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Der Napoleon aus Wachs

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 102:

 

Der Napoleon aus Wachs.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der gestrandete Segler.

Greifswalder Oie: eine kleine flache Insel südlich von Rügen, ein bescheidenes Helgoland der Ostsee – ganz bescheiden. Zum Teil steil abfallende Ufer, ein halbes Hundert Bewohner, im Sommer einige Badegäste.

Am Abend des 9. Juli beginnt die Geschichte des wächsernen Napoleon. Oder – hätte ich sie besser nennen sollen: „Der Scharfrichter von Nürnberg, Johann Saltsieder“?

Ja – das begann so mit bleigrauem Himmel und völliger Windstille. Wir saßen abends neun Uhr auf Fischer Schluderjans umgekipptem alten Boot, und Schluderjan „vertellte“ Seeerlebnisse. Harsts Zigarren weckten seine Phantasie ins Ungemessene. So wie Jan Schluder log, log noch keiner, der dreißig Jahre Seemann gewesen.

„Heit’ jift et wat,“ sechte Schluderjan und kaute am Zigarrenstummel. „Et jift’n Orkan, die Harrens – wetten?“

„Lieber nicht!“ meinte Harald. „Aber ne Zigarre sollen Sie noch haben, Schluder … Da – bitte.“

Der Siebzigjährige, ein prachtvolles Modell eines Fischergreises, nahm mit den teerbeklexten Händen die Zigarre.

„Et jift wat, von wejen meine Elefantennarbe … Hei sticht und rumort, die Narbe …“ erklärte er im Tone einer Pythia und streichelte den linken Oberschenkel, wo die Elefantennarbe saß.

Wir kannten sie. Sie existierte. Nur daß sie vom Stoßzahn eines Elefanten herrührte, war Schwindel. Schluderjan hatte diese Elefantenjagd nämlich nach Australien, ins wildeste Innere, verlegt, weil er eben annahm, daß es auch dort diese dickhäutigen Rüsselträger gäbe.

Der Respekt vor seinen siebzig Jahren verbot uns, den braven Jan eines besseren zu belehren. So blieb es denn bei der Elefantennarbe aus Australien. –

Schluderjan, zur Zeit unser Faktotum in der Blockhausvilla behielt recht.

Um ein Uhr morgens weckte Harald mich.

„Zieh’ Dich an. Ein Schiff ist in Seenot.“

Der Sturm umheulte die Villa derart, daß ich bereits einige Male wach geworden war.

Schiff in Not!! – Wie ging’s da so fix in die Kleider!

Eine Schonerbark lag nordöstlich der Oie auf einer Sandbank mitten in einer haushohen Brandung. Mit Hilfe des Glases erkannte ich in der lichten Sommernacht deutlich ein Boot, das jetzt von dem bereits zum Wrack geschlagenen Segler abstieß. Das Boot war zehn Minuten drauf wohlbehalten im Fischerhafen.

Harald und ich, jetzt hier Respektspersonen, standen ganz vorn am Bollwerk, als es landete.

Merkwürdig: da war unter den neun Insassen ein Mensch, der wie ein Verrückter brüllte.

„Hei het ut Schedder (vor Angst) een Knax wejkreegen,“ grunzte Schluderjan hinter uns.

So schien’s. Der dicke Kerl da im Boot brüllte jetzt aufs neue: „Ich bin ruiniert – – ruiniert! Mein Automat – mein Wunderautomat!!“

Bis einer der finnischen Matrosen (die Schonerbark hieß Gorgovia und kam aus Helsingfors) den Kerl packte und mit Riesenkraft zu uns nach oben aufs Bollwerk schmiß.

Der Dicke rappelte sich sofort wieder hoch und schrie den Oie-Fischern zu:

„Eine Million, wer mich wieder nach dem Wrack rudert! Zwei Millionen – – drei Millionen!!“ –

Drei Millionen – dafür konnte man am 10. Juli 1922 noch allerhand kaufen! Aber – keiner der Oie-Fischer biß an – keiner! Der Dicke rannte wie ein Irrsinniger hin und her. Es war ein Deutscher namens Robba, dem Dialekt nach ein Berliner. Immer wieder bot er drei Millionen dem, der die Kiste mit dem Wunderautomaten holte. Die Absicht, selbst mit hinüberzufahren, hatte er aufgegeben.

Das Benehmen des Mannes war ebenso abstoßend wie anderseits auch komisch und mitleiderregend. Unter den Insassen des Bootes hatte sich noch ein Mann befunden, ein jüngerer Mensch mit blassem feinen Gesicht. Dies war der einzige, der sich um die Kiste gleichfalls sorgte, freilich in ganz anderer Art, in einer stummen, an Verzweiflung grenzenden Angst, die daher auch weit mehr zu Herzen ging als die des zappeligen Dicken, der den Jüngeren trotz seiner Erregung mit einem gewissen Respekt behandelte. –

Dieser Robba schien nun aus irgendeinem Grunde Haralds Interesse erregt zu haben, denn Harst hatte mir zugeflüstert: „Halten wir uns mehr abseits. Robba soll nicht auf uns aufmerksam werden.“

Inzwischen hatte der Nordostorkan eher noch an Wut zugenommen. An der Mole des Fischerhafens war längst alles versammelt, was auf der Oie wohnte. Der Gemeindevorsteher hatte die völlig durchnäßte Besatzung des finnländischen Seglers mit trockenen Sachen versehen. Nur der dicke Robba dachte nicht daran, sich umzuziehen, und auch der schlanke, junge Mensch mit dem blassen Gesicht, ebenfalls ein Deutscher, blieben in ihren nassen Kleidern und beobachteten unausgesetzt das zumeist von Gischt vollständig eingehüllte Wrack.

Harst nahm jetzt den Kapitän der unglücklichen Schonerbark unauffällig beiseite.

Herr Dabbrö war ein Seemann vom neuen Schlage, ein gebildeter Mann mit tadellosen Umgangsformen.

Wir stellten uns mit ihm hinter einen Bretterschuppen.

„Ich bin der Berliner Privatdetektiv Harald Harst,“ erklärte Harald hier. „Würden Sie mir einige Fragen gestatten, Herr Kapitän?“

„Ah – Herr Harst …! – Gern – fragen Sie nur.“

„Dieser Robba ist Artist, nicht wahr? Wo kam er an Bord?“

„In Riga. Er wollte billig nach Swinemünde. Er war in Riga in einem Varietee mit seinem Napoleon aus Wachs aufgetreten, einem Automaten, der gehen und sprechen kann.“

„Wie heißt der andere Deutsche?“

„Der kam auch in Riga an Bord und heißt Wüllner, Hans Wüllner, ist ebenfalls Artist und zwar Jongleur. Er hat Robert Robba erst in Riga kennen gelernt.“

„Der Napoleon aus Wachs steht wohl in einer Kiste verpackt unten im Laderaum?“

„Nein, in Robbas Kabine. Die Kiste jetzt im Boote mitzunehmen war unmöglich. Ich riet Robba, den Automaten ohne die Kiste zu verstauen. Das wollte er nicht. Ebensowenig wollte er das Schiff verlassen. Wir haben ihn mit Gewalt ins Boot heben müssen.“

Harald dachte nach. „Herr Kapitän, bitte verschweigen Sie Robba und Wüllner, daß ich Sie ausgefragt habe. Ich will ehrlich sein: irgendetwas stimmt mit diesem Robba nicht!“

„So?! Weshalb denn, Herr Harst? Bisher benahm der Mensch sich ganz verständig. Seine Papiere sind bester Ordnung, und …“

„Mag sein. Sie schweigen also. – Auf Wiedersehen.“

Harst schlängelte sich jetzt an den alten Schluderjan heran. Wir nahmen Jan Schluder ebenfalls hinter den Bretterschuppen mit.

„Jan, wird das Wrack völlig auseinandergehen?“ fragte Harst.

„Jawoll, dat jeiht zum Dübel, Herr Harst. Dat is ja man son moderner Dreck von’n Schipp!“ Er spuckte geringschätzig aus. „Dei Heckaufbau mit dei Kajütens is all zum Dübel,“ fügte er hinzu. „De olle Jan hedd beetre Oogen as wie dei junge Kierls. Von’n Heckaufbau steiht kein Pfosten mehr.“

Jan grinste plötzlich. „Dat is for’n ollen Jan wedder een reentliches Jeschäft, Herr Harst … Strandgut –, do heizt de olle Jan den ganzen Winter sein Kamin mit dei Trümmerns.“

„Werden die denn hier angetrieben?“

„Nu, n’ annern würd’ de olle Jan dat nich seggen, Herr Harst. Aberst bei Sie beide … Sie hollen ja dreewer det Muhl. Also dei Trümmerns sein Glock viere rum drüben an’n Weststrand anjespeelt. Do geiht eben ne Strömung ierst in See und bögt dann wedder aff.“

„Führen Sie uns dorthin, Jan. Sie bekommen ein anständiges Trinkgeld.“

„Gaut, gaut, Herr Harst. Aberst Muhl hollen, die Harrens! Muhl hollen!“

Wir drückten uns mit Jan heimlich davon, kamen zur Villa, nahmen jeder einen langen Bootshaken mit und wanderten über die flache Insel an weidenden Schafen und Ziegen vorbei dem Weststrande zu.

Hier, wo man sich unter Wind befand, war die See völlig ruhig. Erst weiter draußen bewies der Orkan seine Macht und warf die dunkle Flut zu rasch anwachsenden, gen Westen davonrollenden Wogen empor.

Dar alte Jan Schluder stieg uns voran zu einer kleinen Bucht hinab, die wir bereits kannten. Es war dies unser Freibad, und häufig waren wir auch nach der Sandbank hinausgeschwommen, die im Bogen der Bucht vorgelagert war. Jan watete jetzt mit seinen bis zum Leibe emporreichenden Fischerstiefeln bedächtig über eine Reihe von Riffen einige dreißig Meter in die See hinaus.

„Treckt jau (Euch) man dei Steibels und de Büxen ut,“ rief er gutgelaunt.

Wir taten’s, und unterwärts im adamitischen Kostüm folgten wir Jan auf dem schlüpfrigen Pfade, benutzten die Bootshaken als Stütze und gelangten so schließlich auf eine Zunge der Sandbank, wo das Wasser uns kaum bis zu den halben Oberschenkeln reichte und wir auf dem Sandgrunde festen Fuß fassen konnten.

Die Morgendämmerung kam. Das hier ziemlich hohe Felsenufer schützte uns gegen Sicht vom Fischerhafen her. Hier am Weststrande befand sich keine lebende Seele. Wir drei standen dicht beieinander. Schluderjan äugte scharf nach Norden zu. An der gekräuselten Wasseroberfläche erkannte man unschwer eine scharfe Strömung, die zwischen Ufer und Sandbank auf uns zuhielt.

Jan „vertellte“ uns, wat er hier schon so allens an „Strandgoot“ geborgen hatte.

Ein schlauer Fuchs war der Alte. Er hatte sein Geheimnis seit fünfzehn Jahren bewahrt, – auf einem so kleinen Fleckchen Fels wirklich ein Kunststück.

Immer heller wurde es nun, obwohl der Himmel dunkelgrau blieb. Es begann sacht zu regnen. So ein Regen, der in feinen Tropfen rieselt und doch dicht wie Nebel ist. Jan fluchte. Er fürchtete, daß ihm ein Plankenstück entgehen könnte. Dann ein weit ausholender Schlag mit seinen Bootshaken … Und – er hatte eine Kajütentür erwischt.

Wir halfen nun. Jedes Stückchen Holz wurde geborgen. Nur – die Kiste kam nicht, auf die Harald doch so fest gerechnet hatte!

Um fünf Uhr morgens, als es noch heftiger regnete, sagte Harald: „Ich gebe es auf, Jan. Schraut und ich verabschieden uns. Sollten Sie die Kiste noch auffischen, dann wecken Sie uns sofort.“

 

2. Kapitel.

Der Napoleon aus Wachs.

Wir kehrten ans Ufer zurück, zogen unsere Sachen an. Jan sah draußen in den Regenschleiern wie ein Riese aus. Neben ihm staute sich das Wrackholz höher und höher.

Wir gingen natürlich nicht heim. Wir schlichen am Ufer entlang, sprangen von Stein zu Stein …

„Die Kiste kann irgendwo nordwärts angeschwemmt sein, falls sie eben nicht weggesackt ist,“ hatte Harald erklärt.

Ich hatte wenig Hoffnung – sehr wenig.

Aber Harst behielt wieder einmal recht.

Dort, wo der Nordweststrand nach rechts abbog, sahen wir zwischen zwei kleinen Riffen ein längliches Etwas, dunkel gestrichen: eine Kiste von über Manneslänge!

Wieder herunter mit Schuhen, Unterzeug und Hosen.

Wieder hinein in die frische Flut – bis zum Bauche.

Was tat das! Wir hatten die Kiste, wir hatten den Napoleon aus Wachs! Wir schleppten sie ans Ufer – hinein in eine der engen Schluchten der Felsinsel.

Da waren zwei Schlösser am Deckel, zwei Kunstschlösser. Und die Kiste war sehr sauber gefertigt – wasserdicht.

Ich gestattete mir nun endlich die Frage:

„Was argwöhnst Du eigentlich, Harald?“

„Robert Robba versprach drei Millionen dem, der die Kiste ihm holte, mein Alter,“ erwiderte er. „Er verlangte stets die Kiste – nicht den Napoleon! Obwohl es doch leichter gewesen, nur den Wunderautomaten zu bergen, wie dies auch Kapitän Dabbrö nachher betonte. Da dachte ich mir: wer weiß, ob in der Kiste wirklich ein Automat liegt! – Ich dachte dies, weil auch Robbas Benehmen eine wahnsinnige Angst verriet, eine Angst, die dem drohenden Verlust des Automaten gegenüber zu groß war. Es war die Angst eines Menschen mit sehr schlechtem Gewissen. Dazu kamen noch die unsympathische Erscheinung Robbas und die heimtückischen Schweinsäuglein. – Brechen wir die Kiste auf.“

Die Bootshaken taten das ihrige.

Harst klappte den Deckel hoch. Der hatte Gummiränder, hatte eine Seitenschiene, die in eine Rille hineinpaßte.

Kaum war der Deckel gegen einen Stein gelehnt worden, als mir ein Geruch nach Kampfer in die Nase stieg.

„Hm!“ machte Harald und zog die Decke weg, die den Kisteninhalt verhüllte.

Da lag in Holzwolle gebettet der Napoleon aus Wachs.

Und wieder machte Harald noch gedehnter „Hm – hm!!“ Bückte sich herab, strich mit der Hand über das Wachsgesicht …

Plötzlich über mir am Schluchtrande ein Geräusch …

Dicht an meinem Ohr ein Stein – ein Stein, der Harst gegen den Hinterkopf traf …

Ein dumpfer Krach, und Harald lag regungslos über der Kiste. Ein zweiter Stein … Ich knickte in die Knie … Ich mag aufgeschrien haben. Ich weiß es nicht.

Hätten wir nicht die amerikanischen wolligen Sportmützen getragen, so wären unsere Schädel wohl kaum intakt geblieben. So aber kamen wir mit einer leichten Gehirnerschütterung davon.

