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Die Piraten der Havelseen

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 101:

 

Die Piraten der Havelseen.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Ein Scherz …!!

Die Ereignisse auf den Havelseen in der ersten Julihälfte 1922 sind für die breitere Öffentlichkeit bisher Geheimnis geblieben.

Für mich besteht kein Grund, dieses unser Abenteuer mit den in gewisser Weise humorvollen Freibeutern zu übergehen. Ich werde die Namen der Geschädigten ändern, und mehr können diese Herrschaften von mir nicht verlangen.

Die Sache begann für Harald Harst und mich sehr eigenartig. Schon am 3. Juli stellten wir bei einem Spaziergang nach dem Grunewald fest, daß ein elegantes Tourenauto, nur mit dem Chauffeur besetzt, uns folgte, aber verschwand, als wir Miene machten, den Lenker anzusprechen.

Am 4. Juli nachmittags um dieselbe Zeit verließen wir abermals das Harstsche Familienhaus in der Blücherstraße in Schmargendorf und wanderten die Forckenbeckstraße[1] entlang. Das Tourenauto war ebenfalls wieder zur Stelle.

Da wir am 2. Juli und in den vorhergehenden Tagen einen recht ernsten Strauß mit der deutschamerikanischen Hochstaplerin und Diebin Jane Brack und ihren Kreaturen ausgefochten hatten, da uns Jane Brack mit ihrem Geliebten Fredi Orgla und einigen anderen gefährlichen Burschen am Nordwestufer des Schwielow-Sees entkommen war und wir insbesondere Orglas Rache fürchteten, hielten wir für alle Fälle jetzt unsere schwarzen kleinen Kugelspeier bereit, um uns nicht etwa von dem Chauffeur hinterrücks hier in den einsamen unbebauten Straßenzügen niederknallen zu lassen, wo ihm eine Flucht unfehlbar geglückt wäre.

Heute am 4. Juli jedoch erhielten wir ohne unser Zutun freiwillig von dem Chauffeur die nötige Aufklärung über sein etwas verdächtiges Interesse für unsere Personen.

Er fuhr plötzlich in allerschärfstem Tempo an uns vorüber. Wir hatten halt gemacht und ihn beobachtet, bis der Wagen hundert Meter weiter hielt.

Gleich darauf hatten wir das Auto erreicht. Es hatte die Nummer A 13142. Gerade als Harald den Chauffeur, der eine Autobrille und einen allzu dicken blonden Schnurrbart trug (wie schon gestern), ansprechen wollte, warf der Mann einen Brief auf die Straße und raste weiter.

Der Brief hatte einen grauen Umschlag, der Haralds Adresse trug:

Herrn Privatdetektiv Harald Harst

Blücherstraße 10

Schmargendorf.

Die Adresse war mit Maschine geschrieben, ebenso der Brief selbst. Die Maschinenschrift mit ihren zahlreichen Fehlern bewies, daß der Schreiber ein völliger Neuling in dieser Kunst war.

Und dann der Briefinhalt …

Sehr geehrter Herr Harst,

ich wollte zunächst die Geschichte Ihnen persönlich vortragen, aber ich war nicht so recht sicher, ob Sie dann nicht Angaben über mich selbst verlangt hätten, auch über meine Dienstherrschaft, an der ja gerade nicht viel dran ist. Man will jedoch eine gute Stelle nicht verlieren. Die Leute zahlen anständig, und man ist da bei ihnen doch auch so unter seinesgleichen. Also die Geschichte war so. Mein Herr hat auch eine große Motorjacht, die ich gleichfalls bediene, wenn sie mal ausfahren. Mit dieser Jacht kamen wir am 2. d. M. abends von Werder. Sie wissen – die Obststadt! Es war so gegen elf Uhr, als eine andere Motorjacht mitten auf dem Schwielow-See auf uns zukam. Auf dieser Jacht waren vier Personen, alles Herren in Sportanzügen. Unser Scheinwerfer beleuchtete die Jacht ganz hell. Einer rief uns an. Wir sollten stoppen. Und mit einem Male sahen wir, daß die Herren solche modernen Selbstladepistolen in den Händen hielten. Na – und dann gab’s bei uns viel Gekreisch. Die Frau vom Herrn fiel in Ohnmacht, und die Banditen waren im Nu bei uns an Bord. Das heißt – nur drei. Der eine flüsterte mit meinem Herrn, und dann schickte der mich nach vorn in meine kleine Kabine. Nach zehn Minuten rief er mich wieder nach oben. Und da, Herr Harst, lachte er und sagte: „Das war man bloß ein Scherz von den Herren! Sie wollten uns bloß einen Schreck einjagen. Wir haben zusammen einen Kognak getrunken und dann sind sie wieder weggemacht.“ – Und dann kriegte ich zwei Kognaks, drei feine Zigarren und fünftausend Mark, und mein Herr meinte noch, ich solle lieber über die Sache den Mund halten, da er sich doch so etwas dabei blamoren habe, weil er auf den Witz reingefallen und die Gnädige in Ohnmacht gefallen wäre. – Ich tat denn auch so, als ob ich das alles glaubte, lachte ebenfalls und sagte noch: „Ich hab’ mir’s ja gleich gedacht, daß das man bloß ein schlechter Scherz wär’!“ Und damit war die Geschichte erledigt. Aber, Herr Harst, mein Herr hat mich natürlich beschwindelt. Das war kein Scherz. Denn als wir nachher mit der andern Jacht, die einem Freunde vom Herrn gehört und auch in Werder gewesen war, wo die …… fein soupiert hatten, zusammentrafen, da merkte ich, wie alle miteinander zu flüstern hatten und wie blaß die Damen waren. Unsere Gnädige hatte gegen die Ohnmacht so viel Kognak getrunken, daß sie ganz blaurot ins Gesichte war. Der Bootsmann von der anderen Jacht hat mir dann auch erzählt, ihnen sei’s genau so gegangen wie uns, und auch er war unter Deck geschickt worden. Ich bin nun überzeugt, Herr Harst, es waren Banditen, und sie haben die Herrschaften auch tüchtig zur Ader gelassen. Komisch ist dabei eben, daß doch offenbar die Polizei nichts erfahren soll, was doch ein Skandal ist. Ich will ja nun mit der Geschichte weiter nichts zu tun haben. Ich schreib Ihnen das alles hier kurz auf, und dann machen Sie, was Sie wollen, Herr Harst, nur verraten sie mich nicht. Übrigens habe ich die Nummer unseres Wagens verändert. A 13142 ist eine Autotaxe. – Ein Ungenannter.

Nachschrift. Soeben war der andere Bootsmann bei mir. Er weiß bestimmt, daß gestern am 3. Juli die Jacht eines anderen Bekannten unserer Herrschaften ebenfalls mitten auf dem Schwielow-See angehalten wurde, also Nummer drei. Mehr sage ich nun nicht.

– – – – – – – –

Ich hatte über Haralds Schulter den Brief mitgelesen.

„Ein schlechter Scherz …?!“ meinte Harst sehr gedehnt. „Sollte da nicht Jane Brack ihre segensreiche Tätigkeit schon wieder aufgenommen haben?! Etwas Derartiges sähe ihr ganz ähnlich! – Machen wir kehrt.“

Ich erlaubte mir auf dem Heimweg die Bemerkung, daß der „Scherz“ doch auch in dem Briefe selbst liegen könnte. „Man will Dich eben nasführen, Harald!“

„Glaube ich nicht, mein Alter! Wir werden ja auch bald Gewißheit haben.“

Und als wir nach Hause kamen, fanden wir … einen Eilbrief aus Saßnitz, Rügenbad, vor.

Einen Brief, allerfeinstes Büttenpapier, leicht nach Parfüm duftend. Eine Handschrift wie gestochen, und ein Inhalt, der aus einer Fünfdollarnote und einem Zettel einfachsten Papiers bestand, der nur die Sätze in derselben charakterlos schönen Schrift enthielt:

Erkundigen Sie sich mal bei Robert Schmalk, Grunewald, Hertastr. 112, nach dem Abend des 2. Juli dieses Jahres. Es wird Sie interessieren.

Harst lächelte fein. „Du, wetten, – das ist einer der Geneppten, der diese fünf Dollar springen läßt!“

Dann ging er an den Schreibtisch und fragte telephonisch an, ob A 13142 ein Autotaxameter sei.

Die Antwort der Verkehrsabteilung des Präsidiums lautete bejahend.

„Dann zu Robert Schmalk, wohl einer der Bootsleute,“ sagte Harald mit einer Lebendigkeit, die mir verriet, wie sehr diese Piratenstreiche, die mir noch immer nicht recht einwandfrei erschienen, seine Jagdlust angeregt hatten.

In unserem Ankleidezimmer verwandelten wir uns in zwei Herren mit leicht ergrauten Spitzbärten, zogen blaue doppelreihige Jackenanzüge an und setzten Seglermützen auf, verließen das Haus durch den Gemüsegarten und gaben genau acht, ob uns jemand nachschliche.

Wir merkten jedoch nichts von Verfolgern. –

Hertastraße 112 war eine neue protzige Villa.

Ein Postbote kam gerade des Weges. Harald fragte ihn, wer in dem feudalen Hause wohne.

„Kriegsgewinnler, nicht wahr?“ fügte er hinzu.

„Stimmt, Herr. Schieber gemeinster Sorte!“ Und der Briefträger spuckte aus. „Jetzt ist die Gesellschaft in Helgoland – natürlich!! Läßt sich die Post nachschicken!“

„Seit wann?“

„Seit gestern, Herr.“ Und er ging weiter.

Wir aber läuteten nun an der Gartenpforte, deren blankes Messingschild den Namen Dobberling zeigte.

Nach einer Weile erschien aus dem Häuschen neben der Protzenvilla eine einfach gekleidete Frau.

„Sie wünschen?“

„Sind Sie Frau Schmalk?“

„Ja.“

„Ihr Mann ist Chauffeur und Bootsmann bei Herrn Dobberling?“

„Ja.“

„Würden Sie die Stellung wechseln?“

„Nein. Uns fehlt hier ja nichts.“

„Aber die Bedienung der Jacht … – Wie heißt sie doch …?“

„Niobe …“

„Richtig, Niobe!, – die Bedienung ist doch …“

Die Frau unterbrach Harst. „Entschuldigen sie, wir bleiben bei Herrn Dobberling, Herr … Es hat keinen Zweck. Ich hab’ Milch auf dem Feuer …“

„Einen Augenblick nur noch … Ob vielleicht der Chauffeur des[2] Freundes des Herrn Dobberling die Stellung wechseln würde?“

„Glaub’ ich nicht. Sie meinen Karl Grull wohl?“

„Ja, Karl Grull …“

„Sie können ja mal fragen … Trabener Straße 95, Herr … – Entschuldigen Sie.“

Wir gingen nach der Trabener Straße. Die Villa Nr. 95 erkannten wir wieder. Sie hatte bis vor zwei Jahren einem sehr bekannten Schriftsteller gehört.

Bei einem Kaufmann am nahen Bahnhof Grunewald erfuhren wir, daß Nr. 95 in den Besitz des Rentners August Biesecke übergegangen sei – Kriegsgewinnler!!

Dann läuteten wir an der Pforte von Nr. 95, und hier sahen wir den Chauffeur von A 13142 ohne dicken Schnurrbart wieder.

„Herr Biesecke ist wohl verreist?“ begann Harald.

„Ja – nach Helgoland – gestern früh.“

„Herr Karl Grull?“

„Zu dienen. – Was beliebt?“

„Ich wollte Ihnen nur für Ihren Brief danken, Herr Grull. Ich bin Harald Harst. – Oh – erschrecken Sie nicht. Ich werde Sie nicht verraten. – Kennen Sie diese Handschrift?“

Und er zeigte ihm den Umschlag des Eilbriefes aus Saßnitz.

„Nein, Herr Harst, wirklich nicht.“

„Ich will Sie dann nicht weiter ausforschen, Herr Grull. Nur zwei Fragen: wo soupierten Bieseckes mit ihren Bekannten am 2ten abends in Werder?“

„Im Havel-Hotel …“

„Hatte die Motorjacht der Piraten besondere Merkmale?“

„Nein. Sie war nur mit Segeln so zugedeckt, daß man Einzelheiten nicht erkennen konnte.“

„Ah – sehr schlau! – Leben Sie wohl, Herr Grull. Alles weitere finde ich schon allein heraus.“ –

Um acht Uhr abends trafen wir mit dem Vorortzug in dem bekannten Havelstädtchen ein, wo sich im Mai zur Zeit der Obstbaumblüte halb Berlin an Obstwein und der weißen Blütenpracht der großen Gärten berauscht.

Für Werder war jetzt Sportsaison. Ruderer und Segler schwärmten auf der weiten Fläche des Schwielow-Sees, legten in Werder an und bevölkerten die zahlreichen Gaststätten, die zumeist hoch auf dem Rande der Hügelkette ihre in Grün gebetteten Baulichkeiten dem Auge des naturfreudigen Großstädters mit Türmen und Zinnen als moderne Burgen darbieten.

Das Havel-Hotel inmitten des Ortes war heute nur mäßig besucht. In dem größeren Speiseraum waren drei Tische besetzt. Wir belegten den vierten, bestellten Abendbrot und kümmerten uns scheinbar um die Nachbarschaft in keiner Weise.

Da wurde an einem der Tische von fünf Personen, drei Damen und zwei Herren, unerhört geschlemmt. Der Kellner scharwenzelte um die zur Kategorie Raffke gehörigen Herrschaften mit jenem Grinsen herum, das eine respektvolle Überhöflichkeit markieren sollte und doch ebenso geringschätzig wie frech war. Kellner haben eine feine Witterung für die Qualität ihrer Gäste.

An einem anderen Tische verzehrten zwei Damen und zwei Herren, die gleichfalls im Seglerdreß waren, ihre mitgebrachten Stullen und tranken Bier dazu. Der dritte Tisch waren Einheimische – ein Stammtisch.

Als der Kellner uns das Abendessen brachte, verwickelte Harald ihn in ein Gespräch, erkundigte sich, ob Bieseckes letztens hier gewesen seien und dämpfte dann die Stimme so sehr, daß ich auf der anderen Tischseite nichts mehr verstehen konnte.

Gegen zehn Uhr zahlten wir und verließen das Hotel, wanderten zum Wasser hinab und erfreuten und an der Romantik der engen Gassen des Städtchen, das auf einen nervösen Weltmann wie ein harmloses Beruhigungsmittel wirkt.

„Was hast Du von dem Kellner erfahren?“ fragte ich, als wir dicht am Ufer nach den Bootsbrücken zu weiterschritten.

„Allerhand und nichts. Es kommt eben ganz darauf an, wie man die Antworten des Kellners bewertet, mein Alter. Ich bewerte sie sehr hoch. Weißt Du übrigens, wer die ihre Stullen verzehrenden Gäste waren, die der Kellner mit echtem Respekt ohne süßlich geringschätziges Lächeln bediente?“

„Hm – Du lenkst ab. Du willst das Thema wechseln, um …“

„Keineswegs! – Sei nicht empfindlich … Und jetzt verhalte Dich still. Ich möchte …“

Und er bog schon links auf einen langen Bootssteg ab, an dem zahllose Segeljachten vertäut waren.

Mit dem ersten Schritt auf die dröhnenden Planken dieses Steges verließen wir … gesetzmäßigen Boden.

Inwiefern, wird der Leser sehr bald merken.

 

2. Kapitel.

Der Überfall.

Ganz oben am Stege war eine große weiße Motorjacht festgemacht. Der Bootsmann lehnte vorn am Kajütaufbau und rauchte sein Pfeifchen.

Harald sprach ihn an, spendete drei Zigarren und erklärte sehr ärgerlich, daß wir den letzten Sterndampfer nach Berlin verpaßt hätten.

Der Bootsmann taute auf. Es war ein älterer Mann, so eine Art Lebensphilosoph. Wir hörten von ihm, daß die Jacht Herrn Kießlacks Eigentum sei, – Getreide en gros, Kießlack und Kompagnie, junge Firma, Kriegsgewächs und so. „Vor zwee Jahren hat mein Herr ein Pferd und vier Brillantringe gehabt,“ erklärte Bootsmann Emil Pfaffner. „Und heite hat er zehn Lastautos und keenen Brillantring, denn die hat er nach der Schweiz jebracht – unter uns jesagt! Ick weeß ja, wen ick vor mir habe.“

Also auch Kießlack Kriegsschieber. Nun kannten wir von der Sorte schon drei mit Namen, und jeder besaß eine Jacht. Man hätte neidisch werden können.

Was Harald mit dieser Unterhaltung mit dem alten Pfaffner eigentlich bezweckte, war mir unklar. Doch – nicht mehr für lange …

Eine sehr lustige Gesellschaft nahte: der Schlemmertisch aus dem Havel-Hotel, Herr Kießlack nebst Anhang!

Wir verabschiedeten uns von Pfaffner und traten etwas abseits. Der Fisch biß auf den Köder an: Pfaffner erzählte seinem Herrn, daß die beiden Herren da den Dampfer versäumt hätten, und – bei Otto Kießlack gaben die Titel den Ausschlag, die wir uns beigelegt hatten. Das heißt: Harald hatte damit begonnen, hatte mich mit „liebe Exzellenz“ vor Pfaffner angeredet und mir dann zugeraunt, er sei „Geheimrat“. – Man findet sich als Harsts ständiger Begleiter ja sehr rasch in eine Unerwartete neue Rolle hinein. Man ändert Namen, Charakter, Aussehen – scheinbar ganz nach seinem Wunsch.

Und – wie fein überlegt dieses „Exzellenz“ und dieses „Geheimrat“ waren, welche Fülle von Menschenkenntnis dieser kleine Trick barg, sollte sich sofort zeigen.

Herr Otto Kießlack hatte kaum von dem Alten vernommen, was für hohe Tiere wir seien, als er schon auf uns zukam und äußerst verbindlich bat, wir sollten doch auf seiner Jacht Irmgard die Fahrt bis Wannsee mitmachen. Dort warte sein Auto.

Kurz und gut: Exzellenz Schrock und Geheimer Oberregierungsrat Hoorst waren so gnädig, die Einladung anzunehmen.

Bitte – man lächle nicht. Zwei xbeliebige Herren hätte ein Mann von Kießlacks Charakter nie eingeladen! „Exzellenz“ und „Geheimrat“ waren dagegen die Anbahnung neuer gesellschaftlicher Beziehungen! Daher also – –!!

Wir lernten nun Kießlacks Kompagnon Ernst Wurm, beider Gattinnen und Frau Kießlacks Gesellschaftsdame Fräulein von Schnetters kennen.

Wir wurden auf der Jacht großartig bewirtet. Wir richteten unser Benehmen ganz den Umständen nach ein, waren herablassend liebenswürdig, wurden zugänglicher, wurden zu Schwerenötern den Damen gegenüber, die durch das Fräulein von Schnetters immerhin schon einigermaßen auf den feinen Ton in allen Lebenslagen gedrillt worden waren.

So fuhren wir denn in die prächtige Sommernacht hinaus, saßen in Korbsesseln herum auf dem geräumigen Hinterdeck und bewunderten den dicken, kurzbeinigen Kießlack in tönenden Redensarten, der seine Jacht in der Haltung eines Kapitäns eines Schlachtschiffes steuerte.

Es war eine famose Komödie, die mir ungeheuren Spaß machte. Das einzige, was mich störte, war der immerfort verstohlen auftauchende Gedanke: was bezweckt Harald mit alledem?!

Dann hatte Fräulein Ella von Schnetters, ein eisiges, hageres, rassiges Blondinchen, plötzlich ihre Kamera geholt und bestand darauf, unseren Tisch bei Blitzlicht zu typen.

So wurde denn die elektrische Beleuchtung des Achterdecks ausgeschaltet. Kießlack übergab dem Bootsmann das Steuer und setzte sich recht dicht neben mich, legte seinen Arm auf die Rückenlehne meines Korbsessels und meinte strahlend: „Exzellenz, das Bild wird mir eine liebe Erinnerung an diese Nacht sein!“

Dann flammte der grelle Blitz der Magnesiumpatrone auf, und das Blondinchen rief:

„Erledigt! Ich werde die Platte sofort entwickeln. Falls sie mißlungen ist, darf ich wohl eine zweite Aufnahme machen.“

„Unten ist nämlich auch eine Dunkelkammer in der Jacht,“ erklärte Kießlack.

Und Herr Wurm rief: „Mit allen Chikanen der Neuzeit, Exzellenz.“

Ich als Exzellenz spielte hier die Hauptrolle.

Harald sagte dann, er würde mal das Steuer übernehmen. „Wir waren im vorigen Jahr mit Lord Wolpoore, unserem englischen Freunde, in Indien, mit Wolpoores Schonerjacht,“ fügte er hinzu.

„Bitte, Herr Geheimrat, wenn es Ihnen Spaß macht!“ dienerte Kießlack ehrfurchtsvoll.

Harst hatte mir einen verstohlenen Wink gegeben. Ich folgte ihm zum[3] Steuer, wo auch Kießlack eifrig schwatzend lehnte. Die Nacht war hell und sternenklar.

„Ah – da kommt uns eine andere Jacht entgegen,“ meinte der Geheimrat Hoorst nach einer Weile.

Und – da kam mir die Erleuchtung …:

Überfall – – die Piraten!! –

Es war so. – Die Jacht näherte sich sehr schnell. Sie war bedeutend schneller als die Irmgard des Herrn Kießlack. Und – sie hielt auf uns zu …

Schon von weitem sah ich, daß der Kajütenaufbau und das Vorderdeck mit Segeln belegt waren.

Auch Kießlack sah’s und rief: „Das ist ja wie’n Gespensterkahn! Exzellenz, finden Sie nicht auch?“

Einer Antwort wurde ich überhoben.

Von drüben eine sehr energische Stimme:

„Stoppen Sie – sofort!!“

Und die fremde Jacht beschrieb einen kurzen Bogen, fuhr Bord an Bord mit uns.

Drei Herren sprangen zu uns an Deck – Herren in Sportanzügen, mit verdächtig langen schwarzen Vollbärten, mit Augenbrauen, die durch Kohlestriche fingerdick und fingerlang gemacht waren.

Herren mit unheimlichen Gesichtern, unheimlichen Pistolen in den Händen …

Was sich dann ereignete, ging alles so rasch wie Kinobilder, die allzu schnell gedreht werden …

Die beiden Gattinnen Kießlacks und Wurms kreischten nicht. Sie kreischten erst, als der eine der Freibeuter Kießlack beiseite genommen hatte und als dieser den Damen dann befahl, ihren Schmuck den … „Herren“ auszuhändigen, deren Pistolen beständig mit schwarzen Mündungsaugen uns überwachten.

Und Kießlack und Wurm überreichten Uhren, Schlipsnadeln, Brieftaschen gehorsam dem Einsammler der Kostbarkeiten, der dann auch auf uns beide zutrat.

Im selben Moment rief der Mann, der auf der Piratenjacht geblieben war, dem Einsammler etwas zu. Und – seltsam! – da wandte der sich kurz um und ließ uns in Ruhe, sprang auf sein Fahrzeug hinüber, seine beiden „Kollegen“ folgten ihm, und das Freibeuterschiff sauste davon.

Wir beide standen noch am Steuer.

Kießlack und Wurm flüsterten jetzt eifrig mit ihren Damen. Fräulein von Schnetters war noch unten in der Dunkelkammer und unbehelligt geblieben.

Fluchend nahte der biedere Emil Pfaffner.

„So ne Banditen!! So ne Kanalljen!! Schade daß ich nich’n Revolver dahatte!“

Kießlack tänzelte herbei. Soeben war der Mond über den Uferwäldern emporgestiegen …

Und dann redete Herr Otto Kießlack mit gequältem Lächeln viel und hastig von einer tollen Wette – daß dieser Überfall nur ein Spaß gewesen, daß er uns bäte, darüber zu schweigen …

Er redete, widersprach sich, suchte das Erlebnis ins Scherzhafte zu ziehen …

Bis ich als Exzellenz liebenswürdig erklärte: „Wir werden selbstverständlich schweigen, Herr Kießlack, obwohl ein solcher Scherz doch etwas eigentümlich ist. Nicht wahr, lieber Geheimrat?“

„Oh, Exzellenz, ich kenne noch tollere Wetten …“

Da atmete Kießlack sichtlich erleichtert auf und rief:

„Eine Flasche Schampus muß dran glauben! Den Spaß begießen wir!“

Und er zog den braven Emil beiseite und redete auf ihn ein, bis Emil ebenfalls überzeugt war, daß es eine Wette gewesen – irgend eine Verrücktheit von Kießlacks Freunden.

Der Schampus wurde getrunken. Aber – die Stimmung war gemacht fröhlich. Frau Kießlack und Frau Wurm hatten Gesichter, als ob sie Essig saufen mußten …

Nur Ella von Schnetters, die an den Wett-Schwindel zu glauben schien, und wir beide retteten die Situation, gaben uns zwanglos und heiter.

Kießlack betonte immer wieder, daß die „Piraten“ die Beute morgen wieder abliefern würden. Das war für uns gesprochen.

Mußte dieser Kießlack uns nur für geistig minderwertig halten!! –

So kamen wir um halb zwölf Uhr in Wannsee an.

So fuhren wir mit Kießlacks Auto nach Berlin. Wurms wohnten in Wannsee.

Auf dem Kurfürstendamm ließen wir uns absetzen, bedankten uns für den genußreichen Abend und blickten dem Auto lange nach …

„Toll – toll!“ sagte Harald dann. Wir gingen heim. Wir hatten Kießlack versprochen, morgen zu ihm zum Frühstück zu kommen. Er war Besitzer des ehemals Winterfeldtschen[4] Palais in der Eichenstraße im feudalen Tiergartenviertel.

 

3. Kapitel.

Der Wächter.

Wir gingen doch nicht heim.

Harald machte plötzlich kehrt.

„Die Eichenstraße wird uns vielleicht noch mehr verraten,“ meinte er.

Dann nahm er eine Mirakulum, zündete sie an und rauchte ein paar Züge …

„Wiederholen wir mal, was wir über die Tätigkeit der Freibeuter bisher wissen,“ sagte er und schob seinen Arm in den meinen. „Also erstens: bisher sind vier Überfälle zu unserer Kenntnis gelangt, und die Opfer sind Bieseckes, Dobberlings, eine uns noch unbekannte Familie und Kießlack-Wurms[5]. Alle diese Opfer gehören dem mit Recht unbeliebten Kreise der Kriegsgewinnler und Schieber an. Alle diese Opfer hüten sich, der Polizei Anzeige zu erstatten, tragen zähneknirschend den Verlust, der fraglos nicht gering ist, bestechen ihre Bootsleute, damit sie den Mund halten, und erklären alles – für schlechte Scherze, für Wettspäße – dergleichen.“

Er rauchte wieder drei Züge …

„Wir sind nun soeben selbst Zeugen eines dieser Piratenstreiche geworden. Die Piratenjacht war wieder durch Segel verhüllt, und die Leute arbeiteten nach derselben Methode, wie Chauffeur Grull es in seinem Briefe beschrieben hat. Es sind also dieselben Piraten.“

„Ohne Zweifel …“

„Steckt nun Jane Brack hinter diesen Überfällen? – Da möchte ich auf den Eilbrief aus Saßnitz hinweisen, mein Alter. Bieseckes und Dobberlings sind am Morgen nach der Ausplünderung fluchtartig nach Helgoland gereist, wie wir wissen. Von ihnen kann der Saßnitz-Brief nicht herrühren. Von wem sonst?! Wer weiß außer den Geschädigten und deren Bootsleuten noch etwas von diesen Piratenstreichen? Wozu schrieb man den Eilbrief?“

„Hm – schwer zu sagen! So, wie die Umstände liegen, möchte ich …“

„… annehmen, daß Jane Brack irgendwie Kenntnis von diesen Überfällen erhalten hat und daß sie den Eilbrief veranlaßte, um – ja, wozu? Strenge Dein Hirn etwas an! Denke an den Zettel, den sie uns zurückließ, bevor sie mit den ihrigen floh. Sie versprach darin, ein neues Leben anzufangen, – worauf ich freilich nicht viel gebe. Immerhin ist es möglich, daß sie den Verdacht, diese Freibeuterstreiche inszeniert zu haben, von sich abwälzen und uns Gelegenheit geben wollte, die wahren Schuldigen zu finden. So kann es sein. – Scheiden wir Jane Brack also zunächst aus diesem Grunde aus. Es gibt noch mehr Gründe dafür.“

„So?! Und welche denn?“

„Überaus wichtige. Ich kenne die Piraten bereits!“

Kein Wunder, daß ich stehen blieb, – gerade vor einem der Cafees an der Gedächtniskirche …

Und aus dem Cafee drang Walzermusik heraus …

„Du – kennst sie?“

„Ja. Das heißt: den einen kenne ich. Komm’ weiter.“

„Und dieser eine ist eine berühmte Persönlichkeit, mein Alter, ist ein Mann, der uns an Intelligenz mindestens gleichwertig ist, – ein Gestrauchelter! Er saß mit am Tisch der vornehmen Stullen-Esser im Havel-Hotel.“

„Ah – die beiden Damen und die beiden Herren!“

„Ja …“

„Und wer ist der Gestrauchelte?“

„Der mit dem Monokel war’s – Freiherr Boto von Irnhartstetten, dereinst Regierungsassessor und beschäftigt beim Polizeipräsidium – bis 1920, wo man ihn in Ungnaden wegschickte, weil er Spieler war und außerdem eine allzeit offne Hand zum – – Nehmen hatte.“

„Er stahl?“

„Aber ich bitte Dich – keine Rede. Er nahm Geschenke an.“

„Ah so!! Bestechung also!“

„So ähnlich. Er verschwand darauf aus Europa. Freund Bechert hat mir das einmal erzählt.“

„Hm – und woraus schließt Du, daß er einer der modernen Flibustier ist?“

„Weil er mit den beiden Damen und dem anderen Herrn am 2ten abends gleichfalls im Havel-Hotel war, als Bieseckes und Dobberlings dort soupierten und nachher auf der Heimfahrt nacheinander überfallen wurden. Der Kellner wußte mir dies zu sagen.“

„Ein etwas schwacher Beweis gegen den Stullen-Tisch!“

„So?! Hast Du Dir den einen der drei Piraten, die auf die Irmgard kamen, genauer angesehen? Das war eine verkleidete Frau. Die Figur verriet’s. Und die andere Frau war auf dem Piratenfahrzeug zurückgeblieben. Sie verriet sich und ihr Geschlecht, als sie mit verstellter Stimme dem Einsammler der Wertobjekte in Esperanto-Sprache zurief, uns beide nicht zu belästigen.“

„Esperanto?“

„Ja. Bestimmt Esperanto. Ich verstand jedes Wort. Sie rief: „Die beiden nicht! Vorsicht!!“ Und daher plünderte man uns nicht aus.“

Er nahm eine neue Mirakulum …

„Glaubst Du nun auch, daß die vier am Stullen-Tisch die Piraten sind, lieber Alter?“

„Allerdings.“

„Bei der ganzen Geschichte ist eins am rätselhaftesten: weshalb zeigen die Ausgeplünderten die Überfälle nicht an?! Und – wie wissen sie, daß ein solcher Überfall auch lohnt? Wegen ein paar Ringen und Brieftaschen werden sie doch nicht so viel riskieren!“

Wir überschritten den Lützowplatz, kamen ins Tiergartenviertel.

„Es war noch eine dritte Motorjacht in der Nähe, mein Alter,“ fügte Harald hinzu und lachte leise auf.

Ich blickte ihn von der Seite an.

„Auch ein Piratenboot?“

„Ich glaube nicht. Und – ich habe noch mehr beobachtet. Du doch auch?“

„Wo?! Im Hotel? In Werder?“

„Nein. An Bord der Irmgard. Vielleicht war das am interessantesten. Und gerade dieses Interessante läßt mich vermuten, daß diese Piratenstreiche einen ganz anderen Zweck haben, als wir ahnen, daß es gar nicht auf die Beraubung von Schiebern, sondern auf ganz etwas anderes abgesehen ist. Der Fall erscheint ja jetzt sehr einfach – erscheint – erscheint!! Er ist es nicht. Es steckt mehr dahinter.“

Ich merkte seiner Stimme an, daß er angestrengt nachdachte. Schweigend schritten wir weiter. Kamen in die stille vornehme Eichenstraße.

Und – Harst riß mich plötzlich hinter einen der dicken alten Straßenbäume am Rande des Bürgersteiges …

„Da – rechts vorn, oben auf der Mauer!“ flüsterte er.

Ich sah gerade noch einen Mann, der sich von der Mauerkrone in den Garten hinabließ.

„Die Mauer des Winterfeldt-Palais, mein Alter …! Und – es war der Baron Irnhartstetten, ohne den schwarzen Vollbart …! Warten wir … Wir fangen ihn ab, wenn er wieder zurückkehrt.“

„Was will der denn dort bei Kießlack?“ meinte ich zweifelnd. „Hast Du ihn sicher erkannt?“

„Ganz sicher!! Das Monokel schillerte im Laternenlicht. Außerdem, er hat eine Verbündete dort im Palais. Ich …“

Jetzt raunte ich ihm zu: „Still – ein zweiter Mann!“

Und dieser zweite war soeben hinter einem Baum etwa sechzig Meter weiter aufgetaucht, war mit kurzem Anlauf an der Mauer hochgesprungen, an derselben Stelle wie der Baron, hatte oben einen Halt gefunden, zog sich empor, – – verschwand ebenfalls nach dem Garten zu.

Harst warf seine Zigarette weg …

„Was die beiden können, können wir auch, mein Alter. Ihnen nach! Die Sache wird immer dunkler statt klarer.“

Die Eichenstraße ist eine Sackgasse. Wir hatten sehr bald festgestellt, daß sie jetzt menschenleer war. Dann sprang Harald an der Mauer hoch, genau dort, wo unsere beiden Vorgänger es getan hatten.

Und – an dieser Stelle hing ein dickes Tau ein wenig über den Rand der Mauer hinweg. Es fiel nicht auf. Man bemerkte es nur bei scharfem Hinsehen.

Harst half mir dann hinüber. Wir standen nun im Gebüsch. Vor uns eine Rasenfläche, dann das verwitterte Palais – jetzt Schieberwohnsitz!

Ein Palais, das auf drei Jahrhunderte preußischer Geschichte zurückblickte.

Wir warteten – lauschten – beobachteten …

Bis Harald etwas zusammenzuckte …

Und den linken Arm hob – durch eine andere Lücke im Gebüsch auf eine Gartenbank aus Birkenästen deutete …

Das Mondlicht traf dort das Gesicht eines halb auf der Bank liegenden Mannes …

Der Mann rührte sich nicht …

„Der zweite, der hinüberkletterte,“ raunte Harst mir zu.

Und wieder preßte ich warnend seinen Arm.

Die Lindenallee vom Palais her kamen zwei Gestalten herbeigehuscht, – ein Mann, ein Weib …

Machten vor der Bank halt …

Da erkannte ich sie: es war der Baron Irnhartstetten und Ella von Schnetters, die Gesellschafterin Frau Kießlacks.

Sie hoben den Mann von der Bank auf und trugen ihn dem Palais zu …

Verschwanden …

Aber – wir blieben hinter ihnen. Von Baum zu Baum schlüpften wir, kamen so an dem düsteren Bau vorüber – tiefer in den Garten hinein, wo links an der Mauer ein kleines, ebenso altes Nebengebäude sich erhob …

Dort hinein trugen die beiden den Mann, der doch offenbar tot war …

Dort hinein durch eine halb offene, uralte, mit Ziernägeln beschlagene Tür …

Ein weißer Lichtschein strahlte im Flur auf, wurde schwächer … erlosch.

Die Fliederbüsche, die uns verbargen, beherbergten uns eine volle Stunde. Nichts geschah weiter – nichts …!

„Dann folgen wir eben!“ flüsterte Harst, als ich zum sechsten Male gähnte.

Der Mond war hinter den nächsten Häusern untergetaucht. Der neue Tag, der 5. Juli, mußte sehr bald anbrechen. Aber der Wind hatte inzwischen gedreht, war nach Westen herumgegangen, führte langsam Regengewölk herbei.

Schwarze Wolken krochen über den Himmel hin. Die Sommernacht wurde dunkel. Der hohle Regenwind wurde kühl. Die Büsche rauschten, und – in das Rauschen mischte sich das drohende Knurren eines großen Hundes.

Ein Wächter der Berliner Wach- und Schließgesellschaft stand vor uns – den Revolver schußfertig – eine Trillerpfeife im Munde …

Der Wolfshund neben ihm duckte sich sprungbereit.

„Harald Harst!“ rief Harald leise und hastig. „Schlagen Sie keinen Lärm, Mann! Nur das nicht! Ich bin der Detektiv Harst …!“

Der Wächter nahm die Pfeife aus dem Munde.

„Kusch’ dich, Nero!“ – Und zu uns: „Was tun Sie hier? Detektive[6] – kann jeder sagen!“

„Ich werde ihnen meinen Ausweis zeigen. Aber nicht hier. Gehen wir dort hinein.“ Er deutete auf das einstöckige Nebengebäude.

„Damit Sie mich dort abtun können! So dumm sind wir nicht! Nee – ich …“

„Nehmen Sie doch Vernunft an! Wir beobachten hier nur andere Leute, die dort drinnen sind.“

„Dort?!“ Der Wächter lachte leise. „Dort kann niemand sein. Der Schwamm hat alle Balken und Dielen zerfressen. Dort gibt’s nur Trümmer. Herr Kießlack will erst im Herbst alles in Ordnung bringen lassen.“

Es begann zu tröpfeln. Es war noch finsterer geworden. Der Wächter zog die Blende von seiner vor der Brust befestigten brennenden Laterne. Der Lichtschein traf uns.

Harst griff zu, entfernte Bart und Perücke.

„Mann, Sie werden doch schon mal ein Bild von mir gesehen haben,“ meinte er ungeduldig. „Ich bin Harald Harst.“

„Oh – jetzt erkenn’ ich Sie wirklich, Herr Harst … Entschuldigen Sie nur. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Indem Sie schweigen – verstanden! Es soll Ihr Schade nicht sein. Oder – begleiten Sie uns mit ihrem Hunde dort in das leere Nebengebäude. Ihr Nero hat eine bessere Nase als wir.“

Der Wächter, der eine Dienstmütze und einen Regenumhang trug, klappte die Blende wieder vor.

„Gut, Herr Harst. Aber – lange habe ich nicht Zeit. Sie wissen ja, ich muß die Uhren stechen, und jede auf die Minute.“

Harald schritt schon dem verwahrlosten Hause zu.

Im Flur schaltete er seine Taschenlampe ein.

Ein Blick in die Erdgeschoßräume bewies, daß hier allerdings niemand sich aufhalten konnte. Die Decke war eingestürzt. Balken, Dielen, Schutt – – ein Chaos!

Harst bückte sich, beleuchtete die Steinfliesen des breiten Flurs. Eine dicke Staubschicht – und darin Stiefelspuren, die eines Mannes und einer Frau.

Die Spuren liefen geradeaus. Und endeten vor der Kellertür, die unter der nach oben führenden Treppe lag.

Die Tür war nur angelehnt. Eine Kellertreppe aus Ziegelsteinen von einem Format, wie es in vergangenen Zeiten gebräuchlich gewesen. Auch hier Staub und Spuren auf den Stufen.

Wir schlichen abwärts, Harst voran, dann der Wächter mit dem Hunde, dann ich …

Unten Kellerräume, wie man sie nur früher ausführte: gewölbt, Pfeiler aus Mauerwerk, Gestelle aus schwarz verfärbtem Eichenholz, eichene Türen mit uralten Schlössern.

Und diese Keller zogen sich nach Osten zu hin – auf das Palais zu.

Und auch hier Staub und die beiden Fährten. Bis diese vor einer eisernen Tür endeten. Diese Tür war verschlossen. Harst zog sein Schlüsselbund hervor, stellte den Patentdietrich ein, steckte ihn ins Schlüsselloch. Eisen kratzte auf Eisen. Ein Riegel schnappte zurück, und Harald drückte die Tür auf …

Trat ein – nur drei Schritt. Ich drängte mich vor.

Ein Stoß in den Rücken warf mich auf Harald …

Die eiserne Tür schlug hinter uns zu. Harsts Taschenlampe lag erloschen auf den Steinfliesen. Sie war ihm entfallen.

„So also war’s gemeint!“ sagte er aus dem Dunkel heraus.

Ich hatte meine Lampe hervorgeholt. Der weiße Lichtfinger tastete in die Dunkelheit hinein, traf auf eine zweite eiserne Tür dieses kaum fünf Meter langen Raumes …

Und – traf auf eine Gestalt in der Ecke – auf einen Mann – einen gefesselten Mann, der dort an der Wand saß, dessen Augen in das grelle Licht stierten aus blondbärtigem Gesicht …

Es war der … Tote von der Birkenbank …

 

4. Kapitel.

Herrn Kießlacks Pech.

Harst hob seine Lampe auf. Die kleine Glühbirne war unbrauchbar geworden. Dann drehte er sich um und rüttelte an der Tür.

„Die Riegel sind von außen vorgeschoben worden,“ meinte er.

Auch die andere Tür ließ sich nicht öffnen. Wir wandten uns dem Blondbärtigen zu. Harald leuchtete ihm mit meiner Taschenlampe ins Gesicht.

„Wer sind Sie?“

Keine Antwort.

Neben dem Mann lag ein Filzhut. Der Kopf des Menschen, der finster zu Boden starrte, war an der linken Seite stark geschwollen. Der Schädel war ganz kurz geschoren.

„Wer sind Sie?“ wiederholte Harst nochmals. „Weshalb schweigen Sie? Sie sind doch droben im Garten niedergeschlagen worden von dem Herrn mit dem Monokel.“

Der Mann senkte den Kopf nur noch tiefer.

Er war uns fremd. Wir hatten ihn noch nie gesehen. Er war elegant gekleidet, hatte einen halblangen leichten Gummimantel an und braune spitze Jimmy-Schuhe.

„Dann auf andere Art,“ meinte Harald ungeduldig, kniete neben dem Gefesselten nieder und begann dessen Taschen zu durchsuchen.

Plötzlich kam Leben in den Menschen.

Mit heiserem Fluch stieß er mit den gefesselten Füßen Harst gegen die Brust. Und – da entfiel dem Zurücktaumelnden die zweite Lampe … erlosch …

Finsternis …

Ich hörte Harald leise stöhnen. Der Kerl hatte ja mit aller Kraft ihm die Schuhhacken gegen die Brust gestoßen.

Und – bekam nun selbst einen Stoß gegen den Unterleib – lag am Boden – krümmte mich vor Schmerzen, erbrach mich. Fühlte, daß mir jemand in die Schlüsseltasche der Beinkleider faßte, die Clement herauszog, auch das Feuerzeug … Und sah einen weißen Streifen aufblitzen – sah den Mann Harst beleuchten – hörte die heisere Stimme befehlen:

„Vorwärts – legen Sie sich auf den Bauch!“

Meine Clement war’s, die Harald bedrohte, zum Gehorsam zwang.

Ich selbst war machtlos. Ich erbrach mich abermals – wurde halb ohnmächtig, merkte nur noch, daß man mir die Hände auf dem Rücken zusammenband.

Und als ich wieder leidlich Herr meiner Sinne geworden, als die Schmerzen im Leibe nachließen, lauerte ringsum tiefste Finsternis und ein einziges unregelmäßiges Geräusch drang an mein Ohr – ein Kratzen und Scharren, bis auch das verstummte.

Wieder blitzte eine Taschenlampe auf …

Ich lag noch an derselben Stelle. Und Harald drei Schritt weiter. Beide gefesselt mit den Stricken, von denen der Fremde sich befreit hatte, – so gefesselt, daß mir die Hände bereits völlig abgestorben waren.

Der Mann, der uns derart überwältigt hatte, stand vor uns, hob mich empor, schleppte mich in einen Winkel, ließ mich in die Ecke gleiten. So saß ich auf den eisigen Fliesen, mit dem Rücken an der eisigen Mauer in diesem feuchtkalten Keller. In der Ecke mir gegenüber wurde Harst untergebracht. Uns trennte die ganze Kellerbreite.

Kein Wort sprach der Blondbärtige, schaltete nun die Lampe aus und schien sich gleichfalls niederzusetzen. Dann flammte ein Feuerzeug auf. Der Mensch rauchte – rauchte Harsts Mirakulum.

Eine Stunde verging. Wenigstens schätze ich die verflossene Zeit auf eine Stunde. Dann wieder der Lichtkegel der Taschenlampe. Wieder jetzt die heisere Stimme zu Harst:

„Ich werde Ihnen die Hände frei machen. Versuchen Sie die Türen zu öffnen.“

„Nein!“ erklärte Harald. „Das wäre zwecklos. Die Türen sind aus Eisen und haben Riegel.“

„Scheint so!“ brummte der Mann. „Mir gelang’s nicht. Der Teufel hole diese Falle hier! Und noch mit Ihnen beiden zusammen eingesperrt!“

Er schaltete die Lampe aus. – Finsternis – Stille.

Ich fror – fror, daß mir die Zähne klapperten, fühlte mich zum Sterben elend.

Und – schlief vor Erschöpfung ein …

Erwachte über einem Knall – einem Schuß …

Hörte einen harten dröhnenden Krach, stierte geradeaus.

Da stand Herr Otto Kießlack unweit der einen Tür, in der Linken eine große Karbidlaterne, die in seiner Hand hin und her schwang, – so zitterte Herr Otto Kießlack!!

Bis Harald aus seiner Ecke sagte:

„Herr Kießlack, vor uns beiden brauchen Sie keine Angst zu haben, und der Schuß des entflohenen Blondbärtigen war ja nur ein Schreckschuß. Wir sind Exzellenz von Schrock und Geheimrat Hoorst, – das heißt, eigentlich sind wir es nicht. Nun nehmen Sie uns erst mal die Stricke ab, Herr Kießlack. Sie sind hier so sicher wie in Abrahams Schoß. Der Kerl kommt nicht zurück, wird sich hüten!, und wir tun Ihnen nichts.“

Herr Otto Kießlack ermannte sich. Es fiel ihm schwer. Er schaute rechts, schaute links, schaute und beleuchtete uns abwechselnd …

„Herr Jott, wer sind Sie denn, meine Herren?“ meinte er zaghaft. „Auf dem Zettel stand nur, daß ich hier drei Leute finden würde …“

„Wir sind jedenfalls zwei davon, Herr Kießlack. Der dritte entschlüpfte, als Sie eintraten, und hat uns drei hier nun wieder eingesperrt.“

Kießlack schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken auf diese Weise wieder in Ordnung bringen.

„Ich … ich begreife davon nichts – nichts,“ sagte er hilflos. „Wer sind Sie?! Also nicht Exzellenz und Geheimrat …! Sondern …“

„Zwei andere bescheidene Größen, Herr Kießlack. Nun aber bitte – binden Sie mir die Knoten auf. Ich möchte Ihnen etwas zeigen …“

„Ich will doch lieber warten … Mein Diener soll mir folgen, falls ich …“

Da wurde Harald ungemütlich, rief sehr energisch:

„Harald Harst bin ich! Den Namen kennen Sie wohl, Herr Kießlack! Bitte – runter mit den Stricken!“

Kießlack fuhr zurück.

„Harst … Herr Harst …! Oh – das – das …“

„… ist Pech!! Für Sie!!“

Von der rechten Tür her ein Geräusch – das Scharren verrosteter zurückgleitender Riegel. Und dann ein neuer Lichtschein. Ein Diener trat ein.

Gleich darauf kneteten wir unsere geschwollenen Gelenke. Der Diener war wieder nach oben gelaufen, kam mit einer Flasche Kognak zurück. Wir lebten auf …

Kießlack war jetzt ganz und gar ölige Liebenswürdigkeit.

„Sie können verschwinden,“ sagte Harald dann zu dem Diener. „Ich rate Ihnen aber nochmals: schweigen Sie!! Diese Dinge hier sind nicht für die Öffentlichkeit.“

So waren wir denn mit Otto Kießlack im Keller wieder allein. Harald nahm ihm die Laterne ab und ging in die linke Ecke neben der einen Tür, kniete nieder und … hob zwei der Fliesen heraus.

„Hier hat der Kerl ein Versteck ausgebuddelt,“ erklärte er. „Bitte – hier ist auch schon ein Paket. Öffnen Sie es mal.“

Das Paket enthielt Uhren, Ringe, Broschen, zwei Perlenketten, vier Brieftaschen.

„Die Piratenbeute der ersten drei Überfälle,“ meinte Harald gleichmütig.

Kießlack schlackerte nur mit dem Kopf. „Ich … ich begreife nichts … nichts von alledem!“

„Wir können uns darüber oben unterhalten, Herr Kießlack. Bitte – führen Sie uns.“

So lernten wir das ehemalige v. Winterfeldtsche Palais auch von innen kennen.

In Kießlacks Herrenzimmer, einem über Erwarten stilvoll ausgestatteten Raume, ruhten wir uns erst einmal in tiefen weichen Klubsesseln ein wenig aus. Kießlack war in die Küche geeilt, damit uns recht bald ein Frühstück serviert würde.

Es war jetzt acht Uhr morgens.

Der Diener erschien mit einem Riesenteebrett, deckte den Tisch. Dann kam der Hausherr, höchst eigenhändig eine Kaffeekanne tragend. Der Diener grinste verstohlen über diesen Eifer seines „Gnädigen“ und zog sich zurück.

Kießlack füllte die Kaffeetassen und nötigte uns zum Zulangen.

„Wo ist der Zettel, den Sie vorhin erwähnten?“ fragte Harst, ohne den reichgedeckten Tisch zu beachten. „Wo und wann fanden Sie ihn? – Ich wiederhole nochmals: Ihre Gastfreiheit in dieser Weise in Anspruch zu nehmen, verbietet uns die ganze Sachlage. Wenn Sie sich das Frühstück bezahlen lassen, greife ich zu. Sonst nicht.“

Kießlack saß wie ein Häufchen Unglück da. „Meinetwegen – bezahlen Sie!“ nickte er schüchtern. „Hier ist der Zettel. Er steckte in einem Umschlag, der an mich adressiert war. Auf dem Umschlag stand noch: Sehr dringend! Sofort lesen! – Deshalb weckte mich der Diener auch.“ Er reichte Harald den Zettel, der mit Tintenstift geschrieben war:

Befreien Sie sofort die im mittelsten Keller zwischen Palais und Parkhäuschen eingeriegelten drei Leute.

„Die Handschrift ist verstellt, Herr Kießlack,“ erklärte Harald. „Eine Dame hat das geschrieben. Wissen Sie, wer?“

„Keine Ahnung …“

„Fräulein Ella von Schnetters …“

„Die?! Unmöglich!“

„Wie lange ist sie in Ihrem Hause?“

„Seit anderthalb Monaten, Herr Harst.“

„Hat sie am 2. des Monats mit Bieseckes oder Dobberlings eine Ausfahrt nach Werder mitgemacht?“

„Ja – mit Dobberlings.“

„Aha. Und am 3. ebenfalls?“

„Mit Perschkes, auch intime Bekannte von uns.“

„Dann sind die vier Opfer der Piraten ja beisammen: Dobberlings, Bieseckes, Perschkes und Kießlacks!“

„Wie – was?! Die … die drei Bekannten sind auch … ausgeplündert worden?! – Herr Gott – die Beute aus dem Kellerversteck gehört wohl …“

„… den dreien – ja!“

Kießlack schnappte nach Luft und trocknete sich die Stirn.

„Die Sache ist nämlich so, Herr Kießlack,“ erklärte Harald. „Fräulein von Schnetters hat, bevor die Piraten jedesmal angriffen, durch die Magnesiumpatrone, durch das Blitzlicht, den Freibeutern ein Signal gegeben, daß die Gelegenheit günstig sei.“

„Himmel – das kann stimmen! Sie hat ja auch Dobberlings und Perschkes photographiert!“

„Ja, und Bieseckes Jacht folgte der Dobberlings und wurde kurz hinterher angehalten, auch am 2ten spät abends. Dann sind Dobberlings und Bieseckes schleunigst nach Helgoland gereist, wahrscheinlich auch Perschkes. Die Piraten werden das verlangt haben. Und damit komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der mit am wichtigsten ist. Ihre drei Leidensgefährten vom 2ten und 3ten haben genau wie Sie und Wurm den kläglichen Versuch gemacht, die Piratenstreiche als schlechten Scherz oder dergleichen hinzustellen. Mithin haben die Freibeuter ein Mittel gehabt, Sie alle in gleicher Weise zum Schweigen zu zwingen. Dieses Mittel war fraglos eine Drohung, irgend etwas zur Anzeige zu bringen, das Ihnen allen äußerst unangenehme Folgen eintragen würde.“

Kießlack hatte sich unter Haralds harten Augen jäh verfärbt.

„Ich sah ja, daß der „Einsammler“ mit Ihnen flüsterte, Herr Kießlack. Womit drohte er? Bitte, sagen Sie die Wahrheit. Ich decke ja doch alles auf.“

Otto Kießlack kämpfte mit sich. Man merkte es seinem Gesicht an. Immer wieder blickte er scheu zu Harst hinüber. Und dann holte er tief Atem, beichtete zögernd …

„Wir fünf hatten im Kriege ein G. m. b. H. gegründet, Lebensmittelimport. Nach dem Kriege stellten wir Konserven her, die … die nicht ganz einwandfrei waren. Es wurde Anzeige gegen uns erstattet. Wir bestachen aber einen Beamten des Polizeipräsidiums …“

„… Regierungsassessor Baron von Irnhartstetten …“

„Ja … Und die Sache wurde unterdrückt, die Akten verschwanden. Gestern nun flüsterte mir der … der Pirat auf der Irmgard zu, daß er die Akten besäße und uns wegen Lebensmittelverfälschung ins Gefängnis bringen würde, wenn wir den Überfall nicht verschwiegen und noch heute auf vier Wochen Berlin verließen …“

„Genau wie die anderen drei …,“ warf Harst ein.

„Mehr weiß ich nicht, Herr Harst. Wirklich nicht.“

„Ich glaube Ihnen.“ Und er trank den ersten Schluck Kaffee und griff nach einem Brötchen, fügte hinzu: „Fräulein von Schnetters dürfte Ihr Haus verlassen haben, Herr Kießlack. Gehen Sie doch einmal nachsehen, ob sie noch da ist.“ Kießlack eilte hinaus.

 

5. Kapitel.

Ein alter Bekannter.

Ich muß offen gestehen, daß mir sehr – sehr vieles noch unklar war, was diese Piratenstreiche betraf.

Harald nickte mir zu und lächelte. „Die Schnetters hat natürlich durch das Kajütfenster der Irmgard dem auf der Piratenjacht verbliebenen Freibeuter zugeflüstert, daß man uns beide ungeschoren lassen sollte. Daher der Esperanto-Anruf.“ Er trank den zweiten Schluck und ich begann nun ebenfalls zuzulangen.

„Kießlack wird im Zimmer der Schnetters fraglos die Beute von gestern finden – ganz offen daliegend,“ meinte Harald kauend. „Das ganze Problem ist nun bis auf Kleinigkeiten geklärt. Wenn …“

Da kam Otto Kießlack hereingestürmt – einen Pappkarton in der Hand …

„Hier – hier, – alles das, was uns gestern abgenommen worden ist! Nur Wurms Brieftasche fehlt!“ rief er atemlos. „Die Schnetters ist weg. Ihre Koffer auch! Der Karton stand offen auf dem Tisch in ihrem Zimmer!“

„Dann setzten Sie sich nur wieder, Herr Kießlack. – Noch eine Frage. Als Sie fünf von der G. m. b. H. damals den Baron bestachen, ließen Sie sich wohl eine Quittung über die Summe geben?“

„Ja. Wir wollten nicht nochmals geschröpft werden. Der Baron hätte alles ableugnen können …“

„Und die Quittung, die den Baron bloßstellte, hatte wohl Ihr jetziger Kompagnon Wurm in Verwahrung?“

„Das stimmt.“ Kießlacks Augen wurden groß. „Himmel – die Quittung trug er ja in seiner Brieftasche bei sich! Sollte etwa …“

„Ja – sollten etwa die Piraten es nur auf diese Quittung abgesehen haben!“ lächelte Harald fein. „Es scheint so! Denn alle Wertsachen haben sie ja abliefern wollen, genau so, wie die Schnetters Ihre und Wurms Wertgegenstände hiergelassen hat. Daß sie die Beute vom 2ten und 3ten nicht mehr besaßen und daher nicht mit abliefern konnten, ist Schuld des Mannes, der aus dem Keller entfloh.“

„Das … das verstehe ich nicht ganz, Herr Harst.“

„Werden Sie schon! – Stellen Sie sich mal vor, daß die Piraten am 2ten von einer anderen Jacht beobachtet wurden und daß ein Mann dieser Jacht so geschickt war, einem der Piraten bis hier ins Palais zu folgen, daß er weiter dann sah, wie der Pirat die Beute Fräulein von Schnetters aushändigte, – schließlich, daß er es am 3ten nach dem Überfall auf Perschkes ebenso machte und feststellte, wo auch diese Beute blieb. Heute hat er dann – und das sahen wir – die Mauer überklettert und hat diese Beutestücke vom 2ten und 3ten gestohlen. Als er wieder über die Mauer flüchten wollte, schlug einer der Piraten, der Fräulein von Schnetters die Beute von gestern brachte, den Mann nieder, ohne zu ahnen, daß dieser all das in seinen Taschen bei sich trug, was hier irgendwo versteckt worden sei. Er mag den Mann für einen Spion gehalten haben. Nachher hat derselbe Pirat, der auf uns aufmerksam geworden war, in der Maske eines Wächters uns in denselben Keller eingesperrt, wo schon der Dieb untergebracht war. Und dieser Dieb wollte dann die Sachen nicht bei sich behalten und vergrub sie unter den Fliesen. – Verstehen Sie nun, Herr Kießlack.“

„Gewiß, gewiß … Es handelte sich also nur um die Quittung über das Bestechungsgeld von damals, Herr Harst. Da die Piraten die Quittung nicht bei den anderen gefunden hatten, überfielen sie auch meine Jacht. Mithin muß der Baron der Anstifter dieser Streiche sein.“

„Vielleicht! – Jedenfalls werden diese Leute irgendwie erfahren haben, daß einer der G. m. b. H.-Mitglieder die Quittung stets bei sich hatte. Um nun nicht diese Quittung ohne weiteres stehlen zu müssen, um vielmehr ihre wahren Absichten zu verhüllen, inszenierten sie die Überfälle, wobei die Schnetters, die natürlich als Spionin zu Ihnen in der Rolle einer Gesellschafterin kam, wacker mitgeholfen hat.“

„Unglaublich!!“ meinte Kießlack. „Und dabei war die Schnetters wirklich eine sehr feine Dame. Sie hatte glänzende Zeugnisse.“

„Die gefälscht gewesen sein dürften …“

„Hm – eins davon habe ich noch da, Herr Harst.“

Er eilte zu seinem Schreibtisch.

Das Zeugnis war in deutscher Sprache in Neuyork einer Miß Gwendolyn Kraker ausgestellt, deren Unterschrift von einem Notar beglaubigt war.

Es war ein erstklassiges Zeugnis – in der Tat, und die Echtheit konnte man kaum bezweifeln.

Harst steckte es zu sich. „Für Sie hat es ja doch keinen Wert mehr, Herr Kießlack,“ meinte er.

Dann verabschiedeten wir uns.

Kießlack begleitete uns bis zur Gartenpforte. Hier fragte Harald ihn nochmals etwas, – etwas, woran ich auch nicht im entferntesten gedacht hatte.

„Sagen Sie, Herr Kießlack, besaß die Schnetters einen Wolfshund?“

„Ja, Nero hieß er. Der ist auch weg.“

„So. Nun weiß ich alles. – Glückliche Reise …!“

„Danke. Nachmittags fahren wir nach Helgoland. Wurms auch. Erst wollten wir nach Norderney, aber nun …“

„… haben Sie Sehnsucht nach der G. m. b. H., nach Ihren Freunden, denen Sie doch auch die Wertsachen zurückgeben müssen.“

Kießlack streckte Harald die Hand zum Abschied hin. Doch der hatte schon in die Tasche gefaßt und reichte Kießlack einen Tausendmarkschein.

„Bitte – für das Frühstück – und Trinkgeld!“

Dann gingen wir davon.

Kießlacks Gesicht war zum Malen gewesen … – –

Wir fuhren nach Hause. In der Straßenbahn sagte Harald plötzlich: „Lieber Alter, der Mann im Keller war ein Bekannter: Fredi Orgla, der Liebhaber Jane Bracks!“

„Nicht möglich!“

„Er war’s. Die Stimme verriet ihn. Und weil er’s war, wird dieses Piratenabenteuer noch ein Nachspiel haben, denn erstens vergesse ich Orgla den Stoß vor die Brust nicht, zweitens muß er überhaupt unschädlich gemacht werden, und drittens – na drittens – – warte nur ab.“

Und nach einer Weile: „Du mußt berücksichtigen, daß der Eilbrief aus Saßnitz fraglos von Jane Brack kam. Du weißt auch, daß Fredi Orgla ein sehr unsympathischer Mensch ist, auch als Verbrecher, daß er Jane Brack betrogen und sie wieder nur in seine Netze gelockt hat. Ich wette, Jane ahnt nichts von diesem Vorgehen Orglas gegen die sogenannten Piraten. Jane schrieb den Brief nur, damit wir nicht denken sollten, daß sie mit den Piratenstreichen etwas zu tun hätte. – Wie gesagt: warte ab! Das Nachspiel kommt ganz bestimmt! Und dann wird sich auch das noch klären, was jetzt noch dunkel[7] ist: warum der Baron so um jeden Preis seine damalige Quittung wieder in seinen Besitz bringen wollte!“ –

Harald behielt recht …

Denn daheim fanden wir bereits die Einleitung des Nachspiels vor …

 

 

Die Villa auf der Insel.

 

1. Kapitel.

Baron Irnhartstettens Geschichte.

Wie oft habe ich nicht schon bei der Niederschrift dieser unserer Abenteuer aufrichtig bedauert, infolge der für mich festgelegten Länge der einzelnen Erzählungen die Charaktere der handelnden Personen nicht so ausarbeiten zu können, wie dies auch für den Leser interessant und für die Bewertung dieser anspruchslosen Geschichten vorteilhaft gewesen wäre.

Kein Richter, kein Arzt, zumeist doch Menschenkenner von Berufs wegen, lernt eine solche Fülle merkwürdiger Charaktere kennen wie der Kriminalist oder der begabte, vertrauenswürdige Detektiv.

Einer der widerspruchsvollsten dieser außergewöhnlichen Charaktere war fraglos der Mann, den wir, gegen zehn Uhr vormittags daheim anlangend, in Haralds Arbeitszimmer vorfanden.

Schon im Flur kam uns die alte Köchin Mathilde entgegengestürzt. Ihre Freude über jeden neuen Klienten habe ich bereits letztens erwähnt. Auch heute flüsterte sie strahlend: „Ein Klijent – Klijent ist drin! Hier ist seine Karte.“

Auf der Visitenkarte stand mit Tinte geschrieben:

Boto Irnstett, Kaufmann, Neuyork.

Die Schrift war schmucklos, Balkenschrift. Da war an den Buchstaben auch nicht eine einzige überflüssige Schleife.

Harald flüsterte mir zu:

„Also der Freiherr von Irnhartstetten, einer der vier Piraten! Der Wächter auch, der uns in den Keller sperrte.“

Dann traten wir ein.

Und stutzen sofort.

Das war ein alter, etwas gebückter Herr mit grauweißem Vollbart und silberweißem, welligem Scheitel, mit einer goldenen Brille auf der leicht gewölbten Nase …

Das war der Typ eines vornehmen Kaufmanns, war in nichts jener Baron, der im Havel-Hotel in Werder monokelbewaffnet mit nachlässiger Gleichgültigkeit die mitgebrachten Brötchen verzehrt hatte, für den die ganze Umgebung Luft gewesen …

„Irnstett,“ stellte er sich vor, aus dem Sessel sich erhebend. Wir nahmen dann gleichfalls Platz.

Harald wollte die Situation offenbar sofort klären, denn er sagte in etwas kühlem Tone:

„Ihr voller Name lautet anders, nicht wahr?“

„Allerdings, Herr Harst. Ich bin im Vertrauen auf Ihre Großmut zu Ihnen gekommen. Ich bin der Mann, der Sie und Ihren Freund heute in der Verkleidung des …“

„Also Baron Irnhartstetten,“ kürzte Harald diese Erklärung ab. „Weshalb diese Maske, Herr Baron?“

„Weil – weil meine Gattin mir heute um sieben Uhr entführt worden ist.“

Auch Harald konnte eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken.

Er schwieg eine Weile, stand dann auf und brachte Zigarren, Zigaretten und das Spirituslämpchen herbei.

Irnhartstetten bediente sich zwanglos, wählte eine dunkelbraune Brasil und sagte mit der liebenswürdigen Sicherheit des Weltmannes: „Diese Zigarre beweist mir, daß Sie mir die Vorfälle der verflossenen Nacht nicht weiter nachtragen.“

„Da haben Sie recht, Herr Baron. – Ihre Gattin ist die Dame, die bei Kießlacks das Fräulein von Schnetters spielte …“

„Ja, es ist in Wahrheit Gwendolyn, geborene Kraker, Neuyork, einzige Tochter und Erbin von August[8] Kraker, Konservenfabriken.“

„Des Milliardärs, der im vorigen Jahre ertrank?“

„Ja.“

„Dann hat Miß Kraker das Zeugnis für das angebliche Fräulein Schnetters sich selbst ausgestellt …“

„Nein. Ella von Schnetters existiert. Es ist meine Stiefschwester, die tatsächlich Gesellschaftsdame bei Gwendolyn war. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen einiges aus meinem Leben erzähle. Ich werde nichts beschönigen. Ich war von Kindheit an ein sehr schwieriger Charakter. Mein Vater, gänzlich verarmter Gutsbesitzer, heiratete mit vierzig Jahren die bekannte spanische Tänzerin Astcradura. Dieser Ehe einziges Kind bin ich. Meine Mutter starb drei Jahre nach meiner Geburt. Was sich an Unausgeglichenheit in meinem Wesen einst so störend bemerkbar machte, schreibe ich dem Blute von Mutterseite zu. Lebenslust, Genußhunger, Sinn für Romantik, Abenteuerlust und eine starke Vorliebe für heißblütige Frauen, dazu noch steter Geldmangel und Sorgen, hauptsächlich aber ein ungeheurer Leichtsinn brachten mich mit 28 Jahren auf die schiefe Bahn. Mein Vater, seit Jahren völlig gelähmt, brauchte ständig eine Pflegerin. Meine Stiefschwester Ella, aus der zweiten Ehe meines Vaters, fristete selbst als Erzieherin nur kümmerlich ihr Leben. Vieles kam zusammen, um mich entgleisen zu lassen. Ich … ich nahm Bestechungsgelder an und wurde disziplinarisch aus dem Dienst entfernt – für immer, ging nach Amerika, da mein Vater zur gleichen Zeit verstorben war, lernte durch Ella 1920 Gwendolyn Kraker kennen und wurde ihr … Chauffeur.“

Nach ein paar Zügen fuhr er fort, den Zigarrenrauch lässig mit der Hand wegwehend:

„Ich hatte Gwendolyn Kraker meine Verfehlungen ehrlich eingestanden. Sie stellte mich trotzdem als Chauffeur ein, und ich war froh, einen so angenehmen Posten gefunden zu haben.“

„Und dann verliebte sich Miß Kraker in Sie, Baron, und …“

„So glatt ging das doch nicht, Herr Harst. Im Gegenteil, Sie werden bei meiner Liebesgeschichte als Detektiv reichlich auf Ihre Rechnung kommen. – Sie haben hier in Berlin vor ein paar Tagen den Tod jenes berüchtigten Verbrechers „Gentleman-Robb“ miterlebt, der lange Zeit der Schrecken Neuyorks war. (Vergl. Bd. 99 „Anita Armands Verhängnis“.) Sie wissen, daß zu Gentleman-Robbs Bande auch eine gewisse Jane Brack und ein Alfred Orgla gehörten, die jetzt hier von der Polizei gesucht werden. – Geben Sie kein Zeichen von Ungeduld, Herr Harst. Sie werden sofort sehen, daß ich all dies erwähnen mußte. – Mr. August Kraker bewohnte mit Gwendolyn ein palastartiges Haus am Zentralpark in Neuyork. 1921 im Oktober wurde in diesem Hause ein Einbruch verübt. Der Verdacht lenkte sich auf mich. Ich wurde verhaftet. Einen Ring, der mit gestohlen war, fand man im Versteck meines Koffers. Zu stolz, meine Unschuld zu beteuern, hüllte ich mich in Schweigen, zumal ich Gwendolyn damals schon liebte und es nicht verwinden konnte, daß sie es gewesen, die den Detektivinspektor Graham auf meine zweifelhafte Vergangenheit aufmerksam gemacht hatte. Meine Stiefschwester Ella, die den Namen ihrer Mutter, von Schnetters, führte, sagte sich von mir los, da sie mein beharrliches Schweigen als Schuldbekenntnis auffaßte. Ich wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, kam nach Sing-Sing und lernte dort als Sträfling Säcke nähen. Inzwischen hatte Gwendolyn einen anderen Chauffeur eingestellt – nämlich jenen Orgla, der sich einen anderen Namen zugelegt hatte. Am 27. Dezember 1921 gelang es mir aus Sing-Sing zu entfliehen. Mein Freund Berstel, ein Entgleister wie ich und Angestellter einer Neuyorker Detektei, nahm mich bei sich auf. Gemeinsam suchten wir nun den Diebstahl aufzuklären, den man mir zuschrieb. Berstel hatte Erfolg. Aber gerade als Orglas Verhaftung erfolgen sollte, hatte er sich bereits aus dem Staube gemacht, und ebensowenig konnte Gentleman-Robb, der wahre Schuldige, gefaßt werden. Immerhin wurde meine Schuldlosigkeit bewiesen. Gwendolyn bereute tief, mich fälschlich der Polizei angegeben zu haben, und acht Wochen drauf waren wir heimlich verlobt und heirateten dann im Mai in aller Stille, kamen nach Deutschland und suchten hier eine mich schwer belastende Quittung, die …“

„Das wissen wir, Baron …“

„Ah – wohl durch Kießlack. Wissen Sie aber auch, daß Gwendolyn es dann war, die als Ella von Schnetters schließlich den Plan entwarf …“

„Auch das wissen wir. Die Piratenstreiche galten der Quittung.“

„So, dann kann ich mich kürzer fassen, Herr Harst. Sie haben also über diese Freibeuterfahrten sich das Richtige zusammengereimt …“

„Eine Frage: wer waren die drei anderen Piraten?“

„Ich komme schon darauf zu sprechen. Sie können sich denken, daß Gwendolyn diese Quittung auf keinen Fall in den Händen dieser fünf fragwürdigen Ehrenmänner belassen wollte. Sie trug jetzt meinen Namen, und sie hatte zuerst die Absicht, die Quittung diesen Schiebern abzukaufen. Wir reisten zusammen mit Ella, Hugo von Berstel und dessen Frau hierher. Berstel versuchte, die Quittung zu stehlen. Wir konnten jedoch nicht herausbringen, wer sie in Verwahrung hatte. Da tat Gwendolyn, die sehr energischer Natur ist, ein Übriges und ließ sich von Kießlacks als Gesellschafterin engagieren. Und sie war’s, die feststellte, daß die Quittung noch vorhanden war und daß einer der fünf sie stets bei sich trüge.“

„Das bestätigt nur meine Vermutungen, Baron.“

„Wir hatten die Beute der Überfälle im Kießlackschen Garten versteckt …“

„Und dort stahl sie Orgla …“

Jetzt war’s an Irnhartstetten, erstaunt hochzufahren.

„Orgla?“ meinte er zweifelnd.

„Ja – Alfred oder Fredi Orgla war der Mann, den Sie niederschlugen und mit Hilfe Ihrer Gattin in den Keller trugen. Bestimmt war es Orgla, der uns beide, Schraut und mich, dann überwältigte, die Beute im Keller verscharrte, wo wir sie fanden, und entfloh …“

„So sind die Wertsachen wieder in …“

„… in Kießlacks Besitz – sämtlich, bis auf Wurms Brieftasche.“

„Und die hat jetzt der Entführer meiner Frau samt der verhängnisvollen Quittung im Besitz, Herr Harst …“

„Berichten Sie genau, wie Ihre Gattin entführt wurde, Baron.“

„Sofort. – Gwendolyn und ich verließen mit Nero an der Leine gegen halb fünf morgens den Garten des Palais durch eine Seitenpforte. Um unsere Verfolgung zu erschweren, trennten wir uns dann. Gwendolyn fuhr mit einem Auto nach dem Vorort Kohlhasenbrück, wo wir eine kleine Villa gemietet hatten. Ich bestieg mit Nero und den Koffern ein anderes Auto, begab mich erst nach dem Anhalter Bahnhof, löste hier zum Schein eine Fahrkarte nach Dresden und fuhr dann erst, wieder auf Umwegen, ebenfalls nach Kohlhasenbrück, wo ich Gwendolyn bereits vorzufinden hoffte. Aber – sie war nicht da! Sie kam auch nicht. Wir haben bis acht Uhr mit steigender Unruhe gewartet, wir, nämlich das Ehepaar Berstel, Ella und ich. Zehn Minuten nach acht schrillte das Telephon. Ich meldete mich. Eine Männerstimme, heiser und schwer verständlich, sagte kurz: „Ihre Frau ist in meiner Gewalt. Sie werden bald von mir mehr hören. Sollten Sie sich an die Polizei oder an Harald Harst wenden, werde ich Sie als Piraten zur Anzeige bringen.“ – Dann hängte der Mensch ab, bevor ich noch etwas erwidern konnte. Meine ungeheure Bestürzung können Sie sich leicht vorstellen, Herr Harst. Zum Glück war Freund Berstel, ein intelligenter Kopf, besser mit solchen Dingen bewandert als ich. Wir vier bestiegen, nachdem wir die beiden Dienstboten abgelohnt hatten, mit unseren Koffern und Nero die Motorjacht, die Gwendolyn gekauft hatte, und fuhren den Kanal entlang in die Havelseen, dann weiter bis Berlin. Daß uns jemand gefolgt war, hielten wir für ausgeschlossen. Trotzdem hatte ich mir unterwegs bereits diese Maske zurechtgemacht, in der ich mich ganz sicher fühlte. So kam ich zu Ihnen, um Sie zu bitten, mir zu helfen. Sie werden sich selbst sagen, was für mich und Gwendolyn sowie für Berstels und Ella auf dem Spiele steht. Die Leute, die meine Frau entführt haben, können die ungeheuerlichsten Erpressungen an uns verüben. Wir sind ja auch bereit, Gwendolyn und die Quittung mit Millionen auszulösen, aber die Beschaffung des Geldes wird auf große Schwierigkeiten stoßen, da Gwendolyns Vater ein sehr verklausuliertes Testament hinterlassen hat, das meiner Frau die freie Verfügung über das Riesenvermögen erst vom 26. Lebensjahre an gestattet, während die Erpresser doch ohne Zweifel Unsummen fordern werden.“

 

2. Kapitel.

Gwendolyns Brief.

Der Baron schwieg und blickte Harald erwartungsvoll an. Harst rauchte nachdenklich und formte Rauchringe.

„Weshalb verließen Sie die Villa,“ fragte er dann.

„Berstel meinte, wir müßten uns für alle Fälle in Sicherheit bringen.“

„Hm – und wie sollen die Entführer Ihrer Gattin sich mit Ihnen in Verbindung setzen?“

„Die beiden Hausmädchen sollen noch bis zum 15. in der Villa bleiben und auf telephonischen Anruf erklären, daß man mir postlagernd unter B. v. I. 100, Postamt Potsdamer Platz, Nachricht geben solle.“

„Nicht schlecht!“ nickte Harald. „Herr von Berstel ist auf der Höhe. Trotzdem schlage ich etwas anderes vor. Schraut und ich werden uns in der Villa nach Kohlhasenbrück hinausbegeben und dort den Baron von Irnhartstetten und Berstel spielen. Trugen Sie beide dort Verkleidung?“

„Ja. Blonde Spitzbärte.“

„Könnten Sie uns derart zurechtstutzen, daß wir leidlich Ihnen und Berstel glichen?“

„Hm – das ginge wohl.“

„Dann wollen wir sofort beginnen. Sie selbst kehren mit aller Vorsicht nachher zu Ihrer Jacht zurück und mieten sich in Neu-Babelsberg ein. Dann warten Sie ab, was geschieht. Ich bin überzeugt, daß Ihre Gattin durch Fredi Orglas Verbündete entführt worden ist. Orgla weiß, wer Sie sind und was er bei dem Geschäft verdienen kann!“

Der Baron nickte bedrückt. „Sie mögen recht haben, Herr Harst.“

Während wir dann im Ankleidezimmer Toilette machten, wobei der Baron bewies, daß er von unserem Kollegen Berstel schon eine Menge Theaterkniffe fürs Schminken und sonstige Veränderungsmittel gelernt hatte, fragte Harald ihn noch nach allerlei Kleinigkeiten aus, die, wie sich später zeigte, sehr bedeutungsvoll waren.

Um zwölf Uhr verließ zunächst der Baron unser Heim durch die Vorgartentür, dann wir durch den Gemüsegarten. Spione waren nicht vorhanden. So fuhren wir denn mit der Bahn bis Wannsee und gingen von da durch den Wald nach Kohlhasenbrück.

Irnhartstetten hatte uns für die Köchin und das Stubenmädchen einen Brief mitgegeben, der uns den beiden gegenüber legitimieren sollte.

Die kleine Villa lag hart am Kanal nach Süden zu in einem sanft aufsteigenden großen Garten.

Um halb zwei Uhr nachmittags betraten wir durch die nur eingeklinkte Gartenpforte das Grundstück und läuteten dann an der Haustür. Die Köchin, eine ältere Person, öffnete erst, nachdem wir ihr den Brief hineingereicht hatten. Sie erklärte dann, das Stubenmädchen sei zum Einholen nach Neu-Babelsberg gegangen. Sie würde uns sofort ein Mittag herrichten. Die rundliche Person gefiel uns. Sie redete nicht zuviel, war auch nicht zu bescheiden und dienstfertig, eher ein wenig brummig. Auf Harsts Frage, ob jemand seit morgens telephonisch angerufen habe, erwiderte sie, daß lediglich ein Eilbrief für Herrn Irnstett von einem Postboten abgegeben worden sei. Der Brief liege auf dem Schreibtisch. Harst nahm sich die Freiheit, diesen Eilbrief zu öffnen. Er lautete:

Boto! Nachdem man mich über Deinen wahren Charakter aufgeklärt hat, ist es mir unmöglich, mit Dir weiter zusammenzuleben. Ich bitte Dich daher, später einer Scheidung unserer Ehe keine Schwierigkeiten zu bereiten. Zunächst werde ich eine längere Reise antreten. Willst Du Dich in meinen Augen nicht noch mehr herabsetzen, so unterlaß alle Versuche, mir zu folgen. Ich werde Dir im übrigen eine Summe anweisen, die Deine Zukunft sicherstellt, womit gerade Dir sehr gedient sein dürfte. Die Leute, die mich bewogen haben, Dich endgültig aufzugeben, sind alles in allem, dies möchte ich betonen und es ist die Wahrheit, besser als Du vielleicht denkst. Sie haben keinerlei Zwang auf mich ausgeübt. – Gwendolyn.

Ich reise sofort ab und zwar über Wien nach Italien.

Für mich kam dieser Brief wie der Blitz aus heiterem Himmel. Auch Harst war im ersten Moment sichtlich sehr unangenehm überrascht.

„Irnhartstetten hat also weit mehr auf dem Kerbholz als wir ahnen,“ meinte ich leise.

Harald schwieg, überflog den Brief noch einmal und steckte ihn zu sich.

„Die Sache muß ich mir erst durch den Kopf gehen lassen,“ sagte er ebenso leise.

Dann trat das Stubenmädchen ein, – rothaarig, sommersprossig, mit kecken Augen …

„Ich bin die Minna,“ erklärte sie. „Soll ich auf der Veranda decken?“

„Ja,“ nickte Harald.

„Und – und der Brief an Herrn Irnstett? Wie soll der nun dem Herrn zugestellt werden?“

„Das besorgen wir schon, Minna …“

Sie verschwand, Harald schaute ihr nach …

„Hm – wie gefällt sie Dir?“

„Die Köchin gefällt mir besser.“

„Ja, Minna ist auch erst drei Tage hier in Stellung. Da hat Irnhartstetten wohl genommen, was sich ihm bot. Das erste Stubenmädchen ist ausgerückt, sagte er. Na – die heutigen Dienstboten!! Ein Kapitel für sich!“

Hundemüde saß ich im Sessel. Nach der Nacht weiter kein Wunder. Harald ging auf und ab, den Kopf tief gesenkt, – grübelnd, schweigsam.

Und – ich schlief im Sessel ein. Bis er mich weckte.

„Du – das Essen ist fertig,“ meinte er, nachdem er mich kräftig gerüttelt hatte.

Wir gingen in die Veranda, hatten den Kanal mit seinen gemauerten Böschungen dicht vor uns, hatten einen gedeckten Tisch und eine Flasche Rotwein zur Verfügung.

Minna trug die Suppe auf, füllte uns die Rotweingläser. Dann schickte Harst sie nach Pfeffer in die Küche. „Ich esse legierte Suppe stets stark gepfeffert,“ sagte er so nebenbei. Als Minnas Schritte verklungen waren, nahm er rasch die beiden vollen Gläser und – goß sie zum Fenster hinaus auf den Rasen aus.

Das Mädchen kam zurück.

Harst schenkte mir das Glas wieder voll und meinte: „Du, der Wein ist trinkbar.“ Und zu der roten Minna: „Holen Sie noch zwei Gläser, bitte …“

Und wieder ging sie hinaus – etwas zögernd diesmal, wie mir’s schien.

Da flüsterte Harald auch schon: „Gib acht, sie wird nicht trinken!“

Und – sie trank wirklich nicht! – Harst hatte die beiden Gläser gefüllt und gesagt: „So, Minna, das ist für Sie und die Köchin. Bringen Sie der Köchin das Glas hinaus. Mit uns stoßen Sie aber mal auf Herrn Irnstetts Wohl an.“

Und da hatte Minna gemeint, sie habe noch nie Wein probiert – noch nie … Sie … ekle sich vor Alkohol …

„Hole die Köchin,“ befahl Harald mir.

Die Köchin grinste. „Wie, die Minna ziert sich?! Aber Minna? Sie sind doch sonst nicht so! Gestern noch haben Sie den Rest aus der einen Flasche …!“

„Es ist gut, gehen Sie,“ unterbrach Harst die ehrliche Dicke. „Minna wird trinken!“

Doch – wir hatten die rote Minna unterschätzt.

Ehe wir’s uns versahen, war sie zum Fenster hinausgesprungen, lief zum Kanal, kettete dort ein Boot los, trieb es ans andere Ufer, lief in den Wald …

Harald war hinter ihr dreingelaufen, kam jedoch zu spät. – Dann nahm er die Köchin ins Verhör, deren Harmlosigkeit sich bald herausstellte.

„Der Wein muß weggegossen werden,“ sagte Harst nun. „Ich werde nur etwas davon in ein Fläschchen füllen.“

Nachher gingen wir in die Stube Minnas und fanden hier auf dem Tisch einen zerknitterten Streifen Papier, der in einem Roman lag. Der schmale Zettel zeigte folgendes: Links einen Pfeil, dessen Spitze auf einen Vogel zeigte, der offenbar ein Adler sein sollte. Hinter dem Adler kam ein kleines deutsches s, dann eine Menge Bäume und Büsche, dahinter ein „er“ und dann eine längliche Kugel. – Das war alles. Die Zeichnungen waren mit Bleistift flüchtig hingeworfen. –

Minnas Zugehörigkeit zu den Entführern Frau Gwendolyns stand ja bereits durch den vergifteten Wein fest. (Dieser Wein war, wie sich später ergab, mit einem sehr starken Betäubungsmittel vermischt.) Die Flucht der Rothaarigen hatte ihr schlechtes Gewissen dann noch deutlicher bewiesen, und dieser merkwürdige Zettel verstärkte diese Beweise noch.

Harald schob ihn in die Tasche. Dann brach er den Koffer Minnas auf. Und hier fanden wir: eine Männerperücke, eine blonde Frauenperücke, Schminken, Puder, zwei falsche Bärte, einen Männeranzug, eine blaue Mütze und eine Mauserpistole nebst vierzig Patronen.

„Eine nette Perle,“ meinte Harst ironisch. „Wenn sie nicht so eigentümliche Augen gemacht hätte, als sie fragte, wie Herrn Irnstett nun der Eilbrief zugestellt werden sollte, wäre ich vielleicht gar nicht argwöhnisch geworden, obwohl es mir doch schon aufgefallen war, daß das erste Stubenmädchen vor vier Tagen ausgerückt sein sollte. Daß sie dann die Gläser uns füllte, war ein Fehler von ihr. Ein gut gedrilltes Zöfchen tut so was nicht.“

„Weshalb wollte sie uns denn durch den Wein matt setzen?“

„Vielleicht, um den Brief mir abzunehmen – oder um uns auszuschalten. Jedenfalls – eine gefährliche kleine Bestie, diese Minna.“

„Und – was nun?“

„Wir werden warten, bis der Baron uns anruft. Dann beordern wir ihn samt Begleitung wieder hierher.“

Dieser Anruf erfolgte sehr bald, und kurz nach halb fünf trafen Berstels, Fräulein von Schnetters und Irnhartstetten und Nero denn auch in der Villa ein.

So lernten wir auch das Ehepaar Berstel und des Barons Stiefschwester kennen.

Der Brief Gwendolyns übte auf Irnhartstetten eine geradezu niederschmetternde Wirkung aus.

Mit fahlem Gesicht stierte der Baron auf diese eisigen Zeilen, die ihn für alle Zeit von seinem jungen Weibe trennten. Dann lachte er schrill auf. „Das ist also ihre große Liebe! Nun – sie soll von mir nicht mehr belästigt werden! Wenn sie so leicht glaubt, was irgend ein Schuft ihr …“

„Halt – noch eine Bemerkung,“ sagte Harald da. „Halten Sie den Brief bitte einmal gegen das Licht, Baron.“

Irnhartstetten tat es …

„Da – da sind vier Löcher im Papier, Herr Harst …“

„Ja – winzige Löchlein – gerade unter vier Wörtern, und zwar unter den Wörtern.

alles – dies – ist – Zwang.

Begreifen Sie, Baron? Man hat ihre Gattin gezwungen, diesen Brief zu schreiben, und somit handelt es sich hier um mehr als um eine Erpressung!“

Dann entwickelte er dem Baron einen Plan, wie man Gwendolyns Entführer täuschen könnte. Es sollte der Anschein erweckt werden, als ob Irnhartstetten sich um Gwendolyn nicht mehr kümmerte und als ob wir beide in der Sache gleichfalls nichts mehr unternehmen wollten.

Wir legten daher Bärte und Perücken ab und fuhren um sieben Uhr zurück nach Blücherstraße 10 in Schmargendorf – nach Hause.

 

3. Kapitel.

Der schmale Zettel.

Gegen ein Viertel neun waren wir daheim. Harald rief sofort unseren Freund Kriminalkommissar Bechert an.

„Bechert, Sie müssen mir einen Gefallen tun … Schicken Sie doch ein paar Beamte sogleich nach der Blücherstraße und lassen Sie feststellen, ob unser Haus hier beobachtet wird. – Danke. – Ja, neue Sache – Milliardenobjekt, mein Lieber! – Geben Sie mir dann telephonisch Bescheid, ob Verdächtiges bemerkt worden ist. Wiedersehen.“

Die dicke gemütliche Mathilde bat uns dann zum Abendbrot. Harsts Mutter ließ sich bei Tisch unsere Erlebnisse erzählen. Vor ihr hatten wir keine Geheimnisse. Wir unterschlugen ihr nur stets die gefährlichen Stadien unserer Abenteuer. Weshalb sollten wir sie unnötig ängstigen?! Sie sorgte sich ohnedies genug um ihren Einzigen.

So bekam sie denn auch den schmalen Zettel zu sehen, – den Pfeil, den Adler und die Bäume und Büsche.

„Was hältst Du davon, Harald,“ fragte sie, den weißen Kopf mit dem Spitzenhäubchen hin und her wiegend.

„Es ist ohne Zweifel eine geheime Botschaft für die rothaarige Minna, liebe Mutter, – meines Erachtens eine Nachricht für sie, wohin sie sich wenden soll, sobald ihre Spionentätigkeit in der Villa in Kohlhasenbrück beendet ist, und zwar eine sehr vorsichtige Nachricht, eben als Rebus geschrieben. Der Pfeil deutet an, daß sie sich dorthin begeben soll, wo der Adler, das s, die Bäume und das „er“ zu suchen sind. Ich habe mir bereits gründlich über dieses Rebus den Kopf zerbrochen, besonders über den verunglückten Kreis am Schluß, der wie ein Ei aussieht. Ich bin auch schon dahinter gekommen, daß die Bäume und Büsche wahrscheinlich ein „Wald“ sind, und daß das „er“ zu Wald gehört, also vielleicht „Wälder“. Aber der Adler, das s und das Ei spotten aller geistigen Anstrengungen.“

„Hm – Wald und „er“ ergibt doch nur Walder, nicht Wälder,“ meinte Frau Harst sinnend.

„Ja – leider. Der Zettel bedrückt mich, Mutter. Hätte ich ihn entziffert, wäre auch Frau Gwendolyn frei. Ich behaupte, die Leute Orglas haben sie dorthin geschafft – nach „Adler“, s, Wald, „er“ und Ei.“

„Und was mag Orgla mit ihr vorhaben?“

„Fraglos eine stattliche Lumperei. Nimm an, Gwendolyn würde gezwungen, einen Scheck zu schreiben. Obwohl sie ja nur erst über einen Teil ihrer Einkünfte verfügen kann, würde der Scheck über Millionen lauten können – Dollarmillionen. Nimm weiter an, Orgla hält Gwendolyn längere Zeit gefangen. Dann kann er jedes Vierteljahr Dollarmillionen einheimsen.“

„Aber bei der Einlösung des Schecks würde der Betreffende doch wahrscheinlich verhaftet werden, da Gwendolyns Verschwinden sich so lange kaum verheimlichen ließe.“

„Dieser Gefahr wird Orgla schon zu begegnen wissen, liebe Mutter. Die Sache mit dem Scheck ist ja auch nur eine Annahme von mir …“

Er sprach immer langsamer, schob plötzlich den Teller zur Seite und fügte hastig hinzu: „Ich werde sofort eine Depesche aufsetzen, an den Rechtsbeistand Frau Gwendolyns in Neuyork, den Rechtsanwalt Bolton. Der Baron schilderte ihn uns als sehr gerissen und vertrauenswürdig. Bolton soll mir nötigenfalls drahtlos mitteilen, wenn sich etwas Besonderes ereignet.“

Er entwarf das Telegramm und schickte Mathilde damit zum nächsten Postamt.

Daß dies eine große Unvorsichtigkeit gewesen, zeigte sich zehn Minuten später. Mathilde kam blaurot vor Aufregung zurück und berichtete stotternd, daß ein „Kerl“ ihr am Postschalter die Depesche entrissen, ihr einen Stoß in die Seite versetzt und sich jeder Verfolgung durch die Flucht mit einem Motorrad entzogen habe.

Harald blieb ruhig, fragte Mathilde sehr genau aus und ging dann selbst zum Postamt. Ich begleitete ihn. Zwei Beamte hatten den Depeschendieb gleichfalls gesehen, und beide behaupteten, daß er – eine Frau im Herrensportanzug gewesen, kein Mann. – „Sie trug eine weiche Sportmütze, und das dicke Haar, das darunter zum Vorschein kam, war rot,“ erklärte der eine noch.

„Die rote Minna!“ sagte Harald zu mir, als wir nach Hause zurückkehrten.

In der Blücherstraße sprach uns ein älterer Hausierer an und hielt uns bittend eine Streichholzschachtel hin, flüsterte schnell: „Bechert! – Ich bin selbst gekommen, Harst. Ich habe gerade nichts Besseres vor.“

„Ausgezeichnet, Bechert. Fahren Sie bitte nach Swinemünde. Nehmen Sie zwei Beamte mit. Wir treffen uns dort morgen nachmittag fünf Uhr am Hafen in der Nähe des Zollhauses. Mieten Sie eine Segeljacht, möglichst mit Motor, verproviantieren Sie dieselbe für acht Tage und – machen Sie sich auf einen großartigen Fang bereit. Die Kosten trage ich. – Wiedersehen!“

Wir gingen weiter. Kein Wunder, daß ich fragte: „Swinemünde?! Segeljacht?! – Du hast den schmalen Zettel entziffert?“

„Ja – in der Post!“ Er schob seinen Arm in den meinen. „Lieber Alter, diese großen Eisenbahnfahrpläne sind goldeswert! Einer hing in der Ecke, wo wir die Beamten ausforschten. Und gerade in Augenhöhe war da etwas zu sehen, das mir förmlich einen Schlag ins Genick versetzte.“

„Ein Name fiel Dir auf?“

„Nein, nicht ein Name, eine Insel, eine Felseninsel, ein deutsches Ostsee-Helgoland im kleinen.“

„Rügen?“

„Bitte – Felseninsel! Rügen hat ja bei Stubbenkammer seine Kreidefelsen – gewiß! Meine Insel ist völlig Fels, ist etwa 54 Hektar groß und nur von etwa fünfzig Menschen bewohnt. – Nun warte, bis meine Mutter den Rest mit anhören kann.“

Frau Harst saß noch in der Veranda.

„Mutter – ich hab’s!“ rief Harald vergnügt.

„Das Telegramm?“

„Nein. Das nicht. Ich habe ein zweites mit genau demselben Wortlaut nach Neuyork aufgegeben. Aber – die Rebuslösung habe ich!“

„Nicht möglich!“

„Doch! Wir standen da in der Post neben einer großen Eisenbahnkarte von Deutschland. Ich schaute hin, und gerade in Höhe meiner Augen sah ich da eine Insel südlich von Rügen, die Insel … Greifswalder Oie, gesprochen „Oi“, also fast wie Ei. Der Adler auf dem Zettel ist eben ein Greif, dann folgt das s, also Greifs, dann der Wald und „er“, und schließlich das „Ei“ – mithin Greifswalder Oie!“ –

Von den rund 58 Millionen Deutschen dürfte kaum ein Viertel auch nur den Namen dieser Felseninsel kennen.

Wer von Swinemünde mit den Tourdampfern nach den Rügenbädern fährt, kommt an der Oie vorüber, sieht die flache Insel, die spärlichen Häuschen, den Leuchtturm und denkt wohl mit Schaudern, wie trostlos das Leben auf diesem kahlen Inselchen sein muß!

„Auf dieser Felseninsel nisten sich im Sommer immerhin einige Badegäste ein,“ erklärte Harald weiter. „Wer zurückgezogen leben will, kann es dort bis zum Überdruß. Orgla mag die Insel für seine Zwecke recht geeignet gefunden haben. Da er ja eine Motorjacht zur Verfügung hat, ist ihm auch die Möglichkeit gegeben, Gwendolyn in aller Heimlichkeit dorthin zu schaffen. – Wir werden uns nun sehr bald verabschieden, Mutter. Wir werden die Greifswalder Oie mal besuchen, natürlich – – im Kostüm, als ganz harmlose Vergnügungssegler. Sollte von Mr. Bolton aus Neuyork eine Depesche für mich eintreffen, so depeschiere sofort den Inhalt in den vereinbarten Chiffren an Herrn Rentner Homann, Greifswalder Oie, postlagernd. Die Insel ist mit dem Festlande durch … einen Schraut verbunden!!“ Er zwinkerte mir zu. „Denn unser Max Schraut veröffentlicht unsere[9] Erlebnisse ja unter dem Pseudonym „Kabel“, und so’n Kupferkabel ist ja eine unterirdische oder unterseeische Telegraphenleitung.“ –

Um Mitternacht verließen wir beide das Haus, nachdem Bechert kurz vorher gemeldet hatte, daß nichts von Spionen zu entdecken sei. Wir fuhren mit unseren beiden kleinen Koffern zum Stettiner Bahnhof – auf vielfachen Umwegen, stiegen hier in einem Hotel als Ehepaar Homann ab (denn aus Max Schraut, ehemals Komiker und „berühmter“ Darsteller von Charleys Tante im gleichnamigen Schwank, war eine ältere Dame geworden), wurden um halb sieben geweckt und saßen um acht Uhr im D-Zug nach Wolgast – Bäderzug, waren um ein Uhr in Swinemünde, Hauptbahnhof, und begaben uns ins Hotel Deutsches Haus am Großen Markt. –

Swinemünde!! Schon auf dem Hauptbahnhof wurden allerlei Erinnerungen in mir wach. Hier hatten wir (vergl. „Schatten an der Wand“, Band 90) den Majoratsherrn Edgar von Reppen begrüßt, hier begann das Abenteuer mit der ominösen Zahl 13, das mit der Belagerung des Wasserturmes endete.

Und heute lag nun wieder der Hafen von Swinemünde im Sonnenglast der Nachmittagsstunde vor uns. Frische Seeluft umwehte uns. Der Tourdampfer aus Stettin legte gerade an, Scharen geputzter Ausflügler krabbelten an Land …

Wir standen um vier Uhr dicht am Bollwerk und genossen all das mit stillem Behagen …

Bis mein Herr Gemahl mich leicht in den Arm kniff …

„Da – eine Motorradlerin!“

Und ich sah sie ebenfalls, die dunkelhaarige Frau in Pumphosen und mit Autobrille …

Dunkelhaarig!! Und doch war es die rote Minna!!

Sie schob ihr Rad über die Rollplanke, die das Bollwerk mit dem Dampfer verband.

Harst ging näher heran, und so hörten wir, wie sie sich nach dem Cafee Waldhaus erkundigte.

Rasch bestiegen wir eine Taxameterdroschke, langten so noch vor der roten Minna in der sog. Plantage und vor dem Cafee an, konnten beobachten, wir sie jetzt ihr Rad den Tannenweg nach Norden zu weiterschob.

Wir blieben hinter ihr. Sie orientierte sich jetzt nach einem Blatt Papier, das sie öfters zu Rate zog, bog rechts ab, kam in den Dünenwald.

Nun hatten wir es leichter, neben ihr zu bleiben. Nun beobachteten wir, hinter einem Gebüsch verborgen, etwas sehr Merkwürdiges.

Es stand da an dem Fußwege eine uralte Eiche. Die rote Minna machte davor halt – nur Sekunden, reichte einen Zettel einem alten Schiffer zu, dessen Kopf – auch nur für Sekunden, in einem großen Loch des Stammes sichtbar wurde. Und sie schritt weiter, als ob sie nur einen harmlosen Spaziergang machte …

„Du folgst ihr,“ sagte Harald rasch. „Wenn möglich, sollen Becherts Beamte sie aufs Korn nehmen. Wir treffen uns im Deutschen Haus.“

Folgen!! Gut gesagt!! – Sie erreichte sehr bald den Fahrweg, der an der Funkstation vorüberführt, schwang sich aufs Rad und – – ward vorläufig nicht mehr gesehen.

Trotzdem ging ich ihr nach. Sie hatte ja die Richtung nach der Stadt eingeschlagen. Aber – ich fand sie nicht, fand nur Freund Bechert vor, der als Segler im Sportdreß sehr schick und sehr harmlos wirkte.

Wir ließen seine beiden Beamten die rote Minna suchen. Wir suchten selbst. Als Harst sich bis sieben Uhr im Deutschen Haus nicht wieder eingestellt hatte, wurden wir unruhig. Schließlich begaben wir uns in den Dünenwald, fanden die Eiche …

Und auf dem Fußweg fiel mir nun sofort die Spur eines zweiräderigen Handwagens auf, die vorher nicht vorhanden gewesen. Außerdem bemerkten wir noch die Spuren eines Motorrades seitwärts in der Heide, die sich bis zur Westmole hinzieht.

Wagenspur und Radspur vereinigten sich bald. Zwei Männer hatten den Wagen geschoben.

Wir kehrten zunächst nach der Eiche zurück, sahen nun, daß sie an der Westseite des dicken Stammes ein noch größeres Loch hatte, das durch Hopfenranken verdeckt war. Der Baum, völlig hohl, konnte bequem einen Menschen bergen. Jetzt war er leer. Nur etwas Pfeifenasche lag am Boden.

Bechert und ich folgten nun der Wagen- und Radspur. Auf dem Wege neben der Mole verlor sie sich. Wir fragten zwei Arbeiter, die von der Mole aus angelten, ob sie eine Radlerin gesehen hätten.

Ja – eine Motorjacht habe die Radlerin hier samt ihrem Motorrad an Bord genommen, dazu einen großen Ballen Netze, den zwei Fischer auf einem Handwagen gebracht hätten. –

Nun wußten wir genug: Harst war fraglos in einen Hinterhalt geraten, war in dem Ballen Netze an Bord von Orglas Jacht geschafft worden!

Wir eilten zum Hafen zurück. Bechert hatte bereits eine große Segeljacht von dem Direktor der Swine-Werft, den er persönlich kannte, zur Verfügung. Sie lag an der anderen Seite des Hafens.

Um neun Uhr gingen wir beide in See, da sich die Beamten nicht wieder eingefunden hatten. Wir wollten nicht länger auf sie warten. Wir verstanden genug vom Segelsport, um mit der Bedienung der Gudrun fertig zu werden.

 

4. Kapitel.

Die Filmaufnahme.

Wer sich ein richtiges Bild von der Vielseitigkeit verbrecherischer Intelligenz machen will, muß Spezialwerke lesen wie zum Beispiel das von Erich Wulffen[10] „Gauner- und Verbrechertypen.“

Die verbrecherische Phantasie ist ja weit reicher an geistvollen Einfällen, als der ehrliche Sterbliche es sich träumen läßt. Mit das Unglaublichste und Tollste in dieser Beziehung erlebten wir auf der Insel Oie. Noch nie hatte jemand seinen Verfolgern so schlau eine Falle gestellt wie Fredi Orgla uns beiden, Bechert und mir! –

Der Abend war völlig windstill, das Meer ein rosig schimmernder Tümpel. Der Hilfsmotor der Jacht trieb zwischen den Molen hindurch, am Leuchtturm vorüber.

Und dann die offene See, ein wundervoller Friede hier draußen, wundervoll das Strandbild von Swinemünde, Ahlbeck, Heringsdorf, – dahinter die dunklen Wälder.

Ich saß neben Fritz Bechert am Steuer – noch als Dame. Nicht mehr lange. Dann zog ich mich um. Die Weiberröcke waren mir lästig.

Als ich wieder an Deck kam, sagte Bechert:

„Wir hätten doch besser jemandem anvertrauen sollen, wohin die Reise geht. Wir sind etwas übereilt davongefahren. Wenn auch uns beiden etwas zustößt, wird man …“

„Uns?! Aber Bechert! Wir werden eben vorsichtiger als vorsichtig sein!“

„Na schön! Harst war’s sicher auch, lieber Schraut, und ist doch geklappt worden!“

Unser Plan war im übrigen schon fertig. Wir wollten erst nachts an der Westküste der Insel landen, wollten einen Kurs steuern, als ob wir Stralsund als Ziel hätten.

Wir sprachen nun über Fredi Orgla, über Jane Brack, über den Baron und Gwendolyn.

Wir sahen Bansins Lichter am Strande auftauchen, kamen auf die Höhe von Zinnowitz. Ich spielte Koch, richtete ein Abendbrot her.

Nach dem Essen steckten wir die Positionslaternen der Jacht an und wendeten, nahmen nordöstlichen Kurs. Wir hatten ein sehr gutes Fernglas mit. Gegen Mitternacht erspähte Bechert weit voraus die dunkle Masse der Felseninsel. Wir löschten die Laternen und schlichen näher, hatten den Kajütniedergang mit Decken belegt, damit das Puffen des Motors nicht gehört würde. Wir stahlen uns wie die Diebe vorwärts, glitten am Ufer entlang, fanden eine kleine Bucht, liefen hinein, loteten vorsichtig die Tiefe ab.

Und waren nun auf der Felseninsel mit ihren streckenweis so steilen Ufern, kamen über spärliche Gräser und an bescheidenen Gemüsegärten, an weidenden Schafen, Ziegen und Kühen vorüber und näherten uns langsam den wenigen Häuschen – dem Fischerhafen, duckten uns hinter einer Bretterbude zusammen, sahen drei Jachten im Hafen neben den schwarz geteerten Kuttern liegen, hörten von der einen Jacht her Harmonikaklänge, sahen an Deck Gestalten, leuchtend weiße Kleider von Damen … Frohes Lachen, Walzertakte, eine Frauenstimme, die den neuesten Schlager sang.

Das war Sommernacht, Erholungszeit. Das waren Ausflügler von irgend woher, vielleicht Berliner, vielleicht Leute vom Schlage des Herrn Otto Kießlack. –

Bechert war enttäuscht. „Hier gibt’s nichts zu sehen,“ meinte er. „Was tun wir nur? Wir müssen doch unbedingt herausbringen, ob Harst wirklich hier ist.“

Zwei Leute verließen jetzt die Jacht, eine Dame und ein Herr, kamen Arm in Arm an uns vorüber, sahen uns nicht. Die Wärme der Julinacht hatte ihre Herzen mit Liebessehnsucht erfüllt. Sie wollten allein sein. Sie blieben oft stehen und küßten sich. Der Herr war unheimlich dürr und lang und von einer affenartigen Beweglichkeit …

Bechert starrte dem Paare nach …

„Den Langen sollte ich kennen,“ murmelte er. „Man lernt so viele Leute, so sehr viele … – Ah – jetzt hab’ ich’s! Los, Schraut, den dürfen wir ansprechen. Der ist verschwiegen. Es ist Tom Tompsen, der Manegenklown aus dem Zirkus Busch, mit bürgerlichem Namen Fritz Schäfer.“

Als das Pärchen sich weit genug entfernt hatte, schlichen wir hinterher.

Nun – Herr Tom Tompsen war über diese Störung keineswegs erfreut. Seine Begleiterin machte sogar Miene davonzulaufen. „Wir haben nichts gesehen, Fräulein, es ist ja so dunkel,“ beruhigte Bechert sie und nahm den Langen beiseite.

„Sie dürfen auf keinen Fall verraten, wer ich bin, Herr Tompsen,“ erklärte er sehr nachdrücklich. „Kriminalkommissar Bechert aus Berlin! Sie besinnen sich wohl! Damals bei der Aushebung der Spielhölle in der Motzstraße. – Und das hier ist Herr Schraut, der Freund Harald Harsts. – Der Dame sagen Sie, wir seien Berliner Sommergäste, die hier wohnen …“

„Verstehe schon, Herr Bechert …“ Er wurde etwas liebenswürdiger.

„Wie lange sind Sie schon hier?“ begann Bechert das Verhör.

„Seit gestern mittag[11]. Die Jacht gehört dem Fabrikbesitzer Lorch, der noch vor zwei Jahren Billetthändler war. Morgen fahren wir nach Rügen. Fidele Gesellschaft an Bord. Ein bißchen eng, aber gemütlich.“

„Landete heute oder besser gestern abend noch eine andere Jacht hier?“

„Nein. Bestimmt nicht. Die beiden, die noch im Hafen liegen, waren schon vor uns da.“

Wieder also eine Enttäuschung …!

„Haben Sie sich auf der Insel genauer umgesehen, Herr Tompsen? Sind viel Badegäste hier?“

„Nö. Vielleicht so dreißig im ganzen. Und – umgesehen?! Na, da braucht man doch bloß einmal kehrt zu machen, dann hat man die Insel mit allen Herrlichkeiten überblickt. Hier möchte ich nicht mal bejraben werden! Nur die Flundern sind jut.“ Er kam in Laune …

„Die Badegäste wohnen alle bei den Fischern?“

„Ja – und beim Lehrer – wie die Pökelheringe. Viel Platz ist hier nicht. Eine einzige Privatsommervilla, Blockhaus, steht da nach Süden zu. Jetzt hat eine Filmgesellschaft sie gemietet, die hier Aufnahmen macht – irgend ein Sensationsstück. Die Badegäste und Fischer helfen mit – Statisten – Komparserie …“

Bechert und ich dachten jetzt wohl genau dasselbe: wo und wie sollte man hier Menschen verbergen und gefangen halten?! Einfach ausgeschlossen!

„Herr Tompsen – also bitte strengste Diskretion!“ mahnte Bechert nochmals.

„Selbstredend! Mein Süßing da ist auch gar nicht neugierig. Die hat zehn Glas Sekt intus. ’n Abend, die Herren …“

Und als er mit Süßing am Arm abzog, rief er noch – sehr schlau: „Erholen Sie sich gut, Herr Müller …! Grüßen Sie Frau und Kinder!“

Bechert winkte ihm mit der Hand zu.

Und sagte ziemlich kläglich: „Wenn Ihr beide, lieber Schraut, nur nicht auf dem Holzwege seid, was diese Insel anbetrifft! Vielleicht hat die rote Minna auch nur den Zettel mit dem Rebus „Greifswalder Oie“ in das Buch gelegt, damit Ihr auf eine falsche Spur gelenkt würdet!“

Als er dies kaum ausgesprochen hatte, ließ ich ihn stehen und rannte dem Paare nach …

„Herr Tompsen – Herr Tompsen, eine Frage noch!“

Er fluchte und kam mir entgegen. „Was gibt’s denn noch?“

„Nun – haben Sie hier vielleicht eine Dame mit Motorrad bemerkt – gestern abend?“

„Hm – ich nicht, aber einer von unserer Gesellschaft hat sie gesehen. Wir haben uns schief gelacht! Hier motorradeln!“

„Wo sah er sie denn?“

„Drüben am Badestrand. Sie schaute zu, wie ein paar von uns ein Abendbad nahmen. – Noch was?“ – Und dann eilte er hinter Süßing her. –

Bechert staunte, freute sich. „Gott sei Dank, Schraut, doch wenigstens ein Lichtblick!!“ meinte er. „Es muß die rote Minna sein. Nun kehren wir zur Gudrun zurück, schlafen uns aus, trommeln morgen die Fischer zusammen, und halten eine große Razzia ab. Der hiesige Gemeindevorsteher wird schon alles tun, um eine große Heeresmacht aufzubieten. Dann müssen wir ja die Schufte und Harst und Frau Gwendolyn finden!“

Der Plan war einfach und erfolgversprechend. Entfliehen konnte niemand von diesem Eiland, wenn wir die vorhandenen Böte und Jachten bewachen ließen. Daß der Gemeindevorsteher und auch die Badegäste uns helfen würden, war bei Becherts Amtseigenschaft selbstverständlich. Ich zweifelte auch nicht daran, daß weder Orgla noch die rote Minna ahnten, daß wir das Geheimnis des Zettels entdeckt hätten. Sie fühlten sich hier sicher, sonst wäre die rote Minna nicht hier, sagte ich mir mit freudiger Genugtuung. –

Als wir dann in der Kajüte der gut vertäuten Gudrun die Wandsofas als Betten herrichteten, meinte Bechert noch: „Möglich, daß man Harst und Frau Gwendolyn in irgend einer Bretterbude gefangen hält. Na – morgen früh wird sich ja alles finden!“ – –

Wir schliefen bis gegen sieben Uhr.

Ich hatte gerade die Beinkleider übergezogen und wollte an Deck gehen, um mich dort zu waschen, als Bechert, der schon auf der Treppe war, stehen blieb und mir zurief:

„Teufel, das ist ja der reine Massenauftrieb oben am Ufer! Was bedeutet das?!“

Ich war sofort neben ihm …

Am Nordufer der Bucht, etwa hundert Schritt entfernt, standen Badegäste, Fischer, Fischerweiber und die gesamte Jugend der Insel …

Und hart am Wasser, keine zwanzig Meter entfernt, stand ein Mann mit einem Kinoaufnahmeapparat, dessen Objektiv auf die Gudrun gerichtet war.

Jetzt hatten die Zuschauer uns bemerkt. Ein wüstes Gejohl erhob sich …

Doch der Kinooperateur winkte, drohte, – und der Lärm ließ nach …

Dann kamen von rechts vier Männer gelaufen, im Kostüm der Seeräuber aus der Zeit der berüchtigten Korsaren, rote Schärpen um die Hüften, Pistolen im Gürtel, – aber in der Hand moderne Repetierwaffen …

Kamen, sprangen im Nu an Bord …

Ich sah noch, wie der Kinooperateur die Kurbel drehte, wie die Zuschauer die Hälse reckten …

„Sind Sie verrückt!“ brüllte Bechert die Kinobanditen an. „Lassen Sie gefälligst den Unfug! Ich …“

Da hatte der eine ihm schon blitzschnell mit einem Sandsack in Keulenform einen Hieb über den Schädel versetzt. Da hatte ich trotz des vorgeklebten schwarzen Bartes in einem der Schufte … die rote Minna erkannt – war zurückgesprungen, ließ mich rückwärts über Bord fallen, schwamm dem Südufer zu.

Schüsse knallten hinter mir drein …

Keine harmlosen Kino-Schüsse …!!

Kugeln pfiffen mir um die Ohren …

Und jemand brüllte: „Kehren Sie um! Sofort!!“

Da – wieder das unangenehme Singen einer Kugel dicht an meinem Ohr …

Dann flog mir eine Schlinge über den Kopf, wurde zugezogen. Halb erwürgt hißte man mich an Deck der Jacht. Im Nu war ich gebunden, geknebelt, wurde an Land geschleppt. Und der Mann am Kinoapparat drehte – drehte zum Schein …!!

So wurden Bechert und ich am hellen Tage nach der Blockhausvilla gebracht – als Kinoschauspieler – als Menschen, um die niemand sich mehr kümmerte, nachdem die angebliche Aufnahme des Überfalls auf die Jacht vorüber war.

 

5. Kapitel.

Hände hoch!

Es war ein behagliches Zimmer, in dem wir nun mit Harald ein so wenig erfreuliches Wiedersehen feierten. Man hatte ihn an einen Korbsessel festgebunden, die Arme auf den Seitenlehnen – mit dünnem Draht, und eine Drahtschlinge lief von seinem Halse nach einem Balken der Zimmerdecke empor, so daß[12], falls er den Sessel umkippte, er sich selbst in der Schlinge erwürgte.

Bechert war längst wieder zu sich gekommen. Auch uns beide band man in gleicher Weise auf zwei Korbsessel fest, legte uns Drahtschlingen um den Hals[13] und band den Draht oben an demselben Eisenhaken der Decke fest.

Die vier „Korsaren“ und der inzwischen ebenfalls angelangte Filmoperateur, dessen Aufnahmeapparat im übrigen nichts als eine Attrappe war, wie sich später zeigte, hatten bisher geschwiegen.

Jetzt entfernte der eine den falschen Bart und die dicken angeklebten Augenbrauen …

Es war Alfred Orgla.

Und auch die rote Minna kam, riß den Bart herunter, knickste frech und sagte höhnisch:

„Der Zettel hat seine Schuldigkeit getan!“

Orgla drängte sie zur Seite. – Unsere drei Sessel standen dicht nebeneinander.

„Meine Spione haben ermittelt, daß Sie, Herr Kriminalkommissar, in Swinemünde nicht mal Ihren Beamten gesagt haben, wohin Sie mit der Gudrun segeln wollten. Es weiß also niemand, wo Sie sich befinden, und von Herrn Harst weiß das erst recht niemand.“ Orgla erklärte das in einem absichtlich kühl sachlichen Tone. „Da die Gudrun von uns in der Nacht umgetauft worden ist – jetzt steht der Name Thetis am Bug – und da wir diese Thetis in der kommenden Nacht versenken werden, da ferner die hiesigen Insulaner und die wenigen Badegäste fest an eine Kinoaufnahme glauben und nie auf den Gedanken kommen werden, falls sie in der Zeitung nach ein paar Tagen von dem Verschwinden dreier Berliner Verbrecherfänger lesen sollten, daß diese hier gefangengehalten werden, – da schließlich dieses Haus für den ganzen Sommer gemietet ist und noch seine besonderen Geheimnisse hat, werden Sie drei hier einige Wochen ohne jede Gefahr für uns festgesetzt werden, bis wir das von Frau Gwendolyn erreicht haben, was wir bereits eingeleitet und so vorbereitet haben, daß ein Fehlschlag jetzt so gut wie ausgeschlossen ist.“

Ein triumphierender Blick glitt über uns drei hin.

Und Orgla fuhr fort: „Es handelt sich jetzt nur noch darum, Ihr vorläufiges Quartier in Ordnung zu bringen. Machen Sie sich gefaßt, hier etwa zwei Monate eine recht eigenartige Sommerfrische genießen zu dürfen, woran auch Ihre zweite Depesche an den Anwalt Bolton nach Neuyork nichts ändern wird, Herr Harst.“

Er winkte seinen Freunden und gleich darauf waren wir drei Wehrlosen allein.

Stunden vergingen. Die Uhr in diesem Zimmer zeigte genau zwölf und hatte soeben mit blechernem Klang die Mittagszeit verkündet, als man uns holen kam.

Zuerst wurde Harald weggeschafft – samt dem Korbsessel. Dann Bechert, zuletzt ich. Zwei der Kerle mit den pechschwarzen Piratenbärten trugen mich ebenfalls samt dem Korbsessel in den Keller des Blockhauses hinab. Karbidlaternen leuchteten. Ich sah, daß die Holzvilla gerade über einer tiefen Spalte des Felsbodens errichtet worden war. Diese Spalte diente als Keller. Sie hatte jedoch, und dies mußte das Geheimnis der Villa sein, noch eine Fortsetzung. In den natürlichen Steinboden des Kellers war eine viereckige Felsplatte eingefügt gewesen, die jetzt jedoch an der Wand lehnte. Durch das quadratische Loch ging es eine Steintreppe hinab. Nichts anderes als eine geräumige Höhle war’s, die sich nach Westen weiterzog, eine kühle Grotte, in der, das war mein erster Gedanke, niemand uns finden würde! So erlosch denn auch beinahe die geringe Hoffnung, daß Frau Harst, die ja unser Reiseziel kannte, der Berliner Polizei einen Wink geben würde, wo wir drei Verschwundenen zu suchen seien.

Immer weiter nach Westen zu trugen mich die beiden Männer, denen die rote Minna und ein anderer der Bande Orglas mit Laternen vorangingen.

Bis im westlichsten Winkel der Höhle Lichtschein sichtbar wurde – zwei weitere Laternen, und ich dort Orgla und den Filmoperateur neben den Sessel Harsts und Becherts gewahrte – neben einem dritten Korbsessel auch, in dem Frau Gwendolyn Irnhartstetten blaß und erschöpft, aber ungefesselt saß. Noch mehr sah ich. Da waren aus alten Segeln zwei Zelte errichtet. Da war ein eiserner Herd, Kochtöpfe, ein paar Kisten … Und die Kerle stellten nun auch mich neben meine Leidensgefährten.

Orgla wandte sich an Harald. „Herr Harst, eine Flucht aus dieser Höhle ist unmöglich. Wir werden Ihnen daher hier unten volle Bewegungsfreiheit gestatten. Die Waffen haben wir Ihnen bereits abgenommen. Sie werden hier also eine Art Robinsonleben besonderer Art führen müssen.“ – Jetzt höhnte er in überlegenem Triumph. Jetzt kam sein wahrer Charakter zum Durchbruch. „Selbst Damengesellschaft haben Sie hier – nicht nur die reiche Baronin, nein, – auch Jane Brack wird sofort hierher gebracht werden. Die gute Jane hat sich Ihre moralischen Predigten, Herr Harst, so sehr zu Herzen genommen, daß sie nach ihrem letzten Streich diese Villa mietete und mit mir hier eine Büßerkomödie beginnen wollte. Jane und ich sind daher stark aneinander geraten, zumal sie auf meine kleine Freundin da …“ er lachte die rote Minna lüstern an – „lächerlich eifersüchtig wurde. Jane ist daher auch seit vier Tagen vorn im sogenannten Kartoffelkeller eingesperrt worden. Alles andere mag sie Ihnen selbst erzählen …“

Ich hatte auf Orglas letzte Sätze kaum mehr recht hingehört. Ich saß so, daß ich die Höhle nach Osten zu entlangblicken konnte, während Orgla und seine Kreaturen mit dem Rücken nach dorthin standen …

Und – ich hatte in der schwarzen Finsternis soeben ein paar grelle Lichtblitze bemerkt wie von Taschenlampen, die nur für Sekunden eingeschaltet waren …

Und nun etwas wie menschliche Gestalten, herauswachsend aus dem Dunkel – – Männergestalten – deutlicher werdend – – ein ganzer Trupp lautlos herbeihuschender Retter …

Und jetzt urplötzlich eine Männerstimme, die gewohnt war, den weiten Raum des Zirkus Busch mit derben Manegenscherzen zu füllen – eine Stimme, die Tom Tompson gehörte:

„Hände hoch, Lumpengesindel!! Hände hoch!!“

Laternen, Taschenlampen strahlten auf …

Orgla und Konsorten schnellten herum, starrten in Revolvermündungen, in die schwarzen Löcher von Jagdflinten …

„Gesindel!!“ brüllte Tompsen. „Wer nur einen Finger rührt, wird zum Sieb! Ihr habt vorbeispekuliert!! Als man mir von der famosen Kinoaufnahme erzählte, fielen mir Bechert und Schraut ein. Und da reimte ich mir alles zusammen! – Hände hoch, sonst knallt’s!!“

Derbe Fischerfäuste packten zu. Im Nu war Orgla und Begleitung gebunden, im Nu waren wir frei.

Harst winkte mir. Wir drückten uns heimlich, eilten davon … Nachher war Jane Brack nirgends zu finden. –

Aber – die verhängnisvolle Quittung fanden wir, und Gwendolyn verbrannte sie eigenhändig.

Auch Orglas gegen Gwendolyns Reichtümer gerichteter Plan kam nun an den Tag: er hatte unter Gwendolyns Namen an Bolton depeschiert, daß die Zofe Gwendolyns in Boltons Begleitung sämtliche Juwelen ihrer Herrin sofort nach Hamburg bringen solle. Dort hatte Orgla diese Juwelen – und sie waren rund hundert Millionen Dollar wert – an sich bringen wollen!

Daraus wurde nun nichts. Heute und noch für Jahre sitzt Orgla im Zuchthaus und näht Pantoffeln, eine friedfertige Beschäftigung, die ihn hoffentlich bessern wird. –

 

Nächster Band:

Der Napoleon aus Wachs.

 

 

Verlagswerbung:

Kabels Kriminal-Bücher

 

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29:
30:
31:

Ming Tschuan.
Thomas Bruck, der Sträfling.
Die rote Rose.
Das Atlantikgespenst.
Die Schildkröte.
Die grüne Schlange.
Das Teekästchen.
Die Todgeweihten.
Der Krokodillederkoffer.
Treff-As.
Der Wilddieb.
Die leere Villa.
Der Klub der Toten.
Der Mann mit der Narbe.
Die silberne Scheibe.
Die Billionenbeute.
Die Tigerinsel.
John Goodsteaks Hochzeitsreise.
Die roten Briefe.
Das Radiogespenst.
Die Rattenfalle.
Die eiserne Frau.
Das Teufelsriff.
Der Zauberblick.
Die Ladygaunerin.
Der Saal ohne Fenster.
Als Harst verschwand.
Die Hand aus Holz.
Der Geistersucher.
Schraut kontra Harst.
Die Jacht mit den drei Mumien.

– Preis pro Band 40 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Forkenbeckstraße“.
  2. In der Vorlage steht: „ges“.
  3. In der Vorlage steht: „zmu“.
  4. „Winterfeldtschen“ / „Winterfeldt’sche“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Winterfeldtsche(n)“ geändert.
  5. „Wurm’s“ / „Wurms“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Wurms“ geändert.
  6. In der Vorlage steht: „Detektivr“.
  7. In der Vorlage steht: „gunkel“.
  8. In der Vorlage steht: „Auguch“.
  9. In der Vorlage steht: „unserer“.
  10. Wolf Hasso Erich Wulffen, deutscher Kriminologe; * 3. Oktober 1862; † 10. Juli 1936. Siehe auch Wikipedia: Erich Wulffen.
  11. In der Vorlage steht: „Mittag“.
  12. In der Vorlage steht: „adß“.
  13. In der Vorlage steht: „Halz“.