, waren nun gleichfalls sorgsam behütete Gäste des Berliner Polizeipräsidiums.
Nach dieser Nacht hatten wir beide, Harald und ich, den versäumten Schlaf am Tage nachgeholt und saßen gegen drei Uhr nachmittags nun bei einer Tasse Mokka in Haralds Arbeitszimmer.
Harst hatte sich soeben an seinen Schreibtisch gesetzt und machte einige Eintragungen in sein Tagebuch, sagte dann plötzlich:
„Weißt Du auch, mein Alter, daß unser nächstes Detektivabenteuer hier in meinem Buche unter Nummer hundert verzeichnet werden wird? Hoffentlich wird dieses Erlebnis der Jubiläumszahl Hundert entsprechend etwas Besonderes!“
Er lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und führte die Zigarette zum Munde.
Ich sah von meinem Sessel aus sein scharfes Profil, freute mich wieder einmal über die kraftvolle und doch so durchgeistigte Schönheit dieses Männergesichts und …
Ja – und wunderte mich, daß Harald sich allmählich immer mehr vorbeugte und starr geradeaus auf das Fenster blickte.
Dann stand er auf, schlug den handgeknüpften Vorhang beiseite und sagte leise:
„Ein Gruß von Jane Brack, mein Alter, eingeritzt von außen in die rechte untere Scheibe …
Sie werden noch heute in meiner Gewalt sein,
Sie beide! – Jane. 28. 6. 1922.
Eingeritzt mit einem Diamanten – unauslöschbar! Man müßte denn gerade die Scheibe zertrümmern. Und das werden wir nicht tun. Wir werden nur sehr vorsichtig sein. Jane hat diesen Gruß fraglos in der verflossenen Nacht kurz nach ihrer Flucht hier in die Scheibe eingegraben. Sie wird wohl bereits einen bestimmten Plan in ihrem erfinderischen Köpfchen ausgebrütet …“
Er schwieg. Draußen war ein Auto vor dem Harstschen Familienhause vorgefahren.
Harald trat schnell vom Fenster zurück.
„Du, ein Klient! Und – rate, wer es ist, der jetzt durch den Vorgarten auf die Haustür zueilt? Es ist der Minister Thomas Melmer, vor sechs Jahren noch Vorarbeiter in der Eisengießerei von Pinkes und Kompagnie, – ein Mann der neuen Zeit! – Da läutet es schon.“
Die Köchin Mathilde stampfte durch den Flur. Wir hörten ihr rauhes Fortissimo-Organ …
„Ne, Herr, das ist hier nicht erlaubt …!“
Dann schon ein kurzes hartes Pochen an die Tür …
Die Tür flog auf. Thomas Melmer trat ein – groß, hager, mit dem bekannten finsteren Gesicht …
Man behauptete von Melmer, daß ihm selbst das leiseste Lächeln unbekannt sei. Man erzählte sich mancherlei über diesen Mann, der vierzehn Stunden arbeitete und nur vier Stunden Schlaf brauchte.
„Entschuldigen Sie,“ sagte er kalt. „Ich habe keine Zeit, Ihnen erst noch eine Karte durch Ihre Bedienung hereinzuschicken, Herr Harst.“
Dann warf er die Tür ins Schloß und machte uns eine knappe Verbeugung …
„Ich bin der Minister Melmer, Herr Harst. Haben Sie Zeit, mich anzuhören?“
„Gewiß. Wollen Sie bitte Platz nehmen, Herr Minister. – Hier mein Freund Schraut,“ stellte er mich vor.
Wir setzten uns gleichfalls.
Melmer saß kerzengerade im Sessel und stützte die Hände gegen die Tischkante. Es sah aus, als müßte er sich festhalten, um nicht zu schwanken. Sein Gesicht war vor mühsam zurückgedrängter Erregung leichenfahl geworden.
„Meine Tochter, mein einziges Kind, ist entflohen und hat eine Mappe mit Papieren von höchster Wichtigkeit mitgenommen,“ stieß er hervor.
„Politische Papiere?“ fragte Harald sehr gedehnt.
„Ja …!“
„Dann muß ich leider davon Abstand nehmen, Ihnen zu helfen, Herr Minister. Ich mische mich grundsätzlich nicht in Politik ein.“
„Das weiß ich. Trotzdem werden Sie diesmal eine Ausnahme machen. Regierungsrat Queißner schickt mich zu Ihnen. Er als Leiter der Abteilung R der Kriminalpolizei sieht sich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Es spielen da Begleitumstände mit hinein, die selbst ein so nüchterner Verstandesmensch wie Queißner als rätselhaft bezeichnet.“
Das helle Tageslicht ließ jede Linie dieses faltigen, bleichen Asketengesichts klar hervortreten. Die Stirn bedeckte sich mit immer dickeren Schweißperlen. Die Lippen zuckten, konnten die Worte kaum formen.
„Wenn Sie mit Politik nichts zu schaffen haben wollen, dann … dann suchen Sie eben lediglich meine Tochter, Herr Harst,“ fügte er ebenso eisigen Tones hinzu.
„Das wäre etwas anderes,“ meinte Harald.
Melmer erhob sich schnell.
„Begleiten Sie mich. Jede Minute Zeitverlust ist hier vielleicht …“
Er taumelte plötzlich, sank in den Sessel zurück, raffte sich wieder auf …
„Der Diener Hallmark ist erschossen worden – anscheinend von Helene …“ erklärte er rauh, als wollte er uns verständlich machen, daß er mit seiner Kraft am Rande sei.
„Wir begleiten Sie,“ sagte Harald kurz.
Und drei Minuten später glitt das geschlossene Auto des Ministers mit uns davon.
„Ich will Ihnen nun sofort einen Überblick über die Geschichte geben,“ begann Melmer mit sichtlicher Anstrengung. „Ich wollte mit Frau und Kind heute abend nach Homburg reisen – auf Urlaub. Als ich um drei Uhr nach Hause kam, hörte ich im Salon einen Schuß fallen. Der Salon liegt der Flurtür gegenüber. Ich fand die Salontür verschlossen, warf mich dagegen, sprengte sie auf und stolperte über Hallmarks Leiche. Im Salon standen die beiden Koffer, die Helene mit auf die Reise nehmen wollte. Da ich hier niemand außer dem aus einer Stirnwunde blutenden Diener sah, eilte ich durch die übrigen Zimmer bis in die Küche, wo ich das Stubenmädchen und die Köchin, die den Schuß nicht vernommen hatten, antraf. Sie sagten mir, daß meine Frau vor einer halben Stunde ausgegangen sei und daß sich Helene in der Wohnung außer ihnen und Hallmark allein befände. Ich hatte meine Aktenmappe, die mir vor Schreck im Salon entfallen war, dort auf ein Tischchen gelegt. Als ich nun Helene suchte, war auch die Aktentasche verschwunden. Die beiden Mädchen behaupteten, meine Tochter sei noch vor wenigen Minuten im Hauskleid in der Küche gewesen. Und – nun war sie nicht mehr da. Das Haus konnte sie nicht verlassen haben. Der Pförtner stand ja vor der Tür. Er hat Helene nicht gesehen. Einen zweiten Ausgang hat das Haus nicht. – Ich telephonierte die Polizei, Abteilung R, an. In fünfzehn Minuten waren acht Beamte da, auch Queißner. Die Polizei konnte nur feststellen, daß Hallmark durch Nahschuß getötet und Aktentasche und meine Tochter sich nicht mehr im Hause befanden.“
„Und die Mordwaffe?“ fragte Harald.
„Ist ebenfalls nicht entdeckt worden.“
„Haben Sie nur das eine Kind, Herr Minister?“
„Ja.“
„Haben Sie im Benehmen Ihrer Tochter in letzter Zeit Veränderungen bemerkt?“
„Nichts. – Helene ist eine sehr frostige Natur, stets sich gleichbleibend, sehr menschenscheu und verschlossen.“
„Wie alt?“
„Vierundzwanzig.“
„Was können Sie über Hallmark angeben, Herr Minister?“
„Fünfzig Jahre alt, seit zehn Monaten bei mir in Stellung, vorher achtzehn Jahre Diener beim Grafen Nedlitz. Ein ruhiger, bescheidener Mann ohne jeden Anhang mit besten Empfehlungen, sehr belesen, sehr gewandt.“
„Und die beiden Mädchen?“
„Sind seit zwei Jahren bei uns, zuverlässig, treu, anhänglich.“
„Wer teilte außer diesen Personen noch mit Ihnen die Wohnung?“
„Niemand sonst. – Das Haus enthält nur Büros mit Ausnahme der ersten Etage, meiner Wohnung, die jedoch einen besonderen Zugang durch Portal eins hat. Das ist ja eben das unerklärliche: wo blieb Helene?! Sie hat nur die Treppe hinabeilen können, als ich in der Küche war. Und doch: der Pförtner hat sie nicht gesehen! – Queißner steht vor einem Rätsel.“
„Und nimmt an, daß Ihre Tochter mit der Aktentasche entflohen ist, nachdem sie den Diener niedergeschossen hatte?“
„Nein. Wenigstens hat er mir gegenüber nichts davon geäußert.“ –
Das Auto hielt.
Der Pförtner kam herbeigesprungen und öffnete die Tür.
Harst winkte den Mann in das Portal.
„Wie heißen Sie?“
„Schenk.“
„Dann hören Sie mal genau hin, Herr Schenk. Der Herr Minister kehrte um drei Uhr heim. Wer betrat vorher das Haus durch diesen Eingang?“
„Gegen zwei Uhr das Fräulein mit ein paar Paketen.“
„Helene hatte noch Einkäufe gemacht,“ erklärte der Minister ungeduldig.
„Und vor zwei Uhr, Herr Schenk?“
„Gegen eins nur ein Postbote.“
„Kannten Sie ihn von Ansehen?“
„Nein. Es war ein junger Mensch mit einem Rohrpostbrief für das Fräulein.“
„Und vor ein Uhr?“
„Brachten zwei Leute den Koffer, den das Fräulein gekauft hatte. Es war so gegen drei Viertel eins.“
„Zwei Leute?“
„Ja. Zwei Angestellte der Firma Hodler.“
„Es ist ein sehr großer Schrankkoffer, Herr Harst,“ warf der Minister noch ungeduldiger ein. „All dies hat Queißner schon notiert. Gehen wir doch nach oben.“
„Wenn Sie bitte vorauseilen wollten, Herr Minister, und mir Queißner hinabschicken würden. Ich möchte ihn einiges hier fragen. Ich arbeite stets nach meiner Methode und stets nur mit meinem Freunde Schraut zusammen.“
„Wie Sie wünschen …!“ – Melmer ließ uns mit dem Pförtner allein.
„Besinnen Sie sich einmal genau, Herr Schenk,“ sagte Harald hastig. „Haben auch beide Männer, die den Koffer nach oben brachten, das Haus wieder verlassen?“
„Ganz bestimmt,“ versicherte der Pförtner, schränkte dies aber sofort mit jäh verlegen werdendem Gesicht wieder ein: „Das heißt, wenn ich’s beschwören sollte, dann habe ich nur den einen Mann so richtig gesehen. Der andere lief nämlich nochmals nach oben, da er seine Zigarre oben auf dem Treppenabsatz vergessen hatte. Während sein Kollege dann von mir sich ein Glas Wasser dort in der Loge geben ließ, wird der andere wohl schon wieder runtergekommen sein.“
„Danke, Herr Schenk,“ nickte Harald.
Regierungsrat Queißner war im Treppenaufgang erschienen.
Wir kannten ihn noch nicht. Er bedankte sich sehr liebenswürdig bei Harald für dessen bereitwillige Hilfe und fragte dann geradezu bescheiden, wie Harst den Fall beurteile.
„Darüber vermag ich mich beim besten Willen noch nicht zu äußern,“ erwiderte Harald ebenso höflich. „Ich wollte zunächst nur wissen, ob Sie den Postboten, der den Rohrpostbrief für Fräulein Melmer gebracht hat, und die beiden Männer, die den Koffer beim Minister ablieferten, haben herbeiholen lassen.“
„Gewiß, Herr Harst. Die drei Leute sind soeben eingetroffen.“
„Ah – alle drei?! Nun, das wäre dann die erste Enttäuschung …! – Gehen wir nach oben.“
Doch – er machte auf dem Treppenabsatz des ersten Stockes vor der Flurtür des Ministers nicht halt, sondern stieg bis in die zweite Etage empor. Hier war die breite Flügeltür durch ein starkes Eisengitter völlig abgesperrt. Genau so war es im dritten und vierten Stock. Selbst die Bodentür zeigte sich in derselben Weise gesichert. Die Wohnung des Ministers war mithin von dem übrigen Hause hier im Vorderaufgang vollständig abgeschnitten.
Harald hatte diese Eisengitter sämtlich untersucht. Sie waren in die Mauern, in Fußböden und Decken tief eingelassen und unversehrt.
„Dasselbe habe ich ebenfalls schon getan,“ erklärte Queißner vor dem Gitter der Bodentür. „Hier nach oben kann Fräulein Melmer nicht geflüchtet sein. Nach unten auch nicht, denn dann hätte der Pförtner sie sehen müssen.“
„Falls er nicht in seiner Loge war, Herr Regierungsrat.“
„Da war er nicht, Herr Harst. Er hat sogar unten am Fuße der Treppe gestanden und den Schuß gehört, wenn auch ganz schwach. Der Knall hatte ihn mißtrauisch gemacht. Er blieb an der Treppe, bis der Minister ihn nach oben rief und ausfragte. Es ist eben völlig unbegreiflich, wo Fräulein Melmer geblieben sein kann.“
Harald schwieg.
Dann betraten wir den Salon. Durch die drei hohen Fenster drang eine Überfülle von Licht herein.
An einem der Fenster standen drei Kriminalbeamte. Die Leiche des Dieners lag auf dem Rücken neben der Tür.
Harst bat, daß man uns beide hier vorläufig allein lassen möchte. Queißner und die Beamten entfernten sich nach rechts zu. Dort lag das Herrenzimmer, wie wir später sahen.
„Setz’ Dich, mein Alter,“ meinte Harald und deutete auf einen der Seidensessel.
Dann begann er den Salon zu durchsuchen. Er tat es ziemlich flüchtig. Sehr bald nahm nur noch der neue hohe Schrankkoffer, ein braungelbes Ungetüm mit Messingbeschlägen, sein Interesse in Anspruch.
Die Kofferschlüssel waren mit einer Schnur an dem einen Ledergriff befestigt.
Harst schloß den Koffer auf.
Und – bückte sich, sagte dabei:
„Die Aktentasche ist bereits gefunden.“
Das war denn doch zu wichtig. Ich eilte zu ihm hin. Er hatte die Ledermappe bereits geöffnet.
„Zwei dünne Aktenbündel,“ meinte er. „Da – trage die Tasche ins Nebenzimmer. Queißner mag den Minister fragen, ob dies die vermißten Papiere sind.“
So wurde ich denn Zeuge, wie Thomas Melmer, dieser gewaltige Redner und Politiker, vor Freude errötete, als er so wieder in Besitz der kostbaren Dokumente gelangte.
Queißner machte dazu ein sehr längliches Gesicht. Ihm war es unangenehm, weil er den neuen Koffer nicht beachtet hatte. Um über seine Verlegenheit hinwegzukommen, sagte er zu Thomas Melmer:
„Leider ist das Verschwinden Ihrer Tochter und der Mord an dem Diener jetzt noch dunkler und geheimnisvoller geworden, Herr Minister. – Wer hat die Aktentasche in den Schrankkoffer eingeschlossen und zu welchem Zweck? Das ist eine Frage, die auch Herrn Harst einiges Kopfzerbrechen bereiten wird, denke ich.“
Es war ein Zufall, daß Harald im selben Moment das Herrenzimmer betrat und nun die Anwesenden mit prüfenden Blicken musterte, besonders die bescheiden neben der Tür sitzenden beiden Angestellten der weltbekannten Kofferfirma Hodler und Komp. und den Postboten.