Jan fand uns um zehn Uhr vormittags in der Schlucht, vierzig Meter vom Strande entfernt bewußtlos, blutend, und gebunden auf. Er war gegen sieben Uhr nach der Blockhausvilla zurückgekehrt, hatte gemerkt, daß wir nicht daheim waren, und sich auf die Suche gemacht.

Schluderjan war schlau genug, nicht sofort Lärm zu schlagen. Er trug uns ans Ufer hinab und begoß uns so lange mit Seewasser, bis wir kurz hintereinander wieder zu uns kamen.

Sowohl bei Harald als bei mir stellte sich Erbrechen ein, ein Zeichen, daß die Gehirnerschütterung nicht leicht zu nehmen war. Harst konnte immerhin dem braven Alten einige Verhaltungsmaßregeln geben, fragte ihn auch aus, ob die Kiste noch in der Schlucht läge.

Nein – Jan hatte nichts von einer Kiste gesehen.

Er holte dann einen Handwagen und fuhr uns, die er mit einem Stück Segel und Strauchwerk bedeckt hatte, heim, brachte uns zu Bett und kühlte unsere brennenden Köpfe.

Drei Tage – endlose Tage …

Dann konnten wir wieder ins Freie hinaus.

Inzwischen hatte Jan auf der Insel die Mär verbreitet, wir beide hätten uns in der Orkannacht arg erkältet.

Er hatte aber auch für uns den Detektiv gespielt, hatte genau getan, was Harald ihm vorgeschrieben, und dabei eine Gerissenheit entwickelt, die ihm von Harst eine Extrabelohnung eintrug.

Daß Herr Robert Robba uns mit den steinernen Grüßen oben vom Schluchtrande beehrt hatte, stand fest.

Jan ermittelte schon am ersten Tage unseres Krankenlagers folgendes: Der Artist Robba war von der Oie plötzlich verschwunden. Er konnte nur mit dem Fischerboot eines gewissen Franz Schomp, eines übelbeleumundeten Menschen, die Insel verlassen haben. Dieser Schomp war das Schmerzenskind der biederen Bewohner des Felseneilandes, ein Trinker, Raufbold und Gelegenheitsdieb. Ihm war es schon zuzutrauen, daß er sich von Robba hatte bestechen lassen und ihm[1] fortgeholfen hatte. Schomp war eine Stunde nach dem Überfall auf uns mit seinem Kutter in See gegangen. Es war beobachtet worden, daß er die Insel umrundet und an der Westküste für kurze Zeit angelegt hatte.

Zweitens: Der Jongleur Hans Wüllner war an Lungenentzündung schwer erkrankt, ebenfalls schon am Vormittag nach der Sturmnacht. Er hatte sich in den durchweichten Sachen, die er trotz Warnung des Gemeindevorstehers nicht gegen trockene Kleider vertauscht hatte, erkältet. Als man den stark Fiebernden zu Bett bringen wollte, war er mit der Frau des Gemeindevorstehers eine Weile allein geblieben. Was er dieser anvertraut hatte, konnte Schluderjan nicht ermitteln. Jedenfalls pflegte die gutherzige Frau den Patienten ganz allein und ließ sich nur von ihrem Manne und ihrer erwachsenen Tochter ablösen. Andere Personen durften das Krankenzimmer, mit Ausnahme des Arztes, nicht betreten. – –

Und nun waren über alledem wieder drei Tage ins Land gegangen. Nun waren wir beide wieder so leidlich „aktionsfähig“, wie Harald sich ausdrückte.

An diesem 13. Juli hatten wir vormittags in der Sonne gesessen, nachmittags geschlafen, am Spätnachmittag gebadet und abends Jans neuen Bericht entgegen genommen. – „Franz Schomp is nu wedder nüchtern,“ erklärte der Alte. „Sien Jeld is wedder all, wat er woll von den Robba kreejen hett. Un dei annre, dei Wüllner, is ook wedder beeter, Herr Harst. Hei is all son beeten uppstohn as wie Sie beide. Aberst dei Wüllner, dat is n’ dunklen Soog (Sache) mit den Kierl, Herr Harst. Wat dei Kraschan is (der Gemeindevorsteher), dei sejt von den Wüllner gor nix.“ –

Eine Stunde später, gegen halb elf, begann’s zu regnen. Und das schien Harst zu gefallen. Er pfiff mit einem Male einen Gassenhauer. – Schluderjan war längst schlafen gegangen.

„Fühlst Du Dich kräftig genug, mein Alter, mit mir zusammen zwei Nachtvisiten abzustatten?“ sagte Harald dann und zwinkerte mir zu.

„Wenn ich dabei nicht Mauern überklettern oder stundenlang schwimmen muß – ja!“

„Gut – dann die Gummimäntel, in die rechte Außentasche die Clement und im übrigen etwas Handwerkzeug.“

Es war elf Uhr, als wir die kleine Villa verließen.

Daß die Nachtvisiten nur Hans Wüllner und dem Trunkenbolde Schomp gelten konnten, war mir sofort klar gewesen.

„Zu Kraschan,“ sagte Harst draußen und schlug den Mantelkragen hoch.

Kraschans Anwesen lag nach Norden zu etwas abseits von den übrigen Häuschen. Der Regen peitschte uns ins Gesicht.

Oh – das tat wohl nach den drei Tagen Stubenhocken! Das war wie ein Gesundheitselixier[2]! Der bis dahin noch immer etwas dumpfe Kopf war plötzlich so leicht und das Hirn aufnahmefähig für alles …

„Die Herren Köter liegen zum Glück bei dem Sauwetter in den Hundehütten,“ lachte Harald.

Und auch dieses Lachen war gesund – war voller Unternehmungslust. Wir näherten uns dem Gehöft im Bogen von Westen her. Da tauchte der Stall auf – da rechts das knallgelb gestrichene Wohnhaus. Und – da sahen wir beide gleichzeitig durch die Regenschleier einen Schatten – einen hageren Mann, der an der Ecke des Hauses jetzt halt machte … Dann der tadellos nachgeahmte heisere Schrei einer Möwe – drei Mal …

Der Hagere war’s, der den Schrei erklingen ließ.

Harald zog mich rasch hinter einen Stapel Brennholz.

„Der Säufer Schomp!!“ raunte er mir zu. „Was will der Kerl hier?! Ob er etwa mit Hans Wüllner …“

Neben Schomp tauchte eine andere Gestalt auf – mittelgroß, zierlich-schlank …

„Wüllner – – tatsächlich!! Und im Mantel, den er damals in der Orkannacht anhatte!“

In Haralds Stimme klang’s wie Jagdfieber.

Die beiden drüben an der Hausecke verschwanden.

Die Finsternis verschluckte sie im Nu.

„Hinterdrein!“ Und Harsts Stimme war voller Kraft wie stets in solchen Nächten, wenn Geheimnisse sich wehrten, von uns enthüllt zu werden. –

Gut gesagt: Hinterdrein!

Wohin denn? Bei der Dunkelheit!

Und doch – Harald schien’s zu wittern, wohin.

Nach Osten ging’s – dem Fischerhafen zu …

Und drei Minuten später rechts von uns in derselben Richtung dahinschreitend: Schomp und Wüllner!!

„Schomp wird Wüllner wegbringen,“ erklärte Harald neben mir. „Das heißt: er will es tun! Wir werden’s verhindern!“

Da kam auch bei mir das Jagdfieber.

Der Napoleon aus Wachs und seine Rätsel gossen mir Feuer in die Adern! –

Bald der Fischerhafen: Bollwerk, Bretterbuden, schwankende Kutter mit klatschendem Tauwerk und knarrenden Masten, Teer- und Fischgeruch, glucksende Wellen …

Bald wir beide hinter einer Netzbude – dicht am Bollwerk. Zehn Schritt vor uns Franz Schomps großer Kutter, auf Deck drei Gestalten …

Schomp löste die Taue von den Pfählen …

Es war Zeit …

„Vorwärts!“ befahl Harst …

Hinter uns ein Lachen – dicht hinter uns …

Und eine fette Stimme, scheußlich in der brutalen Ironie: „Hinlegen! Hinlegen, Schnüffler!! Sonst knallt’s!“

Wir herumfahrend, vor einer Revolvermündung …

„Schafsköpfe!“ höhnte Robert Robba. „Schafsköpfe!“

Und pfiff – pfiff ein Signal …

Drohte wieder: „Hinlegen!!“ Und das war Ernst. Das war derselbe Mensch, der uns hatte die Schädel mit Steinen einschlagen wollen.

Zum Hinlegen – zum Gehorchen kamen wir nicht.

Fühlten schon unsere Handgelenke gepackt. Schlingen zogen sich zu … Zwei Stöße – wir flogen in einen Haufen Seetang – lagen – rappelten uns hoch …

Hörten das Puffen des Aushilfsmotors des Kutters, sahen undeutlich den Schatten des Bootes davongleiten …

 

3. Kapitel.

Der Rammstoß.

Die Kerle verfolgen?! Ja – wir versuchten’s. Wir hatten im Nu die lächerlichen Fesseln abgestreift, rannten am Bollwerk hin, hofften einen Kutter zu finden, dessen Besitzer an Bord war.

Fanden keine lebende Seele. Fanden die Kajüttüren der Kutter verschlossen. Und gaben den Gedanken auf, die Kerle sofort zu fangen.

„Wir bekommen sie schon noch!“ tröstete Harst.

Zurück also zum Gehöft des Gemeindevorstehers.

Armer Peter Kraschan! Er schlief so fest, er war so verschlafen, als er schließlich öffnen kam.

Seine Laterne beleuchtete uns Störenfriede.

„Ah – Herr Harst!“ Das ärgerliche Gesicht legte sich in freundliche Falten.

Peter Kraschan führte uns in sein Büro. Das war zugleich der Dienstraum der Postagentur Greifswalder Oie.

„Ein paar Fragen – eine Bitte, Herr Kraschan,“ sagte Harst, sich an den Kachelofen lehnend.

Kraschan zündete die große Hängelampe an, blieb abwartend unter der Lampe stehen.

„Also, Herr Kraschan, der Wüllner war eine Frau – ein Weib …“ leitete Harald das Verhör ein.

Ich spitzte die Ohren. – Ein Weib?! Wüllner – der Jongleur?!

„Ah – Sie wissen …“

„Wie Sie hören: ich weiß! – Was hat sie Ihnen erzählt, Herr Kraschan? Wie hat sie ihre Verkleidung als Mann begründet?“

„Sie sagte, sie sei eine Verfolgte – von politischen Gegnern Gehetzte, eine Deutschrussin namens Hanna Renner.“

„Schwindel! – Sie verstand es, Ihr Mitleid zu erregen …“

„Ja. Meine Frau ist ganz vernarrt in sie.“

„Möglich ist das schon. – Nun zu Franz Schomp. War der heute hier bei Ihnen?“

„Ja. Nachmittags.“

„Sprach er mit dieser Hanna?“

„Ein paar Worte nur. Sie saß in Männerkleidern am Fenster.“

„Die paar Worte werden von einem Briefe begleitet gewesen sein – der Verabredung zur Flucht.“

„Flucht – –?!“

„Hanna Renner ist soeben mit Schomps Kutter auf und davon!“

Herrn Peter Kraschan blieb der Mund offen.

„Sie besitzen doch selbst einen Kutter, Herr Kraschan. Wir bitten Sie, uns sofort nach Swinemünde zu bringen. Außerdem werde ich eine Depesche nach Berlin aufgeben.“

Und Harst setzte sich an den großen Schreibtisch, entwarf das Telegramm:

Fritz Bechert, Berlin, Neue Königstr. 37

Bitte dienstlich in Riga anfragen, ob dort in letzten zwei Wochen besondere Verbrechen vorgekommen. – Harst.

Die Depesche wurde von Kraschan besorgt.

„Um halb eins ist der Kutter bereit,“ erklärte Kraschan noch. –

Wir kehrten heim, weckten Jan Schluder.

Der Alte heulte vor Abschiedsschmerz wie ein Kind. Unsere Koffer waren im Umsehen gepackt, Jan lud sie auf den Handwagen.

Am Fischerhafen irrten im Regennebel Lichter hin und her: Kraschan und sein Bootsknecht, dazu Frau Kraschan und Gustchen, die Tochter. –

Der Kutter wurde losgemacht. Jan Schluder drückte uns die Hände. Er wollte etwas sagen. Die Tränen rollten über das braune Faltenfeld seiner Wangen. Er bekam kein Wort heraus.

Der Motor sprang an … Wir winkten …

Und Frau Kraschan rief noch:

„Herr Harst, dat Sie man bloß der armen Marjell, der Hanna, nix andaun!“

„Keine Sorge! Wir tun ihr nichts an. Wir tun nur unsere Pflicht.“ –

Wir saßen im Ölzeug neben Kraschan am Steuer, Blechnäpfe mit Grog in den regenfeuchten Händen …

Der Kutter stampfte schwer. Die Laternen, grün und rot, schimmerten matt. Der Motor ging im Takt, und das Leuchtfeuer der Oie verkroch sich immer mehr in der diesigen Luft hinter uns.

„Herr Harst, um was geht’s hier eigentlich,“ fragte Peter Kraschan, der ein Hochdeutsch wie ein Schulmeister sprach.

„Um den Napoleon …“

„Hm – und der Napoleon?“

„War an Land getrieben in seiner Kiste, an den Weststrand, Herr Kraschan.“

„Ah – –!!“

„Und da hat Herr Robba uns beiden eins auf den Kopf gegeben und ist mit der Kiste und dem Napoleon in Schomps Kutter entflohen und – heute zurückgekehrt, um Hanna zu holen.“

„So … so!“ Kraschan verarbeitete das Gehörte.

Fügte hinzu: „Schomp hat sein Haus gestern verkauft, Herr Harst. Er will von der Oie fortziehen.“

„Das heißt: will verschwinden, weil er ein schlechtes Gewissen hat als Helfershelfer dieses Robba. Den Verkauf hat er ja sehr geheimgehalten. Schluderjan wußte nichts davon. Wer ist der Käufer?“

Kraschan zögerte. „Ich, Herr Harst …“ – Trank einen langen Verlegenheitsschluck. „Schomp bot mir sein Grundstück an – sehr billig. Weshalb sollte ich nicht zugreifen?“

„Allerdings – weshalb nicht!“

Harst war plötzlich merkwürdig nervös, stand auf, setzte sich wieder, stand abermals auf …

Und starrte nach Osten zu in das Dunkelgrau der Meeresnacht hinaus, wo die Wogenkämme wie weiße Striche sich langstreckten, zusammenschrumpften, wieder erschienen – verschwanden …

Beugte sich nieder …:

„Herr Kraschan, es ist da links von uns ein anderer Kutter – ohne Lichter, was gegen die Gesetze ist!“

Das brachte Kraschan und mich blitzartig hoch.

Aber – wir sahen nichts …

„Fährt Schomps Kutter schneller, Herr Kraschan?“ fragte Harald, jetzt geradeaus spähend.

„Ja.“

„Dann überlassen Sie mir das Steuer. – Schraut, die Clement heraus. Und hier haben Sie meine Pistole, Herr Kraschan. Geht beide nach vorn. Sobald ein Kutter ohne Lichter auftaucht, schießt auf die Leute – auf meine Verantwortung. Ich habe keine Lust, die Flundern und Aale unten am Grunde zu besuchen.“

Kraschan fluchte. Er hatte schnell begriffen.

Wir gingen nach vorn. Der junge Bootsknecht wurde eingeweiht. – „Ich hab’ die Schrotflint’ unten,“ meinte er abenteuerlustig.

Er holte sie herauf.

So warteten wir drei vorn auf den Angriff.

Nichts erfolgte – gar nichts …

Eine halbe Stunde verstrich …

Aus dem Dunkel vor uns hoch in der Luft ein Lichtschein – erst schwach, dann deutlicher: der Leuchtturm von Swinemünde. Wir drei saßen jetzt auf der erhöhten Vorderluke.

„Ich habe noch keine Spur von einem fremden Kutter bemerkt,“ brummte Peter Kraschan. „Wer weiß, was Harst gesehen hat – – Herr Harst,“ verbesserte er sich schnell.

Der Bootsknecht grunzte zustimmend. Und kleinlaut meinte ich: „Ich auch nicht!“

„Karl, geh’, setz’ Grogwasser auf,“ befahl Kraschan eigenmächtig.

Der junge Mensch turnte die enge Treppe hinab.

„Vor der Mole steht schwere See, Herr Schraut,“ sagte Kraschan nach einer Weile. „Hören Sie die Brandung?“

Ich sah nur den Lichtfinger des Leuchtturms durch die Finsternis greifen, wieder verschwinden, wieder aufblitzen.

Und machte vor jedem Wellenspritzer, der über Bord kam, einen tiefen Bückling.

Die Spritzer kamen oft – kamen immer häufiger. Der Kutter kobolzte, torkelte wie trunken. Das Großsegel, prall gefüllt, trieb uns schneller vorwärts …

Nun auch vor uns ein paar andere Lichter: der Hafen – die Molen …

Dann ein heulender Windstoß – ein Regenguß – wie aus Eimern …

Und – dann der infamste Schurkenstreich, der je in diesen friedlichen Gewässern ausgeführt wurde – dann aus der Regenfinsternis von Backbord her der Angreifer, ganz überraschend, wie ein Seegespenst, still, düster – –

Ein Rammstoß …

Der Mast knickte …

Ich flog über Bord …

Das braune Großsegel preßte mich in die Tiefe …

Und doch die Geistesgegenwart, zu tauchen, und das Glück, freizukommen …

Herunter mit dem Gummimantel, dem Ölrock …

Wasser getreten … Wasser geschluckt …

Alles wäre umsonst gewesen, wenn Harst nicht auf mich acht gegeben hätte.

Er war mit einem Male neben mir – mit zwei Korkwesten. Wir schwammen – schwammen …

Die Glieder erstarrten …

Und wir bissen die Zähne zusammen …

Da war vor uns die Hafeneinfahrt, die Mündung der Swine … Wir kämpften um das Leben …

Die Wogen hoben uns, schäumten über uns hinweg …

Bis es mit einem Male unheimlich still um uns wurde: wir waren unter Wind der Ostmole! Und krochen die Steine empor, die mit Zement gefügten Steine, krochen, stützten uns gegenseitig, taumelten weiter.

Gelangten bis zur Tür der Betonkasematte, die hier im Kriege auf dem Molenkopf errichtet worden, taumelten hinein – in eine Ecke …

Hockten nebeneinander …

Gerettet!! Gerettet – wie durch ein Wunder!

Blieben hier eine Stunde.

„Wir sind tot!“ sagte Harst dann. „Der Gemeindevorsteher wird uns aufnehmen und schweigen.“

Wir schritten die Mole entlang, am Ufer der Swine hin. – Osternothafen wurde unser Nothafen. Der freundliche alte Herr, der hier regiert, führte uns in eine behagliche Dachstube. Zwei Betten, zwei todmüde Schläfer, … und vormittags elf Uhr dann ein Frühstück, stiller Abschied, nachdem wir unsere bereits wieder gebügelten Sachen wieder angelegt hatten. Das Motorboot brachte uns über den Hafen nach Swinemünde, in die Nähe des Hauptbahnhofs. Ein Häuschen war da am Bollwerk, mit dem üblichen Pappschild an der Tür „Möbl. Zimmer“.

Wir mieteten das eine Erdgeschoßzimmer …

Harst schickte einen Jungen mit einem Brief an den Kriminalkommissar. – Herr Pfl. erschien nach einer Stunde, ging wieder, kam gegen fünf nochmals. Und berichtete, daß von Kraschans Kutter nur ein Lukendeckel gefunden sei. Außerdem seien die Leichen Schomps und dessen Frau beim Herrenbade angetrieben.

Der Kriminalkommissar hatte außerdem mitgebracht, was wir brauchten, so daß wir gegen sieben Uhr uns getrost ins Freie wagen konnten – zwei Herren, die mit Harst und Schraut nur die Größe gemeinsam hatten, sonst nichts.

Unsere Nachforschungen nach Robert Robba und dessen Helfershelfern (es mußten außer Hanna Renner mindestens zwei sein, die uns auf der Oie die Hände gefesselt und uns auf den Tanghaufen geworfen hatten) – diese Nachforschungen blieben ergebnislos.

Schomp und Frau waren ertrunken. Die beiden wiesen keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf.

Am folgenden Morgen (das war der 14. Juli) wurden auch Peter Kraschan und der Bootsknecht tot an Land gespült.

Kommissar Pfl. hielt sein Versprechen. Niemand erfuhr etwas von der Wahrheit – niemand. Als sie dann später in die Zeitung kam, waren die Schuldigen bereits verhaftet.

15. Juli nachmittags drei Uhr fuhren wir nach Berlin zurück. Der Zug war leer. In unserem Abteil Zweiter lüftete Harald endlich so etwas den Schleier der Geheimnisse des wächsernen Napoleon.

 

4. Kapitel.

Der Laubennachbar.

Er saß neben mir und rauchte, blickte in die vorbeifliegende Sommerlandschaft hinaus …

Der Zug donnerte über die lange Haffbrücke …

Und da sagte Harst ganz unvermittelt:

„In der Kiste, die wir aufbrachen, lag kein Automat.“

Ich wandte den Kopf.

„So?! Was denn sonst?“

„Eine präparierte Leiche …“

War das Scherz?! – Doch nein! Dazu war die Geschichte denn doch zu brutal, die Geschichte mit den vier Toten, die … ertrunken waren, – zu brutal – ernst.

„Der Kampfergeruch machte mich sofort stutzig,“ erklärte Harald weiter. „Ich berührte das Gesicht des Napoleon und fühlte, daß es weich war – nur mit einer Wachsschicht überzogen …“

„Ah …! Und der Kampfer sollte den Leichengeruch übertäuben …“

„Nein. Es wird eine Mumie gewesen sein.“

„Mumie – –?“

„Nun ja. Eine Mumie, die man aus Riga heimlich hinausschaffen wollte. Robba hat das übernommen. Er ist vielleicht Wachsfigurenhersteller und Artist. Da hat er die Mumie als Napoleon herausstaffiert und hat sie als seinen Wunderautomaten vor der Zollbehörde in Riga ausgegeben. Der Kapitän Dabbrö erzählte uns ja, daß die Zöllner die Kiste vor der Einschiffung auf die Schonerbark untersucht hätten.“

Ich mußte all das erst mal geistig verdauen.

Eine Mumie?! Das wollte mir nicht in den Kopf … Allerdings, der Kampfergeruch sprach dafür. Aber …

„Einer Mumie wegen vier Morde, Harald?“ sagte ich laut. Denn Schomp und Frau, Kraschan und der Bootsknecht, dazu die beiden spurlos verschwundenen Kutter: das waren Robert Robbas Opfer!

„Weißt Du denn, was die Mumie wert ist?!“ erwiderte Harst.

„Vier Morde?! Und das ganze Risiko!! Das kann nicht stimmen! Dazu noch Hanna Renner, die doch einen recht sympathischen Eindruck machte und die auf der Oie so viel Liebe fand!“

Harald nickte versonnen. „Und – es war trotz allem eine Mumie!“ murmelte er. „Deine Bedenken sind ja berechtigt. Wollen sehen, ob Freund Bechert etwas ermittelt hat.“ –

Als wir abends acht Uhr auf der Veranda des Harstschen Hauses beim Abendbrot saßen, als Frau Auguste Harst, Haralds Mutter, uns erzählte, daß Bechert schon zweimal angerufen hätte, eilte Harald in sein Arbeitszimmer und ließ sich mit dem Polizeipräsidium verbinden.

Kriminalkommissar Bechert sei verreist, nach Riga, lautete der Bescheid.

„Wann rief Bechert Dich an?“ fragte Harald seine Mutter.

„Heute früh, erst um neun, dann um zehn nochmals.“

„Von wo?“

„Das sagte er nicht. Er wollte Dich dringend sprechen. Er war recht schwer zu verstehen.“

„Dann war’s von außerhalb.“ Harald machte dazu ein sehr mißvergnügtes Gesicht. Wir waren eben mit dem Fall Robba auf den toten Punkt angelangt.

Nach Tisch gingen wir im Gemüsegarten auf und ab. Offen gestanden: ich begriff Haralds Verhalten nicht recht! In Swinemünde hatte er alles getan, um den Anschein zu erwecken, daß wir ebenfalls ertrunken seien. Und hier nun, wo wir doch noch in Verkleidung eingetroffen waren, – hier hatte Harald sich wieder in den Alltags-Harst verwandelt und auch mich veranlaßt, Perücke und Bart abzulegen, schlenderte nun mit mir auf dem Hauptwege auf und ab, wo wir von dem Fahrweg aus, der zwischen unserem Zaun und dem Laubengelände entlanglief, deutlich zu erkennen waren.

Ich begriff dies nicht. Und – es war doch eine sehr einfache Kalkulation von Harald, wie er mir plötzlich erklärte.

„Wir haben Robbas Spur verloren,“ sagte er. „Wir müssen versuchen, ihn zu einer Dummheit zu verführen. Die Sache liegt doch so: als wir die Kiste geöffnet hatten, beobachtete er uns vom Schluchtrande. Er sah, daß ich der angeblichen Wachsfigur das Gesicht befühlte. Und da merkte er, daß ich herausgefunden hatte, was es mit dem wächsernen Napoleon auf sich hatte. Da wollte er uns kalt stellen, damit er die Kiste nebst Inhalt durch Schomp aufs Festland hinüberschaffen könnte. Als wir dann Hanna Renners Flucht verhindern wollten, schonte er uns, weil – – er uns eben nicht auf der Oie abtun wollte. Er rechnete mit einer Verfolgung durch uns. Auf See sollten wir sterben, damit unser Tod als Unfall gelte. Nun sind bisher nur vier Leichen angetrieben, wir beide nicht. Da wird er eben jetzt vermuten, wir könnten uns gerettet haben, und wird Spione hierher schicken, die unser Haus beobachten sollen. Die Spione werden uns, hoffe ich, über den toten Punkt hinweghelfen.“

Wir standen an der hinteren Gartenpforte.

Drüben in den Laubengärten arbeiteten Leute, Männer, Frauen, alle heiter und freudig, weil sie hier ihr Fleckchen Erde bestellen konnten. Man rief uns Grüße zu. Wir standen mit diesen Nachbarn stets auf dem besten Fuße.

Harald öffnete die Pforte. Wir überschritten den Weg, lehnten uns an Meister Gumberts Zaun. Der Schlosser Gumbert war ein Original. Er kam und drückte uns die Hand. „Auch mal wieder daheim,“ meinte er. Dann sprach er über seine Stangenbohnen, die diesmal gar nicht recht gedeihen wollten. Bis Harald so nebenbei fragte: „Die Lauben sind noch alle in denselben Händen, wie?“

„Und ob, und ob! Das heißt: Damaschke hat die seine gestern abend weiterverpachtet, hat ein jehörijet Stück Jeld dafür injesteckt, Herr Harst. An ’ne Dame, die die Laube zur Erholung bewohnen will.“

„Also ne alte Dame?“

„Ins Jejenteil – ne junge! So ne mit’n Tituskopp, Herr Harst. Heit frieh sind sie injezogen.“

Den Namen Damaschke hatten wir noch nie gehört, wenigstens nicht als den eines Nachbarn.

„Damaschkes Laube liegt doch drüben am anderen Ende,“ sagte Harst, scheinbar ganz im Bilde.

„Nee, nee, dort die vierte am Hauptwege ist’s, die mit der Windmühle auf’m Dach.“

Harald blickte mich an, wandte sich wieder Gumbert zu. „Meister,“ erklärte er nachdrücklich, „Sie können schweigen, wenn’s drauf ankommt. Sagen Sie niemandem, daß wir über Damaschke gesprochen haben. Jetzt leihen Sie mir zum Schein Ihren Gartenspritzenschlauch.“

„Aha – da stimmt was nicht. Ob ich schweigen kann!“ und er holte den Schlauch.

Wir kehrten in den Gemüsegarten zurück, schraubten den Schlauch an eins der Wasserleitungsrohre und sprengten die Beete. Nachher brachten wir den Schlauch Gumbert mit Dank zurück.

Und abends elf Uhr lagen wir hinter unserem Zaun zwischen den Kürbisblättern am Komposthaufen und beobachteten drüben den Hauptweg der Laubenkolonie.

Es war windig geworden. Es regnete sacht. Das Sprengen hätten wir uns sparen können, wenn’s nicht eben nötig gewesen wäre, um jedes Mißtrauen der Damaschke-Nachfolger zu zerstreuen, wir könnten auf sie aufmerksam geworden sein.

Auf allen Vieren hatten wir unseren Beobachtungsposten erreicht. In den Laubengärten war es still geworden. Hinter den Fenstern einiger Häuschen schimmerte Licht. Dort wohnten jetzt die Besitzer – die Sommerfrische der Minderbemittelten!

Es wurde Mitternacht. – Wir hatten Gummimäntel an, älteste Garnitur, hatten dafür gesorgt, daß wir nicht so leicht zu erkennen wären.

Kurz nach zwölf Uhr kam ein Mann von Damaschkes Laube her den Weg entlanggeschlichen.

Kletterte über unseren Zaun … Machte es wie wir vorhin: kroch auf das Haus zu …

Und wir – hinterdrein!

Wir blieben unbemerkt hinter dem schlanken Menschen, der einen starken blonden Vollbart hatte und nun an der hinteren Haustür kniete.

Nur Sekunden …

Dann kroch er wieder davon.

„Warte!“ flüsterte Harald.

Er folgte ihm allein – war nach zehn Minuten wieder neben mir.

„Er hat Damaschkes Laube betreten,“ meldete er. „Ich hörte drinnen Stimmen. Der Mann war Hanna Renner!“

Und auf der Schwelle der Haustür fanden wir einen Brief, zusammengefaltet zwischen Tür und Schwelle geklemmt. Lasen dann in Haralds Arbeitszimmer folgendes – eine Männerhandschrift, kritzlich wie die eines Kranken.

„Herr Harst, Sie sind als Beschützer aller Bedrängten bekannt. Man hat gegen unseren Willen ungeheure Verbrechen begangen. Wir sind in schwere Schuld verstrickt worden, ohne schuldig zu sein. Man hat uns ausgeplündert, und nur ein Wunder ist’s geradezu, daß wir fliehen konnten. Robert Robba hat uns schändlich betrogen, uns an den Bettelstab gebracht. Wir müssen uns jetzt vor zweifachen Feinden schützen. Helfen Sie uns! Suchen Sie Robert Robba und nehmen Sie ihm wieder ab, was er uns raubte. Lassen Sie sich nicht durch sein Aussehen täuschen. Er ist in Wahrheit hager, kann sein Gesicht in unglaublicher Weise verändern. Er ist Artist. – Mehr darf ich nicht verraten. Sie hören noch von uns.“

Harald nahm ein Zündholz. Der Brief nebst Umschlag flammte auf. Selbst die Asche zerrieb Harst.

„Nach Damaschkes Laube,“ sagte er dann.

Durch den Garten über den Feldweg – auf Umwegen ans Ziel … kriechend, horchend, spähend …

Meine Gedanken eilten uns voraus.

Wer war der Briefschreiber, wer – –?!

Und dann – dann der überraschende Ausgang des ersten Teiles des Napoleon-Problems …

Dann eine Nervenprobe – ein Tanz am Rande des Todes … Das brachte diese Julinacht …!

 

5. Kapitel.

Der Sieg der besseren Nerven.

Damaschkes Laube, ein Stück Bau-Poesie eines Naturfreudigen, eines Menschen, der sich keine Zigarre, keinen Schluck Bier gönnt, nur um das Geld für den Ölfarbenanstrich seines Laubenhäuschens zusammenzusparen. – Es gibt nicht viele von Damaschkes Art im heutigen Deutschland. Wir haben diesen Mann später genauer kennen und daher hochschätzen gelernt. Daheim eine kranke Frau, drei Kinder: nur daher hatte er sein Stückchen Poesie weiter verpachtet!

Ein Zaun um den Garten, aus Strauchwerk geflochten. Aber – wie sauber geflochten, wie glatt beschnitten, wie geschmackvoll gestrichen! Und über dem Zaun Stacheldrähte gespannt gegen das Diebespack der Laubenkolonien, das mehr zerstört als erbeutet. –

An der Pforte des Zaunes machten wir halt.

Harald flüsterte: „Es ist noch Licht hinter den geschlossenen Fensterladen. Wir müssen die Stacheldrähte oben weit auseinanderhalten, dann können wir hindurch. Ich möchte …“

Und schwieg plötzlich.

Wir beide sahen’s durch die fallenden Regensträhnen: da stand ein Mann vor dem linken erleuchteten Fenster, denn – der Lichtstreifen war plötzlich verschwunden.

Ein Mann, nur erkennbar wie ein schwarzer länglicher Fleck … Ein Lauscher, ein … Feind vielleicht, – vielleicht!

Ich merkte, daß Harald in die Jackentasche griff.

Ich merkte, es wurde ernst …

Und meine Augen bohrten sich in das düstere Regengrau hinein … Meine Nase wurde umschmeichelt von zarten Nelkendüften. Ein ganzes Beet Nelken blühte da dicht vor uns. – Welcher Gegensatz! Freundliche Kinder des Sommers, duftschwanger, in heiteren Farben, – und drei Schritt weiter das häßliche Bild des geldgierigen, heimtückischen Verbrechers: der Mensch!

Nicht ein einzelner nur …

Nein – da war ein zweiter Schatten um das Häuschen geschlüpft, verschmolz mit dem ersten in eins.

Ein dritter dann – alle drei vor dem Fenster.

Und drinnen jetzt im Häuschen mit einem Male leise – ganz leise Mandolinenklänge …

Harst legte mir die Hand auf den Arm. „Achtung! Es gibt etwas!“

Die drei Schatten waren nur mehr wie ein regloser Klumpen an der Wand des Häuschens.

So vergingen fünf – zehn Minuten.

Das wütende Blaffen eines Hundes störte die zarte Musik der Mandoline. Von den Fliedersträuchern, den Obstbäumen tropfte der Regen. Ein Hahn krähte in der Nähe, ein Gockel, der sich wohl in der Zeit geirrt hatte. Die Morgenstunde war noch fern …

Seltsam – mir schoß es durch den Kopf: „Wenn der Hahn dreimal krähet, wirst Du mich verraten haben.“ Kindheitserinnerungen …! Welchen Eindruck hatte gerade dieser Ausspruch des Menschheitserlösers auf mich gemacht!

Doch der Laubengockel hier krähte nur einmal.

Und – mir war’s, als käme Bewegung in die drei Gestalten …

Sie waren verschwunden. Der Lichtstreifen war wieder da, schimmerte friedlich durch die Nacht, begleitet von dem melodischen Schwirren der Mandolinensaiten.

Wir warteten – warteten geduldig – eine Viertelstunde. – Harald war inzwischen lautlos davongeschlichen, war zurückgekehrt, meldete: „Die Kerle müssen sich entfernt haben.“

Schließlich wagten wir’s, als es für kurze Zeit noch stärker regnete, überstiegen den Zaun, pochten ganz leise gegen den Laden …

Licht erlosch. Mandoline verstummte. – Dann eine Stimme von drinnen – aus dem etwas geöffneten Fenster: „Wer ist dort draußen?“ – eine Stimme, die voller Angst war und doch drohte!

„Harst!“ flüsterte der Freund neben mir. „Ich habe Ihren Brief bereits gelesen. Ich bin Fräulein Hanna gefolgt.“

Minuten nichts. Drinnen berieten sie wohl. Dann dieselbe Stimme: „Wir lassen Sie ein. Aber – beweisen Sie erst, daß Sie Harst sind. Den Brief kann ein Unberufener an sich gebracht haben.“

Und Harald entgegnete: „Wenn Sie mißtrauisch sind, kommen Sie zu mir, meinetwegen um fünf Uhr, wenn es hell geworden, wenn Sie nichts zu fürchten brauchen.“

Wieder Stille … Und nun: „Gut – wir öffnen.“

Die Tür schob sich auf, eine Handbreit. Ein greller Lichtblitz schoß über uns hin.

„Harst und Schraut,“ erklärte Harald rasch. „Löschen Sie die Laterne aus.“

Die Tür ging weiter auf …

Und – hier auf der Schwelle dann der hinterlistige Angriff – von hinten …

Zwei Hiebe – blitzschnell, daß wir in die Knie knickten.

Und nur noch ein paar angstvolle, rasch erstickende Schreie vernahmen …

Und fühlten, wie man uns hochriß, vorwärtsstieß, wie gleichzeitig unsere Handgelenke wie von Schmerzen gefoltert sich vereinigten. Zinkdraht war’s, den die Schufte zum Fesseln benutzten!

Die kurze Betäubung wich …

Wir saßen nebeneinander auf dem Rande eines Bettes im erleuchteten Laubenstübchen.

Uns gegenüber auf dem anderen Bett ein blondes Mädchen mit Tituskopf, ein greisenhafter Mann – auch gefesselt, zwischen uns ein Tisch, vier Leute, vier Kerle, Strolche, Strolchkostüm … Und in den Händen zweier dieser Banditen Waffen, wie Satanas sie ihnen verschafft: kleine Injektionsspritzen …!

Sagte da der eine Kerl auch schon hohntriefend:

„Ein lautes Wort, und die Dinger jagen Euch Blausäure ins Blut – wie räudigen Kötern! Merkt Euch das! Das wirkt blitzartig.“

Dann – krähte der Kerl – krähte zweimal, lachte leise …

„Seht Ihr – das war meine Warnung! Ihr ahntet nicht, daß ich hinter Euch her war. Die Warnung galt den drei Freunden.“

Zu uns sprach er’s, zu uns beiden. Und fügte hinzu: „Vom Kutter seid Ihr lebend entwischt. Hier nicht! Hier nicht, so wahr Ihr gefährlich seid!“

Grinste uns an … „Wenn morgen – übermorgen hier vier Kadaver gefunden werden, mag die Polizei sich den Kopf zerbrechen, wie …“

„Das ist ein Irrtum,“ fiel Harst ein, „die Polizei braucht sich über nichts mehr den Kopf zu zerbrechen. Was in Riga geschehen, wie Graf Ronnow aus dem Gefängnis befreit wurde, ist kein Geheimnis mehr.“

Der Kerl feixte nicht mehr. In seiner Haltung war eine gewisse Unruhe.

„Dort sitzt Graf Alexander Ronnow,“ fuhr Harst ebenso selbstsicher fort. „Neben ihm seine Tochter, die den Artisten Robert Robba für die Befreiung warb, die ihm vertraute, die selbst als Artist mit nach Riga ging. – Der durch ein Schlafmittel betäubte Graf wurde als Napoleon in die [Kiste gelegt, um seine Identität zu verschleiern. So konnte][3] ihm die Flucht aus Riga gelingen. Und in der Kiste lagen noch die Ronnow-Juwelen. Das war für Robba die Hauptsache.“

Harald lachte leise auf. „Wahrscheinlich werdet Ihr uns hier wirklich ermorden! Wahrscheinlich! Obwohl ich’s an Eurer Stelle nicht täte.“

Dieses leise Lachen war und ist vielleicht das Beste, was Harst je geleistet hat.

Ein Lachen, das so viel Sicherheitsgefühl, so viel verstecktes Drohen, so viel triumphierende Überlegenheit ausdrückte – und doch nur geheuchelt war, – das, das soll man Harald Harst in einer solchen Lage nachmachen, ein Lachen am Rande des Todes – solch ein Lachen!

Der Kerl, der hier den Wortführer spielte, blickte finster zu Boden.

Und Harald schwieg – wartete …

Bis der Kerl seine drei Kumpane anschaute – wie fragend, wie gequält von der Last eigener Verantwortung.

Harst sagte da ganz laut zum anderen Bett hin: „Herr Graf, zwei Stunden nach Ihrem Einzug hier war das Laubengelände mit Kriminalpolizei gespickt. In dieser Stunde wird auch Robba verhaftet.“

Die vier Gesellen traten ans Fenster, berieten …

Nicht lange. Der Sprecher wandte sich an Harald.

„Wenn Sie uns entschlüpfen lassen, Herr Harst, wollen wir Sie schonen.“ – In Ton und Blick des Halunken war etwas Lauerndes. Ich fühlte geradezu: er wollte nur sehen, ob Harald auf den Vorschlag eingehen würde, der kein Vorschlag, nur eine Falle war. Hätte Harald mit ja geantwortet, dann hätte der Mensch gewußt, daß Harst keine Hilfe in der Nähe hatte, daß Harst nur eine feine Komödie spielte.

„Ich Sie entschlüpfen lassen?! Wie könnte ich das?!“ meinte Harald fast unwillig – scheinbar. „Kriminalkommissar Bechert, mein Freund, steckt mit drei Beamten vorn in des alten Gumbert Häuschen – als Gumbert maskiert, und Becherts Wachen dürften schon an dem Fenster stehen. Nein, das liegt außerhalb jeder Möglichkeit. Was Sie tun, ist Ihre Sache. Für mich ist der Fall Robba erledigt.“

Abermals hastige Beratung. Und dabei verschwanden die kleinen Nickelspritzen, entleerten ihren Inhalt auf den Fußboden. Die Kerle nahmen uns die Drahtfesseln ab.

Und der Sprecher sagte achselzuckend: „Wir vier sind nur Robbas Werkzeuge gewesen, wir bereuen, daß wir uns mit ihm eingelassen haben.“

Er hatte das letzte Wort noch nicht über die Lippen, als Haralds Clement den Strolchen die Hände emporschob.

„Hände hoch!!“ Das hatte so schneidend, so drohend geklungen, als würde die kleine Pistole die Drohung sofort bekräftigen.

Die Gräfin war’s, die den Strolchen nun die Arme auf dem Rücken zusammenband, während Harst dem Sprecher erklärte: „Mann, Sie sind ein unbegabter Anfänger – nichts weiter! Sie hatten uns in Ihrer Gewalt – und draußen ist niemand, der uns Hilfe gebracht hätte!“ –

So endete der erste Teil des wächsernen Napoleon.

Was Graf Alexander Ronnow uns mitteilte – als Ergänzung von Haralds Angaben, – wie Harald den Kern des Geheimnisses der Holzkiste erraten hatte, all das bildet die Überleitung zu der … Drehorgel des Bettlers …

 

 

Die Drehorgel des Bettlers.

 

1. Kapitel.

Der Bettler mit der Drehorgel.

Es war das erbärmlichste Instrument dieser Art, das je Menschenohren beleidigt und daher reichlichere Gaben, als ein Drehorgelspieler sie sonst einzusammeln pflegt, erpreßt hat. Und der Mann, der die Kurbel des beschabten, quietschenden Kastens drehte, paßte genau zu diesem wie von einem Müllplatz aufgelesenen Martergehäuse: bucklig, abgerissen, Fragmente von Schuhen, mit Bindfaden umwickelt, an den Füßen, ein altes, faltenzerrissenes Greisengesicht, ein Auge durch ein Pflaster verklebt, – wirklich ein Anblick, der das Mitgefühl wachrief.

So stand der Alte am 16. Juli nachmittags vier Uhr dicht vor der Tür[4] des Vorgartens des Harstschen Hauses.

Harst und ich, soeben erst munter geworden nach einem längeren Verdauungsschlaf, waren ans Fenster getreten, schauten durch die Tüllvorhänge nach dem Drehorgelspieler aus, dessen Wimmerkasten ein Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft versammelt hatte.

Mit einem Male langte Harald nach dem Schreibtisch hinüber und nahm das für alle Fälle stets bereitstehende Fernglas zur Hand, stellte es auf den Bettler ein und sagte sehr bald:

„Vielseitig, der Mann! Mit der Rechten dreht er die Kurbel, mit der Linken, die er so merkwürdig ans Herz gedrückt hält, macht er Fingerbewegungen wie ein Klavierspieler. Bitte – sieh Dir dies an, mein Alter.“

Allerdings: das war seltsam, war auffallend.

„Vielleicht leidet der Alte an nervösen Handzuckungen,“ meinte ich und setzte das Fernglas ab.

Harald gab mir eine Banknote. „Da, prüfe, ob der Mann verkleidet ist.“

Ich ging hinaus – durch den Vorgarten, über den Bürgersteig, reichte dem Bettler den Geldschein …

Und sah sofort, daß hier ein echter Greis, kein zurechtgeschminkter Spion oder dergleichen seiner Not zerschlissene Lumpen zur Schau stellte. Sah auch, daß das gesunde Auge des Bettlers einen seltsam ans Herz greifenden Ausdruck tiefsten Leides zeigte, – nicht jenen Ausdruck komödienhafter Wehleidigkeit der professionellen Schnorrer, nein, etwas wahrhaft Erschütterndes, das Mitgefühl Packendes.

Der Alte stammelte einen Dank …

Und – dabei veränderte sich sein Gesicht so plötzlich, daß ich einen Moment in sprachlosem Schreck den Mann anstarrte.

Was so jäh als völlige Verwandlung des Ausdruckes der verwitterten Züge kenntlich geworden, war das Stärkste, was ein Menschenantlitz durch das Mienenspiel verraten kann: eine Angst wie vor dem gewissen Tode – eine Angst wie die eines Delinquenten, der zum Schafott geführt wird. Ich konnte nicht anders – ich mußte den Mann fragen, was in aller Welt mit einem Male eine so plötzliche Todesangst in ihm geweckt haben könnte.

Während ich noch die Worte dieser in teilnahmvollstem Tone vorgebrachten Frage aneinanderreihte, überlief die Gestalt des Greises ein Zittern – so stark, daß er die Kurbel nicht mehr weiterdrehen konnte.

Und – unerklärlich! – Das gesunde Auge bohrte sich in die meinen ein in stummer Bitte – halber Verzweiflung.

Fürchtete der Mann etwa mich?! Und – wenn ja – weshalb fürchtete er mich – – weshalb?!

Ich vergaß den begonnenen Satz zu beenden. Ich war mit einem Male nur Harald Harsts gelehriger Schüler …

Und deshalb warf ich das Mitleid ab wie eine hier ungeeignete Maske, nickte dem Bettler zu und machte kehrt, schritt in den Vorgarten zurück, pfiff ein paar Gassenhauertakte und schnitt drei – vier Rosen von einem Strauche, verhüllte durch solches Tun meine innersten Gedanken …

Stand dann vor Harald …

Berichtete alles …

„Wir gehen spazieren,“ bestimmte er. „Der Alte ist nach links weitergegangen. Wir schlendern nach rechts. Aber – wir bleiben hinter ihm drein. Ich weiß mehr als Du.“

„Mehr?“

„Ja. Davon später, Freund Schraut.“ –

Wir fanden in einer Seitenstraße ein Auto, ließen das Verdeck hochklappen, fuhren dem Bettler nach, an unserem Hause vorüber …

Nichts mehr von dem Greise – nichts.

Aber die Kinder jagten Kreisel auf dem Asphalt. Die Kinder, die dem Gequietsch des Leierkastens so andächtig gelauscht hatten.

Harst rief einen älteren Knaben ans Autofenster.

„Junge, wo blieb der Leierkastenmann?“

Der Knabe kannte uns von Ansehen. Sein Gesicht strahlte auf. Mit Harald Harst sprechen – das war ein Ereignis für seine neun Jahre!

„Er stieg in eine Taxameterdroschke, Herr Harst.“

„Allein?“

„Nö – noch ein Fräulein und ein alter Herr kamen aus Ihrem Hause und fuhren mit davon, Herr Harst.“

„Wohin? Nach welcher Richtung?“

„Dort – die Glebitzer runter …“

Unser Auto sauste weiter. Die Droschke konnte kaum zwei Minuten Vorsprung haben.

Und doch – wir fanden sie nicht. Sie war unsichtbar geworden, mußte nach rechts oder links abgebogen sein.

Also wieder heim – und nach oben in die beiden Fremdenzimmer, die Harald dem Grafen und seiner Tochter in der verflossenen Nacht zur Verfügung gestellt hatte.

Und oben Frau Auguste Harst …

„Harald – sie sind ausgerückt! Kaum wart Ihr beide zum Hause hinaus, als der Graf und die junge Gräfin mit ihrem Koffer die Treppe herabkamen und mir nur zuriefen: „Vielen Dank – vielen Dank!“ Und – weg waren sie!“

„Ich hatte damit halb und halb gerechnet, Mutter.“ Er lächelte etwas. „Da war nämlich ein Leierkastenmann, der ihnen von der Straße aus Zeichen machte, nachdem er seinem Instrument das russische Volkslied „Der rote Sarafan“ entlockt hatte. Ausgerechnet das Lied, wo unsere Gäste doch Deutschrussen sind. Und der rote Sarafan stachelte mein Mißtrauen auf. Schraut aber stellte fest, daß der Drehorgelmann vor ihm eine scheußliche Angst hatte. Weshalb wohl? Weshalb? Und – weshalb entwichen Vater und Tochter von hier, wo sie doch ganz sicher waren – sicherer als anderswo?! Weshalb?!“

Der Köchin Mathilde liebliche Stimme aus den unteren Regionen: „Das Telefong – – das Telefong!“

Was uns wieder in Haralds Arbeitszimmer hetzte …

Wo sich nun Bechert meldete, Freund Fritz Bechert, Kriminalkommissar …

Harst rief: „Wieder in Berlin?“

Und horchte dann gespannt …

Sagte in die Hörmuschel hinein: „Uns hat der Graf allerdings etwas ganz anderes erzählt. – Ja – wir erwarten Sie, Bechert. Wiedersehen.“ –

Zwanzig Minuten drauf saß Bechert bei uns im Klubsessel. – –

Und nun will ich zunächst nachholen, was noch in der vergangenen Nacht geschehen war.

Harst und ich hatten die vier Strolche mit den Clementpistolen in Schach gehalten, die Gräfin hatte die Kerle gefesselt. Dann war Harald mit Ronnow und dessen Tochter in den Garten des Laubengrundstücks hinausgetreten, war nach einer Weile zu mir, der ich die vier bewachte, zurückgekehrt und flüsterte mir zu: „Du bringst den Grafen und die Gräfin zu uns in die Fremdenzimmer. Wecke meine Mutter, damit sie Bettwäsche herausgibt. Dann läute die nächste Polizeiwache an und melde das hier Vorgefallene, verschweige aber Einzelheiten, insbesondere den Namen des Grafen.“

Ich tat, wie Harald es wünschte.

Gegen zwei Uhr morgens erschien er dann bei mir in meinem Wohnzimmer, das dem seinen im Hochparterre gegenüberliegt.

„Die vier sind weggeschafft,“ erklärte er. „In den Nickelspritzen war Blausäure, woran ich bis zuletzt gezweifelt hatte. Die Kerle trugen unter den Stromerlumpen sehr elegante Smokinganzüge, hatten Geld in Hülle und Fülle, aber nicht einen einzigen Wisch Papier bei sich, der über sie hätte Aufschluß geben können. Und Antwort war von ihnen nicht zu bekommen.“

„Was hast Du der Polizei über den Grafen mitgeteilt?“

„Daß ich die Sache mit Kommissar Bechert regeln würde. Um die Nennung des Namens Ronnow kam ich nicht herum.“

Dann waren wir schlafen gegangen.

Um zehn Uhr vormittags tranken wir mit unseren Gästen zusammen auf der Veranda Kaffee. Nachher erzählte Graf Alexander noch folgendes über die Ereignisse in Riga:

Das Familiengut der Ronnows lag zwei Meilen von Riga entfernt. Schloß Ronnow war in allen politischen Stürmen bisher unbeschädigt geblieben, weil der Graf sich von Politik fern hielt und für seine Leute stets so gut gesorgt hatte, daß man ihn bis zum letzten Knecht herab geradezu verehrte. Dann erhielt er plötzlich aus Riga einen Warnungsbrief: er solle fliehen, sein Leben stehe auf dem Spiel. Er sei denunziert worden, gegen die Regierung gewühlt zu haben. Er schlug die Warnung nicht in den Wind, verbarg die Ronnowschen Familienjuwelen im Parke in einer hohlen Buche und schickte sein einziges Kind schleunigst verkleidet nach Deutschland. – Das war im April 1922. – Am folgenden Abend wurde er wirklich verhaftet. Der Hochverratsprozeß gegen ihn zog sich in die Länge. Immer neues Material gegen ihn wurde beigebracht. Schließlich sollte er auch zwei Regierungsspitzel beseitigt haben. Der Gang der Untersuchung ließ erkennen, daß er zum Tode verurteilt werden würde. Seine Sache stand wirklich schlecht. Die Beweise gegen ihn waren erdrückend. Er behauptete Harald und mir gegenüber wiederholt, daß ein Riesenkomplott gegen ihn geschmiedet worden sei und daß seine unbekannten Feinde mit teuflischer Schlauheit alles eingefädelt gehabt hätten. – Dann befreite ihn die Gräfin Johanna mit Robert Robbas Hilfe. – Ich will Einzelheiten dieser Befreiung übergehen. Sie sind hier nicht von Belang. Robba präparierte ihn, den Betäubten, als Wachsfigur und schiffte sich mit der Kiste auf der Schonerbark ein, die nachher bei der Oie strandete. In der Kiste befand sich auch der größere Teil der Juwelen, die die Gräfin aus dem Baume geholt hatte. Die Kiste war so eingerichtet, daß sie wie ein Boot im Notfalle schwimmen konnte, hatte im Deckel gut versteckte Luftlöcher und ließ sich auch von innen öffnen. – Während der Fahrt von Riga bis zur Oie war der Graf aus der Betäubung erwacht. Als der Orkan begann, verlangte die Gräfin Hanna, daß Robba ihren Vater zur rechten Zeit dem Mitleid der finnländischen Besatzung empfehle, falls dem Segler etwas zustoßen sollte. Da hatte Robba ihr erklärt, der Graf sei tot, sei gestorben. – Sie glaubte es, da ihr Vater schon im Gefängnis sich sehr schlecht gefühlt hatte. – Die Schonerbark strandete. Gräfin Hanna, wie betäubt durch die Unglücksnachricht, dachte an nichts – nicht an die Juwelen – nicht an die Kiste, ließ sich ins Rettungsboot heben und war an Land nur darauf bedacht, selbst keinerlei Argwohn zu erregen. Sie bemerkte auch bereits, daß sie Fieber hatte. Sie wußte kaum recht, was sie tat und sprach. – Ich will mich noch kürzer fassen. Robert Robba holte dann die kaum genesene Gräfin von der Oie ab und brachte sie nach dem Angriff auf unseren Kutter in ein einsames Haus am Stettiner Haff, wo sie ihren Vater lebend vorfand. Hier enthüllte Robba seinen wahren Charakter, verlangte von der Gräfin die Angabe des Ortes, wo der Rest der Ronnow-Kleinodien verborgen sei, und bedrohte beide Ronnows mit dem Tode. Nachts entflohen sie dann in einem Nachen auf das Haff hinaus, flüchteten bis Berlin. – Alles weitere kennt der Leser.

Diese Schilderung hatte in all ihren Teilen durchaus glaubwürdig geklungen.

Und doch …

Nun lasse ich Fritz Bechert sprechen, der von Harald mit diesem Tatbestand vertraut gemacht worden war.

 

2. Kapitel.

Auf dem Tourdampfer nach Pillau.

„Lieber Harst,“ erklärte Freund Bechert, „der Graf hat Sie grob belogen. Von einem Komplott gegen ihn kann keine Rede sein. Auf Ihre Depesche aus Swinemünde fuhr ich nach Riga, da mein Sommerurlaub gerade begann. Ich forschte in Riga als Privatmann nach und hörte so, daß die Flucht des Grafen Alexander Ronnow das einzige bemerkenswerte Ereignis der letzten Zeit gewesen. Der Graf hat tatsächlich zwei Spitzel beiseite geschafft und sich politisch schwer kompromittiert – sagen wir’s deutsch: sich bloßgestellt. Bei seinen Leuten ist er allerdings sehr beliebt, im übrigen ist er ein Mann, der über Leichen geht. Ich hatte vorhin im Präsidium schon die Haftbefehle gegen ihn und die Gräfin ausfertigen lassen, da ein Ersuchen der Regierung …“

Hier wurde Bechert unterbrochen.

Es hatte im Flur geläutet, und die Köchin meldete uns jetzt denselben Knaben, der uns vorhin im Auto mitgeteilt, daß der Leiermann in einem Taxameter mit einer Dame und einem Herrn davongefahren sei.

„Was bringst Du, mein Junge?“ fragte Harald das kecke Bürschchen freundlich. „Hast Du etwa den Bettler mit der Drehorgel wieder gesehen?“

„Nö, Herr Harst, das nich. Aber – aber gefunden hat mein Freund Julius etwas, das der Leiermann verlor, als er in den Taxameter kletterte. Hier – dies …“

Er hielt Harald eine Stiefelsohle hin, eine durchlöcherte Ledersohle, in der noch sechs kleine blanke Nägel steckten – blanke Nägel …

Die Innenseite der Sohle zeigte an einer Stelle in roter Tinte klare Buchstaben, die wie folgt angeordnet waren:

H     K     St     D     R
         B
                  R. R.
         Dr

Der freundliche Leser sieht: in der oberen Reihe standen mit Zwischenräumen H, K, St, D, R.

In den[5] mittleren B und R. R.

Unten stand Dr – –

Das war alles. – Nein, doch nicht alles: die punktierten Linien waren noch da, die zwischen der Mehrzahl der Buchstaben eine Verbindung herstellten. –

Der Knabe erhielt ein Geldgeschenk und zog strahlend ab.

Harald bot mir und Bechert Zigaretten an.

Nach den ersten Zügen fragte Freund Fritz:

„Die Nägel in der Sohle sind noch ganz blank, noch neu: der Orgelmann hat die Sohle also erst vor kurzem befestigt …“

„… und sehr lose,“ nickte Harald. „So lose, daß er sie hätte vor unserem Hause liegen lassen, abstreifen können, – was er auch tun wollte, mein Alter,“ wandte er sich an mich. „Als Du ihm das Geld brachtest, suchte er gerade die Sohle mit dem anderen Schuh abzustreifen, der so jämmerlich mit Bindfaden umwickelt war. Er wollte die Sohle liegen lassen – für die beiden Ronnows, die er durch die Fingersignale auf die Sohle aufmerksam gemacht hatte. Seine Angst vor Dir war eben nichts als die Angst, daß Du seine Absicht durchschaut hättest, oder vollendetstes Komödienspiel.“

Das hatte Hand und Fuß! Die Erklärung leuchtete mir ein.

„Und – die Sohle war eine Nachricht für die Ronnows,“ fügte Bechert hinzu.

„Allerdings!“ bestätigte Harst. „Eine wichtige Nachricht – eine Buchstabennachricht …!“

Ein Lächeln huschte um seine Lippen.

Bechert hatte die elende Ledersohle wieder zur Hand genommen.

„Hm – jedenfalls eine sehr kurze Nachricht,“ meinte er. „Das R. R. kann heißen Robert Robba …“

„Oder Ronnow, Vater und Tochter, – zwei R’s!“

„Ja – und Dr ganz unten kann die Abkürzung für Doktor sein …“

„Fällt ihm nicht ein! Das heißt Dresden.“

Bechert blickte Harst an. „Machen Sie Spaß?“

„Spaß?! Bei einem solchen Anlaß?! Niemals!“

„Dann – reden Sie! Was bedeuten die Buchstaben?“

„Sieben Städte und ein Verbrecher.“

Wieder starrte Bechert auf die roten Buchstaben.

