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Der dritte Schuß

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 103:

 

Der dritte Schuß.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1923 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Wie der Napoleon gestohlen wurde.

[Als Harst am 17. Juli den Wunderautomaten, die Wachs][1]figur Napoleons in Kolberg aus Anlaß der polizeilichen Auflösung des Robba’schen Wachsfigurenkabinetts kaufte, ahnten wir beide nicht, daß der wächserne Napoleon uns noch zu einem zweiten Abenteuer verhelfen würde, dessen Anfang weit aufregender war, als für gewöhnlich Kriminalprobleme für uns beginnen.

Daß Harst den Napoleon käuflich erworben hatte, war am 18. Juli 1922 in allen Zeitungen zu lesen. Weiter stand dann auch in demselben Artikel eine kurze Übersicht über den Tod des Artisten Robba und all die anderen Ereignisse, die mit der Festnahme der internationalen Diebesbande zusammenhingen. Falls der Leser sich für Robert Robba interessiert, wird er im vorigen Band (der Napoleon aus Wachs) Genaueres finden.

Jedenfalls: seit dem 19. Juli mittags war Robbas Wunderautomat „Napoleon“ in Harald Harsts Raritätensammlung eingereiht und hatte seinen Platz im Bibliothekszimmer zwischen zwei Schränken, die ägyptische Mumien und präparierte Raubtierschädel enthielten.

Am 20. Juli vormittags elf Uhr erschien bei uns in der Blücherstraße Nr. 10, Berlin-Schmargendorf, ein Herr, der sich durch eine Karte mit Aufdruck „Holger Svendson, Professor an der Universität in Stockholm“ anmeldete. Die Köchin Mathilde brachte uns die Karte in den Garten, wo wir gerade der nützlichen Beschäftigung des Johannisbeeren-Pflückens uns gewidmet hatten.

Haralds drei Zimmer lagen rechter Hand im Erdgeschoß des Harstschen alten Familienhauses nach vorn heraus.

Wir begaben uns also in Haralds Arbeitszimmer, wo Professor Svendson, ein Herr in mittleren Jahren mit blondem Vollbart, uns recht erregt begrüßte und uns bat, ihn doch sofort zu begleiten, da seine Tochter Ingeborg, mit der zusammen er seit zehn Jahren in einem Pensionat in der Joachimsthaler Straße am Bahnhof Zoologischer Garten wohne, in der verflossenen Nacht einen ihm völlig unerklärlichen Selbstmordversuch durch Vergiften unternommen habe und nun darauf bestehe, nur einem Detektiv, der zugleich Gentleman in des Wortes bester Bedeutung sei, die Gründe hierfür anzugeben. –

Svendson machte auf mich einen sehr sympathischen Eindruck. Als Harsts langjähriger Freund und Begleiter traue ich mir schon einige Menschenkenntnis zu.

Der Professor hatte das Mietauto draußen warten lassen.

Wir waren sehr bald zum Ausgehen fertig, bestiegen den Kraftwagen und fuhren zum Pensionat Börmer. Unterwegs erzählte Svendson uns noch, daß seine Tochter 22 Jahre alt und mit einem Arzt Dr. Olaf Olafsen verlobt sei.

Die Pension Börmer nahm zwei Stockwerke eines vornehmen Miethauses ein. Svendson führte uns in das Empfangszimmer im ersten Stock und erklärte, er würde Ingeborg nun auf unseren Besuch vorbereiten und uns dann nach oben holen.

Nach fünf Minuten schaute eine ältere Dame in das Empfangszimmer hinein, trat näher und fragte nach unseren Wünschen. Es war die Pensionsinhaberin.

Harald erwiderte, daß wir auf Professor Svendson warteten. Frau Börmer war zufriedengestellt und verschwand.

Es vergingen abermals zehn Minuten. Dann trat ein sehr großer, hagerer, kahlköpfiger Herr mit Spitzbart ein und musterte uns prüfend, sagte schließlich in mäßigem Deutsch:

„Mein Name ist Svendson – Professor Holger Svendson. Frau Börmer teilte mir mit, daß Sie mich zu sprechen wünschten.“

Wir hatten uns erhoben. – Harald blieb ganz ruhig. Ein paar Fragen und Antworten genügten: der echte Svendson stand hier vor uns. Der andere war ein Schwindler gewesen. – Als Harst dem echten Professor erklärte, daß der Schwindler uns unter dem Vorwand, Fräulein Ingeborg habe sich vergiften wollen und habe nach einem Detektiv verlangt, hierher gelockt hätte, wurde der Gelehrte sichtlich verlegen, meinte dann aber ärgerlich:

„Der Betrüger hat sich da eine Unverschämtheit erlaubt, die bestraft werden müßte. Meine Tochter ist frisch und munter.“

Gleich darauf verabschiedeten wir uns.

Unten auf der Straße sagte Harald: „Hör’ mal, mein Alter, hier stimmt etwas nicht. Ich wette, die Sache mit dem Selbstmordversuch stimmt. Der Mann, der sich bei uns als Svendson ausgab, muß ein Interesse daran gehabt haben, mich auf diesen Selbstmordversuch aufmerksam zu machen. Übrigens war der Blondbärtige niemals ein Schwede. Das merkte ich schon an seinem tadellosen Deutsch. Es ist ein Deutscher.“

Dann fuhren wir mit der Straßenbahn heim.

Im Flur trafen wir Mathilde, die alte Köchin.

„Der Napoleon ist gerade abgeholt,“ meinte sie und wischte weiter den Staub von den Paneelbrettern.

„Abgeholt?!“ rief Harald.

„Nun ja … Sie schickten doch den ausländischen Professor mit’n Zettel her, Herr Harst.“

Wir sahen uns verdutzt an.

Mathilde wurde mißtrauisch. „Is da was nicht in Ordnung?“ fragte sie zögernd.

„Scheint so!“

Nur wenige Minuten drauf wußten wir, daß der Blondbärtige mit einem Zettel, auf dem Haralds Handschrift glänzend gefälscht war, zu Frau Auguste Harst gekommen war und den Napoleon auch ausgehändigt erhalten hatte.

Den Zettel konnte Haralds Mutter uns noch zeigen. Er lautete:

„Liebe Mutter, ich habe den Napoleon an Herrn Professor Svendson verkauft und bitte Dich, ihm die Wachsfigur zu übergeben. Schraut und ich kommen heute erst gegen drei Uhr zu Tisch. Gruß – Dein Harald!“

Mit einem Wort: der falsche Professor hatte es von vornherein auf den Napoleon abgesehen gehabt!

Woher er eine Schriftprobe von Haralds Hand sich verschafft hatte, war ebenfalls leicht festzustellen: er war im Arbeitszimmer Harsts lange genug allein gewesen und hatte einen Brief, den Harald noch nicht beendet gehabt und auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte, zu sich gesteckt.

Die Wachsfigur hatte er eigenhändig in ein Auto draußen getragen und war davongefahren. –

Harst lachte mich an. „Du – da sind wir fein geleimt worden – sehr fein!“ – Er saß im Klubsessel und rauchte zur Beruhigung eine Zigarette.

„Willst Du den Verlust etwa ruhig hinnehmen?!“ meinte ich.

„Denke gar nicht daran! Die Jagd auf den falschen Professor soll sofort beginnen. Mathilde behauptet ja, das Auto sei ein elektrisches Taxameterauto gewesen. Ich werde Freund Bechert bitten, das Auto suchen zu lassen. Rufe ihn doch mal an.“

Kriminalkommissar Fritz Bechert meldete sich sehr bald, nachdem ich das Polizeipräsidium verlangt hatte. Er versprach, uns Bescheid zu geben, sobald das Auto gefunden. Harald erzählte ihm noch, wie wir den Napoleon losgeworden waren. Bechert kondolierte und meinte, der Blondbärtige verdiene den Großstern des Gaunerordens „mit Dietrichen und Brecheisen“, denn einen Harald Harst zu bestehlen, sei immerhin eine Auszeichnung wert. –

Nach dem Mittagessen läutete Bechert an.

„Auto ist gefunden. Der blonde Herr fuhr mit dem Napoleon, dem er einen langen Gummimantel angezogen und eine Reisemütze aufgesetzt hatte, nach der Kantstraße 108, Charlottenburg, und trug ihn hier ins Haus, nachdem er den Chauffeur bezahlt hatte. Mehr weiß der Chauffeur nicht.“ –

Auch wir hatten nun einiges Interesse für Kantstraße 108. Gegen halb vier waren wir dort und ermittelten, daß am Morgen unser falscher Professor dort im Hochparterre ein Zimmer für drei Tage gemietet hatte. Die Vermieterin ließ uns auch in das Zimmer ein, da der Herr ausgegangen war, der sich Kaufmann Albert Müller aus Hamburg genannt hatte.

Müllers Koffer war nicht mehr da. Und im Kleiderschrank fanden wir … den Rumpf des Wunderautomaten. Kopf, Arme und Beine fehlten.

„Herr Müller“ hatte sich also mit diesen Teilen des Franzosenkaisers in aller Stille empfohlen.

Den Rumpf nahmen wir mit nach Hause.

„Müller“ in Berlin zu suchen, wäre vergebliche Mühe gewesen.

So saßen wir denn um fünf Uhr wieder in Haralds Arbeitszimmer und stärkten uns durch eine Tasse Mokka.

Harst wurde nach der zweiten Tasse sehr schweigsam.

Nach der dritten sagte er:

„Wir werden bei der Börmer absteigen. Der echte Svendson wird uns vielleicht auf die Spur des falschen führen. Seine Tochter hat doch einen Selbstmordversuch gemacht, behaupte ich! Und „Müller“ hat dies gewußt. Mithin muß es zwischen den Svendsons und dem Blonden irgend eine Brücke geben. Die Brücke wird sich herausfinden lassen.“ –

Und um acht Uhr abends belegten dann zwei Herren im Pensionat Börmer die Zimmer Nr. 8 und Nr. 9 im zweiten Stock gegenüber Nr. 3 und Nr. 4, in denen der Professor und seine Tochter wohnten.

Daß die Herren mit Harst und Schraut nichts gemeinsam hatten – äußerlich! – ist selbstverständlich. Sie hießen Schmidt und Hilmer und waren Ferienreisende, Oberlehrer aus Stettin.

Oberlehrer wirkt als Stand im Fremdenbuch so vertrauenerweckend, wenn die Herren Hochstapler dies wüßten, würden sie nur als Oberlehrer statt als Grafen reisen.

Wer in einem Fremdenheim etwas erfahren will, muß sich an die Stubenmädchen wenden.

Das Rezept ist uralt.

Das Stubenmädchen, das uns und Svendsons bediente, war nicht uralt und durchaus für Trinkgelder empfänglich. Bereits um halb zehn wußten wir folgendes.

Der Herr Professor war Chemiker, Professor der Chemie. Seine Tochter war hübsch. Beide wohnten hier seit[2] dem 8. Juli, hatten viel Verkehr und waren selten daheim. Aber – sie vertrugen sich schlecht miteinander. Jeden Tag gab es Szenen, leider stets in schwedischer Sprache, die unser Zöflein nicht beherrschte. Dann war in der verflossenen Nacht der Professor gegen halb ein Uhr zur Apotheke gerannt. Unser Zöflein begegnete ihm auf der Treppe. Er hatte sie gefragt, wo die nächste Apotheke sei. Seine Tochter habe Zahnschmerzen. Und heute liege das Fräulein nun in Nr. 4 fest zu Bett, und der Professor pflege sie. –

Harald nahm das Mädchen noch weiter ins Verhör – ganz unauffällig. – Fräulein Ingeborg Svendson habe wohl einen Verehrer, der dem Vater, dem Professor, nicht genehm sei? fragte er lächelnd.

Das Zöfchen nickte. „Ja, einen Verehrer hat sie allerdings. Aber den mag das Fräulein nicht. Es ist ein Amerikaner namens Burton, James Burton.“

Burton wohnte ganz in der Nähe, in der Augsburger Straße 112, wußte das Mädchen weiter zu berichten. Der Herr Professor schätze den Amerikaner sehr. Burton sei auch ein sehr stattlicher Herr.

Weiter war aus dem Mädchen nichts herauszuholen. Sie knickste kokett und verschwand.

Wir waren in Haralds Zimmer nun allein. Es war der übliche sogenannte „bessere“ Pensionsraum, vielleicht sogar elegant zu nennen.

Harald saß in der Sofaecke und rauchte nachdenklich seine Mirakulum.

Ich hatte mir den einen Plüschsessel dicht an das Sofa geschoben. So konnten wir uns bequem im vorsichtigsten Flüsterton unterhalten.

„Es gibt eine sehr einfache Erklärung für den Diebstahl des Napoleon,“ meinte Harald plötzlich.

„So?! Und die wäre?“

„Man hat uns auf Svendsons aufmerksam machen wollen und hat dazu einen Weg gewählt, der unserer Vorliebe für merkwürdige Geschehnisse entspricht.“

„Wer soll das getan haben?“

„Vielleicht jemand, der Ingeborg Svendsons Herz besitzt.“ –

Ich dachte über diese Vermutungen Haralds angestrengt nach. Sie erschienen mir widerspruchsvoll und ohne jeden Anhaltspunkt. Hatte Ingeborg wirklich einen Verehrer, den sie liebte?! Woher wollte Harald das wissen?! Und – weshalb hatte dieser Verehrer uns auf die Svendsons aufmerksam machen wollen?! Weshalb?! –

Harst saß jetzt mit geschlossenen Augen da. Ich mochte ihn nicht durch Fragen stören.

Nach einer Weile erhob er sich. „Wir werden nun beginnen,“ erklärte er. „Mein Feldzugsplan ist fertig. Wir gehen noch aus.“

 

2. Kapitel.

Der zweite Schuß.

Wir gingen zur nächsten Apotheke. Sie war geschlossen. Wir läuteten. Ein jüngerer Herr öffnete das Klappfenster der Tür und fragte nach unserem Begehr. – Harst nannte seinen Namen. „Hatten Sie auch in der verflossenen Nacht hier Dienst?“ fragte er den Herrn.

„Ja. Ich vertrete meinen Kollegen.“

„Gegen halb eins hat ein Ausländer gestern ein Medikament verlangt, nicht wahr?“

Der junge Apotheker überlegte. „Ah – nun besinne ich mich. Er sagte, sein Hund hätte Gift gefressen, Zyankali. Der Herr verlangte Kampferspiritus und Atropin. Da er sich als Professor der Chemie auswies, nahm ich keinen Anstand, ihm auch Atropin als Gegenmittel zu verabfolgen. Der Herr war übrigens Schwede, Herr Harst.“

„Vielen Dank. Sie schweigen wohl über unsere Nachfrage …“

„Gewiß, Herr Harst. Nur – stimmt irgend etwas nicht? Womöglich habe ich noch Unannehmlichkeiten, weil ich das Atropin ohne Rezept …“

„Keine Sorge. Der Hund ist mit dem Leben davongekommen. Die Dosis Zyankali kann nur winzig gewesen sein. – Gute Nacht …“

Harald faßte mich unter. „Also eine Zyankalivergiftung, lieber Alter!“ meinte er sehr ernst. „Svendson hat sie richtig erkannt und die richtigen Gegenmittel angewandt. Es fragt sich nun: hat Ingeborg sich selbst vergiften wollen oder hat man ihr das Gift irgendwie beigebracht?“

„Kann darüber überhaupt ein Zweifel bestehen?“ warf ich ein. „Wer soll Fräulein Svendson wohl nach dem Leben trachten?“

„Gestatte. Du verfällst schon wieder in den alten Fehler. Du nimmst etwas als gewiß an, was durchaus noch nicht gewiß ist. – Wir werden ins Pensionat zurückkehren.“

In Nr. 9, Haralds Fremdenzimmer, angelangt, legte Harst die Schuhe ab und meinte: „Es ist jetzt elf Uhr. Wir werden versuchen, Svendson und seine Tochter zu belauschen. Zu diesem Zweck werden wir in sein Zimmer eindringen.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der er das sagte, entbehrte jeder Effekthascherei.

Auch ich zog die Schuhe aus. – Im Flur war es bereits dunkel. Wir schalteten das Licht aus und stellten uns lauschend vor die Tür von Nr. 3. Harsts Zimmertür hatten wir nur angelehnt.

In Nr. 3 war alles still. Es brannte kein Licht. Harald hatte durch das Schlüsselloch geschaut.

Dann huschten wir nach links – vor die Tür von Ingeborgs Zimmer.

Hier vernahmen wir gedämpfte Stimmen, und hier in Nr. 4 war es auch hell.

Harald zog mich wieder nach rechts, legte die Hand auf den Drücker von Nr. 3. – Verschlossen!! – Aber die Schlüsselzange arbeitete leise und schnell. Der Riegel war nicht vorgeschoben.

Die Tür ging auf. Wir schlüpften hinein.

Finsternis – – nur linker Hand ein fingerbreiter langer Lichtstreifen: das war die Tür zum Krankengemach!

Jetzt hörten wir die Stimmen deutlicher. Lautlos glitten wir dem Lichtstreifen näher.

Unsere schwedischen Sprachkenntnisse genügten, um dem Gespräch zwischen Vater und Tochter folgen zu können.

„Es ist traurig,“ sagte der Professor etwas gereizt, „daß Du mich zu belügen suchst, Ingeborg.“

Ein bitteres Auflachen. Dann: „Ich schwöre es Dir bei dem Andenken an meine Mutter, daß ich mich nicht vergiftet habe. Das muß Dir wohl jeden Zweifel benehmen.“

„Allerdings, Kind, allerdings. Rege Dich nur nicht auf. Ich begreife dann einfach nicht, wie das Zyankali in Dein Wasserglas geraten sein kann. Wer sollte Dich haben vergiften wollen – wer?!“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gestern nacht um halb ein Uhr mir wie immer in dem Glase Mundwasser zurechtmachte, mir den Mund ausspülte und wenige Tropfen der Mischung hinunterschluckte, worauf sich sehr bald ja die Krankheitserscheinungen einstellten.“

Der Professor seufzte. „Unter diesen Umständen müßte man in der Tat das tun, was der unverschämte Mensch, der sich bei Harst als Svendson ausgab, sich herausnahm: eben Harst einweihen, vollständig einweihen!“

„Nein – nein, – nur kein Aufsehen, Vater!“ rief Ingeborg da. „Nur das nicht! Ich fühle mich ja bereits wieder weit besser. Morgen stehe ich auf. Vielleicht war es auch gar keine Zyankalivergiftung.“

„Oh – es war eine, Kind. Und – weil es sich allem Anschein nach um einen Anschlag auf Dein Leben gehandelt hat, weil außerdem …“

„Nun – außerdem?“

„Hm – ich wollte Dir’s eigentlich verschweigen …“

„Was denn?“

„Daß – daß ich sehr wohl weiß, daß Sigurd Barnö ebenfalls in Berlin ist.“

„Wie – wie meinst Du das, Vater?!“ Ihre Stimme klang sehr verlegen.

„Verstellte Dich nicht, Ingeborg. Barnö ist zu allem fähig. Ein Mensch von seinem Temperament sucht vielleicht sogar lieber das Weib, das er begehrt, zu vernichten, ehe er sie einem anderen gönnt.“

Ingeborg schrie leise auf.

„Vater – Vater, schämst Du Dich nicht, so ungeheure Verdächtigungen auszusprechen gegen einen Mann, mit dem Du jahrelang im Laboratorium zusammengearbeitet hast und den Du …“

„Dieser Ton mir gegenüber dürfte höchst unpassend sein, Kind,“ unterbrach Svendson sie recht schroff. „Mein Urteil über Barnö werde ich nie mehr ändern. – Suche jetzt einzuschlafen. Morgen reden wir weiter.“

Für uns beide wurde es nun höchste Zeit, des Professors Zimmer wieder zu verlassen.

Wir gelangten auch unbemerkt nach Nr. 9 zurück, wo Harald mir beides Hände auf die Schultern legte und flüsterte:

„Ein Roman – – ein Roman!! – Zwei, die sich um Ingeborg bewerben!! Konfliktstoff!! – Wie wär’s, wenn wir nochmals ausgingen?!“

„Und – wohin?“

„Nach der nahen Augsburger Straße, wo der Amerikaner James Burton wohnt, nach Nr. 112. Wenn wir wüßten, wo Sigurd Barnö hier in Berlin abgestiegen ist, könnten wir ja auch ihn noch so ein wenig aufs Korn nehmen. Ich bin stets dafür, daß man das Eisen schmiedet, so lange es noch heiß ist. Nächtliche Ermittlungen[3] haben außerdem zumeist mehr Erfolg als solche am Tage. Nachts streifen die Menschen die Maske, die sie für das grelle Sonnenlicht anzulegen belieben, nur zu gern ab und werden so, wie sie wirklich sind. Ehrbare Beamte frönen nachts dem verbotenen Laster des Spiels, Damen der sogenannten besten Gesellschaft besuchen … – Ah – hörst Du …! Svendson geht noch aus! Das war soeben seine Tür, die ins Schloß gedrückt wurde …!“ –

Zwei Minuten später waren auch wir auf der Straße. Die hagere, etwas gebeugte Gestalt des Professors war in dieser Menschenfülle der sich gerade leerenden Theater und Kinos leicht im Auge zu behalten. Ein Mann von seiner Größe fiel auf.

Svendson überschritt den Kurfürstendamm und bog die Augsburger Straße ein.

Er ging wie einer, der tief in Gedanken versunken ist, mit gesenktem Kopf, mit schlaffen Bewegungen.

Die Augsburger Straße war wenig belebt. Vor Nr. 112 machte Svendson halt und schaute zu den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses empor.

Wir beide hatten uns in eine Türnische gedrückt. – Ein paar Schritte neben Svendson stand eine Laterne. Regungslos starrte er minutenlang, Nr. 112 den Rücken zukehrend, das alte schmale Gebäude an, wohl eins der ältesten Häuser der Straße.

„Wenn dort Sigurd Barnö wohnt, dann will er vielleicht James Burton, den Nebenbuhler, beobachten, oder umgekehrt,“ sagte Harald leise. „Jedenfalls dürften Barnö und Burton sich kaum lieben. Svendson, der gegen Barnö vorhin so schwere Verdächtigungen aussprach, scheint auf eigene Faust Barnö nachspionieren zu wollen. Es wird schon stimmen, daß Barnö dort in dem alten Hause sich eingemietet hat. Woher sonst des Professors Interesse für das Gebäude?!“

Einer jener zahllosen Bettler, die seit dem Kriege die Gegend um den Kurfürstendamm nachts abgrasen, schlurfte an der Türnische, deren Schatten uns barg, vorüber.

Ein alter Mann mit weißem Patriarchenbart war’s, einen kleinen Holzkasten am Schulterriemen vor dem Leibe, – zerlumpt, kläglich, mühsam dahinschreitend.

Er konnte uns nicht bemerkt haben. Kaum war er vorbei, als Harst sich näher an mich drängte.

„Du, der Alte war vorhin in der Joachimsthaler Straße! Du – der Mann …“

Er verstummte.

Er hatte den Kopf vorgebeugt, zog ihn mit jäher Bewegung zurück. Gerade war ein Auto in schnellstem Tempo vorübergefahren.

„Was gibt’s?“ fragte ich hastig.

„Still …!!“

Und wieder schob er den Kopf etwas vor.

Ich tat dasselbe …

Der Bettler … war verschwunden. Und Professor Svendson lag halb kniend auf dem Bürgersteig.

Da riß Harald mich zurück …

„Vorsicht! Wir dürfen uns nicht einmischen. Man kommt Svendson schon zu Hilfe!“

Auch ich hatte noch mit einem letzten Blick drei Herren gesehen, die von der anderen Seite auf Svendson zugeeilt waren.

Wir hörten erregtes Sprechen – ein paar laute Rufe: „Polizei – – Polizei!!“

„Jetzt wird’s Zeit,“ meinte Harald.

Es kamen noch mehr Leute hinzu. Wir verließen die Türnische, mischten uns unter die rasch anwachsende Menge.

Mit einem Male war Harald nicht mehr neben mir. Ich achtete nicht weiter darauf. Ich sah, daß zwei Herren den Professor stützten, daß ein dritter ihm ein Taschentuch um die Stirn band.

„Man hat auf den Ausländer geschossen,“ sagte eine Dame neben mir.

Dann erschien ein Polizeibeamter. Gleich darauf zwei ältere Herren, die mit dem Beamten flüsterten: eine Patrouille der Kriminalpolizei!

„Komm’!“ raunte der soeben wieder aufgetauchte Harst mir zu.

Ich folgte ihm. Er schritt auf Nr. 107 zu, ein großes neueres Gebäude.

„Hier dieses Haus betrat der Bettler,“ erklärte Harald. „Es ist verschlossen. Der Mann hat es noch nicht wieder verlassen.“

Er hielt den Dietrich schon bereit. Wir traten ein, sperrten hinter uns wieder ab. – Linker Hand neben der Tür war der Kontakt der Nachtbeleuchtung. Flur und Treppen wurden hell.

„Du läßt niemand hinaus, wartest hier,“ befahl Harald.

Er wollte die Treppen emporsteigen.

Da kam von oben ein Herr mit einem kleinen Handkoffer herab.

Stutzte … blieb stehen, musterte uns voller Mißtrauen, faßte in die rechte Jackentasche, ließ die Hand in der Tasche, fragte ziemlich scharfen Tones:

„Gehören Sie beide hier ins Haus?“

Das Deutsch verriet den Ausländer, besser, die Aussprache verriet’s.

„Dasselbe könnte ich Sie fragen,“ erwiderte Harald nicht minder schroff. „Wohnen Sie hier?“

Der Herr zögerte erst.

„Ja, ich wohne hier,“ erklärte er dann.

Harald hatte plötzlich seine Taschenlampe in der Linken, schaltete sie ein. Die Nachtbeleuchtung mußte auch jeden Moment wieder erlöschen.

Nun lag der grelle Lichtkegel auf der schlanken Gestalt des bartlosen jungen Mannes dort oben auf dem Treppenabsatz.

„Nehmen Sie die Hand aus der Tasche – ohne Waffe!“ sagte Harst kurz. „Auch wir sind vorbereitet. – Schraut – heraus mit der Clement!“

Diese Weisung war überflüssig. Ich hatte schon von selbst die Pistole herausgeholt. Ich stand mehr im Schatten. Ich hatte längst geahnt, daß der Fremde da oben einen Revolver oder dergleichen in der Tasche umspannt hielt.

Die elektrischen Birnen der Nachtbeleuchtung erloschen nun. Nur der weiße Lichtkegel zeigte uns den Fremden, dessen Gesicht sich plötzlich stark gerötet hatte, als ob Erregung ihm das Blut zu Kopfe getrieben hätte.

„Sie wohnen nicht hier,“ sagte Harald nun, und seine Stimme klang weit weniger drohend und feindselig. „Falls Sie Herr Sigurd Barnö sein sollten, wären wir bereit, den Portier nicht zu wecken.“

Der Herr war leicht zurückgefahren.

„Wer … wer sind Sie?!“ meinte er unsicher und ängstlich.

„Das ist vorläufig gleichgültig. – Ihrem Deutsch nach dürften Sie Schwede sein. Sie sind Sigurd Barnö, der drüben in dem schmalen alten Hause wohnt. Sie sind auch der alte Bettler, der dem Professor Svendson nachschlich. – Äußern Sie sich!“

Der Herr hatte die rechte Hand nun auf das Geländer gelegt. In der Linken trug er den keinen Handkoffer.

Und abermals fragte er scheu: „Wer sind Sie?“

„Leute, die ein Recht haben, Sie zur nächsten Polizeiwache zu bringen, falls Sie es nicht vorziehen, uns mit in Ihre Wohnung zu nehmen und uns dort einige Fragen zu beantworten.“

„Also … Kriminalbeamte …!“ Das klang mehr ärgerlich als ängstlich.

„Wollen Sie oder wollen Sie nicht!“ meinte Harst wieder energischer.

„Gut – ich bin einverstanden. Ich … bin Sigurd Barnö. Ich werde Ihnen erklären, weshalb ich mich verkleidet hatte.“

Er kam die Stufen weiter herab.

Ich schaltete rasch das Nachtlicht wieder ein.

Barnö hatte einen Dietrich, schloß die Haustür auf und ließ uns hinaus, schloß von draußen wieder ab und sagte: „Weichen wir der Menschenansammlung dort aus. Ich möchte nicht, daß ich wie von Beamten eskortiert womöglich von einem Bekannten gesehen werde.“ –

Wir hatten das schmale alte Haus erreicht.

Hier drehte Barnö sich plötzlich um und schaute nach Nr. 112 hinüber.

Dort waren nur im Hochparterre zwei Fenster hell. Auf dem gelben Vorhang des einen Fensters zeichnete sich der Schatten eines offenbar an einem Schreibtisch sitzenden Mannes ab.

Barnö murmelte etwas Unverständliches und wandte sich kurz der Haustür zu, öffnete sie mit einem Schlüssel und führte uns dann in den ersten Stock, wo er ein Zimmer mit Zugang von der Treppe aus aufschloß und eine einladende Handbewegung machte.

In dem Zimmer brannte Licht.

„Ich bringe Gäste mit, Oskar,“ sagte Barnö laut.

Aus einem Klubsessel erhob sich ein blondbärtiger Herr und verbeugte sich verwundert vor uns.

Ich mußte mir Mühe geben, meine Überraschung zu verbergen, denn der blonde Herr war … der falsche Professor Svendson, der Dieb des Napoleon aus Wachs …!!

 

3. Kapitel.

Der erste Schuß.

Harald war an der Tür stehen geblieben.

Nachdem auch Barnö eingetreten, schloß Harst ab und lehnte sich gegen die Tür.

Zu meinem Erstaunen veränderte er jetzt seine Stimme und sagte heiser und krächzend:

„Herr Barnö, nehmen Sie dort neben Ihrem Freunde auf einem Stuhl Platz. Gehorchen Sie!“ Und er spielte in nicht mißzuverstehender Weise mit seiner Clementpistole.

Der Blonde hatte uns und Barnö abwechselnd gemustert.

„Sigurd – etwa Polizei?“ fragte er nun.

Barnö zuckte die Achseln. „Leider! Ich habe Pech gehabt.“ Und er rückte einen Stuhl neben den Sessel und setzte sich. Der Blonde folgte seinem Beispiel.

Harst wandte sich an Sigurd Barnö, der mit großer Ruhe jetzt dem Folgenden entgegenzusehen schien. „Würden Sie mir der Wahrheit gemäß erklären, weshalb Sie vorhin in der Verkleidung des Bettlers hinter Professor Svendson dreinschlichen und weshalb Sie diese Verkleidung, unter der Sie einen eleganten Straßenanzug trugen, im Hause Nr. 107 ablegten und den fraglos zusammenklappbaren Hausiererkasten in den Handkoffer taten, der bis dahin in dem Kasten steckte?“ sagte Harald abermals mit verstellter Stimme.

Barnö, dessen offenes Gesicht mit den ebenso ehrlichen graublauen Augen von dem Lichte der elektrischen Krone voll getroffen wurde, erwiderte ohne Zögern: „Weil ich Herrn Professor Svendson schützen wollte.“

„Vor wem? Wovor?“

„Vor … Mordanschlägen eines Unbekannten.“

„Würden Sie sich hierüber vielleicht genauer aussprechen, Herr Barnö?“

„Gewiß. Sobald ich Ihre und Ihres Begleiters Legitimationen gesehen haben werde.“ Er wurde leicht ironisch. „Kriminalbeamte hätten wohl kaum so viel Rücksicht genommen, wie Sie beide es taten, indem Sie hierher kamen und mich nicht verhafteten.“

Harald nickte. „Sie haben ganz recht, Herr Barnö. Wir sind nicht Beamte, immerhin etwas ähnliches.“ Er steckte die Pistole ein. „Ich wollte Sie nur näher kennen lernen, Herr Barnö,“ fügte er hinzu. „Ich weiß nun, was ich von Ihnen zu halten habe. Wir wollen unsere Unterredung zwangloser fortsetzen. Sie gestatten, daß auch wir Platz nehmen.“

„Bitte sehr!“ meinte der schlanke sympathische Schwede höflich, aber mit einer gewissen Neugier im Blick.

Wir setzten uns.

„Wenn Sie Svendson schützen wollten, Herr Barnö, wußten Sie also, daß sein Leben bedroht war oder noch bedroht ist,“ begann Harst, noch immer die Stimme verstellt. „Woher wußten Sie dies? Es ist da vorhin allerdings auf den Professor ein Anschlag versucht worden. Die Kugel hat ihm nur die Stirn gestreift. Ich gebe zu, daß ich Sie zunächst für den Attentäter hielt.“

„Svendson wäre bereits vor vierzehn Tagen in Stockholm beinahe das Opfer eines ähnlichen Anschlags geworden,“ erklärte Sigurd Barnö sehr ernst. „Man schoß auf ihn, als er in seinem Laboratorium seiner Villa bei offenem Fenster noch spät nachts experimentierte. Ich war damals noch sein Assistent und ebenfalls im Laboratorium anwesend.“

„Ich möchte über diesen Anschlag gern Einzelheiten hören, Herr Barnö.“

„Hm – mit welchem Recht?“

„Gut – klären wir die Situation erst vollkommen. Sie haben sich bisher offenbar gescheut, die Hilfe der Polizei in dieser Angelegenheit in Anspruch zu nehmen, Herr Barnö. Haben Sie sich nicht wenigstens an einen Privatdetektiv gewandt?“

„Allerdings – an den besten, den die Welt kennt, an Harald Harst.“

Harald lächelte. „Sie haben nur einen etwas merkwürdigen Weg gewählt, Harst auf den Professor aufmerksam zu machen, Herr Barnö.“

Die beiden Schweden fuhren zusammen.

„Wie – das wissen Sie?!“ rief Barnö.

Aber der andere, der Blondbärtige, der falsche Svendson, sagte mit einer energischen Handbewegung:

„Sigurd, der Herr ist eben Harald Harst!“

Barnö sprang auf. „Harst – – Herr Harst, – wirklich?!“

Der Blonde erhob sich, verbeugte sich. „Dann gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, meine Herren: Doktor Oskar Gulbranson, Bezirksarzt, bester Freund Sigurd Barnös.“

Auch wir waren aufgestanden. Gulbranson reichte uns die Hand. „Sie werden nicht nachtragend sein, Herr Harst. Gerade Sie werden mein Benehmen entschuldigen. Wir wußten nicht, wie wir Sie für den Fall Svendson interessieren sollten.“

Die Aussprache wurde nun sehr lebhaft. Ich war doch etwas verblüfft, daß Haralds Vermutung so zutreffend gewesen und daß der Besuch Gulbransons bei uns lediglich den Zweck gehabt hatte, uns auf Svendson und Tochter, besonders aber auf die Zyankalivergiftung hinzuweisen.

Ich will nun in aller Kürze die recht seltsamen Ereignisse in Stockholm und die hier in Berlin so wiedergeben, wie Barnö sie uns schilderte. –

Am 5. Juli nachts etwa um 12 Uhr war plötzlich ein auf einem Wandbrett in Svendsons Laboratorium stehendes großes Glasgefäß mit konzentrierter Salzsäure in demselben Moment zerplatzt, als Svendson tief gebückt an dem Tische unter dem Wandbrett stand. Zum Glück hatte er sich im selben Moment wieder aufgerichtet, so daß die in dicken Strahlen herabfließende gefährliche Säure ihm nicht über Kopf und Genick floß. Anderseits hatte der mit anwesende Sigurd Barnö insofern Pech, als er gerade eine lange dünne Eisenstange in der Hand hielt, mit der er eines der Dachfenster des Laboratoriums hatte öffnen wollen. Svendson, gegen Barnö seit einiger Zeit stark voreingenommen, weil er dessen Bewerbung um Ingeborg nicht billigte und ihm sogar sein Haus verboten hatte, war nun offenbar der Meinung, Barnö hätte das Glasgefäß mit der Eisenstange zerschlagen. Ohne jedoch etwas von diesem Verdacht zu äußern, schickte er, vor Schreck leichenblaß geworden, Barnö mit dem Bemerken davon, daß er auf seine ferneren Dienste verzichte. Barnö suchte sich noch zu verteidigen, indem er darauf hindeutete, daß er ganz deutlich das Pfeifen einer Kugel gehört hätte, die von draußen hereingekommen sei – durch das offene Fenster. Svendson hatte ihn jedoch in seiner Erregung grob angefahren, und Barnö zog es unter diesen Umständen vor, das Feld zu räumen. Er hatte sich dann mit Gulbranson am nächsten Tage beraten, der ihm erklärte, Barnö solle sich nicht an die Polizei wenden, da er ja zugeben müsse, keinen Schuß gehört zu haben, der doch nur aus einem der Bäume des Svendsonschen Gartens hätte abgegeben sein können. –

Nachdem Barnö uns dies mitgeteilt hatte, fragte Harald ihn: „Sie hegen gegen eine bestimmte Person Verdacht, die Kugel abgefeuert zu haben?“

Barnö bejahte zögernd. Es sei da vor anderthalb Monaten in Stockholm ein Amerikaner namens Burton aufgetaucht, ein Ingenieur, der mit Svendson geschäftliche Beziehungen angeknüpft und dann sehr viel im Hause des Professors verkehrt habe, wo er Ingeborg ganz unverhohlen den Hof machte, begünstigt durch deren Vater, dem der schwerreiche Bewerber (Burton war Chefingenieur einer großen Fabrik) insofern recht genehm gewesen, als des Professors Experimente und Erfindungen viel Geld verschlangen, ohne bisher einen Nutzen abgeworfen zu haben.

Stichhaltige Gründe für diesen Verdacht hatte Barnö nicht gehabt. Es war mehr Gefühlssache gewesen, die ihn veranlaßte, insgeheim mit Doktor Gulbransons Unterstützung nachzuforschen, ob Burton in der Nacht vom 5. zum 6. Juli daheim gewesen. Sie ermittelten, daß er erst gegen ein Uhr nach Hause gekommen war, ermittelten weiter, daß ein Nachtwächter einen Mann gegen 12 Uhr in jener Nacht über den Zaun der Svendson’schen Villa hatte steigen sehen und auch angerufen hatte, stellten schließlich auch fest, daß jemand eine Buche, die vor dem Laboratoriumfenster stand, erklettert haben mußte. – Über diesen Nachforschungen waren Tage vergangen. Svendsons und Burton waren inzwischen nach Berlin gereist. Barnö und Gulbranson[4] folgten ihnen. Die beiden Freunde wollten in aller Stille weiteres Material gegen Burton sammeln und dann zum vernichtenden Schlage gegen den Amerikaner ausholen.

In Berlin ereignete sich dann jedoch nichts, was Barnös und Gulbransons Ermittlungen auch nur einen Schritt weitergebracht hätte. Trotzdem ließen sie nicht nach, Burton und den Professor zu beobachten, die ständig miteinander verkehrten. Die Freunde hatten hier im Hause Nr. 204 gegenüber Nr. 112 zwei möblierte Zimmer gemietet, während Burton drüben in Nr. 112 im Hochparterre ein Zimmer, ebenfalls mit Flureingang, bewohnte. In der verflossenen Nacht war er bis gegen halb zwölf bei Svendsons im Pensionat Börmer gewesen, hatte dann vor dem Hause auf der anderen Straßenseite sich in eine Türnische gestellt, stets belauert von Sigurd Barnö, der sich schon seit Tagen der Bettlermaske bedient hatte, um unerkannt zu bleiben. So sah Barnö dann auch, wie der Professor nach der Apotheke eilte, wie Burton ihm folgte und nachher heimging. Barnö wieder, von Angst um Ingeborg gefoltert, die doch offenbar erkrankt war, konnte kaum den Morgen erwarten, um dann irgendwie festzustellen, ob der Geliebten Zustand bedenklich sei. Er begab sich in die Apotheke, stellte sich als Bekannter Svendsons vor und verstand es, dem Apotheker zu entlocken, welche Medikamente der Professor geholt hatte. Ebenso faßte er dann eines der Stubenmädchen des Pensionats Börmer ab und hörte von ihr, daß tatsächlich Ingeborg die Kranke sei. Da er sehr wohl wußte, daß Svendsons keinen Hund besaßen, der durch Zyankali vergiftet sein konnte, wie der Apotheker ihm verraten, steigerte sich seine Angst um die Geliebte so sehr, daß er zu dem Entschluß kam, Gulbranson als Svendson zu uns zu schicken und durch uns, ohne selbst hervorzutreten, die Ermittlungen über Ingeborgs Erkrankung durchführen zu lassen. –

Als Barnö so weit gekommen, warf Harald lächelnd ein: „Und um mein Interesse noch stärker zu wecken, fälschten Sie dann das Schreiben an meine Mutter und holten den Napoleon …!“

 

4. Kapitel.

Fassadenkletterer.

Ich werde nie die unendlich verblüfften Gesichter Gulbransons und Barnös vergessen, die sie zu dieser Bemerkung Haralds machten.

„Napoleon?!“ rief Barnö. „Ein Schreiben gefälscht?“

Und Gulbranson meinte: „Sie scherzen wohl nur, Herr Harst! Wir wissen nichts von einem Napoleon, gar nichts!“

Das war von den beiden nicht etwa Spiegelfechterei. Das war ehrlich – ehrlich bis zu Barnös zweitem temperamentvollen Ausruf: „Teufel noch mal – glaubten Sie etwa, wir seien Spitzbuben, Herr Harst! Nein – wenn ich auch aus Liebe zu Ingeborg, von der ich mich, ohne freilich ihr Jawort zu besitzen, wiedergeliebt weiß, schon mancherlei getan habe, was ein wenig exzentrisch für einen braven Chemiker ist – so zum Beispiel die Verkleidung als Bettler …“

„… die übrigens tadellos gelungen war,“ schaltete Harst ein … – „Beruhigen Sie sich, meine Herren … Ich sehe, ich war auf dem Holzwege. Den Napoleon stahl ein anderer, der sich als Doktor Gulbranson herausgeputzt hatte und daher gewußt haben muß, daß Sie, Herr Doktor, als Svendson bei mir waren. Der Verdacht liegt nahe, daß es Burton war.“

Da schüttelte Sigurd Barnö energisch den Kopf.

„Herr Harst, ich möchte alles, was ich an Verdächtigungen gegen den Amerikaner ausgesprochen habe, zurücknehmen. Gestatten Sie rasch ein paar Bemerkungen. Sie sahen, daß ich heute hinter Svendson als Bettler herschlich. Und ich sah, daß man aus dem durch die Augsburger Straße rasenden geschlossenen Auto auf Svendson schoß. Ich sah ein Stück des Pistolenlaufes …“

„Halt – hörten Sie denn einen Knall?“

„Nein. Genau so wenig wie damals in der Nacht in Stockholm.“

„Hm – war der Pistolenlauf dünn?“

„Ja. Ich schätze von der Stärke eines Fingers.“

„Es war bestimmt der Lauf einer Waffe?“

„Ja. Bestimmt.“

„Und Sie meinen, Burton hat den Schuß nicht abgegeben?“

„Nein. Denn er hat in seinem Zimmer am Schreibtisch gesessen. Er saß noch da, als wir drei das Haus hier betraten.“

„Dann kann er einen Meuchelmörder gedungen haben, Herr Barnö.“

„Ausgeschlossen, Herr Harst. Er verkehrt nur mit Svendsons, sonst mit niemandem. Auch in Stockholm lebte er ganz für sich allein. Ich kenne Burton ja persönlich. Ein kraftvoller, kaltblütiger, jedes Wort, jede Bewegung vorher prüfender Mann gibt sich nicht mit Leuten ab, die ihn nachher auspressen könnten. Ich betonte ja schon: mein ganzer Verdacht gegen Burton entsprang meiner Eifersucht, war Gefühlssache. Wenn Sie mich fragen würden, weshalb Burton den Professor oder Ingeborg beseitigen will, müßte ich kläglich bekennen: „Ich weiß es nicht, habe in dieser Beziehung auch nicht die leiseste Vermutung.“ – Weshalb sollte Burton auch bei Ihnen in Gulbransons Maske als Svendson erschienen sein, als Sie abwesend waren, und den Napoleon mitgenommen haben?!“

Harald hatte mit zerstreuter Handbewegung sein Zigarettenetui hervorgeholt, sich eine Mirakulum angezündet, war aufgestanden, hatte den Vorhang etwas zurückgeschlagen und sagte nach einer Weile:

„Burton steht jetzt gerade vom Schreibtisch auf.“

Dann kam er wieder zu uns zurück und setzte sich.

„Wäre es nicht möglich, Herr Barnö, daß Burton so schlau gewesen ist, einen anderen Mann den Platz an seinem Schreibtisch einnehmen zu lassen, damit er sozusagen für sich selbst ein Alibi hätte. Er weiß doch sicher, daß Sie und Ihr Freund hier ihm gegenüber wohnen, daß Sie ihn beobachten. Jedenfalls weiß Svendson, daß Sie in Berlin sind. Wir haben Svendson und seine Tochter belauscht.“

„Ein anderer Mann?! Ein Stellvertreter?! Ausgeschlossen, unmöglich! Burton hat ein so charakteristisches Profil, daß …“

„Schon gut. Es war ja nur so eine Vermutung von mir.“ Und Harst rauchte die Zigarette schweigend zu Ende, nahm eine neue, sann vor sich hin …

Sagte unvermittelt: „Sie beide werden nun genau so weiterleben wie bisher, werden also Burton und Svendson wie bisher Ihre Aufmerksamkeit widmen. Schraut und ich erledigen das Übrige. Es muß zunächst mal festgestellt werden, weshalb man Svendson nach dem Leben trachtet. Alles andere findet sich dann ganz von selbst. Wir werden uns nun verabschieden, meine Herren. Sie hören von uns, falls es nötig ist. Sollten Sie etwas Neues ermitteln, so schicken Sie mir einen Rohrpostbrief.“ –

Wir gingen zur nächsten Polizeiwache. Harst legitimierte sich. Wir erfuhren, daß der Streifschuß an der Stirn Svendsons nur ganz leicht gewesen und daß der Professor sofort in das Pensionat zurückgekehrt sei. Hauptsächlich der Schreck habe ihn wohl in die Knie geworfen. Im übrigen hätten zwei Herren, die den Professor aufhoben, bekundet, der Schuß sei aus einem Auto abgefeuert worden, denn sie hätten beobachtet, daß ein blondbärtiger Mann sich zum Autofenster hinausbeugte und nach dem in die Knie Gesunkenen zurückblickte. Leider hatten sie aber über den Kraftwagen nichts Näheres angeben können, auch nicht die Nummer, deren Lampe nicht gebrannt hätte.

Harst bedankte sich für die Auskunft und bat dringend, ja nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, daß er sich hier erkundigt hätte. –

Wir fuhren mit einer der letzten Straßenbahnen nach der Joachimsthaler und waren gegen halb zwei morgens in Haralds Zimmer Nr. 9. – Harst blieb still und schweigsam, schickte mich zu Bett und meinte nur, morgen früh würden wir Svendson „ins Gebet nehmen“.

Vormittags gegen neun Uhr saßen wir in Haralds Zimmer beim Frühstück. Wir hatten die Tür nach dem Flur nur angelehnt. Als wir hörten, daß Svendson den Flur betrat, eilte Harst hinaus und brachte den Professor mit.

Svendson trug nur ein Heftpflaster an der linken Stirnseite. Er sah aber recht angegriffen aus und zeigte sich anfänglich so mißtrauisch, daß er an der Tür stehen blieb und erst Platz nahm, als Harald die Maske fallen ließ und leise erklärte:

„Ich bin Harald Harst, Herr Professor. Dort mein Freund Schraut …“

Svendson wurde sichtlich verlegen, setzte sich aber zögernd und beantwortete ebenso zögernd Haralds Fragen. Unsere Einmischung war ihm sichtlich unangenehm. Als Harst ihm auf den Kopf zusagte, daß jemand Fräulein Ingeborg zu vergiften versucht habe, wollte er zunächst alles ableugnen. Schließlich meinte er, Ingeborg habe zwar feierlich versichert, es handele sich um keinen Selbstmordversuch, er glaube ihr jedoch nicht, denn – „wer sollte ein Interesse daran haben, meine Tochter zu beseitigen, Herr Harst?!“

„Hm – und die Attentate auf Sie selbst?!“ erklärte Harald mit Nachdruck. „Zuerst das in Stockholm, dann in der vergangenen Nacht …“

„Stockholm!“ rief Svendson ärgerlich dazwischen. „Ich weiß schon, wer mir nach dem Leben trachtet, um dann Ingeborg heiraten zu können! Ich werde den Burschen jetzt nicht mehr schonen! Es ist …“

„… jedenfalls nicht Sigurd Barnö!“ fiel Harst ihm ins Wort. „Niemals ist es Barnö! Ich warne Sie, vorschnell ihn zu denunzieren. Im Gegenteil, Barnö hat Sie zu schützen gesucht. Der Attentäter ist – James Burton!“

Auch mir kam diese Behauptung etwas überraschend. – Der Professor lächelte überlegen. „Sie mögen ja in Ihrem Fach eine Berühmtheit sein, Herr Harst,“ sagte er eisig. „Aber in diesem Falle …“

„… habe ich ebenfalls recht,“ vollendete Harald den Satz mit einer Schroffheit, die fast beleidigend war. „Gelehrte sind noch nie gute Menschenkenner gewesen, noch nie, Herr Professor. Sie sind, wie ich gestern schon daheim aus Fachzeitschriften ersah, seit Jahren bemüht, einen Akkumulator, einen elektrischen Umformer, von möglichst geringem Gewicht und möglichst großer Energie zu konstruieren. Vielleicht haben Sie jetzt diese Aufgabe gelöst und wollen das Patent an Burton verkaufen. Oder besser: vielleicht haben Sie bereits mit ihm einen Vertrag abgeschlossen, der ihm Ihre Erfindung sichert; vielleicht enthält der Vertrag auch Bestimmungen dieserhalb für den Fall Ihres Todes. Möglich, daß Burton sogar schon Anzahlungen geleistet hat und daß, wenn Sie und Ihre Tochter plötzlich sterben, ihm die Erfindung für ein Butterbrot zufällt. Ich denke, wenn das alles zutrifft, hätte Burton wohl das allergrößte Interesse, Sie und Fräulein Ingeborg rascher ins Jenseits …“

Professor Svendson war sehr blaß geworden. In seinem Gesicht leuchtete gleichzeitig etwas wie eine jähe Erkenntnis auf, die ihn aufs schwerste erschütterte. Er unterbrach Harst, indem er wie beschwörend die Hand gegen ihn ausstreckte und murmelte: „Mein Gott – sind das alles Ihrerseits nur Kombinationen, Herr Harst?! Kann denn ein Mensch so … so folgerichtige Schlüsse aus winzigen Kleinigkeiten ziehen?!“

„Also stimmen diese Kombinationen?“

„Ja – – ja, sie stimmen in allem!“ Man merkte, wie das Mißtrauen gegen Burton immer mehr Raum in des Gelehrten weltfremder Seele gewann, wie er noch dagegen kämpfte, sich dem Einfluß dieses Burton zu entziehen, der ihn offenbar so völlig für sich eingenommen hatte, daß Svendson auch nicht im entferntesten die Vermutung gehabt hatte, es mit einer verbrecherischen Natur von teuflischer Rücksichtslosigkeit zu tun zu haben.

„Hat Burton den Vertrag als Chefingenieur der amerikanischen Fabrik mit Ihnen abgeschlossen oder als Privatmann?“ fragte Harald nun.

„Als Privatmann. Er ist ja gar nicht mehr Chefingenieur. Er wollte eine eigene Fabrik gründen.“ Das klang schon sehr kleinlaut.

Jedenfalls genügte dann eine Aussprache von weiteren fünfzehn Minuten, Svendson vollkommen umzustimmen. Er hatte tatsächlich für den Fall seines Todes seine Anrechte an das Patent auf Ingeborg übertragen und, falls diese stürbe, Burton zum Erben der Patentrechte eingesetzt. Er gab auch zu, daß Burton diese Formulierung des Vertrages verlangt habe, um „sicher zu gehen“. –

Dann waren wir beide wieder allein.

„Es dürfte nicht einfach sein, den Schurken zu überführen,“ meinte Harald nachdenklich. „Bis zum Abend müssen wir einen Plan fertig haben. Burton wird nach dem gestrigen abermals mißglückten Attentat nicht zögern, einen neuen Streich zu ersinnen. Svendson und Ingeborg sind keinen Augenblick ihres Lebens sicher.“ –

Der Tag verging ohne erwähnenswerte Vorgänge. Um zehn Uhr abends waren wir daheim in der Blücherstraße und kostümierten uns vollständig um. Gegen elf Uhr begann es zu regnen. Über Berlin fegte ein wilder Sturm hinweg, der manchen Dachziegel herabwarf. Die Straßen waren um Mitternacht wie ausgefegt. So konnten denn zwei fragwürdig ausschauende Gestalten mit schmierigen Sportmützen auf dem Kopf ganz ungestört in das Haus Nr. 112 eindringen und durch das Flurfenster des Hochparterres auf einem Sims entlang bis zu Burtons Zimmerfenster vordringen.

Diese Sportübung als Fassadenkletterer stellte an meine körperliche Gewandtheit recht hohe Ansprüche. Ich war froh, als Harst endlich das eine Fenster geöffnet hatte und wir in das Zimmer einsteigen konnten. Daß Burton nicht daheim war, wußten wir.

Während Harald nun das Zimmer durchsuchte, mußte ich vom Fenster aus die Straße beobachten. Weshalb wir hier eingedrungen waren, begriff ich nicht recht. Aber – wieder einmal zeigte sich nun die geradezu glänzende Taktik Harsts in bestem Lichte – sogar in doppelter Bedeutung des Wortes!

Zehn Minuten mochten vergangen sein, als ich einen Herrn im langen Gummimantel unten die Haustür öffnen sah. Ich trat rasch vom Fenster zurück.

„Harald – er kommt! Verschwinden wir!“ warnte ich.

„Im Gegenteil – wir bleiben!“ Und – – das Licht seiner Taschenlampe fiel auf Burtons geöffneten Koffer – auf den Kopf und die Arme … unseres wächsernen Napoleon!!

Dann wurde von draußen schon ein Schlüssel ins Türschloß gesteckt. Harst zog mich hinter einen Schrank, schaltete die kleine Lampe aus.

Burton trat ein, knipste das Licht an, riegelte die Tür zu, drehte sich um, sah den erbrochenen Koffer, die durchwühlten Schubladen …

Da drängte Harald mich vorwärts …

Burton sprang zurück, hatte nach der Tasche greifen wollen …

Harst zischte – zielte auf den schlanken, stattlichen Mann, dessen brutales Gesicht nicht den geringsten Ausdruck von Schreck aufwies:

„Hände hoch! Sonst knallt’s! Wir haben hier nichts gestohlen. Lassen Sie uns frei, – schlagen Sie keinen Lärm!“

Burton musterte uns kühl, er hielt uns fraglos für gewerbsmäßige Einbrecher.

Dann glitt sein Blick zu dem Wachskopf des Napoleon hin, kehrte zu Harst zurück …

„Entleert Eure Taschen,“ meinte er. „Wenn Ihr nichts eingesteckt habt, schert Euch zum Teufel! Ich mag mit der deutschen Polizei keine Plackereien haben.“

Da begriff ich: er wollte deshalb die Polizei aus dem Spiele lassen, weil die „Einbrecher“ sonst vielleicht verraten hätten, daß er der Dieb der Wachsfigur gewesen! – Und doch begriff ich nur halb. Das sollte ich in der folgenden Nacht erkennen.

Jetzt lief alles für uns scheinbar sehr glimpflich ab. Da wir ja tatsächlich nichts gestohlen hatten, ließ Burton uns in stark verdächtiger Nachsicht zum Hause hinaus, schloß uns sogar die Haustür auf …!! Wir verschwanden schleunigst in den Regenschleiern – eilten heim und lagen gegen zwei Uhr wieder in den Betten der Pension Börmer. – „Unser Debüt als Fassadenkletterer war ein voller Erfolg,“ meinte Harst, als wir uns gute Nacht sagten. – Den wahren Umfang dieses Erfolges lernte ich zwanzig Stunden später kennen.

 

5. Kapitel.

Der dritte Schuß.

Zwanzig Stunden später!

Ja – da standen wir beide seit zehn Uhr abends im Zimmer Nr. 3, in Svendsons Zimmer, hinter dem dunkelgrünen Vorhang einer altmodischen Kleiderecke. Wir wußten, daß Burton für Svendson und Ingeborg Theaterkarten besorgt hatte, daß er selbst angeblich nachmittags nach Hamburg gereist war. Harald hatte beobachtet, daß er auf dem Lehrter Bahnhof auch eine Fahrkarte gelöst, den Bahnsteig aber wieder verlassen hatte. – Svendsons waren gewarnt, wurden von drei Kriminalbeamten unauffällig beschützt. Harst nahm an, daß Burton hier im Pensionat ein neues Verbrechen versuchen würde, – was ich stark bezweifelte.

Aber – genau um elf Uhr wurde die Tür von Nr. 3 mit einem Dietrich geöffnet. Burton war’s – Burton, wieder in der Maske Doktor Gulbransons.

Er hatte Schuhe mit Gummisohlen an. Lautlos glitt er nun durch die Verbindungstür in Ingeborgs Zimmer, blieb dort einige Minuten und verbarg sich dann hinter einer der Fensterportieren unweit des Schreibtisches.

Seine Taschenlampe erlosch. Er hatte einen Lodenumhang angelegt, der seine Gestalt noch größer erscheinen ließ. Unter diesem Umhang trug er irgend etwas, das die Länge eines Spazierstockes haben konnte. Ich riet auf eine Schußwaffe – einen kurzen Stutzen.

Nun herrschte im Zimmer lautlose Stille. Nur draußen stürmte und regnete es auch heute. – Endlos langsam strichen die Minuten dahin. Wir durften uns kaum rühren. Es war eine Geduldsprobe, die Nerven und Kräfte kostete.

Dann – endlich kehrten Svendsons heim. Ingeborg wünschte dem Vater sofort Gute Nacht. Die Verstimmung zwischen ihnen war noch nicht beseitigt, da wir von dem Professor verlangt hatten, sich weder Burton noch Ingeborg gegenüber etwas von seiner Sinnesänderung anmerken zu lassen. Nur hatte er Ingeborg eindringlich raten müssen, jedes Mal vor dem Zubettgehen ihr Zimmer daraufhin zu untersuchen, ob etwa ein Anschlag irgendwelcher Art vorbereitet sei. –

Svendson rauchte noch eine Zigarre, setzte sich an den Schreibtisch und sah ein paar Briefe durch. Er war gänzlich ahnungslos, daß drei Augenpaare ihn unausgesetzt beobachteten.

Nur die Schreibtischlampe brannte. Svendson begann zu schreiben.

Da schob sich vor ihm hinter der Portiere der schwarze Lauf eines Stutzens hervor – richtete sich auf seinen Kopf.

Ich hielt den Atem an …

Ich glaubte, nun würde Harald eingreifen – würde …

Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ein leises metallisches Klacken ertönte … ein Geräusch, als ob in einem Büchsenschloß der Schlagbolzen vorschnellt.

Svendson schnellte hoch …

Und – Harst war mit zwei Sätzen neben dem Schreibtisch, riß den Fenstervorhang hoch …

Seine Clement hielt den maskierten Verbrecher in Schach.

Burton stand diesmal doch wie gelähmt da. Diese Überraschung trieb auch ihm das Blut aus dem Hirn.

„Ihre Luftbüchse ist seit gestern nicht mehr ganz in Ordnung, Burton,“ sagte Harald verächtlich. „Die beiden Einbrecher von gestern haben sich gestattet, in den Lauf einen eisernen Bolzen hineinzutreiben. Die Kugel, die den Professor erledigen sollte, sitzt vor dem Bolzen. – Im übrigen bin ich Harald Harst, dem Sie den Napoleon stahlen, nachdem Sie sich als angeblicher Angestellter des Elektrizitätswerkes zu meinem Hause Zutritt verschafft und einen Brief an sich genommen hatten, um meine Handschrift fälschen zu können – des Napoleon wegen! Und diesen Wachskopf benutzten Sie, um dessen Schatten auf den Vorhang Ihres Fensters fallen zu lassen. Das sollte Ihr Alibibeweis sein. Wahrscheinlich leistet der Kopf, dessen Profil dem Ihren so völlig gleicht, Ihnen zur Zeit denselben Dienst, so daß Barnö als Zeuge beschworen hätte, Sie seien auch zu dieser Stunde daheim gewesen. Sie mögen in den Zeitungen gelesen haben, daß ich den Napoleon gekauft hatte, und da wird Ihre Vielseitigkeit Ihnen den schon etwas abgenutzten Gedanken eingegeben haben, die Wachsfigur sich für Ihre Zwecke zu verschaffen.“

In demselben Moment trat jetzt Ingeborg ein, in einen langen seidenen Schlafrock gehüllt.

Sie hatte eine Blume in der Hand – eine Nelke …

Und – diesen Moment, wo Harald forschend zu Ingeborg hinschaute, benutze Burton …

Ein blitzschneller Sprung – und zwei Fausthiebe warfen Harst und mich zur Seite …

An Ingeborg vorbei stürmte der Verbrecher ins Nebenzimmer …

Ein Fenster klirrte … –

Wir kamen zu spät. Burton hatte den Hof des Gebäudes erreicht, war verschwunden …

Die Nelke aber, die Svendsons Tochter auf ihrem Nachttisch gefunden, will ich im zweiten Teil dieses Abenteuers genauer beschreiben – in dem „Verein blaue Nelke“.

Dann soll auch gesagt werden wer und was Burton in Wirklichkeit war …

 

 

Der Verein „blaue Nelke“.

 

1. Kapitel.

Der entführte Kellner.

Der Sprung, den James Burton von Ingeborgs Schlafstubenfenster aus in den Hof hinab gewagt hatte, um sich uns durch die Flucht zu entziehen, erschien nur im ersten Augenblick als eine Tollkühnheit, da es sich um zwei Stockwerke und ein Hochparterre, also eigentlich um drei Stockwerke handelte.

Daß der Verbrecher von vornherein mit der Möglichkeit gerechnet hatte, einen solchen Sprung vielleicht wagen zu müssen, wurde durch die Art seiner Landung unten im Hofe bewiesen. Es handelte sich um einen sehr geräumigen, als Garten bepflanzten Hofraum, in dem es schräg unter dem Fenster einen sehr alten Fliederstrauch gab, dessen starke Zweige Burton gleichsam als Sprungtuch benutzt hatte.

Als wir, unterstützt von Svendson und anderen Mietern des Hauses, den Hof absuchten, fanden wir den Hauptstamm des Fliederstrauches sowie eine Anzahl Zweige geknickt und im feuchten Rasen auch die Stelle, wo Burton mit den Fußspitzen tiefe Eindrücke hervorgerufen hatte. Diese Spur führte in der Richtung des Eingangs des Gartenhauses weiter. Aber obwohl die Polizei in kurzem den ganzen Block umstellt hatte und viele Wohnungen, sämtliche Böden und Dächer sorgfältig durchstöbert wurden, blieb Burton verschwunden.

Harst und ich waren inzwischen längst wieder in des Professors Fremdenzimmer zurückgekehrt.

Harald hatte hier Fräulein Svendson gebeten, nunmehr uns mitzuteilen, weshalb sie mit der blauen Nelke in der Hand so unvermutet Burtons endgültige Festnahme gestört hatte.

Sie erklärte, sie habe zwar die in einem Glase Wasser stehende Nelke sofort auf dem Nachttischchen am Kopfende des Bettes bemerkt, jedoch angenommen, daß es sich hier um eine Aufmerksamkeit des Stubenmädchens der Pension handeln könnte …

„Erst nachdem ich zur Ruhe gegangen und die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte, begann mich der sehr kräftige Nelkenduft zu stören,“ fuhr sie fort. „So sehr ich auch Wohlgerüche liebe, – dieser Geruch war mir in seiner Aufdringlichkeit zuwider. Ich schaltete das Lämpchen wieder ein und wollte die Nelke mit dem Glase draußen auf das Fenstersims stellen. Vor dem Bette stehend beugte ich mich über die Blume, um zu prüfen, ob dem Duft etwa künstlich nachgeholfen worden sei. Ich führte das Glas mit der Nelke an die Nase, wollte schon an der Blüte riechen, als ich zwischen den seltsam violettblauen Blütenblättern einen leicht grünlich schillernden Tropfen bemerkte, der meinen Verdacht erregte. Immerhin hatte ich doch bereits aus solcher Nähe etwas von dem Nelkenduft eingeatmet. Mich überkam plötzlich ein Schwindel. Ich konnte gerade noch das Glas auf die Marmorplatte zurückstellen, als ich auch schon bewußtlos auf das Bett sank. Als ich wieder zu mir kam, hörte ich nebenan Ihre Stimme, Herr Harst, und besann mich auch sogleich mit voller Klarheit auf die letzten Vorgänge. Ich nahm die Nelke, um sie meinem Vater zu zeigen, bei dem ich nur irgend einen Angestellten der Pension vorzufinden glaubte. Daß Sie, Herr Harst, den mir so widerwärtigen Burton bereits entlarvt hatten, ahnte ich nicht.“

„Der Tropfen ist Amylhydrit[5],“ erklärte der Professor jetzt. „Also ein Gift, das schon durch Einatmen den sofortigen Tod herbeiführt.“

Harald nickte. „Ich kenne die Wirkungen. Ich habe bereits einmal etwas Ähnliches erlebt, ebenfalls einen Mordversuch mit dieser so überaus gefährlichen Amylverbindung.“ Er hatte die blaue Nelke vom Schreibtisch genommen und betrachtete sie aus vorsichtiger Entfernung.

Der Professor und Fräulein Ingeborg wurden da durch einen Kriminalbeamten in das Empfangszimmer des Pensionats hinübergerufen, wo der Kriminalkommissar Dr. Plaeger sie über Burton zu Protokoll zu vernehmen wünschte.

Wir waren so mit einem Male in Nr. 3 allein. Harald hatte die Nelke noch in der Hand.

„Wenn Du sie besichtigen willst …“, meinte er und hielt sie mir hin.

„Danke …“

Er schaute mich sonderbar an.

„Es gibt noch etwas zu sehen,“ sagte er leise. „Die Nelke hat eine … Nummer. – Bitte …“

Und er wies auf eine Stelle des Blumenstieles etwa vier Zentimeter unter der Blüte.

Die Stelle war ein wenig glatt gedrückt, und auf der einen Seite war undeutlich in dunkelgrüner Farbe eine 8 zu erkennen.

Harald legte die Nelke auf den Schreibtisch.

„Eine Acht,“ meinte er gedehnt.

„Ja. Eine numerierte Nelke. Immerhin merkwürdig.“ Und er feuchtete den rechten Zeigefinger an und fuhr über die Stelle des Stieles hin. Die Zahl blieb sichtbar.

„Also Ölfarbe, mein Alter …!“

Er griff nach einem Radiermesser, das auf der Schreibtischplatte lag, und kratzte die Zahl vorsichtig weg, drückte den Stiel rund und sagte gedämpft: „Es genügt, daß wir beide von dieser Acht etwas wissen.“

Dann trat auch schon ein Beamter ein und bat uns ins Empfangszimmer hinüber.

Es wurde vier Uhr morgens, bis wir das Pensionat verlassen konnten. Kommissar Dr. Plaeger hatte auch noch Barnö und Gulbranson holen lassen. Wir waren so Zeugen der völligen Aussöhnung zwischen dem Professor und seinem früheren Assistenten geworden und hatten uns durch Augenschein überzeugen können, daß Barnö und Ingeborg sich wohl sehr bald als Verlobte empfehlen würden, was denn auch schon am folgenden Tage geschah.

Der Regen hatte aufgehört, als wir durch die stillen, hellen Straßen der frühen Morgenstunde unserem Heim mit unseren Koffern zuwanderten. Unsere Zimmer im Pensionat hatten wir aufgegeben. Unsere Behaglichkeit im Harstschen Familienhause war denn doch etwas größer, als die Pension Börmer sie uns bieten konnte.

Durch das leichte Gewölk am Himmel drängten sich die ersten Sonnenstrahlen hindurch. Dieser Spaziergang erfrischte.

Wir schritten den Kurfürstendamm, die breite Prachtstraße, empor. Auf der Halenseer Brücke blieb Harald plötzlich stehen.

Von Südwest, wo etwa der Flugplatz Johannistal liegen mußte, kam ein grauweißer Benzinvogel ziemlich niedrigen Fluges daher, hinter sich eine feine Rauchfahne ziehend.

Harst schaute empor.

„Das war auch einer …!“ sagte er mehr zu sich selbst.

Er war schon seit Minuten tief in Gedanken gewesen.

„Auch einer?!“ meinte ich fragend.

„Ja – der bekannte Luftpilot Edward Jolling …“ Er sprach noch immer wie geistesabwesend.

Jolling?! Was war doch mit diesem Jolling letztens geschehen?! – Ich sann angestrengt nach.

Harst ging weiter. Sein Hirn arbeitete. Da verlor der Körper die Spannkraft.

Woran arbeitete dieses Hirn? Etwa an der Lösung der Frage, weshalb die Nelke numeriert gewesen, diese mörderische blaue Nelke?

Ich störte ihn nicht. Ich dachte an Edward Jolling, Luftpilot, Chefpilot der englischen Aldoair-Werke in Liverpool.

Aus welchem Anlaß war doch nur Jollings Name vor – ja – vor vielleicht drei Monaten durch alle Zeitungen gegangen?!

Und dann erinnerte ich mich: Jolling hatte mit einem neuen Riesenflugzeug anfangs April dieses Jahres allein den Ozean überqueren wollen und war kurz nach dem Abflug plötzlich aus tausend Meter Höhe in die See gestürzt, war nur als Leiche geborgen worden. –

Mein Gedächtnis versagte jetzt nicht mehr. Ich drehte den Kopf nach rechts …

„Harald, man fand in Jollings fest zusammengekrampfter rechter Hand eine blaue Nelke,“ sagte ich hastig.

Auch er wandte sein Gesicht mir zu. „Ja, mein Alter. – Erst das Flugzeug vorhin öffnete die Gehirnkammer, in der bei mir das tragische Geschick Jollings eingekapselt war.“

Wir kamen an der Gasanstalt in der Nähe des Ringbahnhofs Hohenzollerndamm vorüber.

Harst war wieder stehen geblieben.

„Und – das war auch einer!“ fügte er unvermittelt hinzu und starrte auf die Gastürme. „In der technischen Rundschau las ich’s im Juni dieses Jahres. Es war der Direktor der neuen Gasanstalt in Kopenhagen. Er starb am Eröffnungstage des Riesenwerkes inmitten der geladenen Gäste, die die weiten Baulichkeiten besichtigten. Wie er hieß, ist mir entfallen. Nicht entfallen ist mir, daß er in der Linken nach seinem jähen Umsinken eine …“

„… blaue Nelke umklammert hielt,“ vollendete ich atemlos.

„Ja, so war’s. – Nun grübele ich darüber nach, wer der vierte gewesen, Ingeborg Svendson eingerechnet, der …“

Er schwieg, ruckte hoch. Sein Körper straffte sich. Die grauen Augen bekamen Feuer.

„Die Nummer – – die Nummer!“ murmelte er. „Die Nummer acht! Wenn’s sieben wären, die bisher … Aber – es sind nur drei, nur … drei …! Mir fällt kein weiteres Ereignis dieser Art ein – keins, keins! – Gehen wir …!“

Er hakte sich in meinen Arm ein, zog mich vorwärts …

„Du – ich wünschte, es wäre bereits zwölf Uhr mittags. Dann darf man wohl eine Dame besuchen, eine feine ältere Dame in Trauer, die Frau Kommerzienrat Dr. Rosenhein …“

Mein Geist war rege.

„In Trauer? Ist ihr Gatte gestorben? Und – starb er mit einer Nelke in der Hand?“

„Er starb auf dem Festmahl, das der Gesandte der Republik Mexiko hier in Berlin den Spitzen der Behörden aus Anlaß der Erneuerung des deutsch-mexikanischen Handelsvertrages im April dieses Jahres im Hotel Adlon gab. Er starb an der Festtafel an … Herzschlag, als er soeben an einer blauen Nelke gerochen hatte.“

Nun besann auch ich mich auf diesen Todesfall, der dem glänzenden Diner ein jähes Ende bereitet hatte.

„Du argwöhnst, daß diese blauen Nelken …“

Er unterbrach mich. „Keine vorschnellen Schlüsse! Ich argwöhne nichts. Ich bin da lediglich auf ein paar seltsame Tatsachen gestoßen, bei denen ein Zufall ebenso gut eine Rolle spielen kann wie verbrecherische Absichten. Was sollte ich argwöhnen?! In verschiedenen Staaten – England, Dänemark, Deutschland – sterben Männer eines plötzlichen Todes. Eine blaue Nelke ist jedes Mal den Toten sozusagen nahe gewesen. Wie will man da einen Argwohn konstruieren?! Ja, wenn mit diesen drei Todesfällen noch Eigentumsvergehen eng verknüpft gewesen wären!! Oder sonstige habsüchtige Nebenabsichten Unbekannter!! Davon hat nichts in den Zeitungen gestanden – nichts!“

Harald hatte recht: hier konnte es sich wirklich um Zufälle handeln!

„Seltsame Tatsachen werden erst zum Argwohn, wenn kriminelle Momente sich herausfinden lassen,“ sprach Harst weiter. „Alles Seltsame ist noch lange nichts Verdächtiges. Die Kommerzienrätin freilich kann das Seltsame zum Verdächtigen umgestalten, falls sie – nun, bitte …!“

„Falls sie die Nelke aufbewahrt hat,“ erklärte ich sehr bestimmt.

„So ist’s! Falls … – ich wage kaum darauf zu hoffen.“

„Und – falls die Nelke eben numeriert ist …!“

„Gewiß! Davon hängt alles ab – alles!“ –

Wir waren daheim angelangt.

Und nach fünf Stunden Schlaf fuhren wir zu Frau Rosa Rosenhein nach der Villenkolonie Grunewald.

Ließen uns melden. Lernten eine kleine rundliche Dame mit weißem Haar und melancholischen dunklen Augen kennen, die Haralds vorsichtige Fragen offen beantwortete. – Die Nelke, nein, die habe sie nicht einmal gesehen. Sie wisse nur, daß eine Blumenverkäuferin im Festsaal des Adlon erschienen und den Herren Sträußchen feilgeboten habe, jedoch sehr bald von einem Kellner hinausgewiesen worden sei.

Weshalb uns die Nelke interessierte, blieb unser Geheimnis. –

„Zum Adlon,“ sagte Harald, als wir die Villa Rosenhein verlassen hatten.

 

2. Kapitel.

Die Blumenverkäuferin.

Vor dem Adlon brüllte ein Zeitungsverkäufer mit schriller Stimme:

„Aufsehen erregende Mordversuche im Pensionat Börmer!! Detektiv Harst und der Luftstutzen!!“

Der Mann wurde viel von seiner papiernen Ware, der Berliner Mittagspost, los. Die Nerven der Großstädter verlangen Sensationen.

So waren denn also die Zeitungen bereits von den Vorfällen der Nacht unterrichtet. – Harst kaufte ein Exemplar der B. M. P., schaute hinein. „Leider – hier ist die blaue Nelke erwähnt,“ meinte er ärgerlich.

Dann standen wir dem Direktor des Hotels gegenüber.

Der besann sich noch sehr gut auf das Festmahl und den Tod des Kommerzienrats, meinte, es sei bereits festgestellt worden, welche Kellner damals bedient hätten.

Und fügte hinzu: „Es ist nämlich merkwürdig, Herr Harst, daß vor kaum zehn Minuten ein anderer Herr etwa dieselben Fragen an mich richtete wie Sie jetzt. Ich hatte daher auch schon bei dem Oberkellner nachgefragt, der hierüber Bescheid wissen mußte. Drei der Kellner, die damals bedient haben, waren zur Stelle. Mit dem einen hat der Herr sich längere Zeit unterhalten und mich dann gebeten, Hilger – so heißt dieser Kellner – für eine Stunde zu beurlauben. Er nahm Hilger im Auto sofort mit.“

„Wer war der Herr?“

„Ein Spanier, ein Graf Villamara, Herr Harst.“

„Wie sah er aus?“

„Sehr vornehm, schlank, groß, grauer Spitzbart, gescheiteltes graues Haar.“

„Sprach er deutsch?“

„Ja – nicht eben geläufig.“

„Könnte ich die beiden anderen Kellner einiges fragen?“

„Ich hole sie sofort herbei.“

Der Direktor verließ das Büro.

Harst flüsterte mir zu: „Wenn dieser Spanier die Berliner Mittagspost gelesen hat, mag er in dem Sensationsartikel auch auf die blaue Nelke gestoßen sein und …“

Die Tür ging auf. Die beiden Kellner traten ein.

Wir erfuhren von ihnen folgendes:

Ihr Kollege Fritz Hilger war es gewesen, der die Blumenverkäuferin aus dem Saale gewiesen hatte. Wie die Frau in den Saal hatte eindringen können, war allen ein Rätsel. Sie hatte erst zwei Sträußchen verkauft und vor den Kommerzienrat gerade die blaue Nelke hingelegt, als Hilger sie am Arm nahm und sie nach der einen Saaltür führen wollte. Da hatte er von der Tafel her ein paar laute Ausrufe gehört, sich umgedreht und gesehen, daß der Kommerzienrat vom Stuhl geglitten und auf das Parkett gesunken war. Er ließ die Frau los und eilte hinzu, half Rosenhein aufheben und trug ihn ganz allein in seinen Armen in ein Nebenzimmer, wo der Hand des Toten eine Nelke entfiel, die Hilger nachher zu sich steckte und seiner Braut mitnahm – aus Aberglauben, da er annahm, diese Blume aus der Hand eines Toten sei genau so glückbringend wie der Strick eines Gehenkten etwa. Die Nelke hatte ihm jedoch nur Unheil beschert: seine Braut starb am selben Abend in seiner Gegenwart an Herzkrämpfen. Die Nelke verwahrte Hilger sich trotzdem auf. Er hatte sie gepreßt und unter das Glas des Rahmens eines Bildes der Verstorbenen gelegt. – Was der spanische Graf jetzt eigentlich von Hilger gewünscht hatte, wüßten sie nicht. Hilger habe ihnen nur gesagt, bevor er mit dem Grafen davonfuhr, daß er ein gutes Geschäft machen würde.

„Wo wohnt Hilger?“ fragte Harald nun, der sich alle Mühe gab, dieses Verhör recht harmlos hinzustellen.

„In der Artilleriestraße – Nr. 108, unweit der Universität.“

Harst rief jetzt auch den Direktor herein.

„Ich bitte Sie,“ wandte er sich an diesen und die Kellner, „über meinen Besuch hier Stillschweigen zu bewahren. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es Ihnen sehr unangenehme Folgen eintragen könnte, wenn Sie meine Bitte nicht erfüllen. Sollte der Spanier sich hier nochmals sehen lassen, so schicken Sie ihm den Hoteldetektiv nach, der feststellen soll, wo der Graf wohnt. Dann geben Sie mir telephonisch sofort Nachricht.“

Der Direktor und die Keller merkten, daß der Tod des Kommerzienrats jetzt Gegenstand einer Untersuchung sei, und versicherten uns, unbedingt Haralds Wünschen zu entsprechen. –

Wir fuhren sofort nach der Artilleriestraße 108.

Wir kamen hier nur um drei Minuten zu spät, wie wir von der Zimmervermieterin hörten, bei der Hilger wohnte. Hilger war vor etwa einer Viertelstunde nach Hause gekommen, hätte seinen Koffer sehr eilig gepackt, das Zimmer noch für einen Monat bezahlt und war dann in einem offenen Mietauto, in dem noch ein älterer graubärtiger Herr saß, davongefahren. Die Bilder seiner verstorbenen Braut hatte er wie alle seine Sachen mitgenommen.

Wir verließen die Wohnung der redseligen Vermieterin und gingen den Linden zu.

„Pech!“ meinte Harald.

Das war alles. Meine Fragen und Anzapfungen beachtete er nicht.

So schritten wir schweigend dem Brandenburger Tore zu. Meine Fragen hätte ich mir ja auch eigentlich sparen können. Aus dem „Seltsamen“ war bereits unzweifelhaft ein Kriminalfall geworden. Daß der Spanier Hilger gleichsam entführt hatte, damit dieser über den Tod des Kommerzienrats und über die Blumenverkäuferin nichts aussagen sollte, stand für mich fest, – ebenso, daß diese Blumenverkäuferin dem Kommerzienrat eine Mordnelke hingelegt hatte.

Also Rosenhein war ermordet worden – durch Amylhydrit! Weshalb? Wer waren die Mörder? Auf wessen Auftrag hatte die Blumenverkäuferin gehandelt? Wer war diese Frau gewesen? Wer war der Spanier, der durch den Artikel in der Mittagspost veranlaßt worden, den Kellner Hilger schleunigst verschwinden zu lassen? –

Harst bog in die Bellevue-Straße ein. Und im Postamt am Potsdamer Platz gab er zwei gleichlautende Depeschen an die Liverpooler und die Kopenhagener Polizei auf:

Bitte mir telegraphisch genaueste Umstände des Todes des Chefpiloten Jolling (des Direktors der neuen Gasanstalt am Eröffnungstage) mitzuteilen, insbesondere, ob sich eine Blumenverkäuferin kurz vor dem Aufstiege an Jolling herangedrängt hat (dem Direktor eine Nelke gereicht wurde)? – Harald Harst, Privatdetektiv, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10.

„So, nun ist der Stein ins Rollen gekommen,“ sagte Harald, als wir das Postamt verließen.

Wir bestiegen eine Straßenbahn und waren kurz nach zwei Uhr daheim, wo – wir eine Klientin vorfanden, eine Frau v. Seiler, wie die Köchin Mathilde uns schon im Flur mitteilte.

Frau v. Seiler, Witwe des Generalkonsuls Ernst v. Seiler, war eine Dame unbestimmbaren Alters. Sie konnte dreißig, sie konnte fünfzig sein. Schminke und Puder, mit Virtuosität benutzt, ließen sie wahrscheinlich um eine Reihe von Jahren jünger erscheinen.

Sie war ganz Dame von Welt. Sie saß zwanglos im Klubsessel uns gegenüber und berichtete, sie sei erst heute früh von ihrem Sommersitz aus Saßnitz auf Rügen nach Berlin gekommen, um Haralds Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihr seien aus einer Wandkassette ihrer Sommervilla all ihre Juwelen gestern gestohlen worden. Sie bot Harst fünf Millionen (und das war Juli 1922 noch Geld!), wenn er sie sofort nach Saßnitz begleiten wollte.

Harald nahm nach längerem Überlegen an. Seit wir nicht mehr in der Lage waren, wie einst als Liebhaberdetektive die Welt ohne klingenden Verdienst zu durchschweifen, verlangte unsere Kasse von Zeit zu Zeit nach Auffüllung.

„Gnädige Frau. Wir treffen morgen in Saßnitz ein,“ erklärte Harald. „Wir werden alte Bekannte Ihres Gatten gegenüber Ihrem Personal spielen, die Sie dann bitten, bei Ihnen zu wohnen.“

Die Dame war einverstanden und wollte sich verabschieden, nachdem sie in diskretester Art als Honoraranzahlung eine Million in Zehntausendmarkscheinen auf den Tisch gelegt hatte, ohne eine Quittung zu verlangen.

Harald bat sie, noch einen Augenblick zu bleiben, da ihm soeben eingefallen sei, daß er noch einen anderen Fall für morgen übernommen habe. Er müsse den Auftraggeber erst anrufen und ihn bitten, sich noch ein paar Tage zu gedulden. „Es handelt sich nämlich lediglich um die Beobachtung eines nicht ganz einwandfreien Bankbeamten, gnädige Frau …“ meinte er zum Schluß, – – was natürlich nicht stimmte. Mit Beobachtungen gaben wir uns nicht ab.

Er trat an den Schreibtisch und rief eine Nummer an, sagte nach einer Weile ärgerlich:

„Der Tischapparat ist wieder in Unordnung. Entschuldigen Sie, gnädige Frau … Ich will von meinem Schlafzimmer aus telephonieren.“

Er war nur wenige Minuten draußen, als die Köchin mich eiligst in den Stall holte. Ein Marder sei im Hühnerstall … –

So ließ ich denn die Dame allein.

Harst stand auf dem Hofe …

„Du wirst Dich schleunigst maskieren und der Seiler folgen, ich halte sie schon noch zehn Minuten hin,“ sagte er kurz. „Beeile Dich! Und sei vorsichtig!“

Frau von Seiler fuhr zuerst nach der Kufsteiner Straße Nr. 5, wo sie ihre Dauerwohnung hatte. Nachmittags fünf Uhr fünfzig Minuten benutzte sie den D-Zug nach Saßnitz. Ich blieb hinter ihr, bis sie den Zug bestiegen hatte. Sie war mit niemanden, soweit ich feststellen konnte, in Verbindung getreten. Ich sah den Zug davondampfen und kehrte nach Hause zurück.

Daß Harald in dieser Frau Eva v. Seiler eine Verbündete des Spaniers, also der Leute, die durch die blauen Nelken mordeten, gewittert hatte, war mir sofort klar geworden.

Als ich daheim anlangte und Bericht erstattet hatte, sagte Harald schlicht:

„Ich habe mit der Saßnitzer Polizei telephoniert. Vor zehn Minuten erhielt ich die Antwort, daß Frau v. Seiler seit vier Tagen in Berlin weilt, wie der Polizeiwachtmeister in Saßnitz unauffällig und rasch herausgebracht hat. Sie hat uns also belogen, was ich übrigens sofort annahm. Ich würde mich nicht weiter wundern, wenn sie … die Blumenverkäuferin gewesen ist. Es dürfte sich empfehlen, heute nacht ihre Wohnung in der Kufsteiner Straße zu … besichtigen.“ –

Für den Abend hatten wir uns mit Svendsons, Barnö und Gulbranson im Kabarett Grüner Kater verabredet.

Der Professor war glänzender Laune. Als auf der Bühne die berühmte Ria Meise neckische Walzerlieder sang, als Barnö, Gulbranson und Ingeborg uns drei auf der anderen Tischseite nicht beachteten, beugte sich Harald plötzlich zu Svendson hin und sagte halblaut, – und ich verstand jedes Wort:

„Gestatten Sie eine Frage, Herr Svendson … Wissen Sie, daß die blaue Nelke numeriert war? Sie trug die Zahl acht …!“

Der Erfolg dieser Frage war stärker, als Harst es hatte voraussehen können.

Svendson fuhr aus dem Korbsessel hoch, warf fast den Tisch um, wurde fahl und fiel ohnmächtig in den Sessel zurück.

Wir beide brachten ihn in die Garderobe, wo er sehr bald wieder zu sich kam. Er schickte Ingeborg mit einem Scherzwort in den Saal zurück. Und – ergriff Harsts Hand …

„Eine … eine Acht?“ flüsterte er, und sein Gesicht war nichts als nervenfressende Angst. „Wirklich – eine Acht?“

Harald bejahte. Fügte hinzu: „Kennen Sie Edward Jolling?“

Svendsons starrer Blick, der wie gebannt auf Haralds Gesicht ruhte, war ebenso merkwürdig wie seine Gegenfrage.

„Was ist’s mit Jolling? Wer ist das? Ich kenne keinen Jolling …!“

„Sie kennen ihn. Ich würde Ihnen raten, offen zu sein, Herr Professor. Es geht hier doch um Ihrer Tochter und um Ihr eigenes Leben.“

Svendson lächelte – das Lächeln eines von Furcht Gepeinigten, der zu heucheln sucht: „Wir reisen ja morgen abend ab. Gulbransons Jacht erwartet uns in Stralsund. Wir werden acht Tage in der Ostsee kreuzen. Inzwischen wird man James Burton wohl erwischt haben. – Gehen wir an unseren Tisch. Ich habe Durst auf ein Glas Sekt.“

Harald sagte nichts mehr. –

Um Mitternacht waren wir in der Kufsteiner Straße.

 

3. Kapitel.

Im Salon Frau v. Seilers.

Harst hatte daheim im Adreßbuch nachgesehen, daß Frau v. Seiler im Vorderhaus im vierten Stock nach vorn heraus wohnte.

Von der anderen Straßenseite prüfte er die Bauart des Daches.

„Sollten wir Patentschlösser an den Türen finden, so werden wir vom Dache aus über den Balkon eindringen,“ meinte er nun, offenbar sehr befriedigt von den Bodenfenstern, die oben in dem schrägen Dache im Mondlicht schillerten.

Er nahm eine neue Mirakulum, zündete sie am Rest der soeben aufgerauchten an und schritt über die Straße auf die Haustür zu.

Daß wir beide, die wir Smokinganzüge, Halblackschuhe und kurze helle Sportmäntel trugen, die Tür mit einem Dietrich öffneten, ahnte der graubärtige Schließer sicherlich nicht, der gerade müde vorüberschlurfte.

Die Flurtür Frau v. Seilers war eine Enttäuschung. Sie hatte in der Mitte ein durch eine Holzrosette verstecktes Schlüsselloch.

„Panzertür!“ flüsterte Harald. „Also dann nach dem Boden!“

Die Bodentür zeigte sich zugänglicher. In einem Bodenverschlag fanden wir eine neue Waschleine. Fünf Minuten später glitt Harst als erster an der Leine auf den Balkon hinunter. Ich folgte ebenso geschwind. Der Mondschein war etwas unangenehm. Wir duckten uns hinter die Balkonbrüstung und beobachteten erst eine Weile die gegenüberliegenden Häuser, ob wir etwa von dort aus bemerkt worden seien. Wir konnten nichts feststellen, was irgendwie bedenklich erschien. Die Fenster drüben waren sämtlich dunkel.

Harald schnitt die untere Füllung der äußeren Balkontür heraus. Dasselbe tat er bei der inneren Tür. Dann griff er mit der Hand hindurch und öffnete die Türen nacheinander, da das Loch der Füllungen zu schmal war, einen Menschen durchzulassen.

Wir traten rasch ein. Harald drückte die Türen wieder leise ins Schloß.

Wir standen einen Moment in völliger Dunkelheit da. Die Fenstervorhänge, auch der wieder zurückgeglittene Vorhang der Balkontür waren merkwürdigerweise aus schwerem schwarzen Stoff.

Ich hatte die Taschenlampe bereits in der Hand.

Ich war heute durchaus in der Stimmung, hier in der fremden Wohnung nach den Beweisen zu suchen, daß Frau v. Seiler und der spanische Graf zueinander in engsten Beziehungen ständen und daß beide die drei Morde durch die vergifteten Nelken auf dem Gewissen hätten. Der im Kabarett zuletzt genossene Sekt prickelte so angenehm in den Adern und hatte meine Nerven bis zu jenem Grade leicht angefeuert, der dicht an der Grenze eines sanften Rausches liegt.

„Licht!“ sagte Harald halblaut, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen, deren Spitze beim Sprechen hin und her wippte.

„Bemühen Sie sich nicht,“ erklärte da eine seltsam harte Stimme aus dem Dunkel heraus.

Und der Kronleuchter flammte auf. Das Knacken eines Lichtschalters lag noch wie ein drohendes, die Worte des Unsichtbaren abschließendes Geräusch in meinem Ohr, als dieselbe Stimme sagte: „Wir haben Sie erwartet. Bitte – unterlassen Sie jeden Versuch, sich zur Wehr zu setzen. Sie sehen, er wäre aussichtslos und verderblich.“

Meine durch die Lichtfülle zunächst geblendeten Augen erkannten nun Einzelheiten.

In dem Zimmer, einem modernen Salon mit schweren, gediegenen Möbeln, waren fünf Personen anwesend: vier Herren und Frau v. Seiler. Einer der Herren, ohne Zweifel der Spanier, lehnte in einem Sessel, die Beine zwanglos übereinander geschlagen. Frau v. Seiler und ein anderer jüngerer Herr saßen auf dem mit golddurchwirktem Brokatstoff bezogenen niederen Sofa, und die beiden außerdem noch vorhandenen Gentlemen – die Herren trugen Frackanzüge von erstklassigem Schnitt – standen an der breiten Flügeltür, die offenbar in den Wohnungsflur führte, und hatten jeder einen Luftstutzen von derselben Konstruktion im Anschlag, den wir als Mordwaffe James Burton abgenommen hatten.

Der Sprecher mit der harten Stimme war Graf Villamara. Nochmals sagte er jetzt mit einer nachlässigen Handbewegung auf die beiden bewaffneten Gentlemen hin:

„Die geringste Unvorsichtigkeit Ihrerseits, meine Herren, zwingt uns zu einer vorschnellen Beendigung dieser Unterredung. Die Luftbüchsen haben die Durchschlagskraft einer leichten Büchse. – Wie stellen Sie sich zu der Frage, Herr Harst, auf jeden Widerstand zu verzichten?“ All das sprach er mit vollkommener Höflichkeit, indem er seine nachlässige Haltung dabei änderte und sich langsam erhob.

Mein leichter Sektrausch war verflogen.

Harald nahm den hellen weichen Filzhut ab und verbeugte sich vor Villamara …

„Herr Graf Villamara, nicht wahr? – Für eine halbe Stunde wollen wir Sie anhören.“ Das klang genau so höflich.

Auch Villamara verbeugte sich. Ich entblößte nun gleichfalls mein spärlich behaartes Haupt.

„Sie gestatten, meine Herren,“ sagte der Spanier etwas förmlich. „Dort Frau v. Seiler, die Sie ja bereits kennen. Dort Lord Windraymoor, dort Baron Löwengaard und van Zuiten …“ – Seine die einzelnen Personen andeutende Hand reckte sich jetzt vor und wies in die linke Zimmerecke neben dem Fenster. „Und dort Herr James Burton, unser Gefangener …“

Ich blickte hin. Ich sah Burton erst jetzt, sah, daß man ihn auf einen schweren geschnitzten Sessel gefesselt und geknebelt hatte.

Ich sah auch, daß sein Gesicht ohne jede Farbe und das Augenpaar wie verschleiert war.

„Wollen Sie bitte Platz nehmen …“ – Der Graf zeigte auf zwei Klubsessel aus Saffianleder, die an der dem Sofa gegenüberliegenden Wand standen.

Wir setzten uns. Villamara tat es erst, nachdem wir uns niedergelassen hatten. Auch Lord Windraymoor blieb so lange stehen. Bisher konnten wir mit diesen Gegnern zufrieden sein. Es waren „Gentlemen“ – als immer noch treffendste Bezeichnung für die Besitzer jener tadellosen Umgangsformen, die anerzogen, nicht angelernt sein müssen.

Der Graf erlaubte sich jetzt, die Beine wieder übereinander zu schlagen. Er war der älteste der vier Gentlemen.

„Wir hatten Sie und Ihren Freund hier erwartet,“ begann Villamara, als Harald seinen Hut nebenbei auf einen Hocker legte. „Wir haben Sie beide beobachten lassen, Herr Harst, nachdem der Bericht in der Mittagspost uns auf diese Maßregel als ratsam hingewiesen hatte. Ihr Versuch, den Kellner Hilger im Hotel Adlon zu sprechen, und Ihre Eile, mit der Sie ihm in seine Wohnung folgten, zwang uns ferner zu dem Entschluß, Frau v. Seiler zu Ihnen zu schicken, damit wir Ihnen diese Wohnung gleichsam als Objekt weiterer Ermittlungen empfehlen konnten, – um den unschönen Ausdruck „eine Falle stellen“ zu vermeiden. Herr Schraut hätte, falls er mit dem D-Zug bis Eberswalde gefahren wäre, vielleicht gesehen, daß Frau v. Seiler dort den Zug verließ und nach Berlin zurückkehrte.“

Harst setzte sich bequemer und tat den Rest seiner Zigarette in eine Aschenschale, die auf dem Tischchen zwischen unseren Klubsesseln neben einer wundervollen Kopenhagener Vase stand.

„Der Kellner Hilger ist ins Ausland unterwegs,“ fuhr der Graf etwas lebendiger fort. „Wir haben ihn reichlich ausgestattet, daß er als Zeuge nicht mehr in Betracht kommt, zumal er den Namen geändert hat.“

Harald erklärte jetzt: „Er wird zu finden sein, Herr Graf. – Ich denke, wir wollen unsere gegenseitigen Beziehungen ohne Umschweife klarstellen. Sie und Ihre Freunde hier, Herr Graf, haben, soweit mir bisher bekannt, drei Menschen ermordet und zwei andere, den Professor und dessen Tochter, ermorden lassen wollen. Ich …“

„Verzeihung. Letzteres ist ein Irrtum, Herr Harst.“

„Ich verstehe: Burton sollte nur Svendson ermorden. Burton ist einer …“

„Er hat seine Befugnisse weit überschritten,“ fiel Villamara Harald wiederum ins Wort. „Wir merkten seine selbstsüchtigen Absichten leider nicht rechtzeitig genug. Immerhin konnten wir ihn festnehmen, nachdem er Ihnen entschlüpft war. Er wurde von Ihnen nicht entdeckt, weil er im Gartenhause in der Maske eines älteren Herrn ein Zimmer gemietet hatte, in das er flüchtete und das ihn schützte – nicht vor uns freilich. – Doch das alles sind nebensächliche Punkte.“

Er beugte sich etwas vor. „Ich will Ihnen beiden nicht verhehlen, meine Herren, daß wir gewillt sind, unsere Geheimnisse vor Ihnen mit allen Mitteln zu schützen. Es sollte uns leidtun, wenn Sie uns zwingen würden, dem Dasein zweier für die Menschheit so nützlichen Personen, wie Sie es als Gentlemandetektive sind, gewaltsam ein Ende zu machen.“

Dann stand er auf.

Er schob den Sessel mit Burton über den Teppich mehr an den Sofatisch heran und entnahm einem flachen Ebenholzkästchen eine blaulila Nelke.

Mein Blick glitt entsetzt zu Burton hin.

Auf dessen bleicher Stirn erschienen dicke Schweißperlen.

„Falls einer von Ihnen beiden sich einmischt, wird eine Kugel ein weiteres Opfer fordern,“ erklärte er ebenso kühl. „Bitte – richten Sie sich danach!“ Das waren die ersten Worte, die die Grenze untadeliger Höflichkeit überschritten.

Zum ersten Male meldete sich jetzt auch Frau v. Seiler.

„Graf, wollen wir nicht doch lieber …“ – In diese zögernde Einleitung ihres fraglos dahin gerichteten Vorschlags, Burton zu schonen, platzte der blonde Lord Windraymoor hinein:

„Haben Sie Santa Rocka wirklich schon vergessen, verehrteste Freundin?!“

Und Villamara nickte dazu: „Ja – denken Sie an die Unglücklichen von Santa Rocka!“

Eine beklemmende Stille entstand hierauf.

Bis Harald erklärte, indem er den Grafen ansah:

„Wir werden uns nicht einmischen. Ein Mann wie Burton, der mit Zyankali einem schuldlosen jungen Weibe aus Eigennutz nach dem Leben trachtete, der außerdem noch schwerere Schuld auf sich lud, verdient es nicht, daß ich für ihn meine Waffe ergreife.“

Er hatte sehr erregt gesprochen, hatte seine Worte durch energische Gesten begleitet, die ohne Zweifel beabsichtigt waren, griff nun wie in halb unbeabsichtigter Hast nach seinem Filzhut und legte ihn auf seine Knie.

Fügte hinzu: „Ich könnte mich wehren, genau wie Sie und Ihre Freunde uns vor Ablauf der halben Stunde schon jetzt ebenfalls wieder durch Schußwaffen bedrohen, Herr Graf.“

Der Hut glitt auf den Teppich und man sah nun in Harsts Hand die kleine schwarze Clementpistole.

Er legte sie sofort auf den Hocker zurück, deckte den Hut wieder darüber, bevor die fünf Richter James Burtons die Situation noch recht begriffen hatten.

 

4. Kapitel.

Unerbittliche Richter.

Graf Villamara blieb Gentleman. Der Vorwurf Harsts, die halbe Stunde Waffenruhe nicht eingehalten zu haben, veranlaßte ihn zu einer höflichen Verbeugung und den aufklärenden Worten: „Unsere Unterredung ist in ein Stadium getreten, das die gegenseitigen Verpflichtungen aufhebt.“

Gleichzeitig erhob er sich und ging auf den Hocker zu, offenbar, um Haralds Clement an sich zu nehmen.

„Die Pistole bleibt, wo sie ist, Herr Graf,“ sagte Harald da, ohne seine bequeme Stellung im Sessel zu verändern. Auch seine Stimme war nicht besonders scharf.

Villamara hatte Harsts Filzhut schon bei der Krempe gefaßt und wollte mit der anderen Hand die Waffe in seinen Besitz bringen. Diese Hand aber blieb plötzlich mitten in der zugreifenden Bewegung wie gebannt mit gekrümmten Fingern in abwärts gerichteter Haltung völlig regungslos.

Die Clement lag nicht mehr auf dem Brokatbezug des Hockers. Der Graf hatte nichts mehr, wonach er greifen konnte.

Sein Gesicht wurde verwirrt.

„Setzen Sie sich bitte wieder.“ Harald war Herr der Lage. Die schwarze kleine Repetierpistole war aus seinem Ärmel wieder in die Innenfläche der Hand geglitten und warnte Villamara sehr eindringlich. „Ihre Freunde könnten ja vielleicht abdrücken und treffen, Herr Graf. Ich täte es auch. Seien Sie davon überzeugt. Setzen Sie sich. Sie sagten soeben, unsere gegenseitigen Verpflichtungen seien aufgehoben. Mithin sind wir Gegner. Ich verlange, daß Burton Gelegenheit gegeben wird, sich zu verantworten.“

Villamara murmelte etwas von „Fabelhafte Taschenspielergewandtheit“ und ließ sich wieder in seinen Sessel nieder.

Er überlegte.

„Herr Harst,“ meinte er dann. „Burton könnte nichts zu seiner Entschuldigung anführen. Gar nichts. Ich …“

In demselben Moment ein metallisches Knacken …

Herr van Zuiten hatte abgedrückt, hatte glänzend getroffen. Die Kugel des Luftstutzens schlug Harald die Pistole aus der Hand.

Und fast gleichzeitig rief Lord Windraymoor:

„Keine Bewegung mehr, Herr Harst!“

Die Gesichter der fünf Verbündeten hatten sich jäh verändert. Die Masken fielen. Wir hatten fünf Feinde gegen uns, die ihre gefährlichen Geheimnisse und ihre jeder Gesetzgebung spottende Eigenmächtigkeit als Richter über Leben und Tod um jeden Preis verteidigen wollten.

Lord Windraymoors Revolver war eine zu ernste Mahnung. Harald gab das Spiel mit leichtem Achselzucken auf. „Ich protestiere gegen Burtons Ermordung!“ meinte er nur.

Van Zuitens Stutzen wurde wieder geladen. Selbst Frau v. Seiler spielte mit einem kleinen Damenrevolver mit Elfenbeinkolben.

Villamara, der die Nelke auf den Tisch gelegt hatte, als er die Clement Harsts an sich zu bringen suchte, nahm die mörderische Blüte wieder zwischen Daumen und Zeigefinger, stieß Haralds auf dem Teppich liegende Waffe mit dem Fuß unter den Tisch und trat auf Burton zu.

Ich fühlte, daß mir ein eisiger Hauch den Rücken entlangstrich. Ich hatte viele Leute sterben sehen. Diese Szene hier sollte an die Nerven ungeheure Anforderungen stellen.

Die Nelke befand sich dicht vor Burtons Lippen. Ich merkte, daß Burton den Atem anhielt. Er wußte: ein Atemzug, und er war … hinüber!

Er bog den Kopf zurück. Die Nelke in des unerbittlichen Henkers Hand folgte.

Seine Augen quollen heraus. Der Knebel im Munde erlaubte ihm nur, durch die Nase zu atmen. Er warf den Kopf verzweifelt hin und her. Die Nelke folgte ihm. Sein Gesicht rötete sich, wurde blaurot.

Da schloß ich die Augen …

Dieser Kampf da war entsetzlich.

Und hörte des Grafen harte Stimme: „Burton, denken Sie an Santa Rocka! Denken Sie an die Sonne, die dort menschliche Leiber ausdörrte! Sie waren der Verführer der anderen. Ihrem Hirn entsprang der verruchte Gedanke …“

Dann vernahm ich ein Röcheln …

Und dann … Stille …

Und leise Schritte über den Teppich.

Öffnete die Augen, sah, wie Villamara sich wieder setzte, sah Burton leblos in den Fesseln hängen, sah Frau v. Seiler in der Sofaecke gegen eine Ohnmacht ankämpfen.

Harald starrte zu Boden, die Augen halb mit der linken Hand bedeckt, den linken Ellenbogen aufgestützt haltend.

„Es ist der vorletzte,“ sagte der Spanier nun. Die Stimme vibrierte etwas. „Er hat sich loskaufen wollen, Herr Harst. Er war ein elender Schurke.“ Das klang wie eine nochmalige Rechtfertigung dieser unheimlichen Urteilsvollstreckung.

Harald erwiderte nichts darauf.

„Herr Harst, jetzt steht Ihres Freundes und Ihr eigenes Schicksal zur Debatte,“ fuhr Villamara fort. „Wir fordern von Ihnen beiden das feste Versprechen, diese Nacht und alles andere, was mit den blauen Nelken zusammenhängt, zu vergessen – für immer!“

Harald ließ die linke Hand sinken. „Ich lehne ab, auch in Schrauts Namen.“

Der Lord war aufgestanden und hatte eine Diwandecke über den Toten geworfen.

Frau v. Seiler sog an einem Riechfläschchen. Löwengaard und Zuiten hielten uns unter ständiger Bedrohung durch die Bleigeschosse der Stutzen.

„Haben Sie sich das reiflich überlegt?“ fragte der Spanier in überredendem Tone. – Harst blieb stumm.

„Dann – –,“ sagte Villamara gedehnt, „dann – – müssen wir Sie beide mit uns nehmen. Sie werden unsere Zukunft teilen, bis … wir für die Welt verschwunden sind. – Wollen Sie gutwillig ein starkes Schlafmittel trinken?!“

„Ja.“ – Ohne Zögern hatte Harst geantwortet.

Villamara winkte dem Lord.

Der holte von einem Tischchen zwei Gläser. Sie waren zur Hälfte mit Wasser gefüllt.

Harald trank. Ich zauderte. Ein Blick von ihm, – und auch ich leerte das Glas.

Der Lord stellte die Gläser weg und setzte sich.

Harst schaute die fünf nacheinander an.

„Gab es wirklich keinen anderen Weg?“ meinte er mit deutlichem Vorwurf.

Villamara zog die dicken Brauen hoch. „Wie soll ich das verstehen, Herr Harst?“

„Mußten Sie fünf, die Überlebenden von Santa Rocka, zu Mördern werden?! – Ich kenne das Drama von Santa Rocka. Vor acht Jahren ging ein Dampfer, der von Singapore nach Australien bestimmt war, im Orkan unter. Ein einziges Boot, mit Schiffbrüchigen vollgepfropft, rettete sich. Es war das kleinste Boot. Von den … Insassen … konnten … nur …“

Genau so, wie seine Stimme leiser und mühsamer wurde, kroch mir eine nicht zu bewältigende Schlafsucht in die Hirnzellen.

Haralds Stimme kam wie aus immer endloserer Entfernung mir träge zum Bewußtsein.

Ich schlief ein.

 

5. Kapitel.

Der fünfte, der Schuldlose.

Und Harst erging es ebenso.

Man hat uns dann in zwei Riesenkoffern am Morgen im Auto des Holländers van Zuiten nach Warnemünde geschafft – an Bord der Dampfjacht Santa Rocka, die dem Lord gehörte.

Als wir gegen Abend zu uns kamen, hatte die Santa Rocka bereits den Sund zwischen Rügen und der pommerschen Küste erreicht, wie Graf Villamara uns mitteilte, als er uns in der als Zelle hergerichteten Kabine besuchte.

Man hatte die Kabinenfenster durch eiserne Läden verschlossen, hatte die Tür mit Eisenplatten auf der Innenseite versehen und uns alles abgenommen, was uns als Waffe oder Ausbruchswerkzeug hätte dienen können.

Villamara verließ uns sehr bald wieder. Wir hatten auf dem Tische ein reichliches Abendessen vorgefunden und saßen nun als Gefangene wortkarg da, aßen und suchten den Rest von Müdigkeit durch zahlreiche Tassen Tee zu verscheuchen.

Harald beschränkte sich auf Bemerkungen, die mit unserer Lage nichts zu tun hatten.

Als ich das Thema ändern wollte, schüttelte er den Kopf. „Wozu?! Es hat keinen Zweck,“ meinte er nur.

Er rauchte nachher ein paar Zigaretten und ging in der Kabine auf und ab.

„Die Jacht liegt vor Anker,“ sagte er dann. „Irgendwo vor Stralsund.“

Er betonte den Namen der Hafenstadt unmerklich.

Und da – kam mir die Erinnerung: Svendson wollte ja heute abend mit Ingeborg, Barnö und Gulbranson an Bord der Motorjacht des Doktors gehen – in Stralsund!

Ich begriff alles: die fünf Verbündeten lauerten hier der Motorjacht auf! Svendson war nun an der Reihe, der blauen Nelke Opfer zu werden! Als … letzter! Der vorletzte war Burton gewesen! –

Harst war am Tische stehen geblieben und gähnte.

Unsere Augen begegneten sich. Er nickte mir zu. Gähnte wieder.

Die Santa Rocka wiegte sich träge vor ihren Ankern.

Santa Rocka! Das Drama von Santa Rocka! Ich kannte nur erst die Einleitung davon. Was war damals mit den Insassen des kleinen Bootes weiter geschehen? – Das schoß mir so durch den Kopf.

Und Harald gähnte abermals …

„Bist Du gar nicht müde? Ich werde sehr bald wieder schlafen gehen,“ sagte er matt.

Da verstand ich ihn.

„Sehr müde! Das Schlafmittel muß zu kräftig gewesen sein.“

Das Türschloß und zwei Riegel kreischten draußen. Ein alter Matrose holte das Teebrett und das Geschirr. Im Gange vor der Tür standen zwei ebenso alte Seeleute mit Revolvern – als Wächter. –

Haralds leises Schnarchen erfüllte eine Viertelstunde später die Kabine mit unschönen Tönen. Und doch war er genau so wach wie ich. – Ich horchte auf die Geräusche von draußen, auf das Stampfen der Maschinen und das Plätschern der Wellen. Die Santa Rocka lag nicht mehr vor Anker. Vielleicht war sie bereits hinter der Motorjacht her, um Svendson, das letzte Opfer, zu vernichten. – Dann hier in der völlig dunklen Kabine ein paar verschwommene Geräusche. Dann mußte Harald dicht vor meinem Bette stehen. Sein Atem strich über mein Ohr hinweg. „Ich möchte Svendson retten. Wir werden ausbrechen – durch die Ventilationsöffnung. Ich habe ein Tischmesser von der Abendmahlzeit her zurückbehalten.“ –

Das Messer diente als Schraubenzieher. Harst hatte die Klinge zerbrochen, so daß sie in eine schmale Spitze auslief. Er arbeitete im Dunkeln. Das durchbrochene Eisengitter der Ventilatoröffnung war bald gelockert.

Ich stand neben ihm, hatte mich rasch angezogen.

Harsts Leuchtzifferblatt seiner Taschenuhr zeigte uns die Zeigerstellung der elften Nachtstunde, als er durch das Loch in den Gang hinauskroch. Auch im Gange zwischen den Kabinen war es dunkel. Die Wächter waren nicht mehr da.

Es kostete Mühe, mich durch die Öffnung gleichfalls hindurchzubringen. Die Tür ließ sich auch von außen nicht aufschließen. Die Riegel hatten Patentvorlegeschlösser.

Endlich war auch ich aus der Kabine heraus. – „Waffen besorgen!“ sagte Harald kurz. – In dem Gange befanden sich sechs Kabinentüren. Die Kabinen waren jetzt leer. Die Inhaber weilten wohl an Deck. Des Spaniers Kabine gab uns unser Eigentum zurück. Wieder im Besitz der Clementpistolen waren wir beide Manns genug, unseren Willen durchzusetzen.

Als wir beide nun die Treppe zum Deck emporschlichen, hatte ich die Überzeugung, daß diese Nacht mir die restlose Aufklärung des Geheimnisses der blauen Nelke bringen würde. Ich irrte mich auch nicht. Nur war der Schlußakt der Tragödie weit nervenerschütternder, als ich es je geahnt hatte.

Harald schob nur den Kopf über das Dach des Treppenniedergangs hinweg, zog ihn aber sofort zurück.

„Die Motorjacht Gulbransons ist bereits gekapert worden,“ stieß er hastig hervor. „Die Santa Rocka schleppt die kleine Jacht neben sich her und fährt mit abgeblendeten Lichtern – bei dem Nebel ein Leichtsinn!!“

Ich hörte das dumpfe, schauerliche Tuten eines Nebelhorns.

Harst eilte die Treppe wieder hinab, winkte …

„Sie bringen Svendson gefesselt hier nach dem Heck. Die Gerichtsszene wird sich wohl dort in der Heckkajüte abspielen.“

Er bog um die Treppe herum. Da war eine Flügeltür mit matten Glasscheiben aus Mahagoniholz. Wir traten ein, waren in einer Luxuskajüte, halb Speiseraum, halb Gesellschaftssaal, in der ein erlesener Geschmack ohne Rücksicht auf die Geldkosten ein Märchen aus Tausend und eine Nacht geschaffen hatte.

Die Kajüte war erleuchtet. Hier ein Versteck zu finden, war nicht schwer. Wir verschwanden unter einem Wanddiwan, dessen Decke, ein seidener großer Gebetteppich, bis zum Parkettboden hinabreichte.

Dann Stimmen, Geräusche …

Und jetzt des Professors Stimme – zitternd, schwankend, vor Erregung kaum wiederzuerkennen:

„Was wollen Sie von mir, Löwengaard? Ich verlange Auskunft von Ihnen! Sie sind mein Landsmann. Sie sind Schwede wie ich! Was soll dieser Piratenstreich gegen Gulbransons Jacht Christiania?! Weshalb behandelt man mich als Verbrecher, weshalb fesselt man mir die Hände?! Ich …“

Und hart und schneidend Villamaras Stimme: „Sie haben wohl die drei Drohbriefe des Vereins Bl. N. erhalten, Holger Svendson! Bl. N. heißt Blaue Nelke. – Sie besinnen[6] sich noch auf unsere gemeinsame Reise auf dem „Prince Edward“ von Singapore nach Melbourne, auf unsere Tischgesellschaft, die sich zum Scherz zu einem Verein Blaue Nelke zusammenschloß. Gerade wir Mitglieder der Blauen Nelke entgingen in dem kleinen Rettungsboot dem Orkan, trieben tagelang auf See umher. Unser Proviant, unser Trinkwasser verringerte sich zusehends. Wir waren dreizehn[7] Personen in dem Boot, und wir wußten, daß nur ein Wunder uns retten könnte. Dann tauchte das winzige Eiland Santa Rocka auf, – – Sie besinnen sich! Und da – da kam der Schurkenstreich, ersonnen von James Burton! Da ließ man uns zu acht[8] aussteigen, da stieß das Boot mit den fünf Schurken wieder ab, die nun, nur noch fünf an der Zahl, genug Wasser und Lebensmittel hatten, um eine bewohnte fruchtbare Insel erreichen zu können. – Sie, Professor Svendson, Sie trugen im Boot die Nummer acht – für die Ablösung beim Rudern. Und Sie waren einer der fünf Elenden, die uns dem sicheren Tode überantworteten. Jolling, der spätere Chefpilot, Arndsen, später Direktor der Gasanstalt in Kopenhagen, Rosenhein, der Kommerzienrat, Burton und Sie waren diese Ungeheuer! Von uns aber, von uns acht, die Sie ausgesetzt hatten, starben drei: Herr v. Seiler, meine Gattin und Zuitens Schwester. Sie starben vor Entkräftung, zu Tode gefoltert von der Tropensonne, die den Fels von Santa Rocka in ein Fegefeuer verwandelte. Ein Dampfer rettete dann uns fünf, die Sie hier vor sich sehen! Rettete uns fünf … Wahnsinnige, – wahnsinnig geworden in demselben Fegefeuer! Irrenhäuser wurden unser Aufenthalt. Vier Jahre vergingen, bis der letzte von uns, ich selbst, als geheilt die Stätte der Toten verlassen konnte. Da fanden wir fünf uns wieder zusammen. Weil niemand uns geglaubt hatte, daß man uns damals auf Santa Rocka absichtlich dem Tode preisgegeben hatte, übernahmen wir selbst das Richteramt. Jolling, Arndsen, Rosenhein starben – durch eine blaue Nelke. Burton, den Urheber des Schurkenstreichs, zwangen wir, selbst den Henker an Svendson zu spielen, taten so, als ob er dann straffrei ausgehen sollte. Auch er ist tot. Sie sind nun der letzte, Holger Svendson. Wenn wir Sie gerichtet haben, wird die Santa Rocka uns nach einer einsamen Insel des Stillen Ozeans führen. Dort werden wir fern der Welt unser Leben beschließen.“

„Sie irren sich in einem Punkte,“ erklärte der Professor jetzt feierlichen Tones. „Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht mit im Komplott war. Sie werden sich erinnern, ich war der einzige im Boot, der mit den Segeln Bescheid wußte. Deshalb nahmen die vier mich mit. Burton saß mir mit gespanntem Revolver gegenüber. Ich war machtlos. Und Burton zwang mich nachher auch zum Schweigen, als wir acht Tage drauf den Hafen von Gradjagar auf Sumatra erreichten. Ich wollte …“

„Lüge! Alles Lüge!“ fuhr Villamara dazwischen. „Zuiten, tun Sie Ihre Pflicht! Denken Sie an Ihre Schwester, die …“

Harst hatte das Versteck verlassen. Die fünf kehrten uns den Rücken zu. Ich richtete mich gleichfalls auf. Diesmal gab es keine Luftstutzen, die uns bedrohten. Diesmal bedrohten unsere Pistolen die jäh Zurückweichenden. Ich zerschnitt Svendsons Fesseln. Wir eilten hinaus, schlossen die Salontür ab, hasteten nach oben, waren glücklich an Bord der Motorjacht, fanden hier Barnö, Gulbranson und Ingeborg als Gefangene vor.

Waren dann kaum zehn Meter von der Santa Rocka entfernt, hatten kaum den Motor angeworfen, als dicht neben uns ein riesiger Schatten im Nebel emporwuchs – ein Frachtdampfer …

Hörten des Grafen Stimme noch an Deck der Santa Rocka den Befehl zu unserer Verfolgung geben …

Hörten gellende Schreie … Krachen, Splittern … Sahen undeutlich, wie die Santa Rocka, mittschiffs gerammt, in zwei Hälften zerschnitten, versank …

Suchten nach Überlebenden – fanden nicht einen mehr. Der Frachtdampfer hatte sich schleunigst, da unbeschädigt geblieben, entfernt.

Nicht einen fanden wir.

Und Harald sagte nur, als wir die Unfallstelle nach zwei Stunden verließen:

„Die fünf, die hier nun einen so jähen Tod erlitten, waren Kranke, waren niemals in Wahrheit geheilt worden. Ihre Rachepläne, ihre kaltblütigen Morde deuten auf einen geistigen Defekt hin. – Ihnen, Herr Professor, glaube ich, daß Sie schuldlos sind.“ –

Drei Stunden später liefen wir in den Hafen von Saßnitz ein. Die Geschichte des Vereins Blaue Nelke ist hiermit zu Ende.

 

Nächster Band:

Das Zimmer ohne Fenster.

 

 

Verlagswerbung:

Wie

benehme ich mich?

Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte

Von W. v. Neuhof

 

Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier fehlt gleich die allererste Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  2. In der Vorlage steht: „seid“.
  3. „Ermittelungen“ / „Ermittlungen“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Ermittlungen“ geändert.
  4. In der Vorlage steht: „Gulbransan“.
  5. In der Vorlage steht: „Amylhidrit“. Zwei Vorkommen auf „Amylhydrit“ geändert.
  6. Überflüssiges (doppeltes) Wort: „Sie“ entfernt.
  7. In der Vorlage steht: „zwölf“. Tatsächlich sind es aber dreizehn Personen. Siehe auch Anm. 8.
  8. In der Vorlage steht: „sieben“. Auch hier sind es tatsächlich acht Personen, die ausgesetzt wurden, was ein paar Zeilen weiter sogar im Text bestätigt wird.