Er ging auf diese drei zu und fragte ohne jede Einleitung:
„Wer von Ihnen stieg nochmals die Treppe empor, um die Zigarre zu holen?“
Der eine Hodler-Mann erhob sich zögernd. Es war ein Mensch mit einem frischen bartlosen Gesicht. Er trug wie der andere die Livree der Hausdiener der Firma. Der Mann war offensichtlich sehr befangen, wich Haralds Augen aus und meinte stockend:
„Es war ja nur ’n Zigarrenstummel, den ick da wejjelegt hatte …“
„Sie haben also geraucht, als Sie den Koffer brachten?“ fragte Harst weiter.
„Nu ja … Warum nich?“
„Auch noch auf der Treppe?“
„Nur ’n paar Züge. Soll det etwa ’n Verbrechen sein?“ – Er wurde aus Verlegenheit patzig und fast grob.
„Dann zeigen Sie mir die Stelle, wo Sie den Zigarrenstummel weggelegt haben. Begleiten Sie mich! Vorwärts!“ – Harald gab mir mit den Augen einen Wink. Ich folgte ihm und dem Hausdiener.
Vor der Flurtür deutete der Mann auf eine Stelle des geschnitzten Geländers. Er tat es jedoch erst, nachdem er sich wie suchend umgeschaut hatte.
Harst bückte sich, nahm die Taschenlampe hervor und beleuchtete die Stelle.
„Keine Spur von Zigarrenasche,“ sagte er leichthin. „Sie lügen, Mann! Hier hat keine Zigarre gelegen.“
„Oho!“ fuhr der Hausdiener auf. „Oho – ich hab’ mit’n Schnuppstuch die Asche weggestäubt.“
Harald lief plötzlich die Treppe hinab und kehrte in Begleitung des Pförtners Schenk zurück.
„Herr Schenk, sehen Sie sich diesen Mann mal genau an,“ meinte er ernst. „Ist dies einer der beiden, die den Koffer brachten?“
„Hm – ich möchte fast sagen: Nein, dies ist ein anderer Mensch! Denn die beiden Hausdiener waren nur klein und stämmig. Dieser ist schlank.“
„Gut – folgen Sie uns ins Zimmer, Herr Schenk,“ befahl Harst.
Im Herrenzimmer mußten sich die beiden Hausdiener nebeneinander stellen.
Da erklärte der Pförtner nun sehr bestimmt: „Dieser Lange da ist nicht der, den ich nachher nicht weggehen sah.“
Harst nickte befriedigt. „Ich danke Ihnen, Herr Schenk. Ihre Anwesenheit hier ist nicht mehr nötig.“
Der Pförtner verließ das Herrenzimmer wieder.
„Wollen Sie beide nun ehrlich sein?“ wandte sich Harald an die Hausdiener. „Sie haben von einem Fremden Geld erhalten, und dieser Fremde zog sich Ihre Livreejacke an, half dann den Koffer hierher bringen, während Sie in einer Kneipe warteten.“ Er blickte den Schlanken dabei starr an.
Der Mann schluckte und würgte an einer Antwort, bis sein Kollege ärgerlich rief:
„Siehste, Justav, ick hab’ det doch jleich jeahnt! Wir hätten uns auf den faulen Zauber nicht einlassen soll’n!“
Harst hatte Queißner herbeigewinkt.
„Die beiden wissen noch nichts von dem Mord?“ fragte er rasch.
„Nein, Herr Harst.“ –
„Wie heißen Sie?“ drehte Harald sich dem Kleineren der beiden wieder zu.
„Schmidt, Emil Schmidt …“
„Nun, Herr Schmidt, Sie haben soeben gehört: hier in der Wohnung des Herrn Ministers ist jemand um drei Uhr ermordet worden. Wenn auch der Fremde, der Ihres Kollegen Rolle hier spielte, kaum der Mörder sein dürfte, so besteht doch der Verdacht, daß er an diesem Verbrechen irgendwie beteiligt ist.“
Die beiden Hausdiener waren sehr blaß geworden.
„Ich will alles sagen,“ meinte Schmidt kleinlaut. Vor Angst berlinerte er nicht einmal mehr. „Die Sache war so. Im Geschäft war gerade kein Handwagen da. Rupart und ich,“ er zeigte auf den Schlanken, „trugen den Koffer deshalb hierher. Es eilte ja mit der Ablieferung, und weit ist’s ja nicht. Wir gingen die Mauerstraße entlang. Da sprach uns ein Herr an, der etwa so meine Größe hatte, aber nen blonden kurzen Vollbart. Er sagte, er wolle dem Herrn Minister ein Bittgesuch persönlich überreichen. Einer von uns solle ihm doch die Livreejacke und die Mütze überlassen, denn nur so könnte er in die Wohnung des Ministers hineingelangen. Er bat so sehr, daß wir schließlich einwilligten, zumal er uns jedem fünftausend Mark gab. Ick hab’ mir wahrhaftjen Jott erst jar nichts Schlimmes bei die Jeschichte jedacht. In die Stehbierhalle haben wir dann die Sache mit det Umkleiden befingert, und der Fremde und ick trugen nu den Koffer weiter. Da sagte der Mensch mit’n Mal zu mir: „Hören Sie, Sie bekommen noch fünftausend Mark, wenn Sie den Pförtner dort im Hause des Ministers für ein paar Minuten in die Loge locken, vielleicht dadurch, daß Sie ihn um ein Glas Wasser bitten, wenn wir die Treppe wieder runterkommen. Ich will nämlich dann nochmals nach oben, falls der Minister nicht zu Hause ist, und den Diener bitten, daß er meinen Brief dem Minister auf den Schreibtisch legt. Sie tun dann so, als ob ich schon vorausgegangen bin, und wir treffen uns in der Stehbierhalle, wo Ihr Kollege uns erwartet.“ – Diese Sache kam mir nu ’n bißken mulmig vor, offen jestanden. Aber der Fremde, der sich übrigens Ingenieur Winter nannte, redete so lange auf mich ein, bis er mir wahrhaftig breitschlug. Na – und auf diese Art is er denn nachher nochmals nach oben jelaufen, anjeblich um seinen Zigarr zu holen, und ick lockte den Pförtner in die Loge. Det is nu allens.“
„Und wann erschien Winter in der Stehbierhalle?“
„So jejen halb zweie rum. Dann hat Rupart wieder seine Livreejacke anjezogen und seine Mütze uffjesetzt und wir machten, daß wir wieder ins Jeschäft kamen.“ Schmidts Ton war immer weinerlicher geworden. „Die Herren werden uns doch nicht etwa um unsere Stellung bringen,“ fügte er kläglich hinzu. „Wir haben uns bei alledem wirklich nischt Böses denken jekonnt, und wir sind doch beede verheiratet und …“
„Beruhigen Sie sich. Ihnen soll nichts geschehen. – War Winter der Sprache nach Ausländer?“
„Nee. Er redete bloß so’n bißken wie’n Süddeutscher.“
„Haben Sie vielleicht an ihm irgend ein besonderes Kennzeichen bemerkt?“
„Hm – ja, Kennzeichen … Jawoll: er hatte an der linken Hand zwei zusammengewachsene Finger, den Mittel- und den Zeigefinger. Nich wahr, Justav, det stimmt doch.“
„Ja, det stimmt.“
„Gut, Sie können nun gehen. Halten Sie aber den Mund über das, was hier geschehen ist. Sonst …!“
Die beiden schlichen davon.
„Ich darf wohl einmal das Telephon benutzen,“ wandte Harst sich an den Minister.
Er trat an den Schreibtisch, nahm den Hörer, verlangte die Nummer des Polizeipräsidiums und dann unseren Freund Kriminalkommissar Bechert.
„Hier Harst … – Tag, Bechert … Sagen Sie, kennen Sie einen Menschen, der süddeutschen Dialekt spricht und dem an der linken Hand Mittel- und Zeigefinger zusammengewachsen sind? Der Mann dürfte zu den schweren Jungen gehören, falls er überhaupt Verbrecher ist. – – Ah – Finger-Miller heißt der Bursche? – So … so, – wird gesucht! – Danke – – Schluß.“
Harald legte den Hörer auf die Gabel zurück.
Thomas Melmer, der sich vorhin in einen Klubsessel geworfen hatte, rief jetzt nervös:
„Was wollte dieser Finger-Miller hier, Herr Harst, als er nochmals hier nach oben eilte?“
„Er hat sich einen Weg vorbereitet, um dann abermals hier ins Haus eindringen zu können, Herr Minister. Wenn Sie bitte mitkommen wollen …“
Auch Queißner und dessen Beamte schlossen sich uns an.
Harst ging die Treppe bis zum Boden empor und zeigte uns hier, daß aus dem Gitter, das vor der Bodentür angebracht war, vier Stäbe so geschickt mit einer Stahlsäge oben und unten im Zickzackschnitt durchsägt waren, daß sie sich nur nach der Seite hin herausnehmen ließen. Weiter zeigte er uns, daß die Füllung der Bodentür herausgeschnitten und genau wieder eingepaßt war.
Nachdem wir uns durch dieses Loch in der Tür sämtlich hindurchgezwängt hatten, fanden wir auf dem Boden die Leiter gegen die Dachluke gelehnt vor und das Schloß der Luke gesprengt.
„Hier möchte ich die Herren nun bitten umzukehren,“ sagte Harald in seiner bestimmten Art. „Schraut und ich werden versuchen festzustellen, wohin Finger-Miller weiter seinen Weg genommen hat. Ihnen, Herr Minister, kann ich jetzt schon die beruhigende Versicherung geben, daß der Diener Hallmark von Finger-Miller erschossen worden ist und daß Ihre Tochter zu diesem Verbrechen nur in ganz loser Beziehung steht, jedenfalls weder als Mitschuldige noch als Mitwisserin in Betracht kommt.“
Gleich darauf wanderten wir über die Dächer dahin.
Unsere Bemühungen, die Dachluke zu finden, durch die Finger-Miller hier nach oben gelangt war, nachdem er sich von den beiden Hausdienern wieder getrennt hatte, blieben umsonst. Sämtliche Luken der erreichbaren Nachbarhäuser waren geschlossen.
Bisher hatte sich Harald mir gegenüber in keiner Weise über die Rolle, die Helene Melmer bei alledem gespielt haben mochte, geäußert. Und doch war ja nun bereits erwiesen, daß sie sich ebenfalls nur auf demselben Wege wie Finger-Miller entfernt haben konnte, eben über die Dächer.
Als wir nun die Dachluke des Ministerhauses wieder erreicht hatten, sagte Harst ganz unvermittelt:
„Mir will Jane Bracks Drohung nicht aus dem Sinn! Ob dieses Weib etwa hier die Hand im Spiele hat?! Möglich wäre es schon. Was wissen wir denn über die Pläne Janes und ihrer jetzt unschädlich gemachten Freunde: nichts – gar nichts! Vielleicht ist Jane auch politische Spionin. Vielleicht ist dies alles hier seit langem geplant gewesen.“
„Hm – aber die Aktentasche mit den Papieren ist doch …“
„… in dem Koffer gefunden worden – gewiß! Aber die Papiere können photographiert worden sein, wenigstens die wichtigsten Seiten aus den beiden dünnen Aktenstücken. Der Minister hat sich doch, nachdem er die Wohnung flüchtig durchsucht hatte, eine ganze Weile in der Küche aufgehalten. In dieser Zeit sind die Akten photographiert worden, das heißt also: der Mörder war noch in der Wohnung verborgen und entfloh erst, nachdem er sein Werk vollendet hatte. – Bitte – was ist dies?“
Er hielt mir auf der offenen Hand ein schwarzes Papierkügelchen hin.
„Nun, ich fand dies halb unter Hallmarks linkem Bein, unter den Falten des Beinkleids, mein Alter. Es ist das schwarze Schutzblatt einer Filmpackung.“
Er strich das Papier glatt. „Da – Film Nr. 6, wie die rote Zahl oben beweist. – Zweifelst Du noch, daß die Dokumente photographiert worden sind?“
„Nein, allerdings nicht. Nur – nur Helene Melmer vermag ich beim besten Willen in diesem Fall von Spionage nicht einzufügen. Was hat sie damit zu tun? Sie wird doch nicht mit Finger-Miller im Bunde gewesen sein!“
„Auf keinen Fall! Wenigstens nicht in dem Sinne, wie Du es soeben andeutetest. Nein, davon kann kaum die Rede sein. Ich sehe in dieser Beziehung selbst noch nicht klar.“
Während er dies in seiner bedächtigen Art sagte, ließ er die Blicke andauernd über die Dächer hinschweifen.
Und fügte hinzu: „Helene Melmer ist eine zu kalte Schönheit, um sich auf einen Liebesroman einzulassen. Bitte – prüfe selbst.“ Und er holte eine Photographie, Visitformat[3], hervor. „Ich habe sie mir aus einem Album des Salons Melmers geborgt, lieber Alter. Das junge Mädchen hat einen geradezu eisigen Zug im Gesicht. Da ist nichts Weiches, Liebliches. In dem Ausdruck der Augen liegt eine unendliche Verachtung alles dessen, was man Gefühl nennt. – Und doch: betrachte mal den Mund!“
„Etwas wie Weltschmerz, Bitterkeit, Entsagung …“
„Ja, ganz recht. Vielleicht hat Helene Melmer einst geliebt und ist … betrogen worden. – Nun – wir werden ja sehen, wie sich dies alles hier aufklärt.“
Er schob das Bild wieder in die Tasche.
Nochmals schaute er über die Dächer hinweg. Das Haus des Ministers war das höchste des ganzen Häuserblockes.
Und rief plötzlich leise:
„Da – ein kleiner Affe turnt dort drüben an dem Schornstein herum … Ein Kapuzineräffchen ist’s. – Rasch – nehmen wir Deckung …!“
Eng aneinandergeschmiegt drückten wir uns hinter den nächsten Schornstein.
Vier Häuser weiter nach Osten zu vergnügte sich der kleine Affe im Abendsonnenschein jetzt oben auf einer hohen Esse.
Bis mit einem Male ein Mann auftauchte, der offenbar durch die Dachluke gekommen, und das Äffchen an sich lockte.
Der Mann trug eine grüne verschnürte Hausjacke, gelbbraune Hausschuhe und hatte einen langen schwarzen Schnurrbart.
Dann verschwand er mit dem Äffchen auf dem Arm hinter drei dicht nebeneinander stehenden Schornsteinen.
„Das war merkwürdig!“ sagte Harald da. „Du hast es doch auch gesehen? Der kleine Kapuzineraffe war an einem sehr langen Bindfaden befestigt.“
„Er wird eben samt der Schnur ausgerückt sein.“
„Du verstehst mich falsch. Der Bindfaden lief um die drei Schornsteine herum und war viele Meter lang.“
„Nun ja … – Und – –?“
„Und der Mann, der das Äffchen holte, wollte vielleicht nur ein Grund haben, auf das Dach zu kommen, um sich zu überzeugen, ob noch andere Leute hier auf den Dächern seien, eben die Polizei. Diesen Grund konstruierte er, indem er das Tierchen an dem langen Bindfaden durch die Dachluke freiließ. Das sah dann so schön harmlos aus, wenn er das Äffchen wieder einfing, während er doch in Wahrheit nur spionieren wollte, denke ich mir.“
Ich begriff nun Haralds Gedankengang.
„Du meinst also, der Mann wollte nur feststellen, ob die Polizei hier auf den Dächern aufgetaucht sei?“ fragte ich gespannt.
„Ja. Ich nehme es an. Der Mann könnte ja mit im Komplott sein, was den Mord und die photographierten Urkunden angeht. Daher suchte er herauszubringen, ob etwa die Polizei den Weg bereits entdeckt hätte, den der Mörder und Helene Melmer eingeschlagen hatten, um dieses Haus zu verlassen. Wahrscheinlich hat er schon eine Weile hinter den Schornsteinen gestanden. Jedenfalls dürfte er uns bemerkt haben.“
Harst machte ein[4] sehr unzufriedenes Gesicht und fügte hinzu: „Wir hätten verkleidet hierher kommen sollen! Nun haben wir uns hier auf den Dächern unmaskiert bewegt, und meine scharfe Nase und Deine Hornbrille sind ja wie Steckbriefmerkzeichen für Harst und Schraut.“
Er lugte abermals um die Ecke des Schornsteins.