„So … so … sieben Städte …! – Schraut, raten Sie die Sache?“

„Mit nichten, lieber Bechert.“

Harald nahm eine neue Zigarette, sagte:

„Hamburg, Kiel, Stettin, Danzig, Riga – fünf Hafenstädte. Das B ist Berlin, das R. R. Robert Robba, das Dr Dresden. – Dresden ist nur mit genannt, damit der Graf die Lösung leichter fände. – Von Riga floh Ronnow nach Stettin an Danzig vorüber, von Stettin nach Berlin, und von Berlin soll er nach Danzig fahren, vergleiche die punktierten Linien, wo er Robert Robba und die Juwelen finden wird. – Ich denke, das ist eine Lösung, die stimmen kann.“

„Wahrscheinlich,“ brummte Bechert. „Sie wollen jetzt nach Danzig, Harst. Ich habe Urlaub. Ich komme mit.“

„Bitte. Wir benutzen den Dampfer von Swinemünde aus. Um sieben Uhr fährt das Luxusauto des Atlantik-Hotels, Heringsdorf, von Berlin ab und ist um ein Uhr in Swinemünde. Um zwei geht der Dampfer. Also – beeilen wir uns …!“ – –

Nachts waren wir in Swinemünde – gingen an Bord des Pillau-Dampfers, eines schwarzen Kastens, der einst den Bäderdienst nach Helgoland besorgt hatte.

Waren natürlich nicht Bechert, Harst, Schraut.

Bewahre!

Waren drei Herren, die sich scheinbar nicht kannten, jeder mit einem Köfferchen …

Drückten dem Steward die Hand, drückten etwas in diese Hand, bekamen eine Kabine mit drei Betten, waren vereint.

Um zwei Uhr in See … – am Leuchtturm vorüber, zwischen den Molen hindurch …

Das Meer in Laune – spiegelglatt, Mondschein …

Getrennt standen wir an der Reling des Promenadendecks …

Und – fuhren mit den Köpfen herum: vom Vorschiff ein Leierkasten, der … den roten Sarafan winselte!

Nicht ein Leierkasten. Der Leierkasten. Eben der des Bettlers. Aus Hunderten hätte ich die Töne des Quietschkastens herausgefunden. Ein so erbärmlich verstimmtes Ding gab es eben nur in einem Exemplar.

Harst, Bechert, ich tauschten Blicke …

Dann verschwand Harst nach dem Vorschiff zu. Bechert und ich suchten die Kabine auf.

„Sie werden alle drei am Bord sein,“ flüsterte Freund Fritz. „Sowohl der Bettler als auch Ronnow und Tochter. Ich glaube, der Alte …“

Harst trat ein, drückt die Tür zu, schaute mich an.

„Na – auf Deine Augen kann man sich nur sehr mäßig verlassen,“ meinte er leise. „Der Alte ist verkleidet! Er saß vor dem Niedergang der Kombüse im Laternenlicht, hat Perücke auf, falschen Bart, falschen Buckel, der sich verschoben hatte.“ Er zuckte die Achseln.

„Der Mann ist nicht verkleidet,“ erklärte ich sehr bestimmt. „Dabei bleibe ich! Ich habe ihn bei Tage gesehen. Nachts täuscht man sich leichter, Harald.“

Er setzte sich auf seinen Bettrand. Viel Platz war ja überhaupt nicht in dieser Kabine.

Bechert und ich zogen uns Klappstühle herbei.

„Die Sache wird wieder dunkler,“ meinte Harst und ließ sein Zigarettenetui aufspringen. „Ich hielt den Bettler für einen Vertrauten des Grafen, für einen Diener oder dergleichen. Das muß wohl so sein. Nun behauptet Schraut, der Orgelspieler vor unserem Hause, der die Sohle verlor, sei nicht verkleidet gewesen, während ich – – genau weiß, daß der Mann maskiert ist. – Wir müssen zunächst diese Frage klären. Ich möchte vorschlagen, Du gehst aufs Vorschiff und siehst Dir den Mann einmal an.“

Dazu war ich gern bereit. –

Der Greis saß noch vor dem Kombüsenniedergang. Um ihn herum hatten sich eine Anzahl Passagiere auf ihre Koffer und Kisten niedergelassen, bescheidene Leute, die dem Arbeiter- oder Kleinhandwerkerstande angehören mochten. Die Drehorgel stand vor ihm. Er spielte jetzt nicht, sondern kaute an einer dicken Brotschnitte.

Ich schlenderte vorüber, blieb in der Nähe, zog einen Matrosen ins Gespräch. Meine Augen prüften indes fortgesetzt die Erscheinung des Alten, der sich mit den Armen auf den Leierkasten gestützt hatte.

Ich blieb nicht lange im unklaren darüber, daß es sich hier tatsächlich nicht um denselben Mann handelte, so gut die Maske dieses Pseudo-Bettlers auch war, der die Lumpen des anderen trug und auch dessen Drehorgel jetzt besaß, denn – die Drehorgel war bestimmt dieselbe. Ich hatte mir deren Aussehen bestimmt gemerkt. Sie hatte vorn drei bunte Bilder unter Glas, die Musen darstellend, die des Tanzes, der Musik und der Dichtkunst.

Der Matrose, mit dem ich mich unterhalten hatte, ging weiter. Ich blieb. Der Jagdeifer war erwacht. – Wer war dieser maskierte Mensch? Vielleicht gar die Gräfin Hanna, die ja bereits bewiesen, daß sie ungeheuer vielseitig war und vor nichts zurückschreckte. Die abenteuerliche Befreiung ihres Vaters hatte bereits an ihre Geistesgegenwart, ihre Kühnheit und an ihre schauspielerischen Fähigkeiten Anforderungen gestellt, die geradezu als außergewöhnlich für ein junges Weib von vierundzwanzig Jahren bezeichnet werden mußten.

Man beachtete mich nicht. Es strichen hier so viele Fahrgäste herum, die diese Mondnacht genießen wollten.

Gräfin Hanna?! – Nein – ich sah die Hände des Verkleideten. Das waren derbe, schmutzige Hände, das waren niemals die der jungen Aristokratin.

Wer war’s sonst? – Der Graf?! Auch das nicht! Graf Alexander Ronnow hatte eine messerscharfe, etwas große Nase. Und die des Bettlers, des echten wie des falschen, war kurz und dick, stark gerötet …

Wer war’s?! Vielleicht Robert Robba, der Artist, der Besitzer des Napoleon aus Wachs, mit dem er tatsächlich in Riga aufgetreten war, wie Bechert festgestellt hatte.

Robert Robba?! – Und – wenn er’s war, dann – dann mußte der echte Bettler beseitigt worden sein. Wie hätte dieser Maskierte sonst die Lumpen des anderen auf dem Leibe haben können?! Wie sollte er sonst in Besitz der Drehorgel gelangt sein?!

Über diesen und noch weitergehenden Fragen, die den Verbleib des Grafen Alexander und seiner Tochter betrafen, packte mich plötzlich eine Unruhe, die mich vom Vorschiff wieder in die Kabine trieb.

Die helle Sommernacht war langsam in das Morgenzwielicht übergegangen. Bevor ich die Treppe zu den unteren Räumen hinabstieg, warf ich noch einen Blick nach der Küste hinüber, deren heller Strand in der Ferne wie ein weißer Strich schimmerte, die Küste Pommerns …

Und sah dort ein Fahrzeug – eine Motorjacht offenbar, die nun auf den Dampfer zuzuhalten schien.

Es war bei mir jenes durch den Anblick des Verkleideten stark gesteigerte Gefühl allgemeinen Mißtrauens, das mir den Gedanken jäh durch das Hirn jagte: die Jacht kommt des Maskierten wegen!

Ich hastete schneller die Treppe hinab, betrat die Kabine.

„Es ist nicht der echte Bettler,“ flüsterte ich atemlos.

„Na also!“ nickte Harst.

„Eine Jacht nähert sich vom Lande her,“ fügte ich hinzu.

Harst erhob sich rasch.

„Nach oben – getrennt!“ sagte er lebhaft.

Dann standen wir wieder in Zwischenräumen an der Reling.

Das Deck war leer geworden. Nur der Drehorgelspieler saß noch an der Kombüsentreppe und rauchte jetzt eine Zigarre …

 

3. Kapitel.

Herrn Retters „Astarte“.

Die kleine Jacht schoß heran.

Im Osten wurde der Himmel blank wie eine leuchtende Glocke. Die Sonne wollte emporsteigen – kämpfte noch mit den grauen Dunstmassen am Horizont.

Der Steuermann des Dampfers trat zu mir, stellte das Glas ein und sagte dann:

„Das ist vielleicht eine ausländische Jacht. Ich kann die Flagge noch nicht unterscheiden …“

Harald kam herbei, grüßte …

„Ein schnelles Fahrzeug,“ meinte er und wies auf die Jacht.

„Mindestens fünfzehn Knoten,“ nickte der Steuermann.

Nun konnte man bereits drei Herren drüben erkennen.

Dann ein gellendes Sirenengeheul von der Jacht, – lang, kurz, kurz, lang, lang – so folgten einander die Töne.

Und nach kurzer Pause abermals: kurz, lang, kurz, lang, kurz, kurz …

„Teufel, was wollen die?!“ brummte der Steuermann.

Ich hatte nach rechts geschielt – nach dem Leiermann hin. Der saß und tat, als gingen diese Signale ihn nichts an – gar nichts …

Die Jacht beschrieb einen Bogen, hatte den Dampfer bald erreicht, hielt sich dicht neben ihm.

Jetzt sahen wir, daß die Herren drüben sehr unwahrscheinlich dichte Vollbärte hatten – Bärte, die so gewiß angeklebt waren, wie auch der meine Kunst war.

Und nun – um Sekunden kam Harald zu spät …

Schnellte vorwärts – dem Vorschiff zu, wo der Bettler soeben hochgefahren und mit der Drehorgel an die Backbordreling gelaufen war …

Wo er sie rasch ins Wasser hinabgeworfen hatte und hinterdrein gesprungen war …

Harald schwang sich auf die Reling, schleuderte die Jacke von sich …

Von drüben ein Schuß – von der Jacht …

Harst sank nach hinten über auf das Deck zurück.

Da hatte auch Bechert schon die Dienstpistole herausgerissen …

„Im Namen des Gesetzes!“ brüllte er …

Wollte noch mehr hinzufügen …

Mußte sich ducken – hinter die eiserne Reling …

Kugeln pfiffen – klatschten gegen das Metall mit blechernem Klang …

Der Steuermann kniete neben mir im Schutze der Eisenplatten.

„Herr, was bedeutet das alles?!“ keuchte er.

Harst kam herbeigekrochen, blickte durch ein Loch in der Reling …

„Sie haben die Drehorgel und den Mann aufgefischt, jagen davon …!“ rief er …

Der Kapitän erschien – mit nackten Füßen, in einen Mantel gehüllt – aus dem Bett …

„Klausen, was geht hier vor?“ verlangte er von dem Steuermann Auskunft.

Wir standen schon wieder aufrecht da.

Bechert gab sich dem Kapitän zu erkennen.

„Kriminalkommissar Bechert. Hier mein Ausweis. – Ist es möglich, die Jacht dort einzuholen?“

Harst schüttelte den Kopf. „Die Frage kann auch ich Ihnen beantworten, lieber Bechert. Sie sehen ja, wie die Jacht die See durchpflügt. Dagegen sind wir hier elende Krebse.“

Fahrgäste, durch die Schüsse aus dem Schlaf gescheucht, stürzten herbei.

Wir gingen auf Harsts Wink schnell in die Kapitänskajüte.

Steuermann Klausen beruhigte die Passagiere, folgte uns dann und meldete, daß die Jacht jetzt nach Norden steuere, der schwedischen Küste zu.

Harst hatte sich an Kapitän gewandt. „Gibt es ein Mittel, die Jacht irgendwie festhalten zu lassen?“ fragte er. „Sie haben doch Funksprucheinrichtung an Bord, Herr Kapitän. Können wir nicht eine Runddepesche aufgeben für alle Ostseehäfen, daß die Jacht, so und so aussehend, polizeilich beschlagnahmt und die Insassen verhaftet werden sollen?“

„Natürlich geht das, Herr Harst. – Wenn der Herr Kriminalkommissar es wünscht, wird der Telegraph sofort …“

Bechert nickte. „Ich wünsche es. Harst mag den Wortlaut des Telegramms aufsetzen.“

Harald lehnte an der Außenwand der Kajüte neben dem einen Bullei (rundes Außenbordfenster). Das Fenster ging nach Süden hinaus. Der Dampfer befand sich etwa auf der Höhe von Kolberg.

Harst schrieb im Stehen mit Bleistift ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, reichte es dem Kapitän. „Bitte – sofort, Herr Kapitän!“ Und zu Bechert sagte er: „Da hinten am Horizont, nach Kolberg zu – da ist eine Flottille Minensuchboote. Die Depesche ist für den Flottillenchef bestimmt und mit Ihrem Namen und Amtstitel unterzeichnet.“

Bechert ruckte hoch. „Ah – Jagd auf die Burschen!! Verstehe!! – Gehen Sie, Herr Kapitän!“ –

Zehn Minuten drauf jagten sechs schwarze flinke Fahrzeuge herbei.

Wieder fünf Minuten drauf waren wir an Bord des Minensuchbootes auf dem die Flagge des Flottillenchefs wehte.

Der Korvettenkapitän signalisierte den übrigen Booten ein paar Befehle. Und diese Windhunde des Meeres wendeten ihre scharfen Vordersteven nach Norden, jagten davon, breiteten sich fächerartig aus.

Die Jacht hatte etwa vierzig Minuten Vorsprung. Nach einer halben Stunde kam von dem am weitesten nach Westen zu hinausgeschobenen Boot die Funkspruchmeldung, daß die Jacht, westlichen Kurs laufend, gesichtet sei.

Harst ließ zurückfunken: „Unauffällig beobachten. Abwarten.“

Und abermals eine halbe Stunde später war der Flüchtling völlig eingekreist.

Der Kreis verengerte sich. – Dann das Flaggensignal „Stoppen Sie sofort!“

Die Jacht gehorchte – wir gingen an Bord. Wir fanden einen Bootsmann und ein Ehepaar vor, Leute, die sehr erstaunt taten, daß sie aufgehalten wurden.

Der Ehemann wies sich als Juwelier Retter aus Berlin aus. Er blieb hartnäckig dabei, daß seine Jacht Astarte den Tourdampfer nach Pillau nicht einmal gesichtet, geschweige denn den Bettler und die Drehorgel an Bord genommen hätte.

Julius Retter war ein jüngerer Mann von einer überlegenen Ruhe. Seine Frau hatte für uns nur ein ironisch-hochmütiges Lächeln. Der Bootsmann, gleichfalls Berliner, bestätigte, daß Retter seit zehn Tagen mit der Astarte von Swinemünde aus unterwegs sei und jetzt von Kolberg käme.

Und trotz dieser kaltblütigen Ableugnungsversuche: es war dieselbe Jacht – ohne Zweifel! Der Name am Bug war freilich vorhin durch ein Stück Segel verdeckt gewesen.

Wir durchsuchten die Jacht – ohne Erfolg.

Retter wurde ungemütlich, drohte mit Beschwerde.

„Jachten vom Aussehen meiner Astarte gibt es zu Dutzenden,“ meinte er. „Suchen Sie nur die andere, meine Herren! Ich bin auch kein Bandit!“

Wir waren ziemlich ratlos. Der Fregattenkapitän, der mit uns an Bord gekommen, machte ein langes Gesicht.

Harst blieb Retters immer selbstsicherem Auftreten und Redensarten gegenüber kühl-höflich.

„Sie können sich ja beschweren, Herr Retter,“ sagte er achselzuckend. „Wir werden die andere Jacht schon finden.“

Recht verärgert stiegen wir ins Boot und kehrten nach dem schwarzen Windhund mit den beiden schrägen Schornsteinen zurück.

Harst sagte erst, als die Flottille nach Nordwest, Kurs Saßnitz auf Rügen, weiterdampfte:

„Herr Retter wird bald mit einer Zelle des Berliner Polizeipräsidiums Bekanntschaft machen – sehr bald! – Ich bitte Sie, Herr Korvettenkapitän, uns nach Kolberg zu bringen, sobald die Jacht Astarte außer Sicht ist.“

Weiter äußerte er sich nicht. –

Um sieben Uhr morgens etwa wurden wir drei, Bechert, Harst und ich, mit unseren Koffern westlich von Kolberg an einsamer Strandstelle ausgebootet. Um elf Uhr vormittags hatte Harald ermittelt, daß Herr Julius Retter in Kolberg vier Tage im Hotel Strandschloß gewohnt und in der vergangenen Nacht gegen zwölf Uhr eine dringende Depesche aus Swinemünde mit folgendem Wortlaut erhalten hatte:

Julius Retter, Kolberg, Hotel Strandschloß, Zimmer 18 u. 19 Sendung unterwegs von hier zwei Uhr morgens. Wie vereinbart in Empfang nehmen. Vorsichtige Behandlung der Glasflaschen dringend nötig, da Beipackung drei sehr ungünstig. – Schulze.

Harald lächelte zu diesem Telegramm, dessen wahrer Inhalt uns sofort klar wurde: die „Sendung“ war der Maskierte mit dem Leierkasten. Beide sollte Retter, wie geschehen, vom Tourdampfer nach Pillau auf See an Bord der Astarte nehmen. „Vorsichtige Behandlung“ und so weiter war eine Warnung vor uns dreien.

Bechert meinte kopfschüttelnd: „Unglaubliche Geschichte! Was soll das alles?“

„Retter ist der Hehler, lieber Bechert,“ erwiderte Harald kurz.

„Hm – der Hehler der Diamanten[6] und sonstigen Kleinodien des Grafen! Gut, mag stimmen. Aber – wo blieb der Drehorgelspieler. Es waren doch nur drei Leute an Bord der Astarte.“

„Sie vergessen, daß wir so und so vielen Fischerbooten begegneten. Retter hat einen Fischer bestochen. Der Leierkastenmann ist unterwegs nach einem der deutschen Küstenorte zwischen Kolberg und Swinemünde oder er ist bereits dort eingetroffen. Retter hat eben mit einer Verfolgung gerechnet.“

„Schön. Und nun?“

„Werden wir Mittag essen und irgendwo in den Dünen schlafen. Dann suchen wir weiter.“

Bechert und ich waren sehr einverstanden.

Beim Mittagessen meinte Freund Fritz plötzlich:

„Und Danzig? Scheidet das ganz aus?“

„Ja. Darüber sprechen wir später.“

„Weshalb? Weshalb nicht gleich?“

„Weil ich etwas abgespannt bin.“

Und dabei blieb’s. –

Mit unseren kleinen Handkoffern verloren wir uns in den Dünen, suchten ein schattiges Plätzchen hinter Weidengebüsch und streckten uns in den warmen Sand.

Es war eine ganz einsame Stelle, weit ab von den letzten Strandkörben der Badegäste. Kolberg als Seebad war auch in diesem Jahre wieder sehr besucht.

Die nahe See brandete ganz leise und sang uns ein Schlummerlied.

Ich erwachte gegen halb sechs, richtete mich auf, rieb mir die Augen, hörte Becherts wenig melodisches Schnarchkonzert neben mir und sah mit einem Blick, daß Harst fehlte.

Sein Koffer war noch da. Damit uns die Koffer während des Nachmittagsschläfchens nicht gestohlen würden, hatten wir sie als Kopfpolster benutzt.

Wo war Harst?! – Da bemerkte ich halb unter seinen Koffer geschoben einen Zettel.

Flüchtige Bleistiftzeichen:

„Konnte nicht einschlafen, legte mich auf die Dünenkuppe, sah die Astarte in den Hafen einlaufen und will jetzt R. beobachten. Hinterlasse Euch Nachricht auf der Polizeiwache des Strandviertels. Bechert soll dort nachfragen. H.“

Ich weckte Bechert schleunigst. Wir waren beide mehr als erstaunt über die Rückkehr der verdächtigen Jacht. Wir hatten hiermit nie gerechnet. Retter hatte erklärt, er wolle mit der Astarte nach Swinemünde und über Stettin die Oder abwärts nach Berlin.

Fritz Bechert machte jetzt ein sehr unzufriedenes Gesicht. „Es ist ein scheußliches Gefühl, so im Dunkeln herumzutappen,“ meinte er. „Harst hüllt sich wieder nach altem Rezept in Schweigen. Und doch behaupte ich, daß er genau weiß, was es mit dem falschen Bettler, der Drehorgel und all dem anderen auf sich hat.“

Ich nickte. Er hatte da soeben ausgesprochen, was ich bereits mir selbst gesagt hatte: weshalb ließ der Verkleidete die Drehorgel nicht im Stich – weshalb warf er sie in die See und sprang dann erst hinterdrein?! Weshalb?! Was lag an dem elenden Instrument?! Welchen Wert mochte es haben, welchen verborgenen Wert?!

Bechert hatte sich erhoben und streckte sich.

„Gehen wir,“ meinte er dann.

 

4. Kapitel.

Der Kollege Allan Marx.

Wir trugen noch immer unsere Verkleidung, obwohl sie uns jetzt Julius Retter gegenüber nichts nützte. Als wir den Stadtwald von Kolberg, die bekannte historische Maikuhle durchschritten, schlug ich Bechert daher vor, unsere Gesichter ein wenig zu verändern. In einem Gebüsch verwandelten wir uns sogar sehr gründlich. Unsere Koffer enthielten alles Nötige, sogar blaue Leinenanzüge, wie die Schiffsheizer sie tragen. – Nach sehr kritischer gegenseitiger Musterung, die aber zur vollen Zufriedenheit ausfiel, begaben wir uns zur Polizeiwache des Strandviertels. Bechert legitimierte sich den Beamten gegenüber, erhielt einen versiegelten Brief, den Harald hier zurückgelassen, und bat, man möchte unsere Koffer einstweilen in Verwahrung nehmen. Harst war vor etwa einer Stunde auf der Wache gewesen, ohne seinen Namen zu nennen.

Wir beide setzten uns in den nahen Anlagen auf eine Bank und lasen den Brief. – Harald schrieb:

„Astarte liegt im Innenhafen am Bollwerk. Retter ging zur Stadt. Ihr trefft mich in der Kneipe zum goldenen Anker in der Persante-Gasse. Seid vorsichtig. Wir fassen die Bande heute bestimmt ab, falls nicht gerade eine Störung eintritt. H.“

– Dann – der goldene Anker, eine jener Schifferkneipen, die eine Sehenswürdigkeit sind. Ein Häuschen, so niedrig, daß man mit der hochgereckten Hand das Ziegeldach berühren konnte. Blitzblanke Fenster, eine Haustür aus Eichenholz, darüber an einer verrosteten eisernen Stange ein goldener Anker. Und neben diesem dicht unterm Dach eine Erinnerung an die Belagerung durch die Franzosen im Jahre 1807: eine Kanonenkugel, die in die Mauer halb eingedrungen war.

Die Kneipe selbst: drei Stuben, weiß gescheuerte Tische, weißer Sand auf den Dielen, an den Deckenbalken Schiffsmodelle, Waffen von Naturvölkern, allerhand andere Dinge, die bewiesen, daß die Besitzer des goldenen Ankers wohl stets früher Seeleute gewesen.

Wir fanden Harst, gleichfalls im Heizerkostüm, im eigentlichen Schankraum an einem Tische sitzen. Wir hätten ihn kaum erkannt. Er, der beste Verwandlungskünstler, den ich kenne, hatte sich diesmal noch mehr Mühe als sonst gegeben, um möglichst echt zu wirken.

Der Raum war bis auf zwei andere Gäste und den Wirt hinter dem Schenktisch leer.

Harald tat so, als hätte er uns erwartet. In schönstem Hamburger Platt begrüßte er uns mit Vorwürfen, weil wir so spät kämen. Wir nahmen gleichfalls Platz, bestellten ein warmes Gericht und dämpften allmählich unsere Stimmen.

Die beiden anderen Gäste, gleichfalls Seeleute, beachteten uns nicht weiter. Neue Gäste kamen hinzu.

Harst war merkwürdig einsilbig. Wir, Bechert und ich, warteten umsonst darauf, daß er uns Näheres über die Jacht und Julius Retter mitteilen sollte. Schließlich konnte Freund Fritz doch nicht länger an sich halten.

„Harst, so reden Sie doch endlich!“ meinte er leise, aber recht unwillig. „Es ist das wieder das reinste Versteckspielen zwischen Ihnen und uns. – Was treibt dieser Retter hier?“

„Er besichtigt zur Zeit ein Wachsfigurenkabinett,“ erklärte Harst völlig ernst.

Wachsfiguren – – Wachsfigurenkabinett!! Sofort dachte ich an den Napoleon aus Wachs. Sollte etwa Robert Robba wirklich hier in Kolberg sein?!

Auch Bechert war auf diesen Gedanken gekommen und fragte: „Das heißt also, Robba ist hier, nicht wahr?“

„Ja. Er war der verkleidete falsche Bettler, den die Astarte samt der famosen Drehorgel auffischte.“

„Weshalb – famose Drehorgel?“

„Weil sie bei diesen Diamantenschiebern und Dieben eine große Rolle spielt,“ erklärte Harst seufzend. „Ihr beide quetscht mich ja doch aus wie eine Zitrone. Da will ich lieber von selbst meine Theorie über Robba und Konsorten entwickeln. Robba als internationaler Artist hat die beste Gelegenheit zum Verschieben und Stehlen von Kleinodien. Er ist bald hier, bald da engagiert. In den letzten vier Monaten war er in London, Paris, Rouen, Brüssel, Kopenhagen, Hamburg, Berlin und Riga. Und in all diesen Städten sind zur selben Zeit größere Juwelendiebstähle vorgekommen. Ich habe daheim die ausländischen Zeitungen durchgesehen, ebenso das Verbandsorgan der internationalen Artistenloge. Daher kenne ich auch Robbas Engagements. – Ganz besonders erfolgreich hatten die Diebe in London gearbeitet, wo sie dem Herzog von Wirghton Edelsteine im Werte von 120 000 Pfund Sterling abgaunerten. Londoner Detektive verfolgten die Spur der Diebe bis Berlin, hatten aber die Fährte dann verloren.“

Harst machte eine kurze Pause. – Wir merkten, jetzt kam das Wichtigste seiner Mitteilungen.

„In der Artistenloge,“ fuhr er fort, „fand ich auch einen recht interessanten Artikel über Robert Robbas Varietee-Nummer „Napoleon – Mensch oder Automat?“ Darin war betont, daß Robbas Automat so glänzend gearbeitet sei, daß man bis zum letzten Augenblick im Zweifel bliebe, ob es sich um einen Automaten oder doch nur um einen lebenden Menschen handele, der den Napoleon mime. Ferner war da erwähnt, daß der Automat unter anderem eine … Drehorgel in Bewegung setze, welche die Nationalhymne des Landes spiele, in dem Robba sich gerade mit seinem Napoleon aus Wachs befände.“

„Ah!“ machte Bechert. „Mir geht ein Licht auf!“

„Bitte – inwiefern?“ fragte Harald gespannt.

„Nun, in dieser Drehorgel wird Robba die gestohlenen Steine versteckt haben.“

„Ja – das nehme auch ich an, lieber Bechert. Die Drehorgel war ein Schmugglertrick. Sie diente dazu, die Juwelen über die Grenze zu schaffen – nach Berlin, zu dem Großhehler Julius Retter. Das Gepäck eines Artisten wird kaum so sorgfältig durchsucht werden.“

Bechert schnitt einer Zigarre bedächtig die Spitze ab.

„Alles sehr schön, bester Harst … Nur – ganz klar ist mir die Sache doch noch nicht. Robba war zuletzt also in Riga im Auftrage der jungen Gräfin. In der Kiste für den Automaten wurde Graf Ronnow aus Riga weggeschafft – als Automat, übrigens an sich ein glänzender Gedanke. Wo blieb der echte Automat, der Napoleon aus Wachs?“

„Der wurde irgendwie heimlich nach Tilsit gebracht und dort als Eilfracht aufgegeben. – Als ich Retter in dem drüben auf dem Schaubudenplatz stehenden Zelt des Wachsfigurenkabinetts, das einer Frau Amalie Robba gehört, verschwinden sah, habe ich mich bei dem Bahnspediteur erkundigt, ob in den letzten Tagen hier für Frau Robba eine Kiste mit einer Wachsfigur eingetroffen sei. So erfuhr ich, daß dies der Fall gewesen und daß die Kiste aus Tilsit gekommen.“

Bechert drückte Harst verstohlen die Hand. „Sie sind doch ein Genie, Harst!“

„Genie?! Ich meine, diese Nachfrage bei dem Spediteur lag doch sehr nahe.“

„Und weiter?“

„Ja – dann besuchte ich das Wachsfigurenkabinett, das seit vier Uhr nachmittags geöffnet war, sah mir die Wachsfiguren an und fand den berühmten Automaten auf einem Sockel stehen – in der bekannten Haltung mit über der Brust gekreuzten Armen. Napoleons Nachbarn waren rechts der alte Fritz und links der Scharfrichter von Nürnberg, Johann Saltsieder, neben dem auch der „echte“ Richtblock stand. Als ich mir die wirklich tadellos gearbeiteten Wachsfiguren betrachtet hatte, verließ ich die Bude und schaute mir dabei den an der Kasse sitzenden Mann, einen blondbärtigen Menschen, genauer an – unauffällig selbstredend. Es war Freund Robba, der sich hier nun offenbar ganz sicher fühlt. Retter mag ihm gesagt haben, daß wir irgendwo in der Ostsee herumkreuzen und die andere Jacht suchen.“

„Hm – und Danzig?“ warf Bechert ein. „Was ist’s mit Danzig und den beiden Ronnows und dem echten Bettler?“

„Ronnows sind ebenfalls hier, und in ihrer Begleitung ein Mann, den ich von Hörensagen längst kenne …“

Wieder eine Kunstpause. – Bechert machte eine ungeduldige Handbewegung.

Und Harald flüsterte: „Allan Marx aus London, bester Bechert, der alte Marx, Mitinhaber des Detektivinstituts Marx, Robbin und Kompagnie, London, Abbeystreet.“

„Donnerwetter – – Marx!!“

„Ja, Marx, der hinter den Juwelen des Herzogs von Wirghton her ist, denke ich, der Robba und Konsorten beobachtete und irgendwie ermittelt hatte, daß Robba den Pillau-Dampfer benutzen würde, und glaubte, Robba würde in Danzig an Land gehen, und dies den beiden Ronnows zur Kenntnis bringen wollte – durch die Schuhsohle! Also der alte Allan Marx und kein Diener des Grafen, wie ich anfänglich annahm.“

„Und wo stecken die drei?“

„In einem bescheidenen Pensionat am Schaubudenplatz – natürlich verkleidet wie wir. Ich wäre kaum auf sie aufmerksam geworden, wenn Marx nicht von seinem Fenster aus die Wachsfigurenbude mit einem Fernglas beobachtet hätte. Als ich merkte, daß der Mann dort am Fenster ein so merkwürdiges Interesse für die Bude der Frau Robba hatte, riskierte ich’s, mich der Pensionsmutter zu erkennen zu geben, und erfuhr so, daß sie heute vormittag drei neue Gäste erhalten hätte. Ich riskierte noch mehr und klopfte bei Herrn Kaufmann A. Praw aus Berlin, so hatte Marx sich eingetragen, kräftig an, wurde eingelassen und erkannte Marx nun an seinem starken grauweißen Scheitel und der hohen intelligenten Stirn. Er war keineswegs entzückt, als ich ihm erklärte, wer er sei und wer ich sei. Ich blieb nur drei Minuten bei ihm. Er meinte, ich solle ihm hier nicht seine Maßnahmen stören. Den Fall Robba erledige er allein. – Ich spürte: es war ihm lediglich um das fette Geschäft zu tun! Er wollte nicht mit mir das Honorar und so weiter teilen. Ich spürte aber noch mehr: daß er weit weniger wußte[7] als wir! – Jedenfalls schieden wir sehr förmlich – ohne „Auf Wiedersehen“ – als Konkurrenten eben.“ Harald schmunzelte etwas. „Das wäre nun alles, Bechert. Es bleibt noch aufzuklären: hat der Graf wirklich zwei Menschen umgebracht? Wie hat Marx die Ronnows kennengelernt? Wie gelangte er in Besitz der Drehorgel? Wie wurde sie ihm wieder abgenommen? Wie fand er heraus, daß es eine Frau Amalie Robba gäbe, die jetzt hier in Kolberg ihre Wachsfiguren zeigt? Und schließlich: was wird hier weiter noch geschehen?“

Nach diesen Eröffnungen stärkten wir uns zunächst durch ein neues Glas Bier und berieten dann den Feldzugsplan, der darauf hinauslief, Robba nebst Anhang heute lediglich zu beobachten und dann am Morgen die ganze Bande verhaften zu lassen, falls in der Nacht sich nichts mehr ereignete, was uns ratsam erscheinen ließ, mit dem Zupacken noch etwas zu warten. –

Alles – alles kam anders, als wir gedacht hatten.

Die Drehorgel bereitete uns noch weitere Überraschungen und der Nürnberger Scharfrichter tat’s noch mehr.

 

5. Kapitel.

Im Wachsfigurenkabinett.

Halb elf Uhr abends …

Auf dem Rummelplatz war großer Betrieb. Ein halbes Dutzend Riesenorchestrions heulten ihre Walzer und Lieder durcheinander. Karussells drehten sich im flimmernden Lichtschein ihrer Glasgehänge, Budenbesitzer luden das verehrliche Publikum von Stadt und Land mit längst heiser gebrüllten Stimmen zur Besichtigung der Weltattraktionen ein.

Im Wachsfigurenkabinett hatte soeben Napoleon seine Künste gezeigt. Bechert und ich befanden uns unter der staunenden Menge. Zum Schluß hatte der Automat auch die alte verstimmte Drehorgel bedient, und dann war der berühmte Napoleon von der korpulenten Madame Robba auf der Rückseite geöffnet worden, so daß jeder das komplizierte Räderwerk sehen konnte.

Wir verließen die große Schaubude und gesellten uns zu Harald, der draußen am Wohnwagen der Frau Amalie Robba hinter dem Zelt Wache hielt.

Der Bretterzaun einer Holzhandlung grenzte hier den Platz ab. Den Wächter hatten wir bestochen. Er hatte für uns eine Pforte offen gelassen. Harald stand hinter dem Zaun und beobachtete durch eine breite Spalte den Wagen und den hinteren Eingang des Zeltes.

Ich löste ihn ab. Er und Bechert setzten sich auf einen nahen Holzstapel. Um elf Uhr hörte das Gedudel der Orchestrions auf, die Karussells wurden dunkel, die Buden schlossen ihre Kassen und das Publikum verlief sich.

Harst und Bechert beobachteten nun gleichfalls das Zelt und den Wagen. Die mondhelle Sommernacht erleichterte uns unsere Aufgabe.

Frau Robba kam und betrat den Wohnwagen. Dann erschien Robert Robba, der an der Kasse gesessen hatte – blondbärtig, hager, ganz anders aussehend als auf der Oie in der Orkannacht. Auch er verschwand im Wohnwagen.

Das Zelt war nun leer.

Etwa um halb zwölf bemerkten wir einen schlanken Mann mit tief ins Gesicht gezogener Mütze, der rasch auf das Zelt zuhuschte, ebenso rasch an der linken Zeltseite das Zeltleinen unten aufschnitt und sich durch das Loch hindurchzwängte.

„Wer war das?“ flüsterte Bechert.

„Keine Ahnung!“ erwiderte Harald sehr gedehnt.

Zehn Minuten drauf tauchte von rechts her ein anderer Mann auf, der es genau so machte: er kroch an der rechten Seite in das Zelt hinein.

„Das war Retter, der Hehler,“ erklärte Harald leise.

Hinter den zugezogenen Fenstervorhängen des Wohnwagens brannte noch Licht.

Aber – im Zelt blieb alles dunkel …

Es wurde zwölf Uhr.

Turmuhren schlugen die Mitternachtstunde mit hallenden Klängen.

Dann kreischte die Tür des Wohnwagens …

Jemand stieg die angelegte Treppe hinab – ein dicker Mensch mit blondem Schnurrbart: Robba – der Robba von der Oie!

Er trug in der Linken einen Teller mit ein paar belegten Broten sowie Messer und Gabel.

„Der Napoleon bekommt sein Abendessen,“ flüsterte Harald ironisch.

Robba schloß die Holztür des Zeltes auf und schloß hinter sich wieder ab.

Im Zelte flammte ein schwacher Lichtschein auf.

Wir drei eilten rasch durch die Zaunpforte hinaus und schlichen an die linke Seitenwand der Bude. Hier trennte Harst sehr vorsichtig das Leinen eine Spanne lang auf. Bechert tat dasselbe drei Meter weiter.

Harald und ich sahen, daß Robba eine der großen Karbidlampen angezündet hatte, deren Gasaustritt er nun so einstellte, daß die weiße Flamme nur wenig leuchtete.

Robba ließ die Trittleiter, die er hierzu gebraucht hatte, an derselben Stelle stehen und kam mit dem Teller auf den Napoleon zu. Zwischen diesem und dem alten Fritz befand sich unser Guckloch. Es herrschte in dieser Zeltecke ein Halbdunkel, das uns vor dem Bemerktwerden schützte.

Jetzt wollte Robba den Teller auf den Holzsockel der Figur des Scharfrichters von Nürnberg stellen …

Wollte …

Wollte wohl die Hände frei haben, um … – Das, was er beabsichtigte, erfährt der Leser sehr bald …

Und da – da ereignete sich etwas, das selbst unsere Augen vor jähem Staunen weitete …

Die in ein mittelalterliches Gewand gekleidete Figur des Scharfrichters, der auf sein Richtschwert gelehnt dastand, bewegte sich plötzlich …

Das Schwert zuckte hoch …

Robba stieß einen gurgelnden Laut aus …

Der Teller, Messer, Gabel entfielen ihm. Er taumelte zurück, schlug rückwärts zu Boden …

Und noch während er so hintenübersank, rief der Scharfrichter mit einer vor Erregung schrillen Stimme:

„Heraus mit den Ronnow-Juwelen, Schurke! Heraus damit!“

Robba klatschte mit dumpfem Krach zu Boden, regte sich nicht …

Da hatte Harst schon mit einem Messerschnitt das Guckloch vergrößert, hatte sich ins Zelt gedrängt.

„Gräfin, das dürfte für Robbas Nerven zu viel gewesen sein,“ sagte er sehr ernst zu dem so unversehens lebendig gewordenen Scharfrichter. „Falls Allan Marx dieses Schreckmittel ersonnen hat, trägt er die Verantwortung.“

Und Harald beugte sich zu Robba hinab, leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. – Robba war tot.

Die Gräfin ahnte, was sie angerichtet hatte. Sie starrte uns angstvoll an und meinte bedrückt: „Ist – ist er wirklich tot?“

Harst nickte nur. – Auch Bechert war jetzt neben uns erschienen. Harald trat auf den Napoleon zu, hob ihn vom Sockel herab und legte ihn auf den Boden, öffnete die Uniform im Rücken und enthüllte die Rückseite des Pappleibes des großen Korsen.

Gleich darauf hatte er aus dem Innern der Figur einen Knaben von vielleicht neun Jahren hervorgeholt – Robbas Sohn, wie sich später herausstellte. Der Automat war also doch Schwindel gewesen. Der Junge hatte die Figur bewegt, in die er so hineinpaßte, daß auch noch für den Bluff-Mechanismus Platz blieb.

Dann schritt Harst rasch einer anderen Ecke des Zeltes zu, wo die Kisten der Wachsfiguren aufgestapelt waren und wo auch die Drehorgel ihren Platz hatte.

Nun kam die Überraschung Nr. drei: Herr Julius Retter hatte sich in einer der Kisten verborgen, als er bemerkt hatte, daß er wider Erwarten in dem Zelte nicht allein sei! Er hatte die Gräfin nur undeutlich bemerkt, die gerade das Scharfrichtergewand übergestreift hatte. So kroch er in die eine Kiste hinein – so stand er jetzt mit fahlem Gesicht vor uns, wagte nicht, irgend eine Ausrede zu ersinnen …

„Sie wollten, glaube ich, hier stehlen,“ sagte Harst verächtlich zu ihm. „Vielleicht die ganze Drehorgel …!“

Retter versuchte ein Lächeln. Er hatte seine Frechheit wiedergefunden. „Was sollte ich mit dem Ding?!“ meinte er achselzuckend.

Harst klappte den Deckel auf, klappte den Vorderteil herab. Nun lagen die Holzpfeifen des Orgelgehäuses frei.

„Hm – es sind acht Pfeifen zu viel, Herr Retter,“ erklärte Harald gleichmütig. „Acht Orgelpfeifen, in die man allerhand hineintun kann – zum Beispiel Edelsteine …!“

Retter zitterte mit einem Male … Seine Zähne schlugen klappernd zusammen. Er sah ein, daß er verloren war.

„Ein tadelloses Versteck, diese Röhren!“ meinte Harst noch. „Bechert, verhaften Sie Retter …! Robbas Frau, Retters Frau und der Bootsmann der Astarte sollen dann gleichfalls das Kolberger Polizeigefängnis kennen lernen!“

In den Pfeifen der alten Drehorgel fanden wir 208 Diamanten verschiedenster Größe – alle ohne Fassung. Graf Ronnow erhielt zurück, was ihm davon gehörte. Er konnte auch beweisen, daß er die beiden Polizeispitzel in Riga aus Notwehr erschossen hatte. – Der Londoner Detektiv Marx war auf die Gräfin in Riga aufmerksam geworden, bis wohin er Robbas Spur nach vieler Mühe weiterverfolgt hatte. Er war es gewesen, der durch den Transport der Kiste von Riga nach Tilsit und durch die Versendung der Kiste als Eilgut nach Kolberg ermittelt hatte, daß es noch eine Frau Robba gäbe. Er war auch auf denselben Gedanken gekommen wie Harst: daß die Drehorgel, die in Robbas Berliner Wohnung vor dessen Reise nach Riga zurückgeblieben, ein Versteck enthalten müßte. Er stahl die Orgel, fand jedoch nichts, da er nicht an die überflüssigen Orgelpfeifen dachte. Und ihm wieder entwendete Robba das erbärmliche und doch so kostbare Instrument, um mit Retter, dem Hehler, in Kolberg ein Riesengeschäft abzuschließen, aus dem dann jedoch nichts werden sollte – nichts als die endliche Verhaftung dieser Juwelendiebe, deren Helfershelfer in Berlin und anderen Städten gleichfalls festgenommen werden konnten, da Retter rücksichtslos nunmehr den Angeber spielte. – Der Leser wird sich noch aus dem Herbst 1922 auf die Schwurgerichtsverhandlung gegen „Retter und Genossen“ besinnen – auch darauf, daß wegen der vier Morde auf See ein paar Mitglieder der Bande zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurden. – Den Napoleon aus Wachs hatte Harald für seine Raritätensammlung angekauft. Leider!!

Weshalb leider, will ich im folgenden Bande berichten.

 

Nächster Band:

Der dritte Schuß.

 

 

Verlagswerbung:

Wir weisen alle Freunde der Harald Harst-Abenteuer darauf hin, daß aus Anlaß der Herausgabe des 100sten Harstbandes

Unser 100stes Abenteuer“

ein Roman mit Harst und Schraut als Hauptpersonen in unserem Verlage mit dem Titel

Der Klub der Toten

erscheint.

 

 

Kabels Kriminalbücher. Band 5:

Die Schildkröte

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 6:

Die grüne Schlange

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 7:

Das Teekästchen

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 8:

Die Todgeweihten

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

 

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band


























108:
109:
110:
111:
112:
113:
114:
115:
116:
117:
118:
119:
120:
121:
122:
123:
124:
125:
126:
127:
128:
129:
130:
131:
132:
133:
134:
135:

Die Motorjacht ohne Namen.
Der Kampf gegen Lionel Barring.
Das Geheimnis der Tokkara-Höhle.
Die große Null.
Das Geheimnis des Bosporus.
Anna Karstens Amulett.
Der Mann mit dem Glasauge.
Der Kopf des Maharadscha.
Die Treppe des Todes.
Dr. Groupys Verhängnis.
Das Geisterschiff.
Der Tennisschläger der Rani.
Der Mann am Kreuze.
Tawa Burru, der Verrückte.
Das Piratendorf.
Die Hexenküche.
Das Geheimnis von H. O. 3.
Die Gräfin mit den Kormoranen.
Der Bouillonkeller 113.
Der tote Tümmler.
Das Erbe der Verschollenen.
Das Geheimnis der Dabri-Fälle.
Die Faktorei auf der Toteninsel.
Das gestohlene Auto.
Das Rätsel der Spielkarten.
Die Diamanten des Bettlers.
Die Photographien d. Sennor Trimaldo.
Der Kokain-Klub.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „hm“.
  2. In der Vorlage steht: „Gesundheitselixir“.
  3. Hier ist eine Zeile doppelt, dafür fehlt eine andere Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  4. In der Vorlage steht: „Tüe“.
  5. In der Vorlage steht: „der“.
  6. In der Vorlage steht: „Damanten“.
  7. In der Vorlage steht: „wüßte“.