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Das Zimmer ohne Fenster

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 104:

 

Das Zimmer ohne Fenster.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1923 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Ritt auf der Jolle.

„Schraut – – Schraut – – –!!“

Es folgten noch zwei andere Wörter diesem gellenden, das Heulen des Windes übertönenden Ruf.

Aber der Orkan, der in dieser Julinacht über die weite Fläche des Schwielow-Sees hinwegbrauste, hatte gerade in diesem Moment nach kurzer Atempause mit erneuter Wut eingesetzt und machte mir das, was Harald Harst meinem mit äußerster Lungenkraft hervorgestoßenen Namen noch hinzugefügt hatte, vollkommen unverständlich. –

Wir hatten am Nachmittag dieses 30. Juli mit der flinken Jolle eines Bekannten einen Segelausflug nach der Obststadt Werder unternommen, hatten dort gut zu Abend gegessen und gegen neun Uhr trotz der Warnung eines Fischers die Heimfahrt angetreten.

Im Nordwesten hatten dicke schwarze Wolkenberge gelagert, die allerdings ein heraufziehendes Unwetter anzeigten. Harald war jedoch nicht zu bewegen gewesen, in Werder vorsichtshalber die Nacht zuzubringen.

Wir segelten also bei schwachem böigen Winde mit Südkurs in den See hinaus.

Und eine Stunde später kämpften wir im Orkan um unser Leben.

Plötzlich rannte die Jolle zu allem Unheil noch in stockfinsterer Nacht gegen ein anderes Fahrzeug, das steuerlos, ohne Lichter auf den für einen Binnensee ganz gefährlichen Wellen trieb.

Der Anprall kam so unvermutet, daß ich von meinem Sitz am Steuer beinahe über Bord geflogen wäre.

Zum Glück hatte ich das Steuer nicht losgelassen. Die Jolle kam von dem fremden Fahrzeug frei und raste mit gerefften Segeln weiter in die Dunkelheit.

Hinter mir dann der schnell verwehende Ruf: „Schraut – – Schraut – –!!“

Und für mich die Erkenntnis, daß Harald offenbar auf das andere, weit größere Boot, das ich für einen Motorkutter gehalten, hinübergesprungen war und von dort gerufen hatte …

Gerufen – –!! – Weshalb?! War’s ein Hilferuf gewesen?! War er dort an Bord des Kutters mit Leuten zusammengestoßen, die ihn derart empfangen hatten, daß er meiner Hilfe bedurfte?!

Was konnten das für Leute sein?! Wie kam’s, daß sie Harald sogleich bedroht hatten?!

All das schoß mir durch den Kopf, während ich, bis auf die Haut durchnäßt, mir alle Mühe gab, die Jolle im Bogen dorthin zu manövrieren, wo ich den vor dem Sturm treibenden Kutter ungefähr vermuten konnte.

Segelmanöver bei diesem Orkan waren, zumal für einen einzelnen Mann, eine sehr mißliche Sache.

Es erging mir denn auch herzlich schlecht: ein neuer heimtückischer Windstoß, und mein Boot kenterte, lief voll Wasser und schwamm kieloben weiter.

Ich hatte mich jedoch sehr bald auf den Bootskörper hinaufgeschwungen, hielt mich krampfhaft fest und nahm mein Pech mit leidlichem Humor hin. Nasser wie ich schon war, konnte ich nicht mehr werden. Da die Jolle Luftkästen hatte, würde sie nicht wegsacken, sondern allmählich sich dem Westufer nähern und dort stranden.

So ritt ich denn als Bootsreiter getrost durch die Finsternis. Wenn ich Haralds wegen nicht in Sorge gewesen, hätte ich das Abenteuer als angenehme Abwechselung im Einerlei der letzten Tage empfunden. Wir, Harst und ich, waren seit einer Woche ohne Beschäftigung gewesen. Was unser Beruf ist, weiß der Leser. Wir sind Sucher – Sucher aller Wahrheit, Gentlemandetektive, Sucher der Kriminalfälle, die man „eigenartig“ nennen kann.

Mit einem Male vernahm ich in der Nähe abermals einen Ruf, nachdem es mir vorhin schon so vorgekommen, als mischten sich in das Heulen und Brausen des Windes andere Laute.

Ah – jetzt rief wirklich jemand um Hilfe …

Und – das war eine Frauenstimme …

Hell – schrill – in höchster Todesangst …

Zu sehen war nichts.

Die Finsternis hing um mich herum wie pechschwarze Tücher. Nur die weißen Wellenkämme leuchteten gespenstisch. Dann schräg vor mir ein Lichtblitz …

Wieder ein schriller Schrei …

Der weiße Lichtkegel blieb – bewegte sich …

Licht aus einer Taschenlampe …

Und nun gewahrte ich auch, von dieser herumschwenkenden Leuchte bestrahlt, einen Menschen im Wasser …

Eine Frau – –!!

Ich zögerte nicht. Ich hatte längst die Schuhe abgestreift, auch Jacke und Weste.

Ein Satz – – fünf Schwimmstöße. Ich packte die Frau, drängte sie der Jolle zu.

Die Frau hielt die eingeschaltete kleine Taschenlampe in der Linken, hatte sich mit der Rechten an einen völlig unter Wasser gedrückten Nachen geklammert.

Sie war bereits sehr matt. Ich mußte ihr helfen, oben auf der Jolle im Reitsitz sich niederzulassen. Sie trug einen Sportanzug mit Kniehosen. Ihr blondes Haar hatte sich aufgelöst und flatterte mir peitschend ins Gesicht.

Ich stützte sie, so gut ich konnte. Die Taschenlampe war ihr entfallen, als ich sie auf die gekenterte Jolle hinaufschob. Der Nachen war weitergetrieben.

Nun saßen wir uns gegenüber. Nun rief die Frau:

„Ich danke Ihnen! – Verzeihung, mein Herr, wer sind Sie?“

Ihr Gesicht war dicht vor mir und doch nicht zu erkennen. Ob jung, alt, hübsch, häßlich: ich wußte es nicht.

Aber – ihre Frage hatte meine Gedanken sofort auf das andere Fahrzeug gelenkt, das ich hatte erreichen wollen, um Harald zu Hilfe zu kommen.

Ihre Frage war auffallend.

Es lag nahe, daß die Frau sich vielleicht auf jenem treibenden Kutter befunden hatte.

Ich mußte vorsichtig sein.

Und so rief ich ihr denn zu:

„Ein sehr harmloser Schauspieler ohne Engagement namens Suraturi, meine Gnädige!“

Das war nicht einmal gelogen.

Ich bin ja Komiker gewesen, bevor Harst mich unter seine Fittiche und in die Lehre nahm. Und Suraturi nannte ich mich einst auf den Theaterzetteln in den Weltstädten Schrimm, Schroda, Bomst, Krotoschin, Krojanke, Filehne – und so weiter, – in all den Lausenestern, wo die Schmiere Gastspiele gab. –

Mein pitschnasses, haarflatterndes Gegenüber rief dann:

„Also nochmals – ich danke Ihnen, Herr Suraturi! Ohne Ihre Hilfe wäre ich ertrunken.“

Sie kam wieder zu Kräften.

„Bemühen Sie sich nicht mehr … Ich halte mich schon selbst fest!“ war ihre nächste Äußerung.

Ich ließ also ihren Arm los, und sie rutschte ein Stückchen von mir ab.

Hm – ob sie verhüten wollte, daß ich ihr Gesicht sähe? Fast schien es so.

Ich überlegte. Ich war jetzt sicher beinahe überzeugt davon, daß die Frau auf dem steuerlosen Kutter gewesen und daß sich dort, als Harst sich hinübergeschwungen hatte, recht sonderbare Dinge abgespielt haben müßten.

Ich faßte in die rechte Beinkleidtasche.

Dort steckte meine Taschenlampe. Die vertrug ebenfalls ein kaltes Bad. Ich wollte mein Gegenüber mir doch einmal ansehen.

Kaum hatte ich nun die Lampe eingeschaltet, als die Frau, bevor der Lichtkegel noch ihr Gesicht traf, aufschrie und wie Halt suchend den einen Arm ausstreckte. Dabei schlug sie mir die Taschenlampe aus der Hand.

Absicht?! – Ja – ohne Zweifel! Daran änderte auch ihre rasche Entschuldigung nichts.

Ich wußte Bescheid. Mit dieser Dame stimmte irgend etwas nicht …!

Nun – ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich brüllte:

„Ah – das schadet nichts! Nun hat der Schwielow zwei Taschenlampen im Magen! – Ihr Segelboot ist wohl gekentert, Gnädigste?“

„Nein – es war ein Paddelboot …!“

Ein nettes Paddelboot!! dachte ich …

Und dann verstummte das Gespräch wieder, da es zu viel Lungenkraft erforderte.

Wir schaukelten mit unserer Jolle gemächlich dahin, die Beine im Wasser. Wenn die Jolle stärker kobolzte, verneigten wir uns ebenfalls, – unabsichtlich.

Plötzlich schienen die Wellen kleiner zu werden.

Wir waren in eine Bucht geraten – ins Schilf.

Die Jolle verankerte sich mit dem nach unten gerichteten Mast im sandigen Seegrund und lag still.

Ich hörte Bäume rauschen. Das Schilf ringsum rauschte ebenfalls.

„Ich denke, wir waten an Land,“ sagte ich sehr laut.

„Ja. Ich werde …“

Da war die Frau schon von der Jolle ins Wasser gerutscht und – – im Nu verschwunden.

Ich sah nur noch, daß sie sich dem Ufer zuarbeitete. Ich kam zu spät. Sie … kniff aus, tauchte zwischen den Bäumen unter.

Ich stand da und war arg mißgelaunt. Wenn ich Harald dieses Abenteuer erzählte, würde er sein bekanntes leicht ironisches Lächeln bereithaben und sagen: „Lieber Alter, mir wäre sie nicht entwischt!“

Ich stand noch nicht lange an dieser Stelle, als von Norden her sich aus der Finsternis eine Männergestalt herauslöste: Freund Harald!

„Ah – auch gelandet!“ meinte er erfreut. „Komm’ mit!“

Das war die ganze Begrüßung.

Er schritt voran – den Weg zurück, den er gekommen.

Die Bucht war nicht allzu groß. Am Nordufer lag das Fahrzeug, das ich für einen Kutter, eine Motorjacht oder dergleichen gehalten hatte.

Nun sah ich erst, daß es ein recht stattliches, aber auch sehr merkwürdiges Schiff war. Es befand sich etwa fünfzehn Meter vom Lande ab, war dort auf Grund geraten.

Die dichten Wolken am Nachthimmel taten uns den Gefallen, sich ein wenig zu zerteilen. Der gute friedliche Vater Mond grinste hindurch.

Das Schiff dort, von mir vorhin in der Finsternis auf einen Kutter eingeschätzt, war – eine malaiische Prau!!

Tatsache: hier auf dem Schwielow-See, wenige Meilen von Berlin entfernt, eine Prau mit den charakteristischen Bug- und Heckaufbauten, den beiden plumpen Masten, den gerefften schweren Mattensegeln!

Ob ich eine Prau kannte!! Ob – –!! – Wer unsere früheren Abenteuer gelesen hat, weiß, daß wir vor Jahren uns auch einer malaiischen Piratenbande dort im Sunda-Archipel liebevollst angenommen hatten.

„Eine Prau!“ sagte ich kopfschüttelnd zu Harst.

„Ja, mein Alter. Eine Film-Prau. Die Onyx-Film-A.G. will hier auf dem ehrlichen Schwielow ein Tropenfilmchen herstellen. Ich las davon in der Zeitung. Schwimmen wir an Bord, es gibt dort etwas zu sehen …!!“

Das betonte er so seltsam, daß ich ahnte: an Bord der Prau stimmte etwas noch viel weniger als mit meiner geretteten und geflüchteten Dame!

 

2. Kapitel.

Die Prinzessin Dortschakoff.

Man braucht zuweilen nicht nach Indien oder dem malaiischen Archipel zu reisen, um exotische Probleme zu lösen. – Wir waren kaum an Deck der Film-Prau geklettert, als im bleichen matten Mondlicht aus dem Heckaufbau zwei Kerle uns überraschend ansprangen.

Zwei Kerle in Leinenhosen, Turbantücher um die Köpfe geschlungen – Kerle mit dunklen Gesichtern …

Die Burschen nutzten ihren Vorteil aus, – – schlugen zu mit dicken Knütteln …

Ich krachte auf die Deckplanken. Für Sekunden war mir die Besinnung geschwunden.

Kam zu mir, als die Kerle mich fesselten, mich unter Deck schleppten, auf einen Haufen sandgefüllte Ballastsäcke warfen.

Ich war allein. Finsternis ringsum. Plätschernd klatschten die Wellen an die Bordwand der Prau. Sie rollte träge hin und her.

Ich setzte mich aufrecht. Der Schädel brummte mir. Jeder hätte da leise geflucht.

Und doch gefiel das Harald nicht, dessen Nähe mir erst jetzt durch seine Worte verraten wurde:

„Damit änderst Du auch nichts! Gar nichts! Und mich stört es!“

„Gestatte – wenn Dir vorhin eine Frau auf der treibenden Jolle die Taschenlampe …“ Meine Verteidigungsrede war schon zu Ende, denn Harst meinte hastig:

„Eine Frau? Hast Du sie aufgefischt? Trug sie Kniehosen?“

„Ja.“

„Gut, dann rutsche ich jetzt näher zu Dir heran, bis Du mir die Knoten der Handfesseln lösen kannst.“

Die Arbeit glückte.

Wir standen jetzt aufrecht. Haralds Taschenlampe flammte auf und beleuchtete den Raum.

Die Onyx-Film-A.G. hatte für den Bau des malaiischen Seglers einen alten Dampferrumpf benutzt, den Rumpf eines kleinen Schleppdampfers.

Wir fanden die Luke und kletterten an der Holzleiter nach oben.

Der Mond hatte sich wieder hinter dem jagenden Gewölk versteckt.

Harst schritt dem Bugaufbau zu, dessen plumpe Tür halb offenstand.

Die Kajüte war leer – besser, der Bretterverschlag.

Harald schaute mich an, leuchtete mir ins Gesicht.

„Als ich an Bord der Prau mich hinübergeschwungen hatte,“ erklärte er, „– und ich tat’s, weil ich Gestalten an Deck gesehen, da sprang jemand ins Wasser – die Dame, mein Alter! Und ihr nach sprangen die beiden braunen Kerle, die uns jetzt vor fünf Minuten so übel empfingen. Da rief ich Dir zu: „Schraut – – Schraut, Vorsicht – – Vorsicht!!“ Ich fand dann hier in diesem Verschlag einen … Toten …“

„Was?! Wie – – einen Toten?!“

„Eine Leiche, einen älteren, graubärtigen, gut gekleideten Mann, der eine schwere Stirnverletzung hatte. Der Tote war noch warm. Er konnte erst vor kurzem verschieden sein. Ich habe ihm die Taschen durchsucht. Ich wollte feststellen, wer er sei. Ich entdeckte nichts. Dann strandete die Prau, und ich wollte am Ufer entlangwandern, um mit Dir wieder zusammenzutreffen. Nun hat man die Leiche beiseite geschafft. In dieser Nacht gibt es hier für uns nichts mehr zu tun. Wandern wir nach Kaputh und fahren wir heim, nachdem wir die Jolle aufgerichtet und unsere Stiefel, Westen und Jacken aus dem Verschlag geholt haben.“

Gegen Mitternacht waren wir zu Hause in der Blücherstraße Nr. 10 in Berlin-Schmargendorf.

In Haralds Zimmer brannte Licht, und Frau Harst, seine Mutter, empfing uns im Flur mit den geflüsterten Worten: „Es ist eine Dame da, Harald. Sie wartet seit halb zwölf Uhr, – eine sehr feine junge Dame, mit der ich mich sehr nett unterhalten habe. Ich war noch auf, als sie läutete. Ich ließ sie ein. Ihren Namen wollte sie nicht nennen.“

Wir zogen erst einmal die nassen Sachen aus und trockene an und betraten dann Haralds Arbeitszimmer.

Die späte Klientin war dicht verschleiert, hatte einen seidenen Regenmantel an und trug dazu einen schicken Glanzlederhut. Ihr eleganter Keulenschirm, letzte Mode, lehnte an der Türfüllung.

Sie neigte etwas den Kopf, als wir uns vorstellten, und reichte Harald darauf einen Brief ohne Umschlag, sagte dazu, – und da erkannte ich sofort die Stimme der Frau, die mit mir auf der Jolle geritten war:

„Ich will Sie nicht lange aufhalten, Herr Harst. Bitte lesen Sie den Brief, und dann entscheiden Sie sich bitte, ob Sie den Fall übernehmen wollen.“

Harald lehnte am Schreibtisch und las.

„Ja,“ erklärte er dann. „Ich werde mir doch ein solches Problem nicht entgehen lassen. – Mit wem habe ich die Ehre?“

„Prinzessin Dolja Dortschakoff …“

Sie erhob sich.

„Ich werde morgen oder besser heute vormittag um elf Uhr wiederkommen, Herr Harst. Wenn Sie mich freundlichst hinausbegleiten wollen …“

Er tat’s. Den Brief legte er auf den Schreibtisch, und ich überflog die merkwürdige Epistel, die mit Maschine geschrieben war:

Berlin, den 27. Juli 192…

An die Prinzessin Dolja Dortschakoff.

Sie werden keinen Erfolg haben, Prinzessin. Unterlassen Sie alle weiteren Versuche, das Kruzifix zurückzuerlangen. Wir haben es längst eingeschmolzen. Wenn Sie Berlin nicht bis zum 1. August den Rücken gekehrt haben, ergeht es ihnen genau so wie …

Nun – Sie wissen ja Bescheid.

Sie sehen nun, wie lächerlich der Aberglaube war, der sich an das Kruzifix knüpfte. Ebenso lächerlich wäre es, wenn Sie …

Sie verstehen wohl!!

Also bitte: der 1. August muß Sie gehorsam zeigen.

Leaxyeka.

Ich legte den Brief weg.

Prinzessin?! – Hm – ich glaubte nicht daran, daß die Dame, die mir die Taschenlampe aus der Hand geschlagen hatte, eine Prinzessin war!

Ich setze mich an den Sofatisch und griff nach einer Zigarre.

Harald schien diese … Prinzessin durch den Vorgarten bis auf die Straße begleitet zu haben. Er kehrte noch immer nicht zurück.

Ich gähnte – gähnte wieder …

Der Kopf wurde mir schwer. Ich war müde, schloß die Augen, legte die Zigarre weg.

Schlief ein.

Schrak zusammen – erwachte, weil die tiefen Töne des Gongschlagwerks der Standuhr sich in mein Hirn, in meine Träume als – ich glaube als Kanonenschüsse eingedrängt hatten.

Und sah: es war fünf Uhr morgens!

Sah, daß die Zimmertür noch halb offen war, daß die elektrische Krone noch brannte und daß … vor mir auf dem Tische ein Zettel lag:

Falls Sie beide sich einmischen sollten, werden Sie es bereuen.

Leaxyeka.

Der Zettel machte mich munter. – Es war also jemand hier im Zimmer gewesen, während ich schlief und während Harald – –

Ja – wo steckte Harald?!

Ich sprang auf. Ich fand die Haustür nur angelehnt. Draußen dämmerte der neue Tag herauf. Die Spatzen im Weinspalier vollführten einen Lärm, als ob sie Reichstag spielten.

Wo war Harst?! Etwa der „Prinzessin“ nachgeschlichen?!

Ich ging in den Vorgarten, bis an die Pforte.

Drüben an einer Laterne lehnte ein Mann mit einem großen Besen, anscheinend ein Straßenkehrer.

Unsereiner, durch den Beruf zum Mißtrauen erzogen, hat schärfere Augen als der gewöhnliche Sterbliche, hat die Augen in der Gewalt, tut, als ob er nichts sähe und sieht doch alles.

Das war kein Straßenkehrer. Das war ein Spion. Straßenkehrer tragen zumeist Dienstmützen und arbeiten nie allein, sondern zu mehreren. Das war ein … Spion.

„Warte!“ dachte ich. „Dich will ich schon wegbringen!“

Ich kehrte ins Haus zurück, hatte zehn Minuten später Maske gemacht und schritt als älterer Herr nun die Blücherstraße hinab. Der Mann folgte mir. In einem Durchgangshause in der Paulsborner Straße entkam ich ihm, eilte heim und fand Harald noch nicht vor.

Also – zweite Maske angelegt, die eines Laternenputzers!

Oh – Harst und ich haben drei Schränke voller Kostüme und Requisiten …!

Kaum hatte ich mich einer Straßenlaterne schräg gegenüber liebevoll angenommen, als der Spion zurückkehrte. Ich stand oben auf der leichten Leiter und tat so, als brächte ich den Brenner in Ordnung.

Der Spion trat zu mir, hob den Kopf.

„He – eine Frage …“, rief er mir zu. „Haben Sie vielleicht soeben einen graubärtigen Herrn dort in Nr. 10 verschwinden sehen?“

„Und ob!! Einen Herrn mit’n Kneifer uf die Nese.“

„Danke …“

Der Spion trottete weiter, fegte zum Schein den Bürgersteig, blieb in der Nähe.

Nun kam auch ein Auto die Straße daher, hielt vor Nr. 10. Harst saß darin – im bloßen Kopf.

Er bezahlte den Chauffeur und betrat das Haus. Ich hatte ihm auf dem Sofatisch Nachricht zurückgelassen. Er kannte also meine Maske. Ich war gespannt, was nun folgen würde.

Ich nahm die nächste Laterne vor. Ich ließ mir Zeit.

Und – kaum eine Viertelstunde drauf verließ Harald unser Heim und schlenderte an meiner Arbeitsstelle vorüber.

Eine Papierkugel fiel aus seiner Hand in meinen Kasten mit den Putzgerätschaften.

Der Spion blieb hinter Harald her. Beide schlugen die Richtung nach dem Grunewald ein.

Ich las den Zettel.

Bin der Prinzessin gefolgt. Sie fuhr mit Auto nach Tegel, wo sie in einem Hause (letztes der Uferstraße, Nr. 54) verschwand. Das Haus liegt in einem Garten und ist sehr alt, anscheinend früheres Gutshaus oder dergleichen. Es ist seit vier Monaten an einen Russen namens Davidow vermietet. – Wir treffen uns abends elf Uhr am Bahnhof Tegel. Beobachte den Spion. H.

Meine Leiter und den Kasten wurde ich schnell los. Dann lief ich die Straße hinab, erspähte auch bald den Spion, der seinen Besen geschultert trug.

Harald lockte ihn erst im Bogen nach dem Vorort Halensee, dann nach Charlottenburg hinein. Im Fernbahnhof Charlottenburg entzog er sich dem Manne, der jetzt nach längerem fruchtlosen Suchen sich in den Wartesaal setzte. Hier benutzte er das Telephon. – Ich war gespannt, ob er etwa Hilfe herbeigerufen hatte. Vielleicht hatte er eingesehen, daß er allein mit uns nicht fertig würde.

Ich trank Kaffee. Der Wartesaal war recht belebt. Der Spion achtete nicht auf mich.

Nach etwa einer Stunde kam eine einfach gekleidete Frau ohne Hut, mit einem Tuch um den Kopf und einem schäbigen kleinen Koffer. Die Frau war jung und hübsch. Ich war mir meiner Sache nicht ganz sicher, aber ich vermutete, daß es die angebliche Prinzessin Dolja Dortschakoff sei …

 

3. Kapitel.

Viele Fragen – keine Antwort!

Sie hatte sich zu dem Straßenkehrer an den Tisch gesetzt und flüsterte eifrig mit ihm.

Ich hatte jetzt reichlich Zeit, mir die Ereignisse der Nacht nochmals zu vergegenwärtigen.

Das Abenteuer mit der Film-Prau war mir seinem wahren Kern nach noch völlig unklar. Harald hatte mir erklärt, die Prau sei wahrscheinlich in einer Bucht am Westufer des Sees verankert gewesen. Weshalb hatten die „Prinzessin“ und die beiden braunen Kerle, die uns nachher niederschlugen, sich bei dem Orkan mit dem Fahrzeug auf den See hinausgewagt?! Weshalb hatten sie die Prau überhaupt aufgesucht? Und weshalb flohen sie von Bord, als Harald von unserer Jolle hinübersprang? Etwa, weil sie den Mann ermordet hatten, der in dem Deckverschlage lag und der nachher verschwunden war?!

Viele – viele Fragen, und – nicht eine einzige Antwort! –

Da – die Frau mit dem schäbigen Koffer entfernte sich.

Ob es nicht besser war, ihr zu folgen und den Spion vorläufig sich selbst zu überlassen?!

Ich entschloß mich sehr schnell. Ich folgte dem jungen Weibe.

Nun – die Verfolgung endete vor einem eleganten Mietspalast der Innsbrucker Straße, Berlin W. Die Frau betrat das Haus durch den Kellereingang „Für Lieferanten“.

Ich wartete volle zwei Stunden. Die Frau erschien nicht wieder.

Was tun?! – Schon wollte ich nach dem Bahnhof Charlottenburg zurück und nachsehen, ob der Spion noch im Wartesaal säße, als ein elegantes Privatauto vor dem Hause vorfuhr.

Es war nun mittlerweile halb neun geworden.

Eine Zofe schleppte einen Riesenkarton in das Auto, und dann kam eine sehr schicke blonde Dame und stieg rasch ein.

So rasch sie auch war: ich erkannte sie doch! Es war die Frau mit dem Kopftuch!!

Bisher hatte ich Glück gehabt. Nun aber fand ich zu meinem Pech keine Gelegenheit, dem Auto zu folgen.

Doch – mit solchen Zwischenfällen rechnet unsereiner!

Und – fünf Minuten später wußte ich durch den Portier des Hauses Innsbrucker Straße 291, daß die Dame die bekannte Filmdiva Silvia Longa gewesen, die im ersten Stock sechs Zimmer bewohnte. Sie sei soeben zu einer Filmaufnahme nach dem Schwielow-See „hinausjejondelt“.

Nun – mehr brauchte ich nicht zu erfahren.

Ich kehrte nach Bahnhof Charlottenburg zurück.

An dem Tische des Straßenkehrers saß jetzt ein alter weißbärtiger Mann, Typ Künstler, der das Hungern kennt.

Und dieser Alte blinzelte mir verstohlen zu.

Harst – –!!

Ich setzte mich zu ihm. Wir taten, als kämen wir zufällig ins Gespräch. – „Ich habe Dich hier erwartet,“ erklärte er leise. „Ich war dem Spion auf sehr einfache Weise entschlüpft: ich bat hier einen Kellner, mich hinter dem Büfett verbergen zu dürfen. Einem Harst schlägt niemand etwas ab. So sah ich denn auch die Frau mit dem Kopftuch. Nachher, als Du hinter ihr bliebst, tat ich dasselbe mit dem Straßenkehrer. Er betrat ein Haus der Bregenzer Straße. Es ist kein anderer als der bekannte Filmschauspieler Hektor Alken.“

„Und die Frau mit dem Kopftuch war Silvia Longa!“ spielte ich meinen Trumpf aus.

„Das dachte ich mir. Ich wußte auch, daß sich in der verflossenen Nacht auf dem Schwielow-See etwas ereignen würde, denn gestern früh erhielt ich mit der Post diesen Brief, den ich Dir bisher nicht gezeigt habe. Da – lies!“

Der Brief lautete:

Sehr geehrter Herr Harst!

Ich möchte Sie auf das Haus Tegel, Uferstr. 54 aufmerksam machen. Die Außenwände sind völlig von wildem Wein überwuchert, so daß man nicht sieht, daß zwei Fenster im ersten Stock vor Jahren einmal zugemauert worden sind. Das Haus enthält also ein Zimmer ohne Fenster – –!!! Vielleicht steht dieses Zimmer zu den Dingen in Beziehung, die auf dem Schwielow-See sich abspielen dürften. – Jemand, der weiß, daß Sie gern Geheimnisse aufdecken.

„Ja – deshalb wollte ich trotz des drohenden Unwetters mit der Jolle heimfahren,“ sagte Harald nun. „Es war ein Zufall, daß wir dann die Prau rammten. Aber ich glaube, die Prau ist das, was der Briefschreiber andeutet, und ich glaube weiter, daß die Geschehnisse ziemlich klar sind, falls eben Silvia Longa die Dame war, die Du rettetest und die Dir entfloh, nachdem sie samt ihren Begleitern vor mir ins Wasser gesprungen.“

„Du irrst,“ meinte ich hastig. „Die Frau, die mit mir auf der Jolle ritt, war die Prinzessin Dolja Dortschakoff.“

Harald starrte mich verblüfft an. „Unmöglich! Dann wäre alles das, was ich …“ Er sprach immer leiser. Er schwieg …

Sein ehrwürdiges Greisenantlitz senkte sich. Und so flüsterte er unvermittelt: „Dann … dann mußt Du die Stimme verkannt haben, mein Alter. Ganz bestimmt! Es ist ausgeschlossen, daß die Frau, die Dir in den Wald entwich, die Prinzessin gewesen sein kann. Würdest Du das beschwören?“

„Hm – das nicht gerade …!“

„Aha!“ Er hob den Kopf. „Es ist eine üble Sache um eine bestimmte Form der Eifersucht. Man glaubt nicht, was schon alles dieser Eifersucht wegen gesündigt wurde.“ Seine Stimme klang immer noch grüblerisch, versonnen. „Gewiß – der Fall kann auch umgekehrt liegen. – Ich denke, wir kehren heim, durch den Gemüsegarten, und fahren dann in der Verkleidung von harmlosen Bürgerausflüglern mit einem Motorboot nach dem Schwielow-See.“

Der Plan schien ihm selbst nicht zu gefallen. Er schaute wieder vor sich hin.

„Oder – fahren wir nach Tegel, mein Alter, – und gleich …“, fügte er hinzu. „Das Zimmer ohne Fenster reizt mich. – Ja – – nach Tegel!! Vorwärts!“ –

Die Straßenbahn hielt. Wir stiegen aus und wanderten zu Fuß weiter. Der bewölkte Himmel ließ den Tegeler See düster und unfreundlich erscheinen.

Dann die Uferstraße – das einsam gelegene Haus Nr. 54 – dicht am Walde – im uralten Garten, mit uralten Pfannen das Dach gedeckt.

Um den Garten eine hohe, verwitterte Mauer, und – die Mauerpforte halb offen.

Wir traten ein. Wir bogen um eine Gebüschgruppe, sahen nun, daß das zweistöckige Haus dem Verfall nahe war, daß die Erdgeschoßfenster mit Brettern vernagelt und im ersten Stock an zwei Fenstern Gardinen angebracht waren.

Kein Mensch zu sehen. In diesem Garten, der so wunderschön verwildert war, kam man sich wie im Märchen vor. Das unruhige Berlin war so nahe, und doch – hier herrschte Stille, Frieden, Stimmung, hier lugten unter Unkrauthügeln Reste von steinernen Standbildern, von großen Vasen und Springbrunnen hervor. Hier jubilierten Vögel aller Art in den grünen Laubdächern, hier schlich eine schwarze Katze lautlos über den Weg, der mit ausgetretenen Ziegelsteinen belegt war …

Und – kein Mensch zu sehen …

Bis wir erschrocken fast herumfuhren.

Ein Briefträger stand hinter uns.

„Haben Sie schon geläutet?“ fragte er und deutete auf die Haustür mit dem abgeblätterten Ölfarbenanstrich. „Sie wollen wohl zu Herrn Dennysinow?“

„Ja,“ nickte Harst.

„Der Herr ist selten daheim. Versuchen wir unser Glück.“

Neben der Haustür war ein Glockengriff zu sehen. Der Briefträger zog sehr kräftig daran. Drinnen bimmelte eine Glocke, deren Klang scheußlich schrill war.

„Dennysinow wohnt doch allein hier,“ meinte der ehrwürdige Greis Harald.

„Ja, ganz allein.“

Der Postbote läutete nochmals. Dann zuckte er die Achseln. „Da muß ich nachmittags versuchen, den Brief loszuwerden. Und die Lauferei wegen einer Drucksache!“

„Wir werden Dennysinow hier erwarten. Geben Sie uns nur den Brief, zumal es ja eine Drucksache ist.“

Der Briefträger zögerte erst. Als wir uns aber auf die Steinschwelle setzten, reichte er Harald den Brief. „Es ist ja nur eine Lotteriereklame,“ beruhigte er sein Beamtengewissen. Dann ging er davon.

Harald drehte den Brief hin und her. – Ja, es war der Aufdruck eines staatlichen Lotterieeinnehmers vom Belle Alliance-Platz auf dem Umschlag. Der Umschlag war offen, die Briefklappe nur eingeschoben.

Harst zog ein bedrucktes Blatt heraus. Es war die Übersicht über die Neuregelung der Klassenlotterie und ein Hinweis auf die erhöhten Gewinne.

„Hm,“ meinte Harald, „kein Einnehmer verschickt heute mehr solche Reklamen. Höchstens als Beilage zu neuen Losen für alte Kunden. Hm …!“

Und er steckte den Brief in die Tasche, stand auf. „Es wird auch eine Hintertür geben,“ sagte er. „Die werden wir öffnen.“

 

4. Kapitel.

Was wir fanden …

Eine Tür mit einem Dietrich zu öffnen, ist weiter kein Kunststück, wenn es sich um ein altes Schloß, Dutzendware, handelt.

Aber im ersten Stock des stillen baufälligen Hauses dann ein Zimmer ohne Fenster suchen, das ist schwieriger, wenn ein Haus so merkwürdig gebaut ist wie das in der Uferstraße. – Welchem Zweck es einmal gedient haben mochte, wozu man all diese kleinen Stübchen, Flure, Nischen, Winkel und Ecken gebraucht hatte, diese ganze sinnlose Raumverschwendung, war wirklich nicht zu erraten.

Es gab da oben vier größere und zwei kleinere Stuben, fünf Flure mit Glastüren und drei dunkle Nischen, in denen ein Bett bequem Platz gehabt hätte. – Wir fanden das Zimmer mit den zugemauerten Fenstern nicht. Nein – wenigstens zunächst fanden wir es nicht. Wir fanden nur zwei von den insgesamt sechs Stuben möbliert. Und hier hauste eben Herr Dennysinow, in den anderen Stuben waren die Fußböden verfault.

Dennysinows Mobiliar hätte kaum ein Trödler gekauft. Armselig sah es in diesen beiden Räumen aus, so armselig, daß Harald erklärte: „Bodengerümpel!!“

Und trotzdem: in der Luft dieser Räume hing der Duft eines feinen, zarten Parfüms!

Dieser Duft paßte hier nicht hinein, – genau so wenig wie drei Zigarrenstummel auf einer als Aschbecher benutzen Untertasse, von denen Harald behauptete, es seien die Reste sehr teurer Zigarren. Er verstand etwas davon. Er hatte die drei Stummel zerdrückt und die Einlage geprüft.

Mir erging es hier wie so oft: ich hatte das Gefühl, daß irgend ein Unheil in der Nähe lauere wie ein sprungbereites heimtückisches Tier!

Ich horchte andauernd auf jedes Geräusch. Ich erwartete in jeder Sekunde, daß plötzlich so etwa ein Dutzend Halunken irgend welcher Art uns anfallen würden.

Wir blieben in diesen beiden bewohnten Räumen kaum zehn Minuten. Dann begannen wir die Suche nach dem Zimmer ohne Fenster aufs neue.

Wir hüteten uns, Lärm zu machen. Wir schlichen auf Fußspitzen hierhin und dorthin. Harald war ganz in seinem Element, – lebhaft, beweglich und doch ohne jede Nervosität.

„Entweder hat der Briefschreiber mich zum Narren gemacht und es gibt gar kein solches Zimmer hier,“ sagte er nun, als wir vor dem einen Alkoven standen, „oder aber …“

Und da schwieg er plötzlich, deutete auf ein Stückchen Holz von einer verfaulten Diele, das gerade vor uns lag.

Jetzt flüsterte er – ganz leise: „Wir waren doch schon einmal vor fünf Minuten hier. Und da war dieses Stücken Holz noch nicht völlig von der Diele losgetrennt. Da hing es noch mit der Diele zusammen. Jetzt ist es sogar etwa zehn Zentimeter von der Bruchstelle entfernt. Mithin … war jemand hier – ist noch hier, – jemand, der uns beobachtet …!“

Und – dazu lächelte er ein wenig, fügte hinzu: „Nun kenne ich das ganze Geheimnis! Auch das ist …“

Mit einem Riesensatz schnellte er plötzlich vorwärts …

Wir waren von rechts, durch die Flurtür, eingetreten. Harald erreichte die andere Tür, die in den Nebenraum führte und die nur angelehnt war, in weitem Sprunge, über ein breites Loch in den Dielen hinwegsetzend …

Erreichte sie und – – stieß sie so kraftvoll auf, daß er die Türkante einem zurückweichenden Manne vor den Kopf schmetterte.

Und dies mit so viel Schwung, daß der Mann ächzend rückwärts zu Boden sank. Auf seiner Stirn hatte die Türkante eine breite blutige Furche gezogen.

Der Mann war fraglos ein Asiate. Sein gelbbrauner Teint und der Gesichtsschnitt verrieten dies.

„Einer der beiden aus der verflossenen Nacht,“ meinte Harald und beugte sich über den Ohnmächtigen. „Anscheinend ein Turkmene aus den Steppen südlich des Aralsees. – Die Schmarre an der Stirn hat nichts zu bedeuten. Binden wir ihn zur Sicherheit.“

Dann begannen wir abermals das Zimmer ohne Fenster zu suchen.

„Wir müssen jetzt systematischer vorgehen,“ sagte Harst etwas ungeduldig. „Messen wir die Tiefe und Breite des Hauses aus und dann die einzelnen Stuben. In der Küche sah ich ein langes Stück Wäscheleine. Hole es …“

Ich eilte den Flur entlang, durch zwei Glastüren und einen kurzen Flur.

Und – ich verlief mich. In diesem wunderlichen Hause konnte das schon geschehen. Ich kam nicht in die Küche, sondern in eins der kleinen Hinterzimmer. Ich hatte die Tür hastig geöffnet und … hörte so gerade noch das Klappern einer anderen Tür und das Einschnappen eines Riegels.

Ich stand sofort regungslos.

Die Geräusche waren aus dem Alkoven gekommen, der sich linker Hand an dieses Stübchen anschloß.

Ein Gedanke – blitzartig – so sehr nahe liegend: es war jemand vor mir geflüchtet – – in ein Versteck, in das … Zimmer ohne Fenster!

Leise schlich ich zu Harald zurück, teilte ihm mit, was ich beobachtet hatte.

„Ah – sehr gut!“ flüsterte er. „Nun sind wir am Ziel!“

Wir begaben uns in jenen Alkoven, aus dem die Geräusche hervorgedrungen waren.

Wir suchten die tapezierten Wände nach einer Geheimtür ab.

Wir suchten so, wie wir zu suchen verstehen.

Aber vergeblich – – alles!

Unsere Taschenlampen ließen ihre Lichtkegel immer wieder über Wände und Decke des Alkovens gleiten.

„Hast Du Dich auch nicht verhört?!“ meinte Harald zweifelnd. „Vielleicht kam das Geräusch von draußen?!“

„Unmöglich!“

Da senkte Harst die rechte Hand, und die weiße Lichtflut huschte über die rissigen Dielen hin.

Staub, Holzmehl und Stückchen Holz in allen Größen lagen hier.

Harald bückte sich, winkte.

Und sagte laut: „Siehst Du das Holzspänchen, das aufrechtsteht. Es hat sich mit dem einen Ende festgeklemmt.“

Er wischte das gelbliche Holzmehl und den Staubschmutz weg – rund um das Spänchen. Da kam etwas wie ein Strich zum Vorschein – ein Strich, der eine Rille war im am besten erhaltenen Teile der Dielen, – ein Strich, den Harald zum Viereck weiter freilegte: die Umrisse einer Falltür.

Bald war auch der gut versteckte Nagelkopf gefunden, der sich herabdrücken ließ und den Riegel der Falltür zurückschob. Sie glitt langsam nach unten. Sie war sehr geschickt angelegt, und wer nicht gerade wie Harst auf das aufrechte Spänchen aufmerksam geworden, das sich in die Fuge der Falltür eingeklemmt hatte, der hätte nie vermutet, daß das Zimmer ohne Fenster seinen Zugang von oben hatte.

Harald kniete am Rande der Falltür. Unten tiefste Dunkelheit. Er rief leise hinab:

„Prinzessin, melden Sie sich! Hier ist Harst.“

Ja – es meldete sich jemand, aber – – auf andere Weise.

Unsere Aufmerksamkeit hatte nur der Falltür gegolten. Wir kehrten dem Eingang zum Alkoven den Rücken zu. Und – es erging uns jetzt genau so wie in der Nacht an Bord der Prau: man schlug uns nieder!

Ich sank wie ein gefällter Baum zur Seite, verlor die Besinnung.

Als letztes hörte ich noch ein höhnisches Auflachen.

Auch diese Schädelhiebe waren nicht so kräftig gewesen, daß sie uns für längere Zeit matt setzten.

Nein – wir erwachten fast gleichzeitig aus der kurzen Betäubung. Wir lagen nebeneinander in einer Ecke des Alkovens – mit gefesselten Händen.

Harst richtete sich auf. Ich tat dasselbe. In dem Alkoven herrschte ein ungewisses Halbdunkel.

„Binde mir die Knoten auf,“ meine Harald. „Wir haben uns hier unglaublich töricht benommen,“ fügte er hinzu. „Wir hätten daran denken sollen, daß der zweite braune Kerl in der Nähe sein mußte.“

Seine Stricke fielen zu Boden. Dann erwies er mir denselben Liebesdienst. Ich war frei wie er.

Die Falltür stand noch offen.

Harald leuchtete hinab, streckte den rechten Arm durch das viereckige Loch in den Dielen …

Was wir sahen, war überraschend genug: da unten ein Zimmerchen von Dreieckform. An der einen Wand ein Diwan. Darauf lag eine Frau in hellem seidenen Schlafrock …

Plötzlich schob Harst jetzt die Beine durch das Loch, klomm die schmale Eisenleiter hinab, riß vom Gesicht des blonden Weibes einen breiten Wattebausch weg …

Ich hatte noch mehr gesehen. An der anderen Wand ein hoher alter Ohrensessel …

Und in dem Sessel lag zusammengekauert ein Mann – ein Herr mit dünnem Scheitel. Das Gesicht war von oben nicht zu erkennen.

Ich beeilte mich, Harald zu folgen.

Er war schon an den Sessel herangetreten, hatte dem Herrn den Kopf etwas gehoben …

„Hektor Alken,“ sagte Harald leise. „Er ist tot. Da – man hat ihn erstochen.“ Er schob die Jacke etwas beiseite. In der perlgrauen Weste war in der Gegend des Herzens ein frischer Blutfleck sichtbar.

Er wandte sich dann der blonden Frau wieder zu. „Die Prinzessin Dolja Dortschakoff ist’s, die Milchschwester der Filmdiva Silvia Longa, – wie man sagt, sogar mehr als nur Milchschwester, nämlich uneheliches Kind des Fürsten Dortschakoff, dessen Besitzungen im Umfange Bayerns bei der Stadt Merw[1] im Lande der Turkmenen liegen. Der Fürst hat seine Heimat verlassen müssen, da er sich mit der neuen Regierung nicht stellen konnte. Er entfloh mit seiner Tochter. In den Zeitungen war vor einem Jahre zu lesen, daß er sich mit dem größten Teil der berühmten Dortschakoff-Juwelen geflüchtet hätte. Ich denke, Davidow und der Fürst und der tote Mann in dem Deckverschlage der Prau dürften ein und dieselbe Person sein. – Geh’ jetzt und hole die Polizei. Unsere Tätigkeit hier muß durch die staatlichen Organe ergänzt werden. Es ist ein Mann hier ermordet worden und die Prinzessin sollte durch Chloroform beseitigt werden. Ihr Puls geht ruhig. Die Narkose wird ihr nichts schaden.“

 

5. Kapitel.

Nochmals auf dem Schwielow.

Ich zögerte. „Willst Du mir nicht wenigstens andeuten, was dies alles bedeutet?“ bat ich.

„Es laufen zwei Verbrechen hier nebeneinander,“ erklärte er. „Auf das eine weist der Besuch der Prinzessin bei uns hin und der Brief, der „Leaxyeka“ unterzeichnet war. Dieses Verbrechen, Raub, betrifft fraglos die Dortschakoff-Juwelen, zu denen wohl auch ein Kruzifix gehörte. Die Diebe und gleichzeitig auch die Mörder sind zwei Turkmenen, wahrscheinlich Leute, die … – Doch all das hält uns jetzt zu lange auf.“ –

Ich mußte mich fügen. – Eine halbe Stunde später waren Beamte in dem verfallenen Hause, denen Harst für den Abend völlige Aufklärung versprach. „Jetzt muß ich mit Schraut noch eine Autofahrt unternehmen, meine Herren. Entschuldigen Sie uns.“

In unseren Masken bestiegen wir ein Taxameterauto, dessen Chauffeur uns versprach, in eine Stunde in Kaputh-Geltow am Schwielow-See zu sein. Der Mann fuhr denn auch wie der Teufel. Es war ein neuer Wagen, und gegen halb zwei Uhr nachmittags nahm uns bereits ein Motorboot auf, dessen Besitzer kaum vernommen hatte, wer wir waren, als er auch schon erklärte, uns über den Schwielow-See zu bringen.

Das Motorboot schoß davon. Der Besitzer erzählte uns, daß am Westufer des Sees in einer Bucht von einer Filmfabrik ein Malaiendorf aufgebaut worden sei und daß heute dort gefilmt würde.

„Dann nach dem Filmdorfe!“ meinte Harald. „Hoffentlich kommen wir noch zur Zeit. Ich möchte mit Silvia Longa ein ernstes Wörtchen reden. Sie hat da aus Künstlereifersucht und wohl auch aus Haß gegen eine Verwandte sich auf sehr üble Geschichten eingelassen. Die Filmschau brachte einen Artikel letztens, daß die Onyx-Gesellschaft einen neuen Star entdeckt habe, der in dem neuen exotischen Film „Die Gefangene des Malaienfürsten“ die Hauptrolle spielen würde und zwar an Stelle Silvia Longas, die mehr für Salondamen geeignet sei.“

Jetzt endlich ging mir ein Licht auf.

Freilich – alles verstand ich noch immer nicht.

Unser Motorboot sauste über den See hin, der sich jetzt recht manierlich zeigte. In der Nacht hatte er bewiesen, daß auch ein Binnengewässer seine Tücken hat.

Wir näherten uns dem Westufer.

Wir sahen das Malaiendorf, die künstlichen Palmbäume, die Hütten, die hoch auf Pfählen am Ufer über dem Wasser sich erhoben, sahen die Prau, die dicht daneben verankert war.

Der geschickte Schwindel einer Filmszenerie enthüllte sich uns. Ein Stück exotische Küste war hier aufgebaut worden. Menschen bewegten sich hin und her – braune Gestalten mit Lendentüchern, dazwischen die Herren Filmoperateure, Regisseure und einige Damen.

Die Aufnahmen waren bereits beendet.

Silvia Longa hatte schon ihre kleine Motorjacht bestiegen, um nach Kaputh zurückzukehren.

Unser Boot legte sich neben die Jacht.

Aber Silvia Longa hatte Gefahr gewittert. Dann schob sich unser Boot Bord an Bord mit der schlanken „Libelle“ der Diva, als sie selbst den Motor anwarf und ihr Begleiter, dem sie etwas zugeflüstert hatte, mit einem Bootshaken ebenso gewandt unser Fahrzeug abdrückte.

Harst jedoch riß kurz entschlossen die Clement aus der Tasche.

„Stoppen Sie!“ rief er drohend.

Die Jacht glitt mit wachsender Geschwindigkeit auf den See hinaus.

„Stoppen Sie!! Ich bin Harald Harst!“ brüllte Harald noch lauter.

Unser Boot folgte der Jacht.

Silvia Longa lachte klingend – winkte …

Der friedliche Schwielow-See hatte bis dahin wohl kaum eine solche Seeräuberszene erlebt wie jetzt …

Harst schoß – drückte achtmal ab – zielte auf die Stelle, wo der Motor im Bootskörper der Jacht untergebracht sein mußte.

Feuerte ohne Erfolg. Zu rasch entzog sich die flinke Libelle den Verfolgern.

Harst gab das Rennen auf. Wir wendeten, fuhren in die Bucht hinein und legten neben der Prau an, auf deren Deck jetzt die Herren vom Onyx-Film versammelt waren.

Wir kletterten an Bord. Der Regisseur Perl, eine Berühmtheit, fuchtelte wild mit den Händen vor Haralds Gesicht hin und her …

„Herr Harst, – was soll das?! Sie … haben ja geschossen!!“

Harald nahm langsam die weiße Greisenperücke und den Bart ab …

„Herr Perl, beruhigen Sie sich. Ich schoß nicht auf Sie. Silvia Longa wird die Kriminalpolizei jetzt wohl einige Zeit in Atem halten. Wissen Sie, daß Fürst Dortschakoff alias Davidow in der vergangenen Nacht die Prau bewacht hat, damit Silvia Longa sie nicht vernichten, versenken könnte?! Wissen Sie, daß Ihre Diva zusammen mit zwei Turkmenen die Prau gestern abend von hier entführt hatte, daß Dortschakoff von einem der Turkmenen niedergeschlagen und getötet worden war und daß der Orkan die Prau dann steuerlos dem Ostufer zutrieb, wo Dortschakoffs Leiche im Walde verscharrt wurde? Wissen Sie, daß Ihre Diva die Filmaufnahme durch Beseitigung der Prau verhindern wollte, da sie es der Prinzessin, ihrer Milchschwester, nicht gönnte, die Rolle der …“

Herr Siegfried Perl kreischte jetzt:

„Also deshalb fanden wir die Prau am Westufer! Wir glaubten, sie hätte sich losgerissen. Oh – der Silvia traue ich solch einen infamen Streich schon zu!“

„Ja – noch infamer, da sie heute Hektor Alken zu der Prinzessin geschickt hatte, damit er sie in dem Hause in Tegel zurückhielte.“

Perl ballte die Fäuste …

„Ah – und mir hat sie erzählt, die Prinzessin habe den Gedanken, die Rolle der Gefangenen zu spielen, aufgegeben …! Die … die Kanaille! Statt der Prinzessin fand sie sich heute hier ein – triumphierend, daß sie nun doch …“

Harst unterbrach ihn.

„Wer war der Herr, der auf der Libelle mit Silvia Longa entfloh, Herr Perl?“

„Das war der ungarische Graf Niclas Tefföny, Silvias neuester Verehrer.“

„Dann auf Wiedersehen, Herr Perl. Ich will nach Kaputh und der Berliner Polizei eine Depesche senden. Hoffentlich faßt man die Diva noch ab – hoffentlich!“ –

Unser Boot ratterte, knatterte davon.

Harst telegraphierte nicht, sondern telephonierte mit Fritz Bechert, Kriminalkommissar …

Und Bechert tat alles, Silvia Longa noch abzufangen. Doch die Diva hatte sich gehütet, in ihre Wohnung zurückzukehren. Ebensowenig wurde man des Grafen habhaft, der in der Nähe der Longa sehr elegant möbliert wohnte. –

Die Leiche des Fürsten Dortschakoff wurde abends gegen sieben Uhr durch einen Polizeihund gefunden. Sie war nur ganz oberflächlich vergraben worden.

Gegen neun Uhr abends war dann auch die Prinzessin vernehmungsfähig, deren Stimme der Silvia Longas überraschend ähnlich klang.

Dolja Dortschakoff wurde der Tod ihres Vaters zunächst verschwiegen. Sie gab an, daß sie seit langem unter den Nachstellungen der Turkmenen gelitten hätten, die als frühere Diener ihres Vaters genau wußten, welche Reichtümer die Flüchtlinge mit sich führten. Die Turkmenen hätten auch bereits vor Monaten in England den größten Teil der Juwelen geraubt, so daß die beiden Dortschakoffs in Not gerieten und der Fürst sich in Berlin als Filmdichter versuchte, zumal Silvia Longa sich für ihn verwenden wollte. Sein exotischer Abenteuerfilm war denn auch von der Onyx-Gesellschaft angenommen worden. Regisseur Perl wieder hatte Dolja ermutigt, sie solle doch selbst einmal als Filmschauspielerin eine kleine Rolle zunächst spielen. Sie hatte Erfolg, und Perl bestand nun darauf, daß Dolja auch die Rolle der Gefangenen erhielte. Infolgedessen war zwischen Silvia und den beiden Dortschakoffs ein ernstes Zerwürfnis entstanden. Von Silvias Intrigen hatte Dolja keine Ahnung gehabt. Erst als heute morgen Hektor Alken in dem verfallenen Hause in Tegel erschien und der Prinzessin angeblich im Auftrage Perls ausrichtete, daß Silvia nun doch die vielbegehrte Rolle spielen würde, hatte sie gemerkt, mit welchen Mitteln Silvia hier operierte. Bevor sie jedoch Alken noch zur Rede stellen konnte, hatte sie vom Fenster aus die beiden Turkmenen im Garten bemerkt und in ihrer Angst vor diesen braunen Verbrechern Alken mit hinab in das Zimmer ohne Fenster genommen, dessen Vorhandensein ihr Vater einmal zufällig entdeckt hatte. Als die Turkmenen uns an der Falltür niederschlugen, als sie dann in den dunklen dreieckigen Raum hinabstiegen, hatte Alken sich zur Wehr gesetzt und wurde niedergestochen. Dolja aber wurde durch Chloroform betäubt.

„Weshalb, Prinzessin, haben Sie denn nicht schon in England der Polizei den Raub der Juwelen gemeldet?“ fragte Harald dann die Tochter Dortschakoffs.

Und – die schwieg … schwieg beharrlich.

Ich dachte sofort an das Kruzifix, dachte noch an so manche ungelöste Frage dieses Problems. –

Mit fast unnatürlicher Ruhe nahm die schöne Dolja dann die Nachricht vom Tode ihres Vaters hin.

Sie erblaßte nur, schloß die Augen.

Und – zitterte, krampfte die Hände ineinander.

Ich fühlte: der größte Teil des Geheimnisses des Zimmers ohne Fenster war noch in der Brust der Prinzessin verschlossen!

Dann – wie ein Hauch, wie ein weher Seufzer kam’s jetzt über die blassen Lippen:

„Das – – das leere Zimmer!“

Dann wurde sie ohnmächtig. Der Arzt schickte uns hinaus. – –

In der „Reitpeitsche der Filmdiva“ wird der Leser einen Einblick in die rätselhafte Welt des Übersinnlichen gewinnen und zugleich den Rest der Fragen gelöst finden.

 

 

Die Reitpeitsche der Filmdiva.

 

1. Kapitel.

Der Sohn des Schamanen.

Zwei Tage später.

Weder von den beiden Turkmenen noch von Silvia Longa und dem ungarischen Grafen war bisher die geringste Spur entdeckt worden.

Diese vier Menschen waren verschwunden – so vollständig, als ob man von einer Schiefertafel vier Striche wegwischt.

Es war weder der Polizei noch uns geglückt, auch nur die Wohnung der Turkmenen zu ermitteln.

Dolja Dortschakoff anderseits hatte sich energisch geweigert, die Namen oder sonstwie Einzelheiten über diese braunen Burschen anzugeben.

„Ich darf es nicht,“ hatte sie erklärt. „Weshalb ich es nicht darf, weiß ich selbst nicht.“

Dabei blieb sie. –

Sie hatte wieder das alte verfallene Haus in Tegel bezogen und ein älteres Ehepaar, Flüchtlinge aus dem Ruhrgebiet, bei sich aufgenommen, damit sie nicht in dem öden Gebäude allein sei.

Wir hatten sie jeden Tag gesprochen, aber selbst Haralds Überredungskunst gelang es nicht, diese versiegelten Lippen zu öffnen.

Am dritten Tage wurde Dortschakoff vormittags in aller Stille beerdigt. Wir wohnten dem Begräbnis bei. Als es vorüber, lud die Prinzessin uns ein, sie nach dem einsamen Hause zu begleiten.

Zumeist schweigend gingen wir vom Friedhof auf Seitenwegen dem verwahrlosten Grundstück zu.

Frau Peters, die Gattin des Zugführers Peters, hielt ein einfaches Mittagessen bereit.

Nach Tisch bat Dolja uns, in ihr Zimmer zu kommen.

„Es ist merkwürdig,“ begann Dolja nun ein vertraulicheres Gespräch. „Ich fühle mich heute freier, Herr Harst. Ich fühle nicht mehr die unerklärliche Hemmung in meinem Hirn, die mir es bisher unmöglich machte, über die beiden Turkmenen mich näher zu äußern.“

Harst schaute die Prinzessin ernst an. „Wenn diese Hemmung nicht mehr vorhanden, erzählen Sie uns bitte zunächst, wann Sie und Ihr Vater die Turkmenen zum ersten Male als Feinde spürten.“

„Vor einem halben Jahr in London, Herr Harst. Sie hatten sich in demselben Hause eingemietet und zwar als Kaufleute, gingen stets gut angezogen und beachteten uns scheinbar nicht. Da die Gesichter der Turkmenen zumeist einander so sehr gleichen, daß unter hundert mindestens fünf geradezu zum Verwechseln ähnlich sehen, dachten wir gar nicht daran, die beiden könnten etwa unsere beiden ehemaligen Diener Gorim und Nassub sein. Erst als mein Vater eines Abends den größeren Teil der Juwelen, darunter auch ein mit Edelsteinen besetztes Kruzifix, einpackte und zu sich steckte, als ich dann fragte, weshalb er dies tue, blickte er mich erstaunt an und erwiderte, wie aus einem Traume erwachend: „Ja, wenn ich das selbst wüßte!“ – Und trotzdem erklärte er dann weiter, er hielte es für richtiger, die Kostbarkeiten mit in den Klub zu nehmen, in den ein englischer Diplomat ihn eingeführt hatte. Kurz: mein Vater handelte damals unter einem Zwange, dem er nicht widerstehen konnte. – Und in jener Nacht stahl man ihm auf dem Heimwege vom Klub die Juwelen mit Gewalt. Nicht viel hätte gefehlt, und er wäre ermordet worden. – Da am folgenden Tage die beiden angeblichen Kaufleute aus dem Hause verschwanden, da ferner mein Vater in einem der Räuber deutlich einen der turkmenischen Kaufleute erkannt und gehört hatte, wie dieser dem anderen während des heftigen Kampfes mit meinem Vater den Namen Gorim zurief, unterlag es keinem Zweifel mehr, daß die Täter Gorim und Nassub gewesen waren.“

Die Prinzessin machte eine kurze Pause und fuhr etwas verlegen fort:

„Es wird Ihnen, meine Herren, wohl unbegreiflich erscheinen, daß wir Gorim und Nassub nicht sofort als frühere Diener wiedererkannt haben. Aber – sie hatten sich lange Bärte stehen lassen und hatten uns auch nie beachtet, waren stets gleichgültig an uns vorübergegangen, wenn sie uns im Hause begegneten. Bedenken Sie auch, daß wir auf unseren Besitzungen bei Merw einige achtzig Diener hatten, die wir zumeist nur selten zu Gesicht bekamen und kaum ihrer Ähnlichkeit wegen auseinanderhalten konnten. – Ich muß nun auf etwas zu sprechen kommen, das der sogenannte gebildete Europäer gern belächelt: auf innerasiatische Geheimnisse, auf die Künste der Schamanen, der Zauberer und Priester der Turkmenen und anderer Steppenvölker. – Gorim ist der Sohn eines solchen Schamanen. Mein Vater behauptete nach dem Raubüberfall, daß Gorim ihn durch das sogenannte Bawirutu, eine Art Fernhypnose, gezwungen habe, die Juwelen mit in den Klub zu nehmen und den beiden so Gelegenheit zu geben, den Raubüberfall ausführen zu können. Das Bawirutu ist in Europa unter anderem Namen längst bekannt und längst – – bespöttelt worden. Und doch ist es sehr ernst zu nehmen. Ich könnte Ihnen mancherlei Erlebnisse berichten, die Ihnen geradezu unglaublich erscheinen würden. Bei all diesen seltsamen Geschehnissen spielt das Bawirutu eine Rolle. – Kurz: mein Vater und ich zweifelten nicht länger daran, daß auch bei dem Raub der Juwelen die geheimnisvollen Kräfte des Schamanensohnes Gorim mitgewirkt hatten. – Wir unterließen eine Anzeige bei den Londoner Behörden. Sie hätte doch keinen Zweck gehabt. Wir suchten vielmehr den Rest der Kostbarkeiten zu retten, indem wir London heimlich verließen und auf Umwegen hier nach Berlin reisten, wo wir schließlich in diesem Hause einen Schlupfwinkel fanden, der noch den Vorteil bot, daß wir unsere letzten Juwelen in dem Zimmer ohne Fenster verbergen konnten, dessen Vorhandensein der Eigentümer des Hauses uns verriet, nachdem wir ihm einmal ein Schmuckstück verkauft hatten. – Ich komme nun auch auf meine Milchschwester Silvia Longa oder, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt, auf Silvia Lange zu sprechen. Ihr Vater, ein Deutscher, war Direktor der Gestüte meines Vaters. Herr Lange heiratete eine andere Deutsche, die bei Bekannten in Merw Erzieherin war. Das Ehepaar Lange starb bei einer Pestepidemie. Silvia wurde in unserem Schlosse mit mir zusammen erzogen, entfloh jedoch mit siebzehn Jahren mit einem englischen Ingenieur. Wir hatten von ihr nichts mehr gehört. Plötzlich kam sie dann hier zu uns und söhnte sich mit uns aus. Durch Silvia fanden wir Anschluß an die Onyx-Gesellschaft …“

„Und Silvia wird im Auftrage Gorims und Nassubs hier bei Ihnen erschienen sein,“ warf Harald ein.

„Ja, das nehme auch ich an, Herr Harst.“

„Und die beiden hatten es eben auf den Rest der Juwelen abgesehen, wovon Silvia natürlich einen Teil als Sündenlohn erhalten sollte, Prinzessin. Sie und Ihr Vater haben wahrscheinlich das Zimmer ohne Fenster Silvia gegenüber einmal erwähnt, ohne es ihr zu zeigen, oder Silvia hat Sie beide gelegentlich belauscht. Wie sollten anders die Turkmenen Kenntnis von der Existenz dieses Zimmers bekommen haben?!“

„Sie wird uns belauscht haben. Wir trauten ihr nicht ganz, Herr Harst, zumal sie so sehr oft über die uns verbliebenen Juwelen sprach.“

„Ja – und dann werden Gorim und Nassub, wenn Sie beide abwesend waren, hier das Zimmer gesucht haben. Als sie es nicht finden konnten, sollte ich es für sie suchen. Daher auch der Zettel, den Schraut auf dem Tische fand, daher der Brief, den ich erhielt. Ich sollte eben auf dieses Haus „scharf gemacht“ werden. Und die beiden wollten, wie’s dann auch geschah, mich beobachten, wenn ich hier die Räume durchstöberte.“

Die Prinzessin Dolja nickte. „So wird es gewesen sein, Herr Harst. – Ich möchte nun zunächst noch etwas anderes richtig stellen. Ich habe vor der Polizei angegeben, daß der Rest der Juwelen in dem Zimmer ohne Fenster in der Polsterung des Lehnsessels versteckt gewesen und von dort durch die Turkmenen gestohlen sei. Das trifft nur zum Teil zu. In dem Sessel waren lediglich drei goldene altertümliche Halsketten verborgen. Alles übrige hatte mein Vater noch besser verwahrt: in der Höhlung hinter einem Ziegelstein, den er vorsichtig herausnahm und nachher wieder mit Mörtel geschickt befestigte, daß niemand vermuten konnte, an jener Stelle sei ein Versteck angelegt worden. Die Tapete hatte er aufgeschnitten und losgelöst, später wieder angeklebt. Ich wollte Sie nun bitten, meine Herren, mir zu helfen …“

„Gern, Prinzessin,“ unterbrach Harst sie. „Vorher noch eine Frage: Sie hinterließen mir doch, als Sie damals bei uns waren, jenen Brief, der „Leaxyeka“ unterzeichnet war. Ich habe diesen Brief bisher nie erwähnt, da Sie selbst nie darauf zu sprechen kamen. Ich möchte …“

Dolja Dortschakoff hatte sich vorgebeugt, hatte gerufen: „Einen Brief?! Ich – ich hätte Ihnen einen Brief übergeben?! Mein Gott – davon weiß ich ja gar nichts!“ Sie war so verwirrt, daß sie immer wieder den Kopf schüttelte.

„Haben Sie denn nie einen Brief, der „Leaxyeka“ unterzeichnet war, erhalten, Prinzessin?“ meinte Harald gespannt.

„Nein – nie! – Wirklich nicht!“

Harst nahm den Brief aus seiner Geldtasche heraus und gab ihn Dolja Dortschakoff.

Sie las, schüttelte wieder den Kopf, wurde sehr blaß und stammelte:

„Oh – ich ahne schon: ich bin damals gar nicht freiwillig zu Ihnen gegangen! Der Schamanensohn hat mich durch das Bawirutu dazu gezwungen! Und heute weiß ich nicht einmal mehr, daß …“

Sie schaute Harst halb verzweifelt an. Die Stimme versagte ihr vor Erregung. Angst, etwas wie Grauen sprach aus ihren starren Blicken, – Grauen vor der Macht Gorims, des Schamanensohnes.

Harald beobachtete sie still.

Sie lehnte sich langsam in den Stuhl bequem zurück. Sie … lächelte plötzlich …

Und sagte in harmlos-scherzendem Tone: „Nein, wie man nur so vergeßlich sein kann! Ich habe den Brief ja selbst geschrieben, Herr Harst. Mit meines Vaters Schreibmaschine. Ich wollte Sie für uns stärker interessieren. Und …“

Harald war aufgestanden, hatte sich vor Dolja Dortschakoffs Stuhl gestellt, hatte diese scharf angesehen und dann ihre Hände ergriffen …

Sein Gesicht zeigte die äußerste Anspannung seiner Energie in der Spannung der Muskeln und in den zusammengepreßten Lippen an.

Seine Augen waren groß und schienen hervorzuquellen. Seine Blicke bohrten sich in Doljas halb verschleierte Augen ein.

Ich – ich ahnte: Harst kämpfte hier mit Gorim, dem Schamanensohne, der durch das Bawirutu soeben wieder der Prinzessin einen Befehl aus der Ferne zugesandt hatte!

Harsts eiserne Willenskraft suchte diesen Einfluß des Turkmenen zu überwinden …

Harst wollte bei Dolja durch stärkere Hypnose alles beseitigen, was Gorim in der Ferne an tückischen Gedanken ausschickte.

 

2. Kapitel.

Die Gaspatrone.

„Sie gehorchen nur mir – – nur mir!“ sagte er langsam und jedes Wort der Prinzessin förmlich ins Hirn stoßend. „Verstehen Sie: nur mir gehorchen Sie!! – Antworten Sie!!“

„Ich verstehe …“ lispelte sie. „Ich … gehorche …“

Es zuckte in ihrem Gesicht wie ein Krampf …

„… gehorche dem … Stärkeren,“ fügte sie rascher hinzu.

Haralds Stirn bedeckte sich mit Schweißperlen vor ungeheurer Willensanstrengung.

„Mir gehorchen Sie!“ zischte er, ließ die Hände der Prinzessin los und begann ihr Gesicht mit magnetischen zarten Strichen zu streicheln …

„Schlafen Sie jetzt – –!! Verstehen Sie: Sie sollen schlafen!!“

Minuten vergingen …

Dann – sanken Doljas Lider herab.

Sie schlief …

Erschöpft ließ Harald sich in seinen Stuhl zurückfallen.

Wie ein Automat nahm er mit schwerfälligen Bewegungen sein Zigarettenetui und zündete sich eine Mirakulum an.

„Das – das kostet Nerven!“ stöhnte er auf. „Wirklich – das kostet Nerven! Es ist etwas Unheimliches um diese asiatischen Geheimnisse. – Aweisha nennt man das Bawirutu auch. Ich habe einmal eine Abhandlung darüber gelesen – von Professor Glöwe, dem berühmten Psychiater. Am liebsten …“

Er schwieg und senkte den Kopf …

„Am liebsten … ja – am liebsten brächte ich Dolja in Glöwes Sanatorium. Der Professor ist durch seine hypnotischen Kuren berühmt geworden.“

„Die Prinzessin wird nichts dagegen haben,“ meinte ich.

„Aber Gorim!“ stieß Harst hervor. „Dieser Satan von Gorim wird …“

Dolja hatte plötzlich den Kopf gehoben, die Lider geöffnet. Sie war – – wach! Ein stärkerer Einfluß als der Haralds hatte sie aus dem hypnotischen Schlaf geweckt.

Sie schaute uns verwundert an. Dann preßte sie die Hände gegen die Schläfen und sagte mit vibrierender Stimme:

„Es ist, als wenn plötzlich ein seit Wochen auf meinem Hirn lastender Druck von mir genommen ist. Ja, genau das Gefühl habe ich.“

Sie holte tief Atem – wie befreit. „Herr Harst, ich habe ja stets in der letzten Zeit gegen die Macht des Turkmenen gerungen. Ich habe gefühlt, daß er meinen Willen dem seinen unterjochen wollte. So und so oft hat Gorim mich beinahe besiegt gehabt. Zuweilen trieb irgend eine mir fremde Kraft mich zu widerspruchsvollen Handlungen. Nur unter Aufbietung all meiner Energie konnte ich diese Handlungen vorzeitig beenden und so, daß mir kein Schaden daraus erwuchs. Nun ist dieser seelische Druck nicht mehr vorhanden …“

Harald hatte ihre rechte Hand ergriffen und nach dem Pulsschlag gefühlt.

„Völlig normal,“ sagte er bedächtig. „Sie haben also wirklich ein Gefühl der Befreiung, Prinzessin? Etwa so, als ob Gorim es aufgegeben hat, Sie noch weiter zu beeinflussen?“

„Ja, genau so. – Nein, eigentlich noch ein anderes Gefühl, dem ich jedoch keinen Ausdruck zu verleihen vermag.“ Sie sagte das so, als horchte sie in ihr Inneres hinein.

„Gehen wir also in das fensterlose Zimmer hinab,“ meinte Harald, der noch immer über etwas nachzugrübeln schien. „Wann waren Sie zum letzten Male dort unten, Prinzessin?“

„Vorgestern, zusammen mit den Polizeibeamten.“ –

Nun sollte es sich zeigen, daß diese seltsame Geschichte des Zimmers ohne Fenster eigentlich erst – – begann!!

Wir drei hatten den Alkoven erreicht, durch dessen Dielen die Falltür in den dreieckigen Raum hinabführte.

Über die Falltür waren von der Polizei Papierstreifen so angesiegelt worden, daß sie sich nur öffnen ließ, wenn man diese Streifen zerriß.

Harald hatte von dem Kriminalkommissar, der hier die Untersuchung leitete, die Erlaubnis erhalten, in jeder Beziehung selbständig zu handeln.

Er entfernte daher die Streifen, ohne die Siegel zu beschädigen, indem er diese mit der Messerklinge vorsichtig vom Holze löste.

Er stieg dann als erster mit eingeschalteter Taschenlampe die eiserne Leiter hinab.

Und – blieb plötzlich stehen, rief uns, der Prinzessin und mir, mit zurückgewandtem Kopf zu:

„Bitte mir nicht zu folgen! Ich werde die Falltür wieder schließen. – Oder – – Schraut mag ebenfalls hinabkommen. Für Sie, Prinzessin, ist dieser Anblick hier nichts …“

„Mein Gott!“ meinte Dolja entsetzt. „Was ist denn geschehen, Herr Harst?!“

„Etwas, das mir die Erklärung gibt, weshalb Gorim plötzlich seine Macht an Ihnen nicht mehr versuchte, Prinzessin. Bitte, gehen Sie in Ihr Zimmer und erwarten Sie uns dort.“

Dolja Dortschakoff gehorchte, wenn auch widerstrebend.

Kaum war sie verschwunden, als Harst leise erklärte:

„Da unten gibt es – zwei Tote, Gorim und Nassub, die Turkmenen.“

Er trat auf der Leiter mehr zur Seite, so daß ich einen Blick in den Raum hinabwerfen konnte.

Der Lichtkegel von Haralds Lampe lag gerade auf den beiden menschlichen Gestalten, die dort auf dem Fußboden neben dem Tische in seltsam verrenkten Stellungen hingestreckt waren.

Ich hatte mich gebückt.

Ich sah dieses abschreckende Bild der verkrümmten Körper, und Erinnerungen an den Weltkrieg wurden in mir lebendig.

Da hatte ich einmal auf dem Schlachtfelde im Osten Gelegenheit gehabt, eine Anzahl durch ein Kampfgas erstickter, vergifteter Soldaten aus nächster Nähe betrachten zu können. Nicht anders wirkten hier die Leichen Gorims und Nassubs. Daß die beiden tot waren, bezweifelte ich nicht einen Augenblick. –

Harst kletterte die Leiter vollends hinab.

Ich folgte ihm.

Da – mit einem Male sah ich ihn taumeln, sah, daß er sich wieder emporraffte und mir hastig ein Zeichen gab.

Ich verstand …

Ich bekam seinen Arm zu packen, zerrte Harst wieder nach oben.

In dem Alkoven sank er matt gegen die Wand.

Ich schloß die Falltür ganz von selbst. Ich ahnte, daß der Raum ohne Fenster mit einem verderblichen Gas angefüllt war.

Harald erholte sich langsam.

Seine Augen tränten stark. Eiskalter Schweiß drang ihm zunächst noch aus allen Poren. Sein Gesicht glich dem eines Sterbenden, bekam erst nach einer halben Stunde wieder Farbe.

Ich wollte ihn in das Zimmer Doljas hinübertragen. Er schüttelte den Kopf. So brachte ich ihn denn in eine der benachbarten unbewohnbaren Stuben.

„Öffne die Falltür wieder, damit das Gas abzieht,“ flüsterte er mühsam und heiser.

Ich tat’s.

Und wartete dann, bis er wieder so weit zu Kräften gekommen, daß wir den Versuch erneuern konnten, in den dreieckigen Raum hinabzusteigen.

Harald drängte mich beiseite, als wir die Falltür geöffnet hatten.

„Ich gehe voran,“ sagte er kurz.

Inzwischen war eine Stunde vergangen.

Da diese Art giftiger Gase schwerer als die Luft zu sein pflegen, bestand die Gefahr, daß die Gase noch am Boden des fensterlosen Zimmers lagerten, zumal die Falltür oben keinerlei Zugluft hervorrief, weil ja eine zweite Öffnung unten im Zimmer fehlte.

Als Harald mich beiseite schob, erklärte ich ihm diese meine Bedenken, worauf er ebenso kurz erwiderte:

„Du irrst! Es ist eine zweite Öffnung da! Wie sollen denn Gorim und Nassub in das Zimmer eingedrungen sein?! Durch die Falltür sicherlich nicht! Die war versiegelt.“

Diese Sätze gaben den ganzen Vorgängen mit einem Schlage eine besondere Bedeutung.

Ein zweiter Eingang!! Also besaß das fensterlose Zimmer noch weitere Geheimnisse! –

Harald stieg hinab. Ich blieb dicht hinter ihm.

Prüfend sog ich die Luft ein.

Ich spürte nichts mehr von jenem charakteristischen sogenannten Apothekengeruch, durch den sich Kampfgase bemerkbar machen.

Unsere Taschenlampen vereinten ihre Lichtkegel auf den beiden regungslosen Gestalten der gelbbraunen Asiaten.

„Tot!“ sagte Harst.

Er hatte sich gebückt und dem einen der Männer den Puls gefühlt.

Er richtete sich wieder auf …

„Tot, – und deshalb erlosch auch der unheilvolle Einfluß auf Dolja Dortschakoff vollständig und plötzlich! Mit des Schamanensohnes hinschwindendem Bewußtsein zerrissen die Fäden, die kraft seines Willens unsichtbar von ihm zu der Prinzessin reichten. – Nun wollen wir feststellen, woher das Gas in diesen Raum gelangt ist.“

Ich habe schon vorher erwähnt, daß das Zimmer ohne Fenster im Erdgeschoß des verwahrlosten alten Hauses lag und zwar an der Südostseite. Es war umgeben von der Küche und ein paar winkeligen Kammern, und dies war so geschickt geschehen, daß man kaum bemerken konnte, daß zwischen diesen Räumlichkeiten noch ein anderes Gemach lag.

Harald wandte seine Aufmerksamkeit lediglich dem Fußboden zu. Die Dielen waren hier, da sie aus harzigen Latten bestanden, noch tadellos erhalten.

Sehr bald hatte er dann das Geheimnis des zweiten Einganges entdeckt: auch hier gab es in der Nordecke des Zimmers eine dreieckige Falltür, die in einen Kellerraum hinabführte, der zumeist mit halb verfaulten Kisten und Fässern angefüllt war.

Diese Falltür hier hatte jedoch noch ihre gefährlichen Besonderheiten.

So wenig man sie im geschlossenen Zustande von dem Kellerraum aus wahrnehmen konnte, da sie in die Balkendecke genau und unauffällig eingepaßt war, – wer sie trotzdem fand und dann nach oben in das fensterlose Zimmer hinaufkletterte, überlieferte sich selbst dem Tode!

Denn – an der Falltür war ein sehr einfacher Mechanismus angebracht, der eine große Gaspatrone öffnete, deren Mundstück durch ein kleines Astloch in den Dielen ihren Inhalt in den dreieckigen Raum ausströmen ließ. Die Patrone selbst war zwischen den beiden Dielenlagen so gut verborgen, daß sie nur von dem gefunden werden konnte, der danach suchte. –

Harald hatte eine Kiste unter die Falltür geschoben und auf dieser Kiste stehend den Mechanismus sich angesehen.

„Vielleicht hat gar Fürst Dortschakoff die Gaspatrone hier angebracht,“ meinte er. „Und zwar ohne Wissen Doljas, die von diesem zweiten Eingang nichts weiß. Der Fürst mag die Juwelen recht sorgsam haben schützen wollen. – Es fragt sich nur, wie Gorim und Nassub Kenntnis von dieser zweiten Falltür erhalten haben.“

Er sprang von der Kiste herab.

Seine Taschenlampe beleuchtete das Gerümpel.

„Ah – Handwerkszeug!“ rief er leise. „Hier ein Zentrumbohrer, Stichsäge und Brecheisen! Die beiden Turkmenen wollten sich also von hier mit Gewalt durch die Decke hindurcharbeiten. Sie haben geahnt, daß das Zimmer ohne Fenster noch Kostbarkeiten enthielt, und sie …“

Er schwieg.

Er hatte rasch etwas vom Boden aufgehoben, das neben dem Handwerkszeug gelegen hatte.

Es war – – eine Reitpeitsche mit rundem silbernen Knopf und breitem silbernen Ring …

 

3. Kapitel.

Die Dortschakoff-Juwelen.

„Merkwürdig!“ meinte Harald kopfschüttelnd und besichtigte die elegante Reitgerte.

Dann – – führte er sie langsam an die Nase.

„Bitte!“

Und er hielt sie mir hin.

Ja – das war Parfümduft, der dem oberen Teil der Reitpeitsche anhaftete.

Das war Parfüm – von den Handschuhen der Reiterin eingedrungen in den Griff der Gerte!

Und dieser Wohlgeruch weckte Erinnerungen in mir.

Ich kannte ihn: von der Sturmfahrt auf der gekenterten Jolle her!

Es war – – Silvia Longas Parfüm – das Parfüm der Filmdiva!

Da sagte Harald schon:

„Nicht wahr – Silvia Longa?“

Ich nickte.

„Also ihre Reitpeitsche!“ erklärte Harald. „Ich möchte nur wissen, wie diese Reitgerte hierher gelangt ist? Ob etwa Silvia gleichfalls hier war?!“

Von oben her – nur schwach vernehmbar – ein Schrei …

Und dann Doljas Stimme:

„Herr Harst – – Herr Harst!!“

Harald schwang sich rasch durch die Falltür in das fensterlose Gemach.

„Prinzessin, bitte bleiben Sie oben!“ rief er. „Der Anblick hier ist nichts für Sie!“

Sie ließ sich nicht zurückhalten.

„Meine Nerven sind besser als Sie denken, Herr Harst,“ – und sie kam die Leiter herab.

Dann standen wir drei vor den Toten.

Dolja erschauerte.

„Wissen Sie, ob Ihr Vater hier besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte,“ fragte Harald.

„Er deutete so etwas an, Herr Harst. Bestimmtes kann ich nicht sagen.“

Sie hatte die Scheu vor den Toten überwunden.

Sie hatte ja in ihrem Leben bereits Furchtbares erlebt, hatte uns darüber mancherlei erzählt, wie die Turkmenen das Schloß ihres Vaters niedergebrannt und wie die wilden Steppensöhne in blinder Wut alles hingemordet hatten, was zu ihren russischen Unterdrückern gehörte.

Sie setzte sich jetzt auf einen Stuhl, kehrte den Leichen den Rücken zu.

„Dort ist das Wandversteck,“ sagte sie nach einer Weile.

Harald hatte am Tische gelehnt.

„Ich habe es schon bemerkt, Prinzessin. Ich habe noch mehr bemerkt: Die Tapete ist dort feucht. Wenn man genau hinsieht, erkennt man den dunklen Fleck. Ich fürchte, Silvia Longa, deren Reitpeitsche dort im Keller lag, wird das Wandversteck vorhin ausgeräumt haben.“

„Aber – – das Gas!!“ meinte ich.

„Oh – es gibt Gasmasken, mein Alter.“

Er trat an die Wand heran und zog das feuchte Stück Tapete ohne Schwierigkeiten ab.

Es zeigte sich, daß der Mörtel herausgekratzt war und der Ziegelstein sich ohne Schwierigkeiten herausheben ließ.

Harald faßte in die Öffnung hinein …

Und – holte ein in Packpapier gehülltes flaches, langes Kästchen heraus, etwa von der Höhe und Breite eines Ziegelsteins.

Ein Holzkästchen war’s – eine Konfektschachtel …

Und als Dolja nun den Deckel hochschlug, prallte sie zurück …

„Mein Gott – das – das sind ja all unsere Juwelen!“ rief sie.

Sie wühlte in den blitzenden Kostbarkeiten.

„Nur – nur das goldene Kruzifix fehlt … Das scheint aber auch das einzige Stück zu sein, das …“

Sie konnte vor Erregung nicht weitersprechen.

Sie sank auf den Diwan zurück, bleich und mehr entsetzt als erstaunt …

„Herr Harst, was – – bedeutet das?!“ fügte sie unsicher hinzu.

„Schwer zu sagen, Prinzessin,“ erwiderte Harald grüblerisch …

Und nach längerer Pause:

„Jedenfalls: Sie haben Ihr Eigentum zurückerhalten, Prinzessin! Weshalb die Diebe es hier verborgen haben, werden wir schon feststellen.“

Dann nahm er das Kästchen, wickelte es wieder ein.

„Kehren wir nach oben zurück,“ bestimmte er. „Die Polizei muß benachrichtigt werden.“ –

Dolja Dortschakoff und wir beiden saßen im Wohnzimmer der Prinzessin und erwarteten die Beamten.

Harald hatte Frau Peters zur Polizei geschickt, hatte dann die Reitgerte noch oben geholt und sagte nun, indem er den Rauch seiner Zigarette zu tadellosen Ringen formte:

„Ich habe ja manche Überraschungen erlebt: daß der ganze gestohlene Schmuck sich in dem Wandversteck wiederfinden würde, ahnte ich natürlich nicht im entferntesten! Wie sollte ich auch?! Ich möchte jetzt doch bezweifeln, daß Silvia Longa heute dort in dem Zimmer ohne Fenster gewesen ist. Die Reitpeitsche ist dafür ein sehr trügerischer Beweis – sehr trügerisch! Vielleicht hat man die Reitgerte nur dorthin gebracht, damit irgend ein Verdacht auf Silvia gelenkt würde. Jedenfalls sind mir die Zusammenhänge völlig unklar.“

„Mir auch,“ erklärte Dolja ernst.

Die Polizei erschien.

Nach zwei Stunden wurden die Leichen in aller Stille weggeschafft.

Die Prinzessin gab Harald dann die Juwelen mit und bat ihn, sie auf einer Bank unterzubringen.

Wir hatten bereits ein genaues Verzeichnis der einzelnen Stücke angefertigt und festgestellt, daß tatsächlich nur das Kruzifix fehlte.

Die Juwelen hatten einen Wert von ungezählten Billionen. Die Prinzessin war reich – ungeheuer reich. Und dazu war sie schön, geistvoll, tatkräftig. –

Wir verabschiedeten uns.

Harald hatte den eingewickelten Kasten unter dem Arm, als wir das Haus verließen und mit der Straßenbahn heimfuhren.

Um den Kasten noch in den Tresor einer Bank einschließen zu lassen, dazu war es zu spät geworden.

Erst gegen sechs Uhr nachmittags waren wir wieder zu Hause.

Harst hatte schon unterwegs zu mir gesagt, daß er die Juwelen ungern mitgenommen habe. „Sie bis morgen früh zu bewachen, ist eine unangenehme Aufgabe. Jedenfalls dürfen wir uns nicht aus dem Zimmer wagen. Nachts schlafen wir in meinem Arbeitszimmer und bewachen den Schatz. Es sollte mich wundern, wenn nicht jemand versuchen würde, den Kasten zu stehlen.“ –

Der Kasten wurde unten im Bücherschrank eingeschlossen. Wir aßen dann Abendbrot in Haralds Zimmer. Wir entfernten uns nicht eine Sekunde. Einer von uns blieb stets im Zimmer.

Wir lasen und rauchten. Gegen zehn Uhr trugen wir den Diwan aus der Bibliothek in das Arbeitszimmer, und Harald schlief dann auf dem Sofa, während ich den Diwan als Bett benutzte.

Wir hatten die Fensterläden vorgelegt und die Türen von innen verschlossen, außerdem noch Stühle gegen die Türen gelehnt.

Kurz: der Schatz war gut gehütet!

Und doch …

Nun – der Morgen kam. Um halb sieben erwachte ich.

Harald öffnete gerade die Fensterläden.

Die Morgensonne strahlte herein.

Es war ein Prachtwetter draußen.

Um acht trug die alte Köchin Mathilde das Frühstück auf.

Wir begannen in aller Behaglichkeit zu essen, zu trinken.

Dann jedoch … dann stellte Harald seine Tasse klirrend hin …

Sein Gesicht war wie versteinert …

Er deutete auf die Tür, die nebenan ins Bibliothekzimmer führte …

Ich sah nichts. Ich sah nur, daß die zwei Stühle noch an der Tür lehnten …

„Was gibt’s denn, Harald,“ fragte ich.

„Bist Du blind?!“

Ich bemühte mich, nicht blind zu sein.

Aber ich sah wirklich nichts Besonderes.

„Der – Schlüssel fehlt im Schloß!“ rief Harald da und sprang auf …

Sprang zum Bücherschrank, – – und der Kasten mit den Juwelen war nicht mehr da – –!! –

Der fehlende Schlüssel, der der Tür des Bibliothekzimmers, verriet den Weg, den der Dieb genommen hatte.

Der Dieb hatte mit einer Lautlosigkeit gearbeitet, die einfach verblüffend war.

Haralds leiser Schlaf, der schon durch das geringste Geräusch gestört wird, war in dieser Nacht anscheinend fest gewesen.

Der Dieb hatte ja nicht nur die Tür aufgeschlossen, sondern nachher wieder die Stühle gegengelehnt, indem er durch die Türspalte hindurchgefaßt hatte. –

Harst war minutenlang nach dieser niederschmetternden Entdeckung wie betäubt.

Dann raffte er sich auf, begann das Arbeitszimmer zu durchsuchen.

Und – stellte fest, daß ein Mensch unter dem Sofa gelegen hatte, lange Zeit, viele Stunden: der Dieb, der sich ins Haus eingeschlichen hatte, bevor wir heimkehrten!

„Der Mensch hat gesehen, daß ich den Kasten bei mir hatte und ist uns dann im Auto vorausgeeilt, hat hier unter dem Sofa ein Versteck gefunden,“ erklärte Harald, der schon wieder sehr gelassen sich Tee einschenkte. „Der Mensch kannte also den Kasten der Gestalt nach, wußte, was der Kasten enthielt: die Dortschakoff-Juwelen! Mithin wird der Dieb der ungarische Graf Niclas Tefföny gewesen sein, der Geliebte Silvias, der in der Anhalter Straße ein so elegantes Heim seit acht Wochen gemietet hatte und der nun – verduftet ist.“

Er trank den Tee aus, griff nach einer Zigarette.

„Lieber Alter, wir haben uns böse blamiert als Schatzhüter. Dieser Tefföny ist uns über! Der Kerl hat viel riskiert. Aber – er hat gesiegt. Nun heißt es für uns, die Scharte wieder auszuwetzen.“

Er rauchte sinnend.

Sein Gesicht zeigte jenen Ausdruck konzentriertester Gedankenarbeit, wie ihn nur seine Züge in solchen Momenten besitzen.

Ich verhielt mich schweigsam.

So vergingen zehn Minuten.

Dann stand Harst plötzlich auf. „Zur Polizei! Ich muß Kommissar Bergel sprechen.“

Als wir zum Ausgehen fertig waren, betrat Harald noch schnell das Bibliothekzimmer.

Der Dieb war von hier durch ein Fenster in den Vorgarten[2] hinabgesprungen. Die Fensterflügel waren nur zugedrückt.

Im Vorgarten sah man die Absprungspur ganz deutlich. Es waren Spuren von spitzen Männerstiefeln, sogenannten Jimmyschuhen.

Wir fuhren zur Polizei.

Kommissar Bergel, der die Ermittlungen gegen Silvia Longa führte, ließ sich alles genau erzählen.

„Wie wollen Sie Tefföny denn jetzt finden, bester Herr Harst? Der Mensch ist ja längst über alle Berge! Wir haben schon durch telegraphische Nachfragen herausbekommen, daß Tefföny ein Schwindler sein muß, ein Hochstapler. Die Antwortdepeschen liefen heute morgen ein. Es gibt keinen Grafen Tefföny. Das Adelsprädikat ist glatt erfunden.“

„Dachte ich mir,“ nickte Harst.

„Hm – und wie – –“

„Es muß schon ein besonderer Trick sein, der diesen Gauner zwingt, sich zu verraten,“ fuhr Harst fort. „Ein Trick, der ihn wieder nach Berlin lockt, falls er bereits nach auswärts entwischt ist, der ihn aber auch dazu verleitet, sich hier zu zeigen. Natürlich ist der Mensch als Hochstapler auch Verkleidungskünstler. Er wird maskiert sein, und zwar so gut, daß er sich ganz sicher fühlt. Ich habe mir da nun einen Trick konstruiert – richtig konstruiert, auf Grund des Tatsachenmaterials, unter Ausnutzung aller Besonderheiten des Falles …“

„Ah – und der Trick wäre?“ meinte Bergel gespannt.

Ich war nicht minder neugierig.

Harald nahm ein Stück Papier und schrieb.

Dann las er vor:

Notiz für die Presse in den Polizeibericht über den Diebstahl der Dortschakoff-Juwelen einzuflechten:

Trotz seiner Schlauheit und Kühnheit hat der Gauner doch insofern übereilt gehandelt, als er aus dem Bücherschranke lediglich den Kasten stahl und das dicht daneben stehende flache Etui mit der berühmten Harstschen Brillantschnur, die Harald Harst einst von dem Radscha von Bukanir erhielt, stehen ließ. Die Brillantschnur ist bekanntlich das Wertvollste dieser Art, was es an Geschmeiden gibt. Die 24 Edelsteine, von ausgesuchtester Reinheit und Größe, wären heutzutage mit Papiermark überhaupt nicht zu bezahlen. – Man sieht – selbst der verwegenste Verbrecher hat Pech! Die ganzen Dortschakoff-Juwelen sind nicht ein Zehntel so viel wert als das Brillantkollier!

Bergel lachte …

„Aha – verstehe! Das ist der Honig, der den Ungar wieder nach Berlin locken soll. Wenn der Kerl nur Appetit danach bekommt!“

„Den Appetit muß man ihm eben machen! Dazu brauche ich einen Ihrer befähigsten Beamten, der tadellos englisch spricht und der im Hotel Esplanade als amerikanischer Kriegsgewinnler absteigen muß …“

Was Harald weiter von seinem Trick in längeren Ausführungen erläuterte, ließ allerdings die Hoffnung gerechtfertigt erscheinen, daß Tefföny sich diesen „Happen“ nicht entgehen lassen würde. –

Wir kehrten wieder nach Hause zurück.

 

4. Kapitel.

Haralds Erfolge.

Am nächsten Morgen brachten die Zeitungen lange Berichte über den Fund der Dortschakoff-Juwelen im Zimmer ohne Fenster und über den kecken neuen Diebstahl derselben Juwelen. Dann folgte Haralds Notiz über den Brillantschmuck des Radschas.

In diesen Berichten war die Reitgerte Silvia Longas in keiner Weise erwähnt. Auch das war auf Haralds Wunsch geschehen.

In derselben Morgenausgabe der Berliner Zeitungen stand an anderer Stelle eine andere Notiz – auch Haralds Produkt:

„Wie wir erfahren, hat gestern nachmittag ein in Berlin sehr bekannter Herr im Tiergarten eine Reitpeitsche mit silbernem Knopf und silbernem breiten Ring, Monogramm S. L., verloren. Der Herr zahlt dem Wiederbringer, da die Reitgerte teures Andenken, fünf Goldmark Belohnung. – Nachricht unter H. H. 100 postlagernd Potsdam W 29, Elßholzstraße.“

Der Leser wird leicht begreifen, was diese kurze Notiz für einen Zweck hatte.

Da Silvia Longa unauffindbar war, da Harald ihrer jedoch um jeden Preis habhaft werden wollte, hoffte er, daß Silvia ihre Reitgerte an sich zu bringen versuchen würde.

Bergel ließ daher das Postamt unauffällig überwachen.

Morgens war die Notiz erschienen, und schon nachmittags gegen halb sechs erkundigte sich eine ältere Frau auf dem Postamt nach einem Briefe unter H. H. 100.

Die Frau wurde verfolgt. Der eingeweihte Schalterbeamte hatte ihr tatsächlich einen Brief ausgehändigt, der mit Maschine geschrieben war.

Auch dieser Brief war Haralds Erzeugnis und lautete:

„Wenn Sie Ihre Reitgerte wiederhaben wollen, kommen Sie morgen früh sieben Uhr in den Tiergarten an die Kreuzung des Reitweges am Rosengarten mit der Viktoriaallee.“

Die bescheiden gekleidete ältere Frau reichte den Brief dann in ein Auto hinein, das in der Hohenstaufenstraße hielt und sofort davonsauste. Die beiden Beamten konnten dem Auto nicht folgen, sondern mußten sich damit begnügen, die Frau festzunehmen, die dann erklärte, sie hätte im Auftrage einer unbekannten Dame gehandelt, die ihr für den Gang zum Postamt 500 Millionen gegeben habe.

Dies alles erfuhren wir eine halbe Stunde später.

Harst war sehr zufrieden mit dem Erfolg.

„Silvia Longa war also doch dort im Keller,“ meinte er. „Das steht fest. Sie hat die Juwelen in das Wandversteck getan. Sie vergaß dort ihre Reitgerte, die sie vielleicht bei sich trug, um … jemand zu züchtigen.“

„Wen?“

„Tefföny, denke ich. Tefföny wird Silvia betrogen haben. Und da hat sie sich gerächt.“

„Ah – indem sie Tefföny die Juwelen wegnahm, die dieser wieder den Turkmenen gestohlen hatte, und sie in das Wandversteck legte.“

„Stimmt! So stelle ich mir die Zusammenhänge vor. – Warten wir ab, was morgen geschieht.“ –

Wir beide begaben uns bereits um sechs Uhr in den Tiergarten.

Wir fanden ein ausgezeichnetes Versteck in einem dichten Gebüsch und waren nun außerordentlich begierig, ob Silvia wirklich auf den Brief hereinfallen würde, der ja nun, wie sie annehmen mußte, nicht dem Herrn H. H. 100 dem Inhalt nach bekannt geworden.

Die Reitgerte hatte Harald auf den Reitweg gelegt. Da jetzt morgens noch niemand die Reitwege benutze, war kaum zu befürchten, daß uns ein Fremder das Spiel verdürbe.

Um sieben Uhr tauchte eine elegante, tief verschleierte Dame auf und näherte sich vorsichtig der Wegkreuzung.

Als sie sich eben nach der Reitgerte bückte, sahen wir hinter ihr einen Strolch, der gerade einen dicken Baum als Deckung benutzte.

Harald preßte meinen Arm.

„Ein überraschendes Ergebnis: Tefföny!!“ flüsterte er.

Silvia Longa hatte ein Päckchen Banknoten auf den Reitweg geworfen und eilte mit der Reitpeitsche hastig davon.

Der Strolch folgte ihr nicht.

Nein, er blieb hinter dem Baum und wartete, bis die Filmdiva verschwunden.

Dann erst schlenderte er gemächlich davon.

Wir beide trennten uns. Wir nahmen den Stromer in die Mitte. Er war sehr mißtrauisch und drehte sich immer wieder um. Die Nebenwege, die wir benutzen, beachtete er nicht.

So blieben wir denn auf einer Höhe mit ihm bis zur Siegesallee.

Und gegen halb neun wußten wir, wo er wohnte, in der Invalidenstraße in einem Hotel dritten Ranges.

Ihn jetzt schon verhaften zu lassen, wäre grundverkehrt gewesen. Daß es Tefföny war, hatte uns sein charakteristischer Gang bewiesen: stark einwärts! – Daß er die Juwelen irgendwo versteckt und nicht im Hotel bei sich hatte, war so gut wie selbstverständlich. Man mußte sie ihm also anderswie abnehmen. Und – das geschah auch dank Haralds Trick. –

Am Abend brachten die Zeitungen die Nachricht, daß der amerikanische Kriegsfabrikant und Milliardär Mr. Toffler im Esplanade nebst Privatsekretär vorgestern abgestiegen und jetzt mit Harald Harst wegen Ankaufs der Brillantschnur in Unterhandlungen getreten sei, auf die ihn die Notizen über den Dortschakoff-Diebstahl aufmerksam gemacht hätten. –

Nun sollte sich zeigen, ob Harald den Gauner Tefföny richtig eingeschätzt hatte.

Bisher waren ja Harsts Tricks über Erwarten geglückt.

Am nächsten Vormittag rief uns gegen zehn Uhr Mr. Toffler (also der Kriminalbeamte) aus dem Esplanade an und meldete, daß ein Holländer namens van Dreegen ihm telephonisch soeben kostbare Edelsteine angeboten habe und daß er diesen van Dreegen, der strengste Diskretion verlangte, zu ein Uhr in den Teeraum des Hotels bestellt habe.

Um ein Uhr saßen wir beide in tadellosen Masken gleichfalls im Teeraum. Kurz nach eins erschien ein sehr dicker, blondbärtiger Herr, der stark einwärts ging: Tefföny als Holländer, der die gestohlenen Juwelen dem zahlungsfähigen Toffler andrehen wollte, was insofern eine Frechheit war, als er doch wußte, daß auch Harst (angeblich) mit Toffler wegen der Brillantschnur verhandele.

Fünf Minuten nach Tefföny kam Toffler nebst Privatsekretär.

Dreegen-Tefföny spielte seine Rolle vorzüglich.

Er vereinbarte mit Toffler, daß dieser abends die Juwelen besichtigen solle und zwar in Dreegens Hotelzimmer im Savoy-Hotel.

Als der dicke Holländer das Esplanade verließ, blieben wir hinter ihm.

Und – nun erfolgte der tragische Abschluß dieser Gaunerkomödie …

Erfolgte an einem Orte, der uns nicht ganz fremd war …

 

5. Kapitel.

Tefföny holt die Beute.

Dieser Ort war der Tegeler Wald unweit des verwahrlosten Hauses … –

Tefföny fuhr mit der Straßenbahn nach Tegel.

Wir beide desgleichen.

Aber noch jemand saß im Anhängewagen: eine verschleierte Dame – – mit einer Reitgerte!

Die Dame hatte bereits vor dem Esplanade gestanden, gedeckt durch ein Auto, und hatte den dicken Holländer erwartet.

Also – – Silvia Longa!! Und – Harald hatte auch darin recht gehabt: Silvia mußte den hochstaplerischen Pseudo-Grafen jetzt wie die Sünde hassen! –

Wir vier bewegten uns dann, Tefföny voran, als zweite die Verschleierte, am weitesten zurück Harald und ich, dem Walde zu.

Wir beide hielten uns bald mehr seitwärts, um nicht aufzufallen.

Schließlich aber, als der Forst uns aufnahm, rückten wir doch näher auf.

Tefföny war wieder äußerst mißtrauisch. Doch das half ihm nichts. Die Verschleierte war schlau. Wir nicht minder.

Als der Dicke dann (der Bauch war nicht weniger unecht als der blonde Vollbart) endlich in einem schluchtartigen buschreichen Tale halt machte und hier nun rasch aus der Erde ein Paket ausgrub, war Silvia lautlos herangekommen.

Sie blieb zwei Schritt hinter Tefföny stehen.

Und als dieser sich nun wieder aufrichtete, das Paket in der linken Hand, lachte die Longa schneidend auf.

Tefföny fuhr herum.

„Ah – Herr Graf sind verwirrt!“ höhnte die Filmdiva. „Ich denke, Herr Graf kennen mich!“

Sie schlug den Schleier hoch.

„Was soll das?!“ meinte der Gauner eisig. „Was willst Du hier, Silvia?! Wir beide sind miteinander fertig!“

„So?! Was Du nicht sagst, teurer Niclas! Vielleicht ist Dein Gedächtnis etwas kurz für all die Schurkereien, in die Du mich verwickelt hast. – Du warst es, der sich mir näherte, nur um Deine Pläne zu fördern, die lediglich den Dortschakoff-Juwelen galten. Du hast mich dazu angetrieben, Dolja die Übernahme der Rolle in dem Film unmöglich zu machen. Du hast nicht nur mich getäuscht, sondern auch den armen Hektor Alken, der von den Turkmenen ermordet wurde. Da stahlst diesen dann die Juwelen, und ich stahl sie Dir – aus Rache, weil ein Betrüger wie Du es gewagt hat, mich zu umgarnen, mich vor aller Welt bloßzustellen!“

Und ehe Tefföny sich’s versah, hatte sie ihm mit der Reitpeitsche zweimal über das Gesicht geschlagen.

Wir hörten die Hiebe klatschen. Wir hörten des Hochstaplers schrillen Wutschrei, sahen, daß er auf Silvia Longa eindrang.

Aber die Filmdiva war auf einen solchen Angriff vorbereitet.

Sie hatte einen kleinen Damenrevolver bei sich gehabt, und die drohend erhobene Waffe scheuchte Tefföny zurück.

Die Diva lachte.

„Feigling! – Wirf mir jetzt das Paket zu, oder – ich schieße Dich wie einen tollen Hund nieder! – Nein – behalte es,“ verbesserte sie sich. „Geh’ mir voran durch den Wald dem Hause zu, in dem meine arme kleine Dolja jetzt als Waise lebt. Ich will gutmachen, was ich ihr angetan. – Du weißt, Silvia Longa schießt nicht vorbei! Gehorche!“

Harald hielt es jetzt doch für angebracht, sich zu zeigen.

Tefföny sah uns hinter den Büschen hervortreten. Sein Zusammenzucken machte die Diva aufmerksam. Sie wandte den Kopf.

Und den Moment benützte Tefföny: er stürmte davon!

Doch – die Revolverkugel der Longa war schneller.

Mit einem Aufschrei fiel der Hochstapler vornüber. Das Geschoß war ihm durch das linke Knie gegangen.

Eine halbe Stunde drauf konnte Silvia Longa der Prinzessin die Juwelen wieder aushändigen.

In unserer Gegenwart versöhnten die beiden jungen Damen sich unter vielen Tränen. –

Ich habe über die Dortschakoff-Juwelen nicht mehr viel zu sagen.

Tefföny entpuppte sich tatsächlich als vielgesuchter internationaler Gauner, dessen Sündenregister so lang war, daß er hätte hundert Jahre alt werden müssen, um all die Strafen abzusitzen.

Die Prinzessin Dolja lebt jetzt drüben in Amerika unter dem Schutze des Sternenbanners, und mit ihr zog über den Ozean Silvia Longa, die Reumütige, deren gutem Ruf die Geheimnisse des Zimmers ohne Fenster doch zu sehr geschadet hatten, als daß sie hätte in Deutschland bleiben können. –

Mir wurde damals der Abschied von Dolja Dortschakoff sehr schwer. Wenn ich zehn Jahre jünger gewesen wäre und wenn die Prinzessin Wert darauf gelegt hätte, die Gattin des berühmten Max Schraut zu werden, dann …

Aber leider – sie legte gar keinen Wert darauf.

Und daher lege ich jetzt die Feder weg – bis zum nächsten Abenteuer:

 

Das Paket im Urbanhafen.

 

 

Verlagswerbung:

Wir weisen alle Freunde der Harald Harst-Abenteuer darauf hin, daß aus Anlaß der Herausgabe des 100sten Harstbandes

Unser 100stes Abenteuer“

ein Roman mit Harst und Schraut als Hauptpersonen in unserem Verlage mit dem Titel

Der Klub der Toten

erscheint.

 

 

Kabels Kriminalbücher. Band 9:

Der Krokodillederkoffer

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 10:

Treff-Aß

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Kabels Kriminalbücher. Band 11:

Der Wilddieb

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 12:

Die leere Villa

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

 

Gelbsternbücher

Band
 

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16:
 

Die Lahore-Vase
Kriminalroman von W. Kabel

Der hüpfende Teufel
Kriminalroman von W. Kabel

Der Tempel der Liebe
Kriminalroman von W. Kabel

Das Haus am Mühlengraben
Kriminalroman von W. Kabel

Der Mutter Name
Familienroman von O. Elster

Komm an mein Herz
Liebesroman v. G. v. Hohenfels

Eine Geldheirat
Liebesroman von Hans Reis

Die Brettldiva
Liebesroman von R. Ortmann

Rittergut Tressin
Liebesroman v. Robert Misch

Ich liebe Dich
Liebesroman v. Guido Kreutzer

Das Gift des Vergessens
Kriminalroman von W. Kabel

Im Schatten der Schuld
Kriminalroman von W. v. Neuhof

Um Leben und Tod
Australischer Roman v. J. E. Harrison

Der Universal-Erbe
Kriminalroman von W. Kabel

Die Stimme des Blutes
Kriminalroman von W. Kabel

Das Haus des Hasses
Kriminalroman von W. Kabel

Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie v. Verlag

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Merv“.
  2. In der Vorlage steht: „Vor-Garten“.