„Ah – noch ein Tier!!“ rief er leise. „Ein Papagei! Ein grüner Alexandersittich. Und ebenfalls an einem Bindfaden! Da fliegt er wieder hoch, wird an der Schnur zurückgezerrt! Hörst Du ihn kreischen? Und von dem Manne selbst ist nichts zu sehen. Nun verschwindet auch der Papagei. Die Sache wird immer merkwürdiger.“
Das stimmte. Merkwürdiger insofern, als durch diesen Papagei Haralds Annahme, das Kapuzineräffchen sollte nur den Anlaß zu einem Gang auf das Dach abgegeben haben, durch das Erscheinen des Papageis doch wohl hinfällig geworden war. Denn – wozu jetzt noch der Papagei, wenn der Mann doch schon festgestellt haben mußte, daß die umliegenden Dächer vom Ministerhause aus abgesucht worden waren?!
Als ich dies nun Harald gegenüber äußerte, erwiderte er nur: „Wir werden ja sehen!“
Noch fünf Minuten blieben wir hinter dem Schornstein stehen. Dann meinte Harst: „Gehen wir nach unten. Die Fortsetzung folgt bei Sternenlicht.“
Ich verstand: nachts wollten wir nochmals hierher kommen!
Wir kletterten die Leiter hinab, ich als erster. Als ich dann am Fuße der Leiter stehend nach oben blickte und zuschaute, wie Harst die Luke schloß, da trat „die Fortsetzung“ weit eher ein, als wir beide es geahnt hatten.
Nachdem der Lukendeckel aufgelegt worden war, herrschte hier in dem schmalen Gange zwischen den Bodenkammern ein ungewisses Halbdunkel.
Harst stieg Sprosse um Sprosse herab, kehrte mir den Rücken zu. Wir waren beide barhäuptig. Leider!!
Der Hieb, der urplötzlich meinen Hinterkopf traf, wirkte wie ein Blitzschlag.
Ich hatte noch den ungewissen Eindruck, daß irgend etwas an meinem Gesicht vorbeisauste und gegen Haralds Schädel prallte. Dann – – nichts mehr – nicht einmal mehr die Empfindung auch nur eines flüchtigen Schmerzes.
Waren Stunden, Tage, Wochen verflossen?
Ich wußte es nicht. Ich versuchte auch gar nicht, darüber nachzudenken, nachdem ich aus der tiefen Ohnmacht erwacht war. Ich hatte das Gefühl, daß mein Körper nur noch aus einem bis ins ungeheuerliche angeschwollenen Kopfe bestand, und dieser Kopf nicht eine einzige Stelle aufwies, die nicht schmerzte.
Die Augen zu öffnen war unmöglich. Hinter den geschlossenen Lidern tanzten Feuerbälle, feurige Räder und grelle Blitze hin und her. Es war das großartigste Brillantfeuerwerk, das ich je gesehen – je zu sehen glaubte, denn es waren ja nur Sehstörungen, die Folgen des Hiebes auf den Hinterkopf.
Vor meinen Ohren brauste scheinbar eine tobende Brandung, übertönt von dem gelegentlichen Kreischen einer scheußlichen Stimme, die abwechselnd Dieb, Gauner und Lump rief …
Und abermals versank ich in die Abgründe tiefster Bewußtlosigkeit, hinabgerissen in das Nichts von einem wilden Wirbel …
Und kam abermals zu mir …
Das Feuerwerk war erloschen, die Brandung verstummt. Nur die scheußliche Stimme klang jetzt stärker als zuvor – und immer noch die gellenden Schimpfworte, immer noch Dieb, Gauner, Lump …
Dann auch der erste Gedanke, die erste Ideenverbindung: „Es ist ein Papagei!“
Bald auch der schmerzhafte Versuch, die Augen zu öffnen. Bald auch das klare Empfinden, daß auf meinem Kopfe eine Eisblase liegen müßte.
Und ich sah aufwärts zu einer mit Stuck reich verzierten Zimmerdecke, die hell beleuchtet war.
Sah elektrische Birnen eines Kronleuchters glühen, und neben mir eine mit einem Gobelin bespannte Wand.
Ich lag auf einem Diwan, und links von mir, den Ausblick in das Zimmer versperrend, stand ein großer Wandschirm.
Unendliche Mattigkeit spürte ich. Mein Körper ruhte schwer wie eine Statue aus Blei auf dem weichen Diwan.
Mit unendlicher Mühe drehte ich den Kopf noch mehr nach links. Denn mir war’s soeben gewesen, als ob sich an dem Wandschirm irgend etwas bewegt hätte.
Ich hatte mich auch nicht getäuscht.
Da war ein kleiner Riß in der Stoffbespannung des Wandschirms, und durch diesen Riß hatte jemand von der anderen Seite einen Finger hindurchgesteckt. Dieser Finger bewegte sich. Und – diesen Finger mit dem tadellos spitz geschnittenen schmalen rosigen Nagel kannte ich. Der gehörte keinem anderen als Harald! –
Was doch eine winzige Beobachtung alles vermag! Hier war’s dieses Zeichen Harsts, das mich schneller wieder zu Kräften brachte als etwa tagelange Ruhe und Pflege. – Ich versuchte mich aufzurichten. Ich biß die Zähne zusammen und überwand den Schwindelanfall, bekam es sogar fertig, die Eisblase beiseite zu legen und lautlos mich aufrecht zu setzen.
Dann berührte ich den ruhelosen Finger. Er verschwand sofort. Der Riß in der Stoffbespannung wurde noch weiter auseinandergezerrt, und dahinter erschien nun ein Lippenpaar.
Ich legte, mich weit vorbeugend, das Ohr an den Riß, und wie ein Hauch nur drang Haralds Stimme in mein Ohr hinein …:
„Jane Brack sitzt drei Schritt weiter und liest. Wir müssen unbedingt noch weiter die Schwerkranken spielen. Es ist jetzt elf Uhr abends. Wir sind bereits volle vierundzwanzig Stunden hier in ihrer Gewalt. Die geringste Unvorsichtigkeit kann uns das Leben kosten. Jane hat weit mehr Leute zur Verfügung, als ich bisher annehmen konnte. Lege Dich wieder nieder und rege Dich nicht. Nur wenn ich Dir ein Zeichen gebe, horche wie jetzt.“
Mit noch größerer Behutsamkeit als vorhin nahm ich meine bisherige Lage wieder ein.
Zum Glück schnatterte und schrie der Papagei in einem fort, so daß auch das Knistern der Eisstückchen in der Eisblase völlig dadurch übertönt wurde.
Mein Hirn arbeitete nun wieder vollständig exakt. Ich überlegte mir, was Harald mir da soeben zugeflüstert hatte. Jane Brack hatte ihre Drohung wahr gemacht. Sie hatte uns durch ihre Kreaturen niederschlagen und hierher schaffen lassen.
Wo aber befanden wir uns?
Nun – es konnte sich wohl nur um jenes Haus handeln, auf dessen Dach der Spion erst mit dem Äffchen und dann mit dem Papagei operiert hatte. Man hatte uns eben über die Dächer hierhergeschleppt.
Aber – eins blieb mir dunkel: Harald hatte mir doch zugeflüstert, daß wir in diesem Zimmer mit der lesenden Jane allein seien. Weshalb nutzten wir diese Gelegenheit nicht aus?! Wir hätten Jane doch unschwer überwältigen können!
So weit war ich mit meinen stillen Erwägungen gekommen, als ich ein kurzes Klopfen hörte.
Der Papagei schrie: „Herein – herein, Spitzbube, Lump, Gauner!“
Dann ein paar andere Geräusche …
Ich spürte, daß sich jemand über mich beugte …
Und dann ganz nahe die Stimme Jane Bracks:
„Sie sind noch immer bewußtlos, die beiden …!“ Das klang wie ein Vorwurf.
Eine tiefe Männerstimme erwiderte entschuldigend:
„Dja, Miß Jane, Hiebe mit nassen Sandsäcken lassen sich schlecht so abwägen, daß wirklich nur Bewußtlosigkeit eintritt.“
„Mag sein.“ Janes Stimme entfernte sich. „In diesem Zustand können wir sie jedoch nicht transportieren, Bill. Dabei eilt die Sache. Das wissen Sie.“
Die beiden sprachen englisch miteinander.
„Wenn sie fieberfrei sind, ist keine Gefahr mit dem Transport verbunden, Miß Jane. Jeder der beiden bekommt eine Morphiumspritze, und dann verladen wir sie wie schon vereinbart.“
Abermals klopfte es. Abermals kreischte der Papagei.
„Unerträglich!“ meinte Jane. „Decken Sie ein Tuch über den Käfig, Bill, damit Lory still wird.“
Dann eine dritte Stimme:
„Miß, wir haben ihn!“
„Ah – Ihr habt ihn! Bringt ihn herein. Rasch – rasch! Und dann geht! Legt ihn dort auf das Bärenfell zu meinen Füßen.“
Wieder allerhand Geräusche – das Klappen einer Tür – Stille …
Und dann Jane Brack – haßerfüllt, höhnisch:
„Grüß Gott, Alfred …! Wie geht’s?“
Haralds Finger erschien in dem Riß des Wandschirms.
Der Finger winkte …
Und Jane sprach weiter:
„Du würdigst mich keiner Antwort, Alfred! Du bist sehr stolz geworden, aber Dein Gedächtnis ebenso schlecht. Denkst Du noch an Neuyork? Dort landete vor zwei Jahren ein Mensch, dem hier in Deutschland der Boden zu heiß geworden. Jane Bracks Vater nahm den Obdachlosen auf. Und die Tochter wurde sehr bald die Geliebte des schönen Fredi. Besinnst Du Dich? – Oh – Du schweigst noch immer! Dein Gesicht verrät Deine Gedanken. Auf dieses Wiedersehen warst Du nicht vorbereitet!“
Und dann eine zitternde Männerstimme: „Ich verachte Dich!!“
Jane lachte klingend.
Da stand ich schon aufrecht … Da schritt ich auf dem weichen[5] Teppich um den Wandschirm herum, sah einen zweiten Wandschirm, achtteilig …
Sah Harst, der soeben vorsichtig über den Wandschirm hinweglugte.
„So, Du verachtest mich!“ meinte Jane eisig. „Du – – mich!! Für wen bin ich wohl Verbrecherin geworden, Alfred Orgla? Für wen? Doch nur für Dich! Vor drei Jahren war Jane Lenk, so heiße ich ja in Wahrheit, noch ein braves Tippfräulein. Dann verlangte ein gewisser Fredi immer wieder Geld …! Und dann lernte ich Gentleman Robb, den großen Einbrecher, kennen – durch Dich, Fredi! Freilich, Du hast Dich stets ferngehalten – stets! Du bliebst auf Deine Art ehrlich. – Aber – lassen wir das alles! Du bist es gar nicht wert, daß ich auch nur ein einziges Wort an Dich verschwende. Jedenfalls siehst Du nun, daß ich Dich nie aus den Augen gelassen habe, daß ich Dir auf den Fersen blieb und nun Deine ehrgeizigen nichtswürdigen Pläne jäh durchkreuzt habe. Ich könnte Dich töten, Fredi! Ein Druck mit dem Finger, und Du wärest … hinüber!“
Da schob auch ich den Kopf über den Rand des Schirmes hinweg.
Ein Blick genügte ja: da saß Jane Brack in einem kostbaren Spitzenmorgenrock auf einem Ruhebett, mit einer kleinen Repetierpistole spielend. Und neben ihr hockte das Kapuzineräffchen, und vor ihr lag halb sitzend ein jüngerer, stattlicher Mann mit blondem Bärtchen auf einem Bärenfell, den Rücken gegen den mächtigen Bärenkopf gestützt.
Ich tauchte sofort wieder hinter dem Wandschirm unter.
Hörte den Mann erwidern:
„Das wäre dann Dein zweiter Mord innerhalb weniger Tage! Denn auch Stuart Dramar hast Du erschossen. Man sucht Dich dieserhalb!“
Ein schneidendes Auflachen. „Man sucht mich! Das haben schon viele getan! Man findet mich nie. Jane Brack hat tausend Gestalten. Jane Brack ist ein Name für etwas, das heute als Bettlerin zahnlos umherschleicht und morgen diamantenstrahlend in der Loge irgend eines Theaters sitzt. Jane Brack ist die Tigerin, die durch die Wildnis schleicht, ohne Furcht, ihrer Stärke bewußt, – zur Tigerin geworden durch Dich, Alfred Orgla, der ihr mehr als einmal die Ehe versprochen! – Übrigens befindest Du Dich in einem Irrtum, was Stuart Dramar betrifft. Ich habe ihn nicht töten wollen. Die Kugel sollte nur eine Warnung sein. Es war ein Zufall, daß er sich bückte. Ich morde nicht so leicht – nicht so, wie Du denkst, Fredi Orgla! Wie ich morde, wirst Du erleben – am eigenen Leibe. Für Dich ist keine Strafe zu schwer, keine! Du wirst noch einige angenehme Überraschungen erleben, bevor Du um Gnade winseln wirst. Durch Dich bin ich geworden, was ich bin! Durch Dich will ich meiner unruhigen Seele wieder den Frieden geben!“
Eine Tischglocke schellte in Janes Hand.
Die Tür flog auf …
„Bringt ihn fort!“ befahl Jane kalt.
Der gellende Hilferuf, den Alfred Orgla jetzt ausstieß, erstickte rasch unter dem würgenden Griff eines der Männer, die den Gefesselten davonschleppten. –
Ich lag wieder auf dem Diwan mit geschlossenen Augen.
Hörte wieder die Tür klappen …
Und jenes Bill tiefe Stimme:
„Miß, hier sind die photographischen Vergrößerungen. Sie sind tadellos gelungen.“
„Und die Originalaufnahmen, die Filme?“
„Bitte …“
„Es ist gut, Bill. Sorgen Sie dafür, daß der Mensch nicht etwa entfliehen kann. Wenn das Auto wieder zurückgekehrt ist, kommen Harst und Schraut an die Reihe. Wir werden beiden nochmals die Temperatur messen. Falls Fieber vorhanden, bleiben sie hier. Harst darf auf keinen Fall krank werden. Wir brauchen ihn nur zu nötig. – Gehen Sie, Bill. Und Rother soll die Laterne nicht vergessen.“
Die Tür fiel ins Schloß.
Jane begann im Zimmer auf und ab zu wandern.
Ihre Gedanken verdichteten sich sehr bald zu einem leisen Selbstgespräch …
„Ja – tadellos geraten sind die Vergrößerungen! Nun habe ich auch ihn in der Hand. Ich kann ihn vernichten. Verkaufe ich die Photogramme, bringt das nebenbei noch Millionen ein … Ich werde es vorläufig nicht tun. – Geld?! Ich verachte es! Nur rächen will ich mich, an allen, die ihn mir entrissen haben – an allen!“
Ein leises Klirren von Käfigstäben dann …
„Arme Lory, hat man Dich zum Schweigen verurteilt gehabt?! Schade, Du hättest dem Elenden doch eigentlich Deine Blütenlese von passenden Titulaturen zuschreien sollen!“
„Schuft, Lump, Spitzbube!“ kreischte der Papagei.
Jane lachte …
„Das tut wohl, Lory! Das stachelt den Haß aufs neue an! Nur nicht vergessen, was …“
Und wieder klopfte es. Wieder ging die Tür.
„Ah – Freund Rotwin!“ sagte Jane lebhaft. „Ist das Auto unterwegs?“
„Jawohl, Jane. Der Herr Fredi hat noch a bissel sich wehren gewollt, der Lackel! – Was wird nun mit den Vergrößerungen?“
„Vorläufig nichts … – Wie sieht’s draußen aus? Ist die Polizei noch sehr rührig?“
„Und ob! I hab’ ma Freid’ dran g’habt, wie die Herrschaften über die Dächer schwärmen. Hier ist auch die Neun-Uhr-Abendpost. Das Blatt bringt einen langen Artikel über Harsts Verschwinden und den Mord. Na, mögen sich’s nur die Weisheitzahnerls ausbeißen, die Herrschaften! Auf die richtige Fährte kommen’s nie. A Mord!! Daß i net lach’!!“
„Messen Sie den beiden jetzt mal wieder die Temperatur, Rotwin.“
„Bill hat mir schon B’scheid gesagt, Jane. Ich hab’ für alle Fälle auch hier die Stahlfesseln mitgebracht. Ich würd’ doch raten, den beiden nit so blindlings zu trauen. Der Harst hat schon manchen an der Nas’ rumgeführt. Man sollt’ ihnen wenigstens die Arme fesseln, Jane.“
„Später, Rotwin …“ –
Der Dialekt dieses Mannes machte es gewiß, daß wir hier den Menschen vor uns hatten, der den Hodler-Hausdiener gespielt hatte.
Der Mann trat nun an meinen Diwan heran und schob mir ein Fieberthermometer in die Achselhöhle.
Ich hatte vorher noch nach dem Wandschirmriß hingeschaut. Harald hatte mir jedoch kein Zeichen gegeben. Er wollte sich also offenbar dorthin transportieren lassen, wohin man auch Alfred Orgla gebracht hatte.
„Kein Fieber,“ meldete Rotwin bei uns beiden.
„Dann die Handschellen, für alle Fälle,“ meinte Jane.
Und – gleich darauf schnappten Stahlarmbänder um meine Handgelenke zu.
Und dasselbe unangenehme metallische Knacken hörte ich dann auch von Haralds Diwan her.
„Holen Sie die Morphiumspritze, Rotwin,“ befahl Jane.
„Hm – sollen wir’s wirklich tun?“ meinte Rotwin ablehnend. „Wozu das teure Zeug verschwenden?! Wir haben die beiden doch ganz sicher. Und die Autofahrt wird ihnen nicht schaden.“
„Wirklich nicht?“
„Ausgeschlossen. Der Puls der beiden geht kräftig und ruhig. Die Ohnmacht wird langsam weichen, und …“
„Nun gut. Also kein Morphium, Rotwin. – Wie steht’s mit Pramarty?“
„Er sitzt. Ob es ihm glücken wird, Ihrem Vater den Zettel zuzustecken, muß man abwarten.“
Jane seufzte. „Das ist für uns noch eine große Sorge, Rotwin.“
„Harst wird sie uns abnehmen müssen, Jane. Ein so feiner Kopf wie er wird auch da nicht versagen. Wer hätte gedacht, daß er so rasch den Weg entdecken würde, den ich für die kalte Helene und für mich vorbereitet hatte. A sehr ein g’scheiter Mensch ist’s!“
„Zu gescheit manchmal. Ob er wohl ahnt, was in der Wohnung des Ministers vorgegangen?“
„Ahnt?! Ich behaupt’, er weiß es.“
„Und ich wünschte, er wäre erst wieder bei Bewußtsein. – Schicken Sie mir jetzt Ilka herein. Ich möchte etwas essen, bevor wir aufbrechen.“ –
Noch eine Stunde etwa verging. Dann wurde ich von zwei Männern emporgehoben. Man legte mir ein Tuch über das Gesicht und trug mich ein paar Treppen hinab auf einen großen Hof, wie ich aus dem Widerhall der Schritte entnahm, legte mich in ein geschlossenes Auto und ließ mich allein.
Ich öffnete die Augen. Das Tuch war mir ins Genick gerutscht. Durch die offene Autotür sah ich im Lichte der Scheinwerfer Mauern und Fenster, sah eine Frau, die einen Lodenumhang und einen Lederhut trug und eine Zigarette rauchte. Es war Jane Brack.
Dann wurde Harst in das Auto getragen, wurde in die andere Ecke des Rücksitzes gelehnt.
Die Tür fiel zu, nachdem Jane und Rotwin noch eingestiegen waren.
Das Auto fuhr durch eine lange Einfahrt auf die Straße hinaus, fuhr etwa anderthalb Stunden in schnellstem Tempo und hielt dann auf einer Chaussee unweit eines Seeufers.
Am Ufer lag ein großes Motorboot, das mit uns, Jane, Rotwin und zwei anderen Männern sofort davonsauste.
Ich übergehe hier absichtlich verschiedene Einzelheiten, die nicht gerade notwendig erwähnt werden müssen. Jedenfalls tat Harst hier auf dem Motorboot so, als ob er langsam zu sich käme.
Leider hatte man mir das Tuch wieder fester um den Kopf geschlungen. Ich konnte daher, als das Boot nach etwa zwanzig Minuten landete, nicht sehen, wo es anlegte. Ein Bootssteg war es nicht. Es schien mir eher ein durch Pfähle befestigtes Ufer zu sein.
Während der Fahrt hatte ich genügend Zeit gehabt, mir die ganzen Vorgänge reiflich zu überlegen. Dabei war ich denn, ganz abgesehen von der Person Helene Melmers, deren Rolle bei alledem noch völlig ungeklärt schien, auf ein paar Fragen gestoßen, die mein Hirn nicht zur Ruhe kommen ließen.
Erstens: Rotwin hatte geäußert, daß der Diener Hallmark nicht ermordet worden sei. – Mithin müßte ein Unfall oder ein Selbstmord vorliegen. Und dies machte die Ereignisse eigentlich noch dunkler und rätselhafter. Ein Mord wäre den Umständen nach ja so sehr begreiflich gewesen. Hallmark konnte Rotwin beim Photographieren der Papiere überrascht haben, und da konnte Rotwin ihn eben niedergeschossen haben. Wenn dies nicht so war, wie sollte man sich dann einen Unfall oder einen Selbstmord zusammenreimen?!
Zweitens: Jane Brack haßte den Minister. – Woher dieser Haß? Kannte sie ihn von früher her? Sie war ja geborene Deutsche. Oder – bestand etwa zwischen ihrem Vater und Melmer eine tödliche Feindschaft, deren Gründe ebenfalls in der Vergangenheit zu suchen waren?
Und drittens: Was hatte Jane mit Harald vor? Sie hatte doch geäußert, daß sie ihn und sein Genie gebrauchen wolle! Wozu?!
Dies waren die Fragen, mit denen ich meinen schmerzenden Kopf abgequält hatte, während wir durch die laue Juninacht dem unbekannten Ziele uns näherten.
Und jetzt waren wir am Ziel.
Jetzt trug man mich durch das Rauschen eines Kiefernforstes vielleicht dreihundert Meter landeinwärts. Und da tat ich es Harald gleich: ich erwachte scheinbar, ich bewegte mich. Die Hände waren mir vor dem Leibe gefesselt. Ich hob sie etwas, ich atmete stoßweise …
Und hörte Janes Stimme: „Ah – auch er ist bei Besinnung.“
In einem mit billigen Möbeln ausgestatteten Zimmer nahm man mir das Tuch vom Kopfe. Ich saß in der einen Ecke eines alten, mit Rips bezogenen Sofas, Harst in der anderen. Auf dem ovalen Tische brannte eine Karbidlaterne mit gelbweißer, ruhiger Flamme.
Jane Brack stand vor uns. „Wie fühlen Sie sich, Herr Harst?“ fragte sie gespannt. Ihr mußte sehr viel daran liegen, daß das, was sie mit Harald vorhatte, schnell erledigt würde.
„Besser, als nach dem brutalen Überfall zu erwarten war,“ erwiderte Harst mit kräftiger Stimme. „Und – klüger als vor dem Überfall, Jane Brack! Man lernt immer noch dazu. Jetzt weiß ich, daß der Papagei, der an dem Bindfaden hochflatterte, ein Signal für Ihre auf dem Boden des Ministerhauses versteckten Leute war, uns niederzuschlagen.“
Jane nickte nur. Und sagte, indem sie sich auf einen Korbsessel setzte: „Meine zunächst sehr wenig freundlichen Gedanken gegen Sie beide haben sich gemildert, da ich Besonderes von Ihnen verlangen kann, falls Sie Wert darauf legen, hier nicht monatelang als Gefangene festgehalten zu werden. Sie befinden sich hier in einem einsamen Sommerhause, das wir für unsere Zwecke samt dem großen Garten gepachtet haben. Man sucht nach Ihnen beiden. Man wird vergeblich suchen. – Sie sollen meinen Vater Anton Lenk befreien, Herr Harst. Wie Sie dies tun, ist Ihre Sache. Ihr Ehrenwort genügt mir. Ich würde Sie beide gegen die von Ihnen ehrenwörtlich abzugebende Zusicherung freigeben, meinem Vater die Freiheit wieder zu verschaffen.“
„Ein merkwürdiges Ansinnen, Jane Brack, das ich natürlich ablehne.“
Sie zuckte leicht die Achseln. „Sie werden es sich überlegen, Herr Harst. Sie haben ja noch Zeit. Ich gebe Ihnen einen Tag Bedenkzeit. – Außerdem aber noch etwas. Ich habe hier einen Zettel mit zehn Zahlen. Vielleicht vertreiben Sie sich in Ihrem Kellergemach nachher damit die Langeweile, den Zweck dieses Zettels zu ergründen. – Ich will ganz offen sein. Ich habe den Zettel einem Manne abgenommen, der … hier sofort sterben wird. Und Sie beide sollen dabei sein.“
Mit nervöser Hast stand sie auf. In ihrem Gesicht, in ihren Bewegungen war eine Unruhe, als könnte sie nicht schnell genug ihre Rache an Alfred Orgla vollenden, – denn nur er konnte ja der Mann sein, von dem sie soeben gesprochen hatte[6].
Seltsam: Seitdem ich die Tragik im Leben dieses jungen Weibes kannte, beurteilte ich sie anders! Orglas wegen war sie zur Verbrecherin geworden – aus blinder Liebe! Wäre dem nicht so gewesen, hätte Orgla wohl ihre Vorwürfe nicht so schweigend hingenommen. Orgla also hatte den moralischen Zusammenbruch Jane Bracks verschuldet, hatte sie betrogen, verlassen.
Und jetzt sollte er bestraft werden. Wollte sie ihn etwa kaltblütig ermorden?
Sie war zur Tür geeilt, hatte nur eine befehlende Handbewegung gemacht, ließ die Tür offen und setzte sich wieder.
Im Flur Schritte …
Zwei Männer, schwarze Seidenmasken vor den Gesichtern, führten Alfred Orgla herein, drückten ihn auf einen hochlehnigen Stuhl, banden ihn schweigend darauf fest, warfen ihm dann eine Decke über den Kopf.
Und wieder kamen zwei Maskierte mit einer schlanken blonden jungen Dame im langen Seidenmantel: – – Helene Melmer!
Sie war nicht gefesselt. Sie ging mit stolz zurückgeworfenem Kopf zwischen den Männern, setzte sich Orgla gegenüber. Ihr kaltes, schönes Gesicht war leichenblaß. Die dunklen Schatten um die großen Augen ließen diese Augen mit ihrem verächtlichen, eisigen Blick noch eindrucksvoller erscheinen.
Die vier Männer verteilten sich. Einer lehnte sich gegen die wieder ins Schloß gedrückte Tür. Zwei blieben neben Helene Melmer stehen, der vierte trat neben Orgla.
Jane Brack schaute Helene Melmer an. „Sie wissen noch immer nicht, weshalb ich Sie …“
Und – da kam die Unterbrechung. Sie kam aus Harsts Sofaecke.
„Ich möchte Sie bitten, Fräulein Melmer zu schonen, Jane Brack,“ sagte er sehr energischen Tones. „Wollen Sie wirklich aus Haß und Eifersucht hier eine widerwärtige Komödie aufführen?! Ist der Mann das wert?! Ich überblicke die Ereignisse im Hause des Ministers. Sie haben Fräulein Melmer unter dem Vorgeben, daß Alfred Orgla sie insgeheim sprechen wolle, durch Rotwin über den Hausboden und die Dächer in das andere Haus locken lassen. Rotwin kehrte in die Wohnung des Ministers zurück. Er war im Besitz der Flurtürschlüssel. Er wartete auf das Erscheinen des Ministers. Er wußte, daß dieser die wichtigen Dokumente mitbringen würde, und er hatte sich in dem neuen Schrankkoffer verborgen, wo ich unten die Abdrücke zweier Stiefelhacken in dem Stoffbezug bemerkte. Der Diener Hallmark erschien dann wohl gerade in dem Moment im Salon, als der Minister draußen die Flurtür öffnete. Auch Rotwin hatte sein Versteck jedoch schon verlassen. Hallmark drang auf ihn ein, und beim Ringen mit Rotwin wird sich dessen Waffe, mit der er sich den Diener vom Leibe halten wollte, entladen haben. Rotwin schloß rasch die Salontür ab und schlüpfte in den Koffer zurück. Der Minister sprengte die Tür, warf die Aktentasche beiseite, durchsuchte die Zimmer, fragte die Mädchen aus und gab Rotwin so Gelegenheit, die Dokumente zu photographieren. Rotwin entkam ungesehen über die Dächer. – Nur so können sich die Vorgänge abgespielt haben.“
Harst machte eine kleine Pause. – Helene Melmer hatte sich, als aus Haralds Munde der Name Alfred Orgla gefallen war, mit einem Ruck nach dem im Sessel festgebundenen unkenntlichen Mann hingewandt.
Jane Brack war aufgesprungen, unfähig, noch länger zu schweigen.
„Ja – schauen Sie nur hin!“ rief sie Fräulein Melmer zu. „Schauen Sie nur hin!! Das ist der Elende, der uns beide betrogen hat! Das ist Alfred Orgla, Buchhalter der Seiler’schen Fabriken, bei denen Ihr Vater, Fräulein Melmer, einst Vorarbeiter war! Das ist Alfred Orgla, der die schöne stolze Helene schon als junges Ding umgarnt hat, der dann dunkler Geschichten wegen nach Amerika floh, der mich zur Verbrecherin werden ließ, der mir die Ehe versprach, der meines sehr bald wieder verstorbenen Kindes Vater ist und der trotzdem weiter heimlich mit Ihnen im Briefwechsel blieb, der eine Art dämonische Macht über Sie besessen haben muß! Ich weiß, daß Sie ihn dauernd mit Geld unterstützt haben! Sie aber wissen nicht, daß es keinen arbeitsscheueren Menschen gibt als ihn, daß er auch von mir sich unterhalten ließ, daß ich für ihn stahl, betrog, weil ich genau so verblendet war wie Sie! Um Ihnen dies hier in Gegenwart des jämmerlichen Schurken mitzuteilen, ließ ich Sie hierher bringen.“
Sie trat mit raschem Schritt an Orgla heran und riß die Decke weg.
Orglas fahles, verzerrtes, schuldbewußtes Gesicht wirkte eindringlicher als ein offenes Geständnis. Er wagte die Augen nicht aufzuschlagen. Und ein Zittern ging über seine Gestalt hin, als Helene Melmer nun mit unendlicher Verachtung sagte: „Also Deinetwegen habe ich seit Jahren Heimlichkeiten vor meinen Eltern gehabt! Deinetwegen war ich meinem Vater ein ständiges Rätsel, der sich in seiner großen Güte um mich sorgte, weil ich so menschenscheu und so wortkarg war. Jetzt bin ich von dem Bann geheilt, der mich an Dich kettete!“
Jane Brack hatte Helene Melmer genau beobachtet, hatte jedes Wort, jede Miene des jungen Mädchens gleichsam geprüft.
„Diese Abrechnung genügt mir!“ meinte sie nun, tief Atem holend. „Meinen Haß gegen Orgla hatte ich auch auf Sie und Ihre Eltern übertragen, Fräulein Melmer. Daher ließ ich durch Rotwin die Dokumente photographieren, um Ihren Vater zu stürzen. – Hier – nehmen Sie die Photographien, die Vergrößerungen! Ich werde Sie mit verbundenen Augen wieder nach der Stadt schaffen lassen. Daß der Diener Hallmark nicht ermordet worden ist, wissen Sie nun ebenfalls. Orgla bleibt hier. Mag die Polizei meinen Schlupfwinkel suchen! Ich glaube nicht, daß sie ihn finden wird!“ –
Helene Melmers große, ausdrucksvolle Augen schweiften abermals scheinbar flüchtig über uns beide hinweg. Sie sah die Stahlfesseln an unseren Handgelenken. Und mir schien’s, als ob sie Harald mit den Lidern ein kurzes Zeichen gab.
Dann wurde sie hinausgeführt …
Und so endete der erste Teil unseres hundertsten Abenteuers, so endete diese Tragödie der rachsüchtigen Eifersucht eines Weibes, die, obwohl Verbrecherin, doch ihr Herz edleren Regungen nicht verschloß. Das hatte sie durch die Rückgabe der Photographien der Dokumente bewiesen.
Zwei der Maskierten waren mit Helene Melmer verschwunden.
Fünf Personen befanden sich jetzt hier noch im Zimmer, durch dessen geschlossene Fenstervorhänge bereits der erste Schimmer des anbrechenden Morgens wie graue Lichtstreifen hereindrang.
Draußen wurden jetzt auch die gefiederten Bewohner des Hauses munter. Die Spatzen begannen zu lärmen. Das Haus mußte von wildem Wein oder sonstigen Kletterpflanzen umrankt sein, in denen das freche Volk der Sperlinge in großer Menge nistete.
Minutenlang blieb es still im Zimmer.
Jane Brack hatte sich wieder gesetzt und sann vor sich hin.
Dieses Schweigen nahm mit jeder entrinnenden Minute etwas immer Bedrohlicheres an.
Alfred Orgla lief der Schweiß über die Wangen. Ob der Mann ahnte, daß Jane Brack nun hier Gericht halten würde …! Ob sein verderbtes Herz vor Angst jagte und ihm die kalten Perlen aus der Haut trieb?!
Dann hob Jane den Kopf.
„Was würden Sie an meiner Stelle mit Orgla tun, Herr Harst?“ wandte sie[7] sich an Harald.
„Sie sind eine merkwürdige Frau, Jane …! Ich kann Ihnen nichts darauf antworten.“
„Weil Sie wissen, daß, wenn ich Orgla freilasse, er völlig straffrei ausgeht. Was er gesündigt, fällt unter keinen Strafrechtsparagraphen. Und – auch Sie sind eben gerecht genug, sich zu sagen, daß ein Schurke wie er bestraft werden muß.“
Harald blieb stumm.
Jane blickte Orgla an, der den Kopf tief gesenkt hielt.
Und je länger sie ihn anschaute, desto steinerner wurde ihr Gesichtsausdruck.
„Er hat hier in einem vornehmen Pensionat unter dem Namen eines spanischen Grafen Oglaro gewohnt,“ wandte sie sich abermals an Harst. „Seit Wochen wird er beobachtet. Er lebte vom Glücksspiel. Daß er falsch gespielt hat, konnte nicht festgestellt werden. Er verkehrte in der Lebewelt der Kurfürstendamm-Gegend. Als ich ihn in eine Falle locken ließ, und das war gestern abend, hatte er in seiner Brieftasche außer einer Million Bargeld noch den Zettel mit den Zahlen bei sich.“ (Man beachte: Es war an diesem Tage der 30. Juni 1922. Und da war eine Million immerhin noch ein kleines Kapital.)
Ich beobachtete Orgla dauernd. Als der Zettel jetzt erwähnt wurde, zuckte er merklich zusammen.
„Er hat mir über diesen Zettel jede Auskunft verweigert,“ fuhr Jane hastiger fort. „Aber ich hatte das deutliche Empfinden, daß es mit dem Zettel eine ganz besondere Bewandtnis haben muß.“
Orgla lachte plötzlich ironisch auf.
„Ja – insofern eine Bewandtnis, als es ein sogenannter Spielertalisman[8] ist,“ sagte er mit einem Achselzucken. „Das ist das ganze Geheimnis!“
„Lügner!“ rief Jane verächtlich. „Endlich hast Du eine Erklärung ersonnen! – Herr Harst, hier ist der Zettel …“
Sie stand auf und legte ihn vor Harald auf den Tisch.
Ich rückte näher zu Harst heran.
Der Zettel hatte etwa die Größe und Form einer Spielkarte. Das Papier war ein ziemlich starkes Pergamentpapier von grauer Farbe.
Auf die eine Seite waren mit verschiedenfarbigen Tinten in gewissen Abständen zehn Zahlen geschrieben. Die andere Seite war leer.
Das Ganze sah so aus:
Harald hob jetzt mit den gefesselten Händen das Blatt auf und hielt es gegen das Lampenlicht.
In demselben Moment machte Orgla eine jähe Bewegung. Er hatte aufspringen wollen, sank aber infolge der Stricke, die ihm wenig Spielraum gaben, sofort wieder auf den Sitz zurück.
„Aha – das Kreuz läßt Sie erschrecken,“ meinte Harald gleichmütig. „Hier ist nämlich ein Kreuz zwischen den beiden grünen Zahlen, ein Kreuz aus ganz winzigen Löchern. Das wird wohl auch seine Bedeutung haben.“
Jane Brack nahm rasch das Pergamentblatt und hielt es gegen das Licht – ganz wie Harald es getan hatte.
„Ah, wirklich! Ein Kreuz!“
„Mithin wohl die Geheimskizze irgend einer Örtlichkeit, Jane Brack,“ erklärte Harald bedächtig.
Und wieder lachte Orgla kurz auf. „Eine Örtlichkeit!! Das ist eine leere Vermutung! Ich behaupte nach wie vor: es ist ein Spielertalisman!“
Harald blickte Orgla scharf an.
„Es scheint, daß die Zahlenskizze nicht von Ihnen angefertigt worden ist. – Jane Brack, hat Orgla diese Zahlen geschrieben?“
„Nein. Bestimmt nicht.“
„Woher haben Sie dieses Blatt mit den Zahlen, Orgla?“
Alfred Orgla warf Harst nur einen haßerfüllten Blick zu und [schwieg.][9]
„Ein Geheimnis besonderer Art steckt fraglos hinter diesen Zahlen,“ meinte Harald zu Jane Brack. „Orglas Blick soeben läßt vermuten, daß es ein gefährliches Geheimnis ist. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Jane Brack? Sie geben Schraut und mich frei, damit wir diesem Geheimnis nachspüren können. Sobald wir wissen, um was es sich handelt, stellen wir uns Ihnen wieder zur Verfügung. Möglich ist ja, daß wir durch die Enthüllung dieses Geheimnisses Orgla irgend eine schwere Schuld nachweisen können. Dann wäre er reif für den Strafrichter.“
Jane überlegte, sagte dann:
„Gut, – zwei Tage sollen Ihnen beiden bewilligt werden. Wir haben heute den 30. Juni. Sie versprechen mir, sich am 2. Juli morgens vier Uhr, denn so spät ist es jetzt, dort wieder einzufinden, wo wir Sie beide an Land setzen werden.“
„Ich verspreche es.“
„Und Sie versichern weiter, der Polizei gegenüber von dieser Vereinbarung zu schweigen.“
„Auch das verspreche ich. Sollte ich im Verlauf meiner Nachforschungen nun gezwungen sein, Sie, Jane Brack, und Ihre Schlupfwinkel aufzusuchen, so …“
„… so steht Ihnen das frei, – falls Sie mich finden! Was – – nicht geschehen wird! – Falls Sie mich durchaus zu einer Unterredung zu bestimmter Stunde irgendwohin bestellen müssen, schreiben Sie Ort und Zeit mit Kreide auf den Holzzaun neben der Hinterpforte Ihres Gemüsegartens, aber mindestens sechs Stunden vor der Treffzeit.“
„Wie Sie wünschen, Jane … – Bitte, dann lassen Sie uns die Fesseln abnehmen. Wir werden keinen Versuch machen, die Kopfhüllen, die man uns wohl überwerfen wird, zu entfernen, während man uns wegbringt.“
Gleich darauf waren wir frei.
Jane Brack hatte es jetzt sehr eilig, uns wegschaffen zu lassen.
Bevor man uns noch Decken über die Köpfe legte und lose befestigte, gab es noch einen kleinen Zwischenfall mit Alfred Orgla.
„Jane, Du bist nicht recht gescheit!“ rief er höhnisch. „Glaubst Du denn, daß dieser Harst, der schon die gewitztesten Leute überlistet hat, diesen Pakt wirklich einhalten wird?! Merkst Du nicht, daß er Dir nur entschlüpfen will!“
Jane beachtete diese Verdächtigungen nicht.
Mir aber wurde es gerade durch diese verfehlte Einmischung Orglas zur Gewißheit, daß er die Aufdeckung dieses Geheimnisses fürchtete, daß also Harsts Vermutung, Orgla könnte ein Verbrechen begangen haben, welches mit dem Zahlenzettel zusammenhing, stimmen müßte. –
So führte man uns denn, ohne daß wir das geringste sehen konnten, zum Hause hinaus und in das Motorboot zurück, bedeckte uns hier im Boote noch mit einem großen Leinwandstück und brachte uns nach mehr als anderthalbstündiger Fahrt ein Stück in eine dichte Kiefernschonung.
Als hier nun die Decken uns abgenommen wurden, stand derselbe Mann mit dem langen schwarzen Schnurrbart vor uns, der auf dem Dache des dritten Nebengebäudes des Ministerhauses mit dem Affen und dem Papagei sich beschäftigt hatte.
Es war Rotwin-Winter, der Süddeutsche.
„Herr Harst, ich bitte Sie, noch zehn Minuten an dieser Stelle zu bleiben, damit ich mich entfernen kann,“ sagte er sehr höflich. „Dort drüben sehen’s wohl den weißen Wegweiser. Dort finden Sie sich am 2. Juli frühmorgens wieder ein, wenn’s beliebt.“
Harald nickte nur.
Winter eilte davon. Nach zehn Minuten ersahen wir aus dem Wegweiser, daß wir uns am Südufer des Schwielow-Sees, zwei Kilometer vom Dorfe Ferch entfernt befanden.
In einem Gasthof in Ferch frühstückten wir. Ein Motorboot brachte uns nach Kaputh, von wo wir die Eisenbahn benutzten.
Um neun Uhr vormittags waren wir wieder daheim, legten uns sofort zu Bett und schliefen bis vier Uhr nachmittags.
Und um fünf Uhr begann dann die aufregende Jagd nach dem Geheimnis des Zettels mit den zehn Zahlen.
Sie begann in der Veranda beim Mittagessen.
Frau Auguste Harst, Haralds Mutter, die unseretwegen schon in größter Sorge gewesen, sagte plötzlich, indem sie über die eigene Vergeßlichkeit ärgerlich den Kopf schüttelte:
„Man wird alt! Ich hätte beinahe gar nicht mehr daran gedacht, Harald, mein Junge. Es war ja gestern nachmittag ein Klient hier, ein englischer Lord. – Wo habe ich doch seine Karte hingelegt? – – Richtig, dort auf den Nähtisch. – So, hier ist sie …“
Auf der Karte stand mit Tinte in sehr energischer Schrift:
Lord Percy Goddbry-Anlay
z. Z. Berlin, Hotel Adlon.
„Der Lord ist ein älterer Herr,“ erklärte Frau Harst nun. „Ein waschechter Engländer. So beinahe ganz aus Steifleinen gemacht. Aber vornehm bis in die Fingerspitzen. Er deutete an, daß es sich um eine Sache von größter Wichtigkeit handele. Du solltest ihn im Adlon anrufen, bat er, sobald Du Dich wieder eingefunden hättest.“
„Der Lord kommt mir sehr ungelegen, liebe Mutter. Ich habe jetzt kaum Zeit für ihn.“
Die rundliche Köchin Mathilde erschien sehr eilig.
„Der Lord is wieder da,“ meldete sie.
„Soll Platz nehmen, Mathilde, und warten.“
Und zehn Minuten darauf lernten wir Lord Anlay persönlich kennen.
Etwas steifleinen war er ja, der grauhaarige Gentleman. Aber dabei von ausgesuchter Liebenswürdigkeit.
„Mein Privatsekretär ist mir mit 20000 Pfund in Banknoten durchgegangen, Herr Harst,“ erklärte er in tadellosem Deutsch. „Die Sache liegt schon zwei Wochen zurück – leider! Ich konnte mich bisher nämlich nicht dazu entschließen, Mac Orlen verfolgen zu lassen. Er ist der Sohn eines meiner Gutspächter und wurde mit meinen eigenen Söhnen zusammen erzogen. Seine Eltern sind tot. Mit seiner Anwaltspraxis in London ging es nicht so recht. Da habe ich Mac Orlen denn vor sechs Monaten als Privatsekretär eingestellt. Am 11. Juni kamen wir hier nach Berlin – in Geschäften, Kohlenlieferung wegen. Am 15. sollte Mac für mich bei der Deutschen Bank 20000 Pfund einzahlen. Seit diesem Tage ist er überfällig, Herr Harst. Am 18ten bekam ich einen Brief von ihm aus Kopenhagen, einen sehr reuevollen Brief: daß er die 20000 Pfund abends am 15ten verspielt habe und nun nach Amerika wolle. Er bäte mich flehend, ihn nicht anzuzeigen – und so weiter. Ich tat es auch nicht. Jetzt aber ist die Geschichte in ein neues Stadium getreten. Ich war am 21ten nach London zurückgekehrt. Erst am 26ten öffnete ich meinen Panzerschrank. Und da sah ich denn, daß ich abscheulich bestohlen worden war. Der Anlay-Pokal war nicht mehr da, ein Pokal aus gediegenem Golde, acht Pfund schwer, ein Kunstwerk. Mac Orlen besaß nun einen zweiten Schlüssel zu dem in meiner Bibliothek stehenden Stahlspind. Nur er kann der Dieb sein. Der Schlüssel lag nämlich oben auf dem Schrank hinter den Verzierungen. Da bin ich dann schleunigst wieder nach Berlin gereist, um Ihnen Mac Orlens Verhaftung zu übertragen, Herr Harst. Der Anlay-Pokal muß wieder herbeigeschafft werden – muß!“
Der Lord holte eine dicke Brieftasche hervor.
„Hier sind die Beweisstücke, Herr Harst: erstens Mac Orlens Brief, zweitens eine Abschrift der Vernehmungen meiner Dienstboten durch Detektivinspektor Borrel und drittens ein Brief, den ich in Mac Orlens Koffer fand.“
Des Lords kurze Art behagte Harald. Er nahm die drei Beweisstücke, dazu eine Photographie Mac Orlens an sich und fragte:
„Mylord, ist Mac Orlen am 15ten Juni gar nicht mehr ins Hotel zurückgekehrt, nachdem Sie ihn mit dem Geld zur Bank geschickt hatten?“
„Nein. Er verließ das Hotel um ein Uhr. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Ich selbst reiste am 15ten für zwei Tage nach Wien. Als ich wieder in Berlin eintraf, fand ich Mac Orlen nicht mehr vor. Und im Hotel erklärte man mir, man habe ihn seit dem 15ten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Am 18ten morgens traf dann sein Brief ein.“
„Mac Orlen war leidenschaftlicher Spieler, Mylord?“
„Hm – er spielte bis dahin nicht mehr als andere junge[10] Leute.“
„Wissen Sie, wo er hier in Berlin verkehrte, Mylord?“
„Nein. Er war aber jeden Abend ab neun Uhr frei und soll stets erst morgens ins Hotel zurückgekehrt sein. Er sah auch immer sehr übernächtig aus.“
„Sie schenkten ihm das vollste Vertrauen?“
„Gewiß! Er war ja ein prächtiger Mensch, alles in allem.“
Harald hatte den Kopenhagener Brief flüchtig besichtigt.
„Ist der Briefumschlag noch vorhanden, Mylord?“ fragte er nun, indem er nach Mac Orlens Photographie griff.
„Nein, Herr Harst. Der Briefumschlag ist mir abhanden gekommen.“
„So?!“ Harald blickte auf. „Wie das?“
„Nun – ich mag ihn verlegt oder in der Zerstreutheit weggeworfen haben, obwohl mir so etwas nie passiert.“
„Wo wurde Ihnen der Brief ausgehändigt, Mylord?“
„Im Lesesaal. Ich schrieb gerade selbst Briefe.“
„Und Sie lasen ihn sofort?“
„Ja. Der Brief erregte mich etwas. Ich stand auf, läutete nach der Bedienung und ließ mir eine Flasche Sauerbrunnen bringen.“
„Sie verließen also den Tisch, an dem Sie geschrieben hatten?“
„Ja. Ich ging bis zur einen Tür, an der ein Druckknopf sich befand.“
„Und war der Briefumschlag noch da, als Sie an Ihrem Tische wieder Platz nahmen?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nicht darauf geachtet.“
„Waren noch mehr Leute im Lesesaal?“
„Hm – nur noch eine Dame.“
„Und – saß diese in Ihrer Nähe?“
„Allerdings.“
„Und sie kann vielleicht aufgestanden sein und den Umschlag an sich genommen haben?“
„Ja. Aber was sollte sie mit dem Umschlag?!“
„Wer brachte Ihnen den Brief, Mylord?“
„Ein Postbote. Es war ein Eilbrief, durch besonderen Austräger zu bestellen.“
„War die Dame bereits im Lesesaal, als Sie ihn betraten, Mylord?“
„Nein. Sie kam nach mir.“
„Und – was dann? Blieb sie gleich im Lesesaal oder ging sie nochmals hinaus?“
„Hm – sie verließ ihn wieder für kurze Zeit, kehrte zurück, und dann erschien sehr bald der Postbote. – Glauben Sie etwa, daß mit dem Briefe …“
„… etwas nicht stimmt? – Ja, das glaube ich. – Haben Sie den Umschlag sich genau angesehen, die Briefmarken geprüft, den Poststempel?“
„Nein. Es stand ja der Absender auf der Rückseite des Umschlages: Mac Orlen, Kopenhagen, Hotel Christiania.“
Es bedeutet für mich stets einen stillen Genuß, Harald Harst in dieser Art mit Worten und Gedanken jonglieren zu hören.
Hier hatte nichts als ein verlorener oder anscheinend verlegter Briefumschlag den Anlaß zu diesen raschen Fragen und Antworten gegeben.
Und – wie anders lag der Fall Mac Orlen nun bereits vor uns!! Auch für mich stand fest, daß die Dame, die den Lesesaal nochmals verlassen hatte, mit dem angeblichen Postbeamten gemeinsame Sache gemacht und ihm einen Wink gegeben, den präparierten Brief dem Lord nunmehr zu überreichen, da sich im Lesesaal die beste Gelegenheit bot, den Umschlag, der den Schwindel an den Tag hätte bringen können, wieder verschwinden zu lassen. Der Brief war eben nie aus Kopenhagen gekommen und der Postbote war nie ein Beamter gewesen. Postmütze und Armbinde eines Postaushelfers sind ja so leicht zu beschaffen. –
„Mylord,“ begann Harald wieder, „der Brief ist also unzweifelhaft von Mac Orlen geschrieben worden? Kann eine Handschriftfälschung vorliegen? Können Sie mir Schriftstücke geben, die ganz bestimmt von Mac Orlen herrühren?“
Lord Anlay entnahm seiner Brieftasche einen zusammengefalteten Bogen. „Dieser Geschäftsbriefentwurf stammt von Mac Orlens Hand, Herr Harst. Vergleichen Sie: es ist dieselbe Schrift. Eine Fälschung liegt nicht vor.“
Harst nahm beide Schreiben und trat ans Fenster. Auch ich erhob mich, schaute ihm über die Schulter.
Auf den ersten Blick schien tatsächlich mit dem Kopenhagener Brief alles in Ordnung zu sein. Auf den ersten Blick! Aber bei genauerem Vergleichen der beiden Schriftstücke sah ein geübtes Auge doch geringe Abweichungen.
„Gefälscht!“ erklärte Harald da schon bestimmt. „Dieser Brief aus Kopenhagen ist Schwindel, Mylord. Erstens ist er nie in Kopenhagen geschrieben, und zweitens nicht von Mac Orlen.“
Der Lord war aufgesprungen.
„Das heißt also, Herr Harst, Mac Orlen kann …“
„… das Opfer eines Verbrechens geworden sein,“ beendete Harald den Satz. „Ganz recht: er kann beseitigt, beraubt worden sein. Man hat ihm die 20000 Pfund und sein Schlüsselbund abgenommen, hat Ihnen dann, um Sie und gegebenen Falles die Polizei zu täuschen, den Brief zugestellt.“
Lord Anlay nickte. „Ehrlich gesagt: auch mir ist schon dieser Verdacht gekommen, obwohl ich dafür keinerlei Beweise hatte. Mac Orlen war ja ein viel zu anständiger Charakter, als daß er mein Geld verjeut hätte.“
Harald griff nach dem anderen Briefe, den Anlay in seines Sekretärs Koffer gefunden hatte.
„Dieser Brief,“ erläuterte der Lord jetzt, „ist so merkwürdig, daß ich ihn, zumal er in dem Koffer in einer seidenen Herrensocke versteckt war, mitgebracht habe.“
Der Brief, ein ganz kleines Format, billiges Papier ohne Umschlag und ohne Ortsangabe und Datum, lautete:
Geehrter Herr!
Sie lassen sich da mit Leuten ein, die für einen Gentleman kein passender Umgang sind. Wenn Sie in einem Kreise Gleichgesinnter, deren Ehrenhaftigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, einige anregende Stunden zubringen wollen, bemühen Sie sich punkt elf Uhr nach dem Lützowplatz und halten Sie sich dort einige Zeit in der Nähe des Springbrunnens auf. Alles weitere ergibt sich von selbst. – Ihr ergebenster
Douglas S. Bartoux.
P. S. Stecken Sie eine weiße Nelke ins Knopfloch, recht sichtbar. Es ist dies das Erkennungszeichen. Aus Vorsicht wird der Ort der Zusammenkünfte alle drei Abende gewechselt. – Bitte sofort verbrennen!!
Harald lächelte ein wenig, als er dieses Schreiben überflogen hatte.
„Daran ist nichts Merkwürdiges, Mylord,“ meinte er.
„Es ist dies eine Einladung in einen Spielklub, einen der vielen geheimen Spielklubs, nichts weiter.“
„Sie können recht haben, Herr Harst.“
„Ich habe recht. Ich werde es Ihnen beweisen. Nun werde ich in Ruhe das Protokoll der Londoner Vernehmungen Ihrer Dienstboten durchlesen, Mylord.“
Anlay verstand den Wink und verabschiedete sich.
Wir waren allein. Harald las mir das Protokoll vor. Es brachte nichts Wichtiges außer der Aussage des Hausmeisters des Anlay-Palais, daß er am Morgen des 20. Juni in der Bibliothek eine Fensterscheibe zertrümmert vorgefunden hätte. Ein trockener Ast eines der Parkbäume sei durch den nächtlichen Sturm in die Scheibe geschleudert worden und habe noch auf dem Fensterbrett gelegen.
Daneben hatte der Londoner Detektivinspektor mit Bleistift vermerkt: „Der nächste Baum, eine Buche, steht so weit von der Hinterfront des Palais ab, daß ein heruntergewehter Ast kaum bis in das Fenster geschleudert worden sein kann.“
Harald legte das Protokoll wieder weg. „Es ist klar, der Dieb des Pokals hat den Weg durch das Fenster genommen. – Wir werden den Fall Mac Orlen nun bis zum Abend ruhen lassen und uns mit dem Zettel mit den zehn Zahlen beschäftigen – auf unsere Art.“
Und er ging nebenan ins Musikzimmer, schlug den Deckel des kostbaren Konzertflügels auf und setzte sich an das Instrument, legte das graue Pergamentblatt mit den farbigen Zahlen auf den Notenhalter und begann Wagner zu spielen: die Graalserzählung aus Lohengrin.
Still nahm ich im Sessel am Fenster Platz, rauchte still meine Zigarre und lauschte.
Das war Haralds Art, über ein Rätsel nachzusinnen. Das war bei ihm Gedankenkonzentration in höchster Form.
Der Feuerzauber aus der Walküre löste Lohengrin ab. Dann folgte Peer Gynt von Grieg …
Und mitten im Peer Gynt-Motiv brach er jäh ab.
„Die Farben!“ sagte er laut. „Die Farben, mein Alter! Eine ganz feine Idee, in der Tat! Der schwarze Erdteil, Afrika, – das ist Süden! Und die weißen Zahlen oben ist Norden, ist das weiße Polargebiet. Und links die roten Zahlen – Abendröte, Westen! Und rechts gelbe Zahlen, Asien, der Osten – gelbe Chinesen! Die Himmelsrichtungen haben wir also!“
Er stand auf, nahm eine Zigarette aus dem Etui, zündete sie an.
„In der Mitte bleiben nun die beiden grünen Zahlen übrig, dazwischen das Kreuz aus den winzigen Löchern, ein stehendes Kreuz …“
Er rauchte ein paar Züge, lehnte sich an das Instrument.
Seine Augen waren halb geschlossen. Seine Wangenmuskeln spielten …
„Ja … die grünen Zahlen! Die sind natürlich die Hauptsache,“ murmelte er. „Ein schweres Stück Arbeit! Sollte man denn wirklich nicht dahinter kommen?! Sollten die Farben doch etwas anderes bedeuten?! Grün … grüne Zahlen! Und – auffallend ist auch, daß alle zehn Zahlen vierstellig sind und mit 51 ausgehen! Weshalb steht da in Schwarz 0051?! Weshalb die beiden Nullen, die doch vor 51 keinen Wert haben?!“
Er krauste unzufrieden die Stirn.
„Eine böse Nuß, mein Alter!“ Er nahm den Zahlenzettel und drehte ihn hin und her. „Vielleicht ist es auch eine Geheimschrift – vielleicht, obwohl diese 51 dagegen spricht, die sich bei allen Zahlen wiederholt.“
Und dann – ein scharfer Pfiff durch die Zähne …
„Hallo!! Die Zahlen – ja, die Zahlen sind verkehrt geschrieben. Komm’ mal her! – Hier bitte – lies mal statt 0051 von hinten 1500, und dann von rechts die gelbe Zahl 2151 auch von hinten, also 1512, dann die untere rote 1521, weiter die zweite gelbe 1524, die obere rote 1528, weiter die grünen 1542 und 1552, nun die weißen von links: 1568, 1569, 1570!! Die Zahlen laufen also von 1500 weiter bis 1570. Es können Nummern verschiedener Gegenstände sein – können! Jedenfalls: sie sind verkehrt geschrieben!“
Er qualmte jetzt so hastig seine Mirakulum, daß er mit der Zigarette sehr bald fertig war. Eine zweite kam heran. Der Rauch schwebte in dünnen Schwaden unter der Zimmerdecke …
„Eine böse Nuß!! Ich muß eine Lösung finden! Wenn es wirklich Nummern wären …!“
„Hausnummern!“ meinte ich leise.
„Nein. In ganz Berlin gibt es kein Haus mit der Nummer 1500. – Überlegen wir: was numeriert man?“
Er begann auf und ab zu gehen …
„Ja – was numeriert man? Was? Häuser scheiden aus. – Bitte, zerbrech Dir gefälligst auch etwas den Kopf! Was numeriert man?“
„Aktenbündel …“
„Hm – nicht schlecht! Bei Gericht zum Beispiel sind die Akten in Gestellen fächerweise geordnet, ebenso bei Anwälten, bei anderen Behörden.“
Wir grübelten und grübelten, rieten hin und rieten her.
Bis Harald mit einem Male mit geradezu strahlendem Gesicht wieder am Flügel saß und etwas spielte, das ich nicht kannte: eine geradezu schauerliche Musik!
„Du hast das Richtige gefunden?“ fragte ich atemlos.
„Ja – ich spiele es!“
Und er sprang wieder auf.
„Komm’, wir spüren jetzt zur Abwechselung wieder dem Mac Orlen-Geheimnis nach! Komm’! Zum Leichenschauhaus, mal fragen, ob da ein unbekannter Toter zwischen dem 15ten und 17ten Juni eingeliefert worden ist: Mac Orlen! Man kann ja nicht wissen! Man muß stets jeder Möglichkeit nachgehen! Nur so kommt man zum Ziel!“
„Und die Nummern? Willst Du mich darüber im unklaren lassen?“
„Nur bis zur Nacht, mein Alter. Es wird eine interessante Nacht werden. Erst der Spielklub weiße Nelke – dann das Schwarze, Düstere als Kontrast! Gedulde Dich also!“
Seufzend verzichtete ich auf alles weitere Bitten. Harald hätte ja doch geschwiegen. –
Um sieben Uhr waren wir im Leichenschauhaus. Die Beamten dort kannten uns längst. Der alte Hausinspektor führte uns ins Büro, legte uns das Buch vor, in dem alles vermerkt war, was unbekannte Tote betraf. Auch deren Photographien prüften wir.
Zwischen dem 15ten und 17ten war nur eine weibliche Leiche eingeliefert worden. Aber am 25ten war ein Unbekannter in den Anlagen des Friedrichshains morgens von einer Polizeistreife gefunden worden, der keinerlei Verletzungen aufgewiesen hatte und, wie die Sektion ergeben, an Herzschlag verschieden war. Dieser Tote, und das war bis heute unaufgeklärt geblieben, mußte durch zwei Männer in den Friedrichshain getragen worden sein, wie die Spuren deutlich erkennen ließen. Er war also anderswo verstorben. Wo, konnte nicht festgestellt werden.
Er hatte in den Taschen seines eleganten Anzugs auch nicht das geringste bei sich gehabt, hatte sehr gepflegte Hände und am Halse eine breite Narbe, offenbar von einer Operation.
Als wir die Photographie dieses etwa dreißigjährigen Menschen nun betrachteten, sahen wir sofort, daß es nicht Mac Orlen war.
Trotzdem bat Harald den Hausinspektor, die Kleider des Mannes ihm vorzulegen.
Es geschah. Harald durchsuchte die Taschen, befühlte die Nähte, besichtigte die neuen braunen Halbschuhe.
„Und der Hut?“ fragte er dann.
„Der Tote wurde ohne Hut gefunden, Herr Harst. Neben ihm lag nur ein Zettel mit zwei Namen. Die Polizei meint jedoch, der Zettel habe nichts mit dem Unbekannten zu tun.“
„Ist der Zettel noch vorhanden?“
„Ja. Ich werde ihn holen.“
Und dann – dann reichte der Inspektor Harald ein zerknittertes Stückchen graues Pergamentpapier …
Graues Pergamentpapier!!
Genau von derselben Art wie der Zahlenzettel!!
Mit grüner Tinte waren da untereinander zwei Namen geschrieben:
Wilhelm Scholz
Anton Engel.
„Kann ich das Stückchen Papier mitnehmen?“ bat Harald. „Ich händige es Ihnen morgen wieder aus.“
„Aber natürlich, Herr Harst.“
Dann verließen wir das Leichenschauhaus, fuhren wieder nach Hause. Die Straßenbahn war leer. Wir konnten uns getrost unterhalten.
Ich fragte, weshalb Harald den Zettel mit den grünen Namen mitgenommen habe.
Harst erwiderte: „Weil er der Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie ist. Es wäre gut, wenn Du Deine Gedanken etwas anstrengen würdest, mein Alter.“
„Nun – zwei grüne Zahlen, zwei grüne Namen, dieselbe Sorte Pergamentpapier: die Namen gehören zu den Zahlen 1542 und 1552!“
„Bravo!!“
„Mithin sind es in der Tat Aktenstücke, vielleicht Strafakten, und das Aktenstück Anton Engel entspricht der Nummer 1552, oder besser: diese Akten haben diese Nummer!“
„Hm …!!“
„Das stimmt also nicht?“
„Nein!“
Und damit mußte ich mich begnügen.
Daheim begann Harald zu telephonieren.
Ich saß in der Sofaecke und hörte zu. Mit wem er sprach, wußte ich nicht. Viermal rief er verschiedene Leute an. Viermal fragte er dasselbe:
„Hier Harald Harst, Privatdetektiv … Sie kennen wohl meinen Namen? – Ich möchte Sie um eine Auskunft bitten. Wollen Sie mal in Ihrem Verzeichnis nachsehen, ob Nummer 1542 ein Anton Engel ist?“
Und beim vierten[11] Anruf dann offenbar eine bejahende Antwort, denn Harald bedankte sich und meinte: „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Herr Inspektor. Das muß noch geheim bleiben. Also vielen Dank … Schluß.“
Er legte den Hörer weg und nickte mir zu …
„Nun ist die Sache geklärt, lieber Alter!“ Und nach kurzer Pause: „Die Verbindung zwischen Mac Orlen und dem Zahlenzettel ist hergestellt. Aus beiden ist ein Fall geworden. Es bleibt nur noch festzustellen, wo Mac Orlen beseitigt und die Leiche verscharrt wurde. – Jetzt werden wir meiner Mutter Gesellschaft leisten und für die Nacht Kräfte sammeln. Außerdem will ich noch Jane Brack herbeordern. Ich werde an den Zaun schreiben:
1. Juli 11 Uhr vormittags bei mir.
Sie wird erscheinen. Sie ist nicht feige. Sie weiß, daß sie mir trauen darf.“
„Was willst Du denn von ihr? Hat sie etwa mit Mac Orlen etwas zu tun?“
„Nein. Nichts.“
Und er ging hinaus in den Flur, ging in die vom Abendsonnenrot umspielte Veranda und küßte seine Mutter auf die Stirn.
„So – nun gehören wir bis zehn Uhr Dir!“ sagte er zärtlich. „Ich will nur noch schnell in den Gemüsegarten und ein paar Kirschen pflücken. Auch ein Stück Kreide brauche ich dazu.“
Um halb neun saßen wir beim Abendbrot, und Harald erzählte von dem eigenartigen Buche des kleinen Journalisten Herbert Flick, der als Kellner, Lumpenhändler und Bettler das dunkle Berlin der Nachkriegszeit so tadellos studiert hätte, daß, wenn er wollte, alle geheimen Spielklubs in einer Nacht ausgehoben werden könnten. Aber Flick schwieg, plauderte die Geheimnisse Berlins ohne Ortsangabe aus und … spielte selbst jede Nacht bis in den hellen Morgen hinein. – Er war der richtige Bohemien, dieser Flick, stets „tolles Flick“ genannt. Wir kannten ihn persönlich.
Es mußte wohl einen Grund haben, daß Harald so viel Schnurren von ihm auskramte. Und – es hatte auch einen Grund. Denn punkt zehn läutete er das Cafee Größenwahn, das alte Cafee des Westens, auf dem Kurfürstendamm an und ließ Flick an den Apparat bitten, der jetzt dort stets um diese Zeit Mittag aß. Er stand nämlich nie vor sechs Uhr nachmittags auf.
„Hören Sie mal, Flickchen,“ sagte Harald, „Sie müssen uns einen Gefallen tun. Wir wollen uns um drei Viertel elf heute auf dem Lützowplatz vor dem Schaufenster der Grade-Werke treffen. – Wie? Sie haben nicht Zeit? So? Kellner spielen? – Nun gut, dann um halb elf. Ganz bestimmt. Seien Sie pünktlich. Es fällt was dabei ab. Ganz bestimmt. Wiedersehen!“ –
Und um halb elf standen zwei elegante Herren, blondbärtig, der eine etwas größer und schlanker als der andere, vor dem Schaufenster der Grade-Autos und warteten in dieser Verkleidung auf „das tolle Flick“.
Der kam auch, natürlich zehn Minuten zu spät. Wir erkannten ihn schon von weitem an dem weiten flatternden Gummimantel und dem weißen, leuchtenden Oberhemd des Frackanzugs.
„’n Abend, Flick,“ rief Harst ihn an.
Der stutzte. „Ah so – da seid Ihr ja!“
Händeschütteln. „Was gibt’s, Harst?“
„Kennen Sie einen geheimen Spielklub, der eine weiße Nelke als Erkennungszeichen bevorzugt?“
Flicks verlebtes Gesicht, das noch den weißen Schimmer des Puders nach dem Rasieren zeigte, belebte sich.
„Ha – weiße Nelke? Wie haben Sie das ermittelt?“
„Durch Douglas S. Bartoux …“
„Ah!! Bartoux?! Merkwürdig, der war einer der rührigsten Schlepper für den Klub, ist aber …“
„… seit Tagen verschwunden, nicht wahr?“
„Ja – allerdings. Man ist schon in Sorge um ihn. Daher ist auch die Blume geändert worden. Jetzt ist es eine Narzisse.“
„Die Sorge um Douglas S. Bartoux dürfte gerechtfertigt sein, lieber Flick. Er ist gestern vom Leichenschauhaus aus beerdigt worden. Er hatte doch eine Narbe am Halse, nicht wahr?“
„Eine scheußliche Narbe von einer Mandeloperation. Also tot ist er? Ermordet?“
„Nein. Harmlos verstorben, Herzschlag. – Wie kann man in den Klub hinein, Flick. Wir müssen hin.“
„Müssen?! Lieber Harst, Sie kennen mich. Polizei und polizeiähnliche Herrschaften klopfen bei mir vergebens an. – Guten Abend …“
Und mit drei Sprüngen war er in einer vorbeifahrenden Straßenbahn, winkte uns von der Plattform noch zu.
„Na – dann eben nicht!“ meinte Harald. „Dann müssen wir’s so versuchen. Vielleicht ist der Springbrunnen noch immer der Treffpunkt der Schlepper. Gehen wir!“
Wir überschritten den Platz, schlenderten dann um den Springbrunnen herum.
Auf einer der Bänke saß ein einzelner gut gekleideter Herr mit Monokel, Lackhalbschuhen, eine Narzisse im Knopfloch.
Harald trat an ihn heran.
„Dürfte ich um ein Streichholz bitten …“
„Gern …“ Der Herr erhob sich, faßte in die Tasche.
„Narzisse – – Douglas S. Bartoux,“ flüsterte Harald ihm da zu, denn es saßen noch mehr Leute auf den Bänken.
Der Herr rieb das Hölzchen an und gab es Harst.
„Gehen Sie nach der Potsdamer Straße zu,“ flüsterte er zurück.
Haralds Zigarette brannte.
Wir schlenderten weiter.
„Geglückt!“ schmunzelte Harst. „Tadellos geglückt. Der Monokelmann ist auf den Namen Bartoux glatt hereingefallen. Und Bartoux ist tot.“
Der Herr mit der Narzisse hatte uns sehr bald eingeholt.
„Gestatten – von Lennerten,“ näselte er, sich vorstellend.
„Hillmann“ – – „Schrenk“, nannten wir Namen, die ebenso echt waren wie unsere Bärte.
Lennerten ging zwischen uns.
„Wir bekamen leider nirgends mehr Narzissen,“ erklärte Harald kurz. „Im übrigen berufe ich mich auf Bartoux.“
„Wo steckt der denn eigentlich, Herr Hillmann?“
„Weiß nicht. Lernte ihn gestern nur dem Namen nach durch einen spanischen Grafen Oglaro – oder so ähnlich – kennen.“
„So – Oglaro! Dann bin ich beruhigt. – Die Herren sind Berliner?“
„Nein, Frankfurter. Nur für ein paar Tage hier. In Frankfurt ist jetzt die Polizei höllisch scharf auf die Spielzirkel.“
„Hier auch!“ Lennerten lachte. „Hier sind wir nur vorsichtiger.“
Er winkte ein leeres Auto herbei.
„Chauffeur, Elbinger Straße 12,“ wies er den Mann an.
Wir fuhren durch halb Berlin. Die Elbinger Straße liegt in der Nähe des Friedrichshains. Und dort hatte man Bartoux’ Leiche gefunden.
Ich hatte jetzt Zeit, mich über Haralds Geistesgegenwart zu freuen. Daß er Oglaros – Orglas Namen genannt hatte, war ein Fühler gewesen, der den rechten Punkt getroffen hatte. Orgla verkehrte also in diesem Narzissenklub.
Das Auto hielt. Harald bezahlte den Chauffeur. Lennerten war nicht im geringsten mißtrauisch.
Wir gingen bis zu einer Querstraße. Wir waren hier in einer Gegend, die zu den dunkelsten der Reichshauptstadt gehörte. Nach Mitternacht tat man hier gut, eine Pistole bereitzuhalten.
Eine lange hohe Mauer nun, an der wir entlangschritten. Dann ein paar Mietskasernen, und zwischen ihnen die Toreinfahrt eines Fuhrgeschäfts.
An der Pforte lehnte ein Arbeiter, rauchte Pfeife. Die Pforte stand halb offen.
„Alles sicher,“ sagte der Arbeiter.
Lennerten schlüpfte hinein.
Ein enger, endlos langer Hof wie eine düstere Schlucht. Rechts und links die himmelhohen grauen Wände der Mietskasernen. Angeklebt an diese Wände hier im Hofe kleine Holzbaracken, Ställe, Remisen. Zwei Möbelwagen, andere Wagen standen umher. Im Hintergrunde ein Häuschen aus rohen Ziegeln, einstöckig, fünf Fenster Front. An der Tür ein ehrbares Blechschild „Kontor“.
Und auch hier ein Arbeiter, Pfeife rauchend.
Auch hier der Empfang „Alles sicher!“
Lennerten öffnete die Tür, schaltete im Flur das Licht ein.
Da war unter der Treppe der Eingang in den Keller, eine Holztreppe. Da war im Kartoffelkeller ein Gestell mit leeren Flaschen, bestaubt, von Spinngeweben überzogen. Lennerten zog es von der Wand ab. Es lief auf kleinen Rollen. In der Mauer eine Tür, die so leicht niemand bemerkte, ein mit Ziegelsteinen ausgemauerter Eisenrahmen.
Und dahinter ein kurzer Gang, in dem eine Glühbirne brannte. Dann eine ungestrichene Holztreppe, noch ziemlich neu, und nach sechs Stufen ein dicker Vorhang.
Hinter dem Vorhang begann der Luxus. Man roch Zigarettenduft. Man sah Korbsessel in dieser Garderobe, Kleiderständer, einen Mann in Dienerlivree, der uns eilfertig Hüte und Stöcke abnahm. Die mit Stoff bespannten Wände und die Decke schimmerten in freundlichem Mattblau. Die elektrische Krone verschwendete mit ihren neun Birnen viel Strom.
Lennerten wies auf eine weißlackierte Tür.
Wir traten ein. Ein langes Spielzimmer, drei Spieltische, Klubsessel, Marmortischchen, hinten ein Büfett.
Und der erste, den wir hier sahen und erkannten, war Herbert Flick, die Kellnerserviette unter dem linken Arm.
Er beachtete uns nicht. Er füllte gerade einem der Spieler das Sektglas. Wir drückten uns an die andere Seite des Bakkarattisches, der dicht umlagert war.
Lennerten flüsterte uns zu: „Sie entschuldigen mich … Tun Sie nun ganz so, als ob Sie zu Hause wären.“
Er war auch nur Schlepper und kehrte nun auf seinen Posten zurück.
Harst ging auf Flick zu, der jetzt dem Spiel zuschaute.
„Einen Augenblick, Ober …“
Flick starrte uns entgeistert an.
„Wenn Sie etwas verraten, Flick, kenne ich kein Erbarmen,“ sagte Harald mit Nachdruck, aber sehr leise. „Bringen Sie uns eine Flasche Wein dort in die Ecke. Wir werden erst ein paar tausend Mark verlieren. Dann will ich Sie sprechen!“
Herbert Flick machte ein sehr bekniffenes Gesicht. „Nun gut. Ich weiß schon, was Sie fragen wollen. Schade – ich spiele deswegen hier doch nur Kellner,“ meinte er mit gedämpfter Stimme. „Ich wollte mich auch einmal als Detektiv versuchen. Wirklich schade! Sie verderben einem auch jede[12] Freude, Harst!“
Dann entschlüpfte er nach dem Büfett hin.
Wir traten an den Tisch zurück. Wir setzten blindlings – und gewannen. Natürlich gewannen wir. Das ist ja immer so: wenn jemandem am Gewinn nichts liegt, hat er Glück!
Wir spielten etwa eine halbe Stunde – ohne jedes Interesse. Ich hatte etwa dreißigtausend Mark gewonnen. Dann setzten wir uns an das Tischchen. Der Wein stand schon bereit.
Flick erschien erst nach einer Weile. Er hatte zu tun. Sein Geschäft blühte. Es waren noch mehr Spieler gekommen, Herren, Damen, und die Damen durchaus nicht alles nur Halbwelt. Es waren dichtverschleierte Frauen darunter, die offenbar den besten Kreisen angehörten.
„Ich habe nicht lange Zeit,“ flüsterte er Harald zu. „Schnell – fragen Sie!“
„Hat hier ein Engländer Mac Orlen verkehrt?“
„Aha! Also es stimmt. Ja, der hat hier verkehrt.“
„Und Mac Orlens wegen versuchen Sie sich als Detektiv, Flick?“
„Ja.“
„Weshalb denn?“
„Weil Mac Orlen verschwunden ist.“
„Wo?“
„Hier in diesem Fuchsbau, Harst, und zwar am 15ten nachts. – Sie sind doch auch des Engländers wegen hier?“
„Allerdings. – Woher wissen Sie, daß er verschwunden ist?“
„Weil er sein Geld nicht von mir abgeholt hat. Er übergab mir am 15ten hier heimlich 20000 Pfund in Banknoten. Er wußte, daß ich Journalist bin. Er raunte mir zu, er wage es nicht, mit dem Gelde heimzugehen. Bartoux habe es auf ihn abgesehen. Ich solle ihm das Geld ins Hotel Adlon bringen. – Mehr konnte er mir nicht zuflüstern. Ich steckte das Paket Banknoten in meine innere Westentasche. Gegen ein Uhr morgens verließ Mac Orlen den Klub und Bartoux folgte ihm. Fünf Minuten darauf lief ich auf den Hof hinaus und fragte den Posten an der Eingangspforte, ob der blonde Engländer soeben weggegangen sei. Der Mann erwiderte, daß nur Bartoux den Hof vor ein paar Sekunden verlassen habe. Seitdem habe ich Bartoux nicht mehr gesehen, ebensowenig Mac Orlen. Übrigens habe ich dann auch den zweiten Posten an der Tür des Kontorhauses befragt. Er erklärte genau dasselbe: den Engländer habe er nicht bemerkt, nur Bartoux sei in großer Eile davongerannt.“
„Haben diese Räume noch einen anderen Ausgang?“
„Nein. Bestimmt nicht. Die Räume hier sind in einen alten Schuppen eingebaut.“
„Sagte Mac Orlen denn nicht, daß die 20000 Pfund Eigentum Lord Anlays seien?“
„Nein, nur daß er das Geld mittags habe einzahlen wollen und daß Bartoux ihn in eine Bar geschleppt und halb betrunken gemacht habe.“
„Weshalb haben Sie von alledem denn nichts der Polizei gemeldet, Flick?! Ich begreife Sie nicht!“
„Kann ich denn beschwören, daß Mac Orlen wirklich etwas zugestoßen ist, Harst?! Ich habe die 20000 Pfund in mein Bankschließfach gelegt. Sie brauchen mich gar nicht so durchbohrend anzusehen. Sie kennen ja meine Antipathie gegen Polizei und ähnliche Einrichtungen. Ich werde schon herausbringen, wo Mac Orlen geblieben ist. – Jetzt muß ich verschwinden …“
Man rief freilich schon zum dritten Male nach ihm.
Harald trank einen Schluck Rotwein und starrte vor sich hin.
„Mac Orlen ist hier im Hause von Bartoux ermordet worden,“ meinte er ganz leise. „Bartoux kennt diesen Fuchsbau fraglos[13] besser als Flick. Wer hätte das gedacht, daß Flick die 20000 Pfund in Verwahrung hat!“ Und nach kurzer Pause: „Wir werden mal den Fuchsbau durchsuchen. Gehen wir!“
In der Garderobe war nur der Diener anwesend, der uns unsere Hüte und Stöcke gab, ein reichliches Trinkgeld erhielt und fragte, ob er uns bis auf den Hof geleiten solle. Harst dankte. „Bemühen Sie sich nicht. Wir finden schon.“
Im Keller hinter der Geheimtür, die wir wieder zugedrückt hatten, stand das große Flaschenregal schräg von der Wand ab. Harald hatte seine Taschenlampe eingeschaltet.
„Ich wette, es gibt hier doch noch einen Ausgang,“ flüsterte er. „Bartoux ist doch wohl nicht lediglich Schlepper gewesen, sondern einer der Hauptmacher des Klubs. Und – wenn’s kein Ausgang ist, dann doch fraglos noch ein Schlupfwinkel für Eingeweihte. – Ah – es kommt jemand!“
Er schaltete die Lampe aus. Oben im Hause hörte man Schritte. Hier in dem muffigen Kartoffelkeller standen auch in einem Winkel drei riesige Fässer, und der Gebrauch bewies, daß sie zum Einstampfen von Sauerkohl benutzt worden waren. Wir hatten uns rasch hinter einem der Fässer zusammengeduckt.
Die Schritte kamen die Kellertreppe hinab. Ein Lichtschein leuchtete auf. Dann eine näselnde Stimme, die des Herrn von Lennerten:
„Der Teufel mag aus der Geschichte klug werden! Bartoux ist nun als unbekannt beerdigt worden. Und jetzt ist auch Oglaro, der uns damals half, die Leiche nach dem Friedrichshain zu tragen, verschwunden. Gestern hat er noch zwei Frankfurter Herren geködert, die ich vorhin hierher brachte. Nun ist er ebenfalls futsch, genau wie der Engländer. Ganz unheimlich kann einem dabei werden. Wo steckt der Mensch?!“
Lennerten und sein Begleiter, ein kleiner dicker Mensch, hatten vor dem Flaschengestell halt gemacht. Lennerten trug eine Taschenlampe in der Linken.
„Sie hätten sich mit Bartoux überhaupt nicht einlassen sollen, Schmiedecke,“ fügte der Näselnde hinzu. „Wir sind schließlich doch nur Spieler, und keine Verbrecher. Ich bleibe dabei: Bartoux hat den Engländer umgebracht! Und auch Flick ahnt das! Glauben Sie mir, Schmiedecke: umsonst hat der die beiden Türhüter nicht ausgefragt! Ihm ist es genau wie uns aufgefallen, daß Bartoux ohne Mac Orlen den Hof verließ. Ich würde Ihnen raten, den Klub zu schließen oder doch ein anderes Lokal zu suchen. Ihnen gehört das famose Fuhrgeschäft, und Sie wird man dafür verantwortlich machen, daß …“
Der Dicke stieß einen Fluch aus. „Es is ne Joldjrube, Lennerten! Das wissen Sie! Und – ick jäb’ was drum, wenn ick wüßte, wo der Mac Orlen jeblieben is! Wir haben doch schon alles abjesucht! Verstecke jibt’s hier nich. Die müßte ick woll am besten kennen! Wo soll Bartoux den Engländer jelassen haben?! Jut – Sie meenen, er hat ihn heimtückisch niedergeschlagen. Und die Leiche?“
„Mir ist das schließlich alles gleichgültig, Schmiedecke. Jedenfalls mache ich nicht mehr mit, wenigstens hier nicht. Ich rate Ihnen nochmals: ein anderes Lokal! – Ich habe das Gefühl, wir tanzen auf einem Pulverfaß. Oglaro …“
„Herr Jott, Sie Angstmeier!! Oglaro kann doch ausjekniffen sein! So’n Fledderer! Ick hab’ jenau jesehn, daß er damals dem toten Bartoux die Brieftasche mauste. Was liegt an dem Kerl!“
Schmiedecke trat hinter das Gestell und öffnete die Geheimtür. Die beiden verschwanden.
Dunkelheit um uns her – Stille – Totenstille.
„Interessant!“ flüsterte Harald. „Nun wissen wir ja, wie Alfred Orgla in Besitz des Zahlenblattes gelangt ist. Es hat in Bartoux’ Brieftasche gesteckt.“
Ich wollte mich aufrichten.
Da hörte ich dicht neben uns ein sonderbares Geräusch – ein Gurgeln, dann etwas wie ein Plätschern.
Harsts Hand krallte sich um meinen Arm.
„Still!“ hauchte er.
Eine halbe Minute verging …
Dann dasselbe Geräusch …
Und wieder nach etwa einer halben Minute nochmals dieses seltsame Gurgeln, dem ein schwaches Plätschern folgte.
Haralds Lampe blitzte auf. Wir erhoben uns.
„Was bedeutet das?“ fragte ich leise.
Harst wandte sich halb um, leuchtete in zwei der Fässer hinein. Sie waren leer bis auf einen Rest verschimmelten Sauerkrautes.
Auf dem dritten lag ein Holzdeckel. Harst nahm ihn ab. Dieses Faß war gefüllt mit einer öligen Flüssigkeit – bis zum Rande.
Und als nun der Lichtkegel auf die Oberfläche dieser Flüssigkeit fiel, ertönte wieder das Gurgeln und eine große Luftblase, von unten aufsteigend, warf kleine Wellen …
Nein – keine Luftblase!
Als sie ihren Inhalt in die Kellerluft ausgehaucht hatte, kam mir ein widerlicher Geruch in die Nase.
„Verwesungsgase!“ flüsterte Harald.
Und hob seinen Spazierstock, tauchte ihn in die Flüssigkeit ein – nicht allzu tief …
Bewegte den Stock, bis ein Poltern im Fasse erklang, zog ihn rasch heraus …
Und jetzt schoß etwas aus der Flüssigkeit hervor – etwas, das mich zurückprallen ließ: der Kopf eines Menschen – eines Mannes!
Fast bis zum Brustbein schoß die Leiche, von den Gasen hochgetrieben, empor …
Wir hatten Mac Orlen gefunden …!
„Bartoux hat dem Toten einen schweren Stein ins Genick gelegt,“ sagte Harald rasch. „Und er hat ihn hier ermordet – der 20000 Pfund wegen.“
Dann drückte er die Leiche mit dem Holzdeckel tiefer, ließ sich von mir ein paar Ziegelsteine reichen und beschwerte den Deckel.
Ich war froh, als wir nun in die laue Sommernacht auf den Hof hinaustraten.
Wir verließen den Hof, eilten zur nächsten Polizeiwache. Eine halbe Stunde darauf wurde der geheime Spielklub ausgehoben und Schmiedecke, Lennerten, die Türhüter und der Garderobendiener in Haft behalten.
Wir beide machten diese Razzia nicht mit.
„Ich habe noch etwas anderes vor,“ hatte Harst den Beamten auf der Wache erklärt. „Benachrichtigen Sie jedenfalls die Mordkommission, daß Mac Orlens Leiche in dem Fasse steckt. Ich finde mich morgen auf dem Präsidium ein.“
Dann waren wir mit einer der letzten Straßenbahnen bis zur Berliner Straße in Wilmersdorf gefahren.
Harst blieb stumm.
Wir gingen zu Fuß weiter, am Fehrbelliner Platz entlang, bis zum Wilmersdorfer Friedhof.
An der Friedhofspforte zog Harst die Glocke.
Und – da – da kam mir jäh die Erleuchtung:
Die Nummern des Zettels waren Gräbernummern, und in den Gräbern Nr. 1542 und 1552 ruhten Wilhelm Scholz und Anton Engel!
Es dauerte eine geraume Weile, bis der Friedhofsinspektor erschien. Er kam mit einer Laterne und fragte recht unwirsch, was wir denn wünschten.
„Ich bin Harald Harst, Herr Inspektor,“ sagte Harald sehr höflich. „Es tut mir leid, daß ich Sie in der Nachtruhe stören mußte. Ich …“
„Ah – Herr Harst … Bitte, ich schließe schon auf …!“ Und dann führte uns der freundliche Herr Wachowski durch die stillen Wege des Gottesackers zu den Gräbern Nr. 1542 und 1552, die hintereinander lagen.
Einen Spaten hatten wir mitgenommen. Und zwischen diesen beiden Gräbern, also da, wo auf dem Zahlenzettel das Kreuz eingestochen war, begann Harald die Erde vorsichtig auszuwerfen.
Er brauchte nicht allzutief zu graben. Sehr bald legte er den Zipfel eines Sackes frei. Und in dem Sacke lag … der berühmte Anlay-Pokal …!!
„Der Dieb hat ihn hier versteckt,“ klärte Harst den erstaunten Friedhofsinspektor auf. „Er hatte sich eine Art Skizze dieses Verstecks angefertigt, die uns in die Hände geriet. Auf einem zweiten Zettel hatte er die Namen der Toten dieser beiden Gräber vermerkt. Vielleicht rechnete er damit, daß er fliehen müßte. Da wollte er später das Versteck auch bestimmt wiederfinden.“
„Unglaublich!“ meinte der freundliche Herr Wachowski. „Unglaublich! Und der Pokal ist wirklich reines Gold?“
„Ja – reines Gold! Gestohlen aus dem Palais Lord Anlays in London durch einen gewissen Bartoux, der dem Sekretär des Lords den Schlüssel zu dem Panzerschrank des Lords abnahm, nachdem er ihn ermordet hatte. Bartoux fuhr nach England, holte den Pokal, vergrub[14] ihn hier und wurde auf einem Fuhrhof am Friedrichshain, wo ein geheimer Spielklub tagte, vom Herzschlag ereilt. Ein gewisser Orgla stahl dem Toten die Brieftasche, den man dann nachts in den Friedrichshain schaffte, um die Polizei nicht auf den Spielklub aufmerksam zu machen. – Gehen wir. Der Lord wird sich freuen.“ – –
Um acht Uhr morgens überbrachten wir Lord Anlay den Pokal. Sein Dank war ein Scheck, von dem wir ein Jahr glänzend leben konnten.
Um neun Uhr fanden wir uns auf dem Polizeipräsidium ein, wo Schmiedecke zugab, daß Bartoux am 24ten nachts tot auf dem Hofe gelegen hätte, nachdem er sich tagelang nicht mehr hatte sehen lassen.
Herbert Flick hatte inzwischen bereits zu Protokoll gegeben, was Mac Orlen ihm am 15ten nachts über Bartoux’ Nachstellungen mitgeteilt hatte. Die 20000 Pfund erhielt Lord Anlay noch am selben Vormittag zurück und war großmütig genug, dem tollen Flick ebenfalls einen Scheck auszuhändigen, den dieser dann fraglos im Cafee Größenwahn sehr bald verjubelt haben dürfte.
Punkt elf Uhr vormittags waren wir wieder daheim in der Blücherstraße.
Wer nicht kam, war Jane Brack …
Wir warteten bis zwölf Uhr.
Wir aßen hastig Mittag, fuhren dann nach Kaputh hinaus, mieteten ein Motorboot und suchten nach jenem Hause, in dem wir kurze Zeit Janes Gefangene gewesen und in das wir morgen früh als Gefangene zurückkehren sollten[15].
Wir suchten es hier an den Ufern des Schwielow-Sees, denn Harald war überzeugt, daß es wahrscheinlich ganz in der Nähe des Dorfes Ferch läge, wo wir ja gestern in der Schonung ausgesetzt worden waren.
Harald saß am Steuer. Bei köstlichem Sonnenschein glitt das Boot knatternd dahin. Die Ereignisse der verflossenen Nacht kamen mir wie ein grausiger Traum vor. Die aus dem Fasse hervorschießende Leiche, der Gang nach den Friedhof, all das lag scheinbar bereits wochenlang hinter mir.
Wir hatten für diesen Ausflug Masken gewählt, die uns völlig unkenntlich machten. Was Harald eigentlich mit diesem Besuch von Jane Bracks Schlupfwinkel bezweckte, wußte ich nicht.
So fuhren wir denn nun an Ferch vorüber, fuhren nach Norden zu weiter …
Und kamen in eine stille Bucht, waldumkränzt, sahen mit einem Male zwischen den schlanken Kiefern ein kleines Haus hindurchschimmern, völlig von wildem Wein bedeckt.
„Das kann es sein,“ meinte Harald. „Es liegt ganz einsam, und die Spatzen lärmten morgens so dicht vor den Fenstern, daß Rankengewächse die Wände umgrünen müssen. Landen wir hier.“
Da war am Ufer eine Pfahlreihe, kein Landungssteg. Und auch das stimmte ja mit meinen Gehörbeobachtungen überein.
Die Zaunpforte des einstöckigen Hauses war unverschlossen[16]. Und – die Hintertür stand weit offen …
Auf der Schwelle lag ein Blatt Papier …
Flüchtige Bleistiftzeilen von einer Frauenhand:
Herr Harst! Ein Motorboot und zwei Herren darin! Ich sah es noch zur rechten Zeit, sah, wie der eine der Insassen mit dem[17] Fernglas die Ufer absuchte. Das genügte mir. Ich räume das Feld. – Sie werden sagen: „Wankelmütiges Frauenherz!“ denn ich habe Fredi Orgla verziehen und mit mir genommen. – Sie werden mich und meine Handlungsweise nicht verstehen. Bedenken Sie: Orgla war meine erste Liebe! – Wir werden irgendwo im Ausland uns niederlassen und Ihnen dankbar sein, wenn Sie uns nicht verfolgen. Mein Vater kann ja kaum allzu hart bestraft werden. Ein paar Monate vielleicht, und auch er ist frei! – Leben Sie wohl! – Jane Brack.
Harald schüttelte den Kopf …
„Das hätte ich mir allerdings nicht träumen lassen! Ich komme her, um Jane Brack zuzureden, sich selbst der Polizei zu stellen und nachher ein neues Leben zu beginnen! Und sie – flieht mit Orgla und ihren Getreuen! – Glaubst Du daran, daß sie ins Ausland gehen wird?! Ich nicht! Sie ist Orgla verfallen, und dieser jämmerliche Bursche wird sie wie einst abermals auf die Bahn des Verbrechens drängen. Warten wir ab, was geschieht. Jedenfalls werde ich der Polizei sofort Meldung erstatten.“ –
Eine halbe Woche verging. Jane Brack war nirgends zu finden.
Dann …
Ja – dann begannen die Havelpiraten ihre Tätigkeit, und wir – – die Jagd auf diese Piraten …
Nächster Band:
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Kabels Kriminalbücher. Band 5:
Die Schildkröte
Durch jede Buchhandlung zu beziehen.
Kabels Kriminalbücher. Band 6:
Die grüne Schlange
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Kabels Kriminalbücher. Band 7:
Das Teekästchen
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Kabels Kriminalbücher. Band 8:
Die Todgeweihten
Durch jede Buchhandlung zu beziehen.
Männe und Max
Lustige Bubenstreiche
von
Walther Neuschub
mit Bildern von R. Hansche
Diese Ausgabe hat den Beifall weitester Kreise gefunden. Der zündende Humor der Dichtung und die goldige herzerfrischende Komik der Illustrationen kann nicht übertroffen werden. Die Heftchen haben ein dreifarbiges Titelbild und enthalten meist über 25 Textillustrationen.
Bisher sind die nachstehenden Heftchen erschienen:
1. Onkel Adolars Geburtstag – 2. Schornsteinfeger Krause. – 3. Das Gespenst. – 4. Der Gang zum Photographen. – 5. Der Schweinestall. – 6. Köchin Line. – 7. Räuber Trald. – 8. Die Kindtauffeier. – 9. Die Reise nach Berlin. – 10. Knödelmeyers neue Köchin. – 11. Eine Kremserfahrt. – 12. Der Ritt nach Afrika. – 13. Kohn, der Papagei. – 14. Der Flohzirkus. – 15. Daniel in der Löwengrube. – 16. Der tote Puterhahn. – 17. Die Kartoffeldiebe. – 18. Der strenge Kandidat. – 19. Bobbis Begräbnis. – 20. Das Motorrad. – 21. Sonntagsjäger Haberland. – 22. Die Moorbadkur. – 23. Äppelschnuts Lehrlinge. – 24. Die Gauner Klapp und Pelle. – 25. Der Boxkampf. – 26. Der Indianer Heitawai. – 27. Josua Grind, der Pirat. – 28. Die Fuchsjagd. – 29. Der Dreibund im Zoo. – 30. Der Meisterschuß. – 31. Die Walfischjagd. – 32. Die sechs Mohren.
Anmerkungen: