Sie sind hier

Das Paket im Urbanhafen

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 105:

 

Das Paket im Urbanhafen.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Barmaid Zelestine.

„Eine scheußliche Nacht!“ sagte Harst zu mir, als wir gegen elf Uhr abends am 23. November die Gitschiner Straße im Süden Berlins unter der Hochbahnstrecke entlangwanderten.

Er klappte dabei den Ulsterkragen empor und warf den Rest seiner Zigarette im Bogen auf den regenfeuchten Fahrdamm.

Der Herbststurm fegte in unregelmäßigen Stößen über das Häusermeer der Reichshauptstadt dahin. Hochbahnzüge donnerten über unseren Köpfen wie unsichtbare Poltergeister hinweg und warfen flüchtigen Lichtschein auf die Fronten der düsteren Gebäude, zwischen denen auch die wenigen Fußgänger an diesem unfreundlichen Abend dem behaglichen Heim zutrieben[1].

Es war so recht eine Nacht, in der niemand einen Hund ins Freie jagt. Und wir beide waren nun bereits drei Viertelstunden unterwegs, – scheinbar zwecklos – – scheinbar!

Wir hatten bis gegen halb zehn in der Krokodil-Bar in der Augsburger Straße gesessen. Wir hatten, in der Verkleidung blondbärtiger Ausländer, viel Geld springen lassen und der schönen Barmaid in harmloser Weise den Hof gemacht.

Bis diese blonde, schlanke, üppige Zelestine Drepp plötzlich erklärte, sie habe von zehn Uhr ab vom „Chef“ Urlaub erhalten.

Da hatte sie sich flüchtig von uns verabschiedet.

Und – da hatten wir dem „Krokodil“ schleunigst Lebewohl gesagt und waren draußen auf und ab geschleudert.

Und – da hatte sich in meinem Hirn jener Gedankenvorgang vollzogen, den jeder biedere Kriminalschriftsteller mit „Kombinieren“ bezeichnet.

Also: ich hatte kombiniert, und zwar folgendes: Dieser Besuch der Krokodil-Bar ist entgegen Harsts harmlosem Getue kein zufälliger. Harst hat Arbeit bekommen, von der ich nichts weiß, – unsere Arbeit! Und Zelestine Drepp ist die, der wir nun folgen werden! Zelestine hat mithin etwas auf dem Kerbholz! –

So reimte ich mir allerlei zusammen. Natürlich fragte ich Harst, ob der Reim stimme. Er schwieg. Das tat er ja meist, wenn meine Fragen ihm unbequem sind. –

Ich hatte also jetzt nicht den geringsten Grund, meines Freundes Bemerkung über das S…wetter irgendwie etwas hinzuzufügen. Ich schwieg ebenfalls. Und zehn Schritt vor uns eilte die blonde Zelestine mit trippelnden Füßchen dahin, in der Linken ein ziemlich großes Paket, das in braunes Packpapier eingehüllt war. Dieses Paket hatte sie, nachdem sie die Bar verlassen, aus einem Hause der Französischen Straße geholt. Bis zu diesem Hause war sie mit der Untergrundbahn gefahren – wenigstens bis zur Station Kaiserhof. Und wir auch.

„Sie wird es ins Wasser werfen,“ meinte Harald abermals nach einer Weile. „Nämlich das Paket, mein Alter. Es ist ein großer Pappkarton. Er ist nicht leicht. Das Tragen wird ihr sauer. Sie nimmt es bald in die eine, bald in die andere Hand. Vielleicht ist … ein Kind darin, ein Säugling.“

Ich hatte ja eigentlich weiter den Kratzbürstigen, Beleidigten spielen wollen. Aber diese Bemerkung blies die Mißstimmung im Moment hinweg.

„Ein Säugling?!“ sagte ich rasch. „Ist das Dein Ernst?“

„Mein voller Ernst.“

„Wie kommst Du auf den Gedanken?! Säuglinge werden nur in Hintertreppenromanen ins Wasser geschmissen und dann gerettet – natürlich am Anfang des nächsten Heftes, – des besseren Absatzes wegen.“

„Ist es denn wirklich so schwer, eine Reihe von Tatsachen richtig einzuschätzen?!“ erwiderte Harst kopfschüttelnd. „Zum Beispiel die eine Tatsache, daß Zelestine Drepp sich gehütet hat, mit dem Paket eine Fahrgelegenheit zu benutzen, ist doch recht vielsagend. Anstatt Straßenbahn oder Untergrundbahn in Anspruch zu nehmen, schleppt sie zu Fuß den schweren Karton die Friedrichstraße hinab, am Halleschen Tor vorbei – bis hierher und wer weiß wohin noch! Weshalb meidet sie die Verkehrsmittel?! Doch nur deshalb, um mit dem Paket nicht aufzufallen. Und auffallen könnte sie, wenn das Kind in dem Karton plötzlich zu schreien oder zu weinen beginnen würde …“

„Hm – nicht so von der Hand zu weisen, diese Annahme,“ nickte ich.

Da war die schicke Bardame bereits in die Prinzenstraße eingebogen.

„Aha, Richtung Urbanhafen!!“ meinte Harald mit Betonung.

Wir schwenkten gleichfalls in die Prinzenstraße ab.

Hier packte der Sturm uns gerade von vorn. Hier schützte uns nicht der Bau der Hochbahn gegen den böigen Regen.

Wie ein Schatten nur war Zelestine vor uns zu erkennen. Sie hatte Mühe, vorwärtszukommen. Sie schob sich weiter, indem sie den Oberkörper vorbog und ruckartig gegen den Sturm ankämpfte.

Dann – es war dicht vor der Bärwaldbrücke – sauste ein Radler an uns vorüber, erreichte das blonde Weib unweit einer Laterne und schien Zelestine, neben ihr einen Augenblick haltend, etwas zuzuflüstern, worauf er in den Regenvorhängen verschwand.

Eine zu unserem Pech plötzlich herabprasselnde Regenflut entzog uns Zelestine für eine halbe Minute. Und diese kurze Zeitspanne hatte ihr genügt, sich vollkommen unsichtbar zu machen.

Harst war sehr verstimmt, als wir schließlich das Suchen aufgeben mußten. Wir hatten uns getrennt, hatten jeder für sich im Laufschritt die nächsten Straßen durchmessen. Das Mädchen blieb verschwunden.

„Ich behaupte, der Radler hat sie vor uns gewarnt,“ meinte Harald, als wir nun am Urbanhafen entlanggingen. „Bis dahin war sie in keiner Weise mißtrauisch, daß sie etwa verfolgt werden könnte. Mithin hat der Radler uns als Verfolger erkannt. Ich will nicht sagen, daß er weiß, wir seien gerade Harst und Schraut. Nein, – das nicht! Immerhin: wir sind die Blamierten!“

Er blieb plötzlich stehen, packte die obere Stange des Eisengeländers der Kaimauer und beugte sich vor …

„Hörtest Du …?!“ flüsterte er. „Das war ein Schrei.“

„Ja – ein Weib schrie!“ rief ich. „Dort drüben …! Laufen wir hin! – Ah – – auch zwei Schüsse …“

„Halt! Halt!“ Und er packte mich am Ärmel. „Da – ein neuer Schrei …! – Die Windstöße täuschen über die Richtung, woher der Schall kommt. Ich glaube, es war …“

Und da – – kam’s …

Kein Regen! Keine Sintflut! Nein – da war’s, als ob der Himmel Riesenfässer umstülpte …

Da ging jedes Geräusch im Prasseln der Wassermassen unter …

Da zog Harst mich im Galopp dem verschwommenen Lichtschein zu, der aus dem Fenster einer fahrbaren Bude von Gasarbeitern durch die Finsternis schimmerte.

Und er riß die Tür auf …

Ein Mann, triefend wie wir, stand mitten in der Bretterhütte.

Ein Arbeiter offenbar …

Er starrte uns an …

„Sie gestatten,“ meinte Harald kühl. „Sie gestatten, daß wir hier warten …“

Und er zog die Tür rasch zu.

Ich sah, daß der Lichtschein, der uns hierher gelockt hatte, aus der Karbidlaterne eines Zweirades stammte.

Und im selben Moment dachte ich an den Radler, der Zelestine vor uns gewarnt zu haben schien.

Der Mann hatte einen grauen, ungepflegten Vollbart und trug eine einfache Nickelbrille auf der rotblauen Säufernase. Er wirkte alles in allem wenig sympathisch, zumal er uns mit unfreundlichen Blicken musterte.

Dann fügte Harald schon hinzu:

„Ihre Maske, Herr Direktor, ist mäßig. Sie hätten …“

Der Mann prallte zurück.

„Wer sind Sie?!“ fuhr er auf. „Direktor?! Ick’n Direktor!! Det is’n feiner Witz!“

Harald nahm den Hut ab und schüttelte das Wasser auf den Boden.

„Weshalb leugnen Sie, Direktor Dr. Gußfelder zu sein?!“ sagte er achselzuckend. „Sie haben mir doch gestern anonym den Brief und das Geld zugeschickt. Ich sollte Zelestine Drepp beobachten. Ich bin also Harald Harst.“

Da geschah etwas recht Merkwürdiges …

Der Mann hatte mit einem Faustschlag die Laterne ausgelöscht, hatte mit einem Sprung und zwei weiteren Faustschlägen den Weg zur Tür gewonnen und war in der Nacht verschwunden, bevor wir noch recht zur Besinnung kamen.

Harst zündete die Laterne wieder an.

„Es war Direktor Dr. Gußfelder,“ sagte er gelassen. „Wir werden der Sache sofort auf den Grund gehen. – Das Rad ist ganz neu. Gußfelder hat …“

Er verstummte.

Der schwere Holzladen des Fensters der fahrbaren Baubude war plötzlich von außen zugeschlagen worden …

Und gleichzeitig war auch die Tür ins Schloß geflogen, und rasch wurde der Schlüssel umgedreht – zu rasch, als daß ich hätte hindernd eingreifen können.

Dann begann der plumpe Karren auch schon zu rollen. Er rollte immer schneller …

Und Harst riß die Clement heraus …

Harst … schoß …

Feuerte die Nickelmantelgeschosse bald hierhin, bald dorthin – durch die Holzwände hindurch …

Bis … die Bude nach vorn überkippte und mit dumpfen Krach … auf die Wasseroberfläche des Urbanhafens aufschlug …

 

2. Kapitel.

Das Auto im Fenster.

„Ein ganz netter Anfang,“ lachte Harst in der Ecke des Autos, das uns eine Viertelstunde später nach dem Vorort Friedenau brachte.

Er rauchte behaglich dazu.

„Ein Anfang, der den Vorzug hat, uns über verschiedenes aufzuklären,“ sprach er sorglos weiter – so sorglos, als ob wir soeben ein kindliches Abenteuer erlebt hätten.

Und – waren doch nahe daran gewesen, wie gefangene Ratten ersäuft zu werden …

Verdankten unsere Rettung nur dem Umstande, daß die Bretterbude mit der Dachkante sich am Rande eines großen Kranes[2] verfangen hatte, der am Ufer vertäut gewesen.

So hatten wir der Mausefalle mit Hilfe der in der Bude gefundenen Werkzeuge entschlüpfen können, hatten den Laden des Fensters zertrümmert und waren unbeschädigt entschlüpft.

Jetzt ging’s nach der Bismarckstraße in Friedenau – zu Direktor Dr. Gußfelder.

Und Harst fügte dem letzten Satze hinzu:

„Du warst gestern im Gemüsegarten, als der Briefträger den eingeschriebenen Brief brachte. Es war ein Brief, mit Maschine getippt – ohne Unterschrift – mit hoher Geldeinlage …“

„Ja – und heute im Krokodil fragtest Du die Kollegin Zelestinens, wer Zelestine jetzt zu erobern suche. Und diese Kollegin erklärte mit neidvollem Hohn: „Oh – ein sehr reicher und sehr feiner Herr ist’s! Ein Direktor!! Ja – ein Direktor Dr. Gußfelder!“ – Jetzt aber soll dieser selbe Gußfelder die blonde Zelestine vor uns gewarnt haben!! Nein, lieber Harald, das ist doch etwas sehr widerspruchsvoll! Sehr!!“

„Nur scheinbar, Alterchen, – nur scheinbar!“ Er blies den Zigarettenrauch stoßweise von sich. „Weit wichtiger – ja, weit wichtiger – ist’s, daß Gußfelder …“ Er unterbrach sich. „Nein, ich will doch lieber damit warten, bis wir bei ihm sind. Es gibt da in der Bismarckstraße in Friedenau eine kleine Villa in einem mäßig großen Garten. Dort wohnt dieser Gußfelder, der erst vor sechs Monaten hier in Berlin aufgetaucht ist, angeblich aus Australien kommend, wo er als Digger, als Goldwäscher, in der Wildnis reich geworden sein soll …“

Ich horchte auf. – Das wurde interessant.

„Du merkst, mein Alter,“ fuhr Harald fort, „– dieser Gußfelder ist eine stark mysteriöse Persönlichkeit.“ – Er setzte eine frische Zigarette in Brand.

„Wenn der Brief anonym war, wie bekamst Du heraus, daß Gußfelder der Absender war?“ fragte ich gespannt.

„Auf die einfachste Weise von der Welt: ich erklärte Dir, ich müßte auf das Steueramt gehen, ging aber in die Krokodil-Bar und … sah Gußfelder mit Zelestine Drepp flirten.“

„Hm – das verstehe ich nicht ganz … Wie konntest Du lediglich aus diesem Flirt …“

„Laß mich ausreden … – Ich belauschte die beiden hinter meiner Zeitung hervor. Ich war nicht Harst, sondern ein schwarzbärtiger Balkanese …“

„Ah – und all das hast Du mir verheimlicht!“

„Ja – und so hörte ich, wie Gußfelder der Zelestine zuflüsterte, daß er sehr neugierig sei, was „der H.“ auf den Brief mit der Millioneneinlage hin tun würde. Dem Schreiben lagen nämlich zwanzig Millionen bei.“ (Das war damals eine Menge Geld!)

„Und dann,“ munterte ich ihn zum Weitersprechen auf.

„Dann – geschah nichts mehr. Das Geschehene genügte ja auch. Gußfelder und Zelestine duzen sich und waren sehr vertraut – aber nicht wie …“

Er konnte den Satz nicht beenden. Das Auto hielt mit scharfem Ruck, und im selben Moment hörten wir draußen ein Krachen und Splittern, lautes Angstgeschrei und ein paar schußartige Detonationen.

Wir hatten nicht auf die Straßen geachtet, die der Kraftwagen passierte. Wir wußten nicht, wo wir uns befanden. Der Regen und die eisige Luft hatten die Fensterscheiben mit grauem Hauch und Tropfengebilden überzogen.

Harald drückte mich – seltsamerweise! – auf den Sitz zurück, als ich aufstehen und die Tür öffnen wollte.

„Laß das!“ meinte er dann, und in seiner Stimme war eine gewisse Unruhe, die auch mich rasch ergriff, da er noch hinzufügte:

„Ich denke, wir sind hier in der Nähe des Schöneberger Stadtparkes. – Warten wir ab. Es kann sich um einen neuen Anschlag auf uns handeln, inszeniert von demselben Abenteurer, der jetzt als Direktor der Herma-Werke in Berliner Industrie- und Börsenkreisen eine große Rolle spielt …“

Auch jetzt schien er noch mehr sagen zu wollen, ward jedoch durch den Chauffeur des Taxameterautos abgelenkt, der die Tür plötzlich aufriß und uns zurief:

„Meine Herren, ein furchtbares Unglück …! Ein Privatauto ist gerade vor uns infolge Defekts an der Steuerung über die Bordschwelle gegen eine Hauswand gerast und halb in ein Schaufenster hineingefahren …“

Jetzt war Harald im Nu draußen, wandte den Kopf zurück und befahl mir in seiner oft scheinbar so herrischen Art, im Auto zu bleiben. „Ich bin sofort wieder da,“ vernahm ich noch seine letzten vom Sturm halb verwehten Worte. Dann schlug er die Tür zu.

Ich sah noch, wie der Chauffeur ihm einen erstaunten Blick zugeworfen hatte. Und – der Mann war wohl mißtrauisch geworden, fürchtete, wir könnten zu jener Sorte Fahrgäste gehören, die sich vor dem Bezahlen zu drücken wissen. Er öffnete die Tür wieder. Die Straßenlaterne drüben warf einen schwachen Lichtschein auf mein Gesicht.

„Wo sind wir?“ fragte ich.

„Innsbrucker Straße[3] …“ meinte der Mann und zog den Kopf tiefer in den hochgeklappten Kragen seines Pelzes ein.

Ich beugte mich noch mehr vor. Undeutlich erkannte ich das Auto, das Haus und eine Anzahl Neugieriger.

„Der Chauffeur ist tot,“ sagte der Mann dumpfen Tones. „Und der Herr, der drinnen saß, hat sich an der zersplitterten Vorderscheibe den Hals durchschnitten. Er hängt noch in den Splittern … Ein scheußlicher Anblick …!“

Mit einem Male stand Harald wieder neben unserem Chauffeur.

„Weiter – Friedenau!“ meinte er kurz und stieg ein.

Er setzte sich neben mich. Das Auto ruckte an.

Und ich wartete – wartete umsonst darauf, daß er sich irgendwie über den Unfall äußern würde. Schließlich erklärte ich etwas zögernd:

„Der Fahrer soll tot sein …“

„Störe mich nicht …!“

Es war dunkel im Wagen. Ich hörte aus diesen so zerstreut klingenden Worten heraus, daß irgend etwas Harsts rührigen Geist ganz gefangen hielt – irgend etwas, das mit diesem Unfall zusammenhing …

Und dann – völlig unvermittelt:

„Ein … Juwelierladen ist’s … Das Schutzgitter ist losgesprengt worden … Im Schaufenster lag jedoch nur billiger Tand. Das Wertvollste wird der Juwelier abends bei Geschäftsschluß weggeräumt haben.“

Ich horchte auf. – Juwelierladen …!! Das sah ja ganz so aus, als ob dieser Unfall …

Abermals meinte Harald da: „Das war kein Unfall. Das war vielleicht der frechste Gaunerstreich, der je versucht wurde, denn – er ist geglückt. Der Tresor im Hintergrunde des Ladens ist aufgesprengt worden. Die Tür stand weit offen. Es ist ein älteres Panzerspind. Ich war im Laden. Ein Schupobeamter hatte sich ebenfalls schon eingefunden. Ich flüsterte ihm zu, wer ich sei, und daß er den Kriminalkommissar zu uns schicken solle, der den Fall untersuchen würde. Übrigens – das Auto ist ein sehr eleganter Wagen, und der Tote im Innern, der sich mit dem Halse auf den Glasspitzen aufgespießt hat, ist der Eigentümer, ist kein anderer als …“

… Eine Pause …

„Direktor Doktor Gußfelder?“

„Nein, mein Alter. Der nicht! Aber sein Kollege ist’s, sein Vorgesetzter sozusagen: der Generaldirektor der Herma-Werke Doktor Manuel Malesto …!“

„Malesto?!“

„Ja, der berühmte Malesto, der „kleine Stinnes“, wie man ihn nennt.“

Da hielt unser Wagen schon …

Hielt gegenüber der Villa an der anderen Straßenseite, weil vor der Villa einige zwanzig Privatautos aufgereiht standen.

Die Fenster des zierlichen Gebäudes erstrahlten sämtlich in hellstem Lichte …

„Ah – Gesellschaft bei Gußfelder!“ meinte Harald enttäuscht, als er neben mir der Gartenpforte zuschritt. „Das ist merkwürdig – sehr merkwürdig!“ Er sprach immer langsamer und ging trotzdem immer schneller.

An der Pforte trafen wir einen Lohndiener, der gerade ein Ehepaar, mit einem Riesenschirm bewaffnet, bis an ihren Kraftwagen geleitet hatte.

Von ihm hörten wir, daß der Herr Direktor Doktor Gußfelder heute abend zu Ehren der amerikanischen Abordnung von Industriellen ein Souper gegeben und daher das Haus seit acht Uhr nicht verlassen habe …

Wir kehrten um.

„Chauffeur – Blücherstraße zwei!“ befahl Harald.

So fuhren wir heim, stiegen vor Nummer zwei aus, zahlten und gingen bis Nummer zehn zu Fuß …

Denn Blücherstraße zehn, Schmargendorf – –, der Leser weiß, wer dort wohnt im alten behaglichen Familienhause: Harald Harst!

 

3. Kapitel.

Das Paket und der Inhalt.

Vor Nummer zehn schritt ein junger Mensch auf und ab …

Ein bescheiden gekleideter Jüngling – mit einem halb aufgeweichten großen Paket in der Hand.

Und – das Paket, um dies gleich zu sagen, war dasselbe, das Zelestine Drepp aus dem Hause Französische Straße Nr. 218 geholt hatte. –

Als wir die Vorgartentür öffneten, kam der junge Mensch rasch auf uns zu.

„Herr Harst vielleicht?“ fragte er bescheiden.

„Ja – Harald Harst. – Bitte, treten Sie näher. Sie haben uns erwartet, haben wahrscheinlich meine Köchin herausgeklingelt und von ihr den Bescheid erhalten, daß wir nicht daheim seien.“ –

Haralds Arbeitszimmer empfing uns mit Wärme und strahlender Helle.

„Ich heiße Karl Hock,“ sagte der blasse, nasse Jüngling verlegen, nachdem er sein Paket vorsichtig auf den Fußboden gestellt hatte. „Student der Rechte Karl Hock,“ fügte er etwas selbstbewußter hinzu.

„Bitte – nehmen Sie Platz, Herr Studiosus,“ meinte Harald mit jener gewinnenden Liebenswürdigkeit, der niemand widerstehen kann – selbst der größte Grobian nicht. „Mein Kamerad Schraut wird die Teemaschine versorgen, und ich werde etwas Eßbares herbeischaffen,“ fuhr Harst fort und stand schon vor dem Likörschränkchen. „Zunächst stärken Sie sich mal durch einen Kognak … – So, – wohl bekomm’s …“

Karl Hock strahlte. Er schien zu jener bedauernswerten Gattung neuzeitlicher Studenten zu gehören, die sich die Mittel zum Studium selbst verdienen müssen.

Noch nie habe ich einen jungen Menschen dann mit solchem Heißhunger den kalten Speisen zusprechen sehen, die Harald überreichlich aus der Küche geholt hatte, wie unseren Freund Karl Hock. – Ich sage Freund: denn das wurde er uns tatsächlich.

Harst ließ ihn zuerst ruhig zulangen, fragte nichts über das Paket, aus dem zuweilen leise Geräusche hörbar wurden.

Plötzlich meinte er dann: „Ist der Hund etwa naß geworden? Ich glaube, das Tierchen zittert.“

Hock blickte überrascht auf. „Sie wissen also, daß ein Hund in dem Karton …“

„Ja,“ unterbrach Harald ihn. „Es muß ein Hündchen sein. Als ich vorhin das Teebrett mit den Speisen brachte, winselte das Tier ganz leise, wahrscheinlich, weil es die kalte Bratkarbonade witterte. – Na, nun erzählen Sie mal, Herr Hock. Sie waren also gerade am Südbollwerk des Urbanhafens, als die Dame das Paket ins Wasser schleuderte, und da Sie sich dann der Dame näherten …“

„… verscheuchte sie mich durch zwei Schüsse!“ rief der junge Mensch in jäher Erregung.

„Sie haben die Frau wohl festhalten wollen?“

„Ja … Ich … ich kenne sie nämlich – – von Ansehen.“ Er wurde verlegen. „Es war eine … eine Bardame namens Zelestine Drepp …“

„So … so! – Hm – Sollten Sie der Drepp vielleicht genau wie wir gefolgt sein, Herr Hock?“

„Ja …“

„Sie … verehren sie wohl so ein wenig …“

Hock schüttelte den Kopf. „Nein! Nein!!“ Das klang fast feindselig. „Ich … ich hasse dieses Weib!“

„Ah – hassen! Und weshalb?“

„Weil mein Freund Tomför, ein Schwede, sich ihretwegen erschossen hat.“

Harald lehnte sich ganz weit in den Klubsessel zurück und schaute den Studenten versonnen an, murmelte darauf: „Tomför – Tomför …! Ah, jetzt erinnere ich mich. Wohnte er nicht in der Französischen Straße? Der Selbstmord liegt erst eine Woche zurück. – Sollte das Hündchen dort in dem Karton …“

Er war rasch aufgesprungen. „Über unserem Gespräch vergessen wir das arme Tier,“ fügte er hinzu. „Ich werde es herauslassen. Es ist also nicht naß geworden?“

„Nur wenig, Herr Harst. Ich habe es in meinen Schal eingehüllt.“

Dann kam aus dem aufgeweichten Pappkarton ein allerliebster kleiner Rehpinscher[4] mit großen, runden, klugen Äuglein zum Vorschein, schüttelte rasch die wärmende Schalbandage ab und war mit einem Satz auf Karl Hocks Schoß.

Hock lachte fröhlich. „Mucki liebt mich!“ Er gab ihm einen Karbonadenknochen, mit dem Mucki denn auch sofort unter dem Sofa verschwand.

„Also war Mucki Ihres Freundes Tomför Eigentum?“ fragte Harald, wieder Platz nehmend.

„So ist’s, Herr Harst. Ich habe Mucki geerbt, muß ihn aber vorläufig bei Sigurd Tomförs Wirtin lassen, da ich zu arm bin, die Steuer zu tragen. Ein Direktor Gußfelder möchte ihn gern kaufen, doch – das gibt es nicht.“

Harald hielt unserem Gast jetzt die Zigarrenkiste hin. „Da – bedienen Sie sich. – So, – und was geschah, nachdem Zelestine Ihnen am Urbanhafen entwischt war?“

„Ich kletterte in das Beiboot eines Obstkahns und holte das Paket glücklich heraus, Herr Harst. Dann eilte ich nach der Französischen Straße zu Frau Winnig. Sie sagte mir, daß Zelestine, die ja Tomför häufiger besucht hat – in allen Ehren, von ihr in meinem Auftrag Mucki sich habe aushändigen lassen …“

Harald blickte den Studenten wieder starr an.

„Einen Augenblick, Herr Hock … Ich muß das Gehörte erst geistig verarbeiten …“

Und er schloß die Augen und rauchte so seine Mirakulum zu Ende.

Meinte darauf, sich vorbeugend und Hock wieder seltsam durchdringend und doch wie geistesabwesend musternd:

„War Tomför reich?“

„Sehr reich, Herr Harst … Aber er durfte mir nie Geld leihen, nie! Dazu bin ich zu stolz. Ich arbeite bis fünf nachmittags auf der Germania-Bank in der Französischen Straße, und dann besuche ich bis sieben Uhr noch zwei Kollegs … – Tomför hatte mich zum Erben dessen eingesetzt, was sein …“

„Halt – er hatte ein Testament gemacht? Weshalb das? In so jungen Jahren pflegt man an derlei nicht zu denken.“

„Oh – Sigurd ahnte seinen Tod voraus.“ Hocks Stimme klang weich und schmerzerfüllt. Dieser Studiosus, dieser Lebenskämpfer von kaum zwanzig Jahren, war infolge Not und Entbehrungen allen seelischen Stimmungen nur zu leicht unterworfen. „Alle Schweden sind so eigentümlich abergläubisch und … hellsehend, Herr Harst. Als Sigurd festgestellt hatte, daß Zelestine ihn … betrog, da sagte er zu mir, und das war zwei Tage vor seinem Tode: „Ich werde bald sterben, Freund Karl. Sehr bald sogar; Du[5] sollst das erben, was mein persönliches Eigentum ist. Ich habe alles bereits schriftlich niedergelegt, und meine Eltern werden meine letzten Wünsche erfüllen.“ – Näher ließ er sich über diese Todesahnungen nicht aus. Er hat sich dann nachts erschossen, wie Sie aus den Zeitungen wissen dürften, Herr Harst.“

Harald langte nach einer neuen Mirakulum.

„Ja – ich besinne mich. Ein Verbrechen ist ausgeschlossen. Es war Selbstmord. Aber – wo ist denn Tomförs Testament geblieben?“

„Verschwunden.“

„Hm – besaß er Wertsachen?“

„Und ob!!“ Der Ausruf war so recht jünglingshaft. „Er liebte Edelsteine und …“

„Sind die auch verschwunden?“

„Nein, nein. Sigurds Eltern haben seine Ringe und alles andere mit nach Stockholm genommen – genau wie die Leiche ihres Sohnes. Mir schenkten sie Mucki und … Geld. Aber das Geld wies ich zurück. Sigurds Eltern schienen von unserer Freundschaft nicht viel zu halten. Ich fürchte fast, daß sie annehmen, ich hätte Sigurd zu einem lockeren Lebenswandel verführt – gerade ich!!“ – Wie bitter der arme Kerl das hervorstieß!

„Hatte Tomför denn sehr wertvollen Schmuck?“

„Er … handelte mit Edelsteinen, so unter der Hand, Herr Harst. Sein Vater ist Juwelier.“

„Ah!! Juwelier!“ Harald blickte mich vielsagend an. Und sofort – ein langer Gedankensprung – dachte ich an das Auto des toten, aufgespießten Generaldirektors Manuel Malesto, an das Schaufenster des Juwelierladens in der Innsbrucker Straße und an den offenen Tresor …

Und ich dachte weiter, daß eine Überfülle von Ereignissen wie zusammenhanglose Kinobilder sich im Verlauf weniger Stunden sich vor uns abgerollt hatten – Kinobilder, Kinoszenen, denen die verbindenden Stücke fehlten, die keinen Sinn hatten …

Oder – hatten sie doch einen Sinn?! Schien es nur so, als ob jeder Zusammenhang ausgeschaltet war?!

Da hörte ich Harald aus der Tiefe des Sessels heraus wie zu sich selber flüstern:

„Das Paket – – das Paket im Urbanhafen …! Es ist fraglos der Schlüssel – – zum Ganzen!“

Ich wandte unwillkürlich den Kopf …

Sah Mucki unter dem Sofa hervorkommen – mit eingekniffenem Stummelschwänzchen – langsam, wehleidig …

Und mitten im Zimmer krümmte sich die kleine Hundegestalt zusammen …

Würgte … stöhnte … und erbrach sich …

Brach Knochensplitter aus, anderes noch …

Und in dem unappetitlichen Gemenge ließ das Licht des sechsarmigen Kronleuchters etwas aufblitzen …

Etwas …

Und – – das war … ein Edelstein, ein Brillant …

 

4. Kapitel.

Unter der Laterne.

Die Stille, die jetzt in Haralds Arbeitszimmer herrschte, verdiente mit recht die Bezeichnung „beredtes Schweigen“.

Es war ein Schweigen, in dem man die Gedanken der Anwesenden wie Geisterschwingen durch den Raum wehen spürte. Es war dazu etwas wie hochgradige elektrische Spannung in der Luft – noch nervenerregender infolge der Geräusche des Unwetters, die von draußen mannigfach hereindrangen.

Wir drei starrten nach der Stelle hin, wo der Brillant seine Farbenpfeile zuckend nach oben schickte …

Wir beachteten den kleinen Mucki nicht weiter, der es sich in der Kaminecke auf dem Bärenfell bequem gemacht hatte.

Bis dann der junge Student leise und zögernd sagte:

„Das – das ist doch sehr merkwürdig, Herr Harst!“

Er sagte es so, als ob er Harald aufmuntern wollte, sich irgendwie zu äußern.

Der hatte jedoch die Augen mit der Linken bedeckt und ließ die andere Hand, die lässig auf der Sessellehne ruhte, einen Halbkreis beschreiben, führte die Zigarette so zum Munde und blies den Rauch in ein paar tadellosen Ringen gegen die Decke.

„Es war doch ein Mord,“ sagte er dann mit halber Stimme.

Der Student, müde durch den Alkohol und den überreichen Speisengenuß, fuhr aus seiner bequemen Haltung hoch.

„Ein Mord?!“ rief er. „Unmöglich!! Die Kriminalpolizei hat ja den Tatbestand …“

„Die Polizei konnte die Wahrheit nicht ahnen, Herr Hock,“ fiel Harald ihm ins Wort. „Hat Zelestine Drepp jemals mit Sigurd Tomför hypnotische Experimente angestellt?“

„Nie – nie! Bestimmt nicht!“

„Sie ist eben vorsichtig …!“ – Und er begann Hock nun auszufragen – nach allerlei – nach scheinbar ganz Nebensächlichem.

Bis diese Art Verhör sich wieder den Ereignissen dieser Nacht zuwandte und Harald meinte: „Weshalb haben sie Zelestine heute vor der Bar erwartet? Weshalb hassen Sie sie?“

Der Studiosus ballte die Fäuste. „Oh – sie hat Sigurd in den Tod getrieben! Er kam darüber nicht hinweg, daß sie den Direktor Gußfelder ihm vorgezogen hatte. Ich wollte Zelestine das Verwerfliche ihres Treibens einmal offen ins Gesicht schleudern, wollte sie und diesen Gußfelder in dem Liebesnest draußen am Bahnhof Grunewald überraschen.“

Harald beugte sich vor.

„Liebesnest? Hat Gußfelder dort ein Absteigequartier?“

„Ja, Herr Harst. Und zwar ein recht romantisches. Es gibt dort am Bahnhof Grunewald mitten im Kiefernforst ein Blockhaus, das einst das Klubhaus eines Sportvereins war. Das Häuschen hat Gußfelder gekauft und möbliert.“

Harst erhob sich plötzlich. „Herr Hock, Sie können hier auf dem Diwan schlafen,“ sagte er kurz. „Schraut und ich wollen noch ein wenig ins Freie.“

Er winkte mir zu. „Vorwärts, mein Alter, ziehen wir die Ledermäntel an. Unsere Maske läßt sich rasch etwas verändern. Und dann verlassen wir durch den Gemüsegarten das Haus.“

Er war derweil zum Kamin gegangen, hatte die Kohlenschaufel genommen und die Beweise für Muckis schwachen Magen mit dem Feuerhaken auf die Schaufel geschoben, trug sie nun in die Küche und ließ im Ausguß durch den Wasserstrahl der Leitung vier große Edelsteine sauber herauswaschen, trocknete sie ab und zeigte sie Hock …

„Kennen Sie diese Steine?“

„Nein … – Ich glaube nicht, daß sie Sigurd gehört haben.“

„So, so … – Dann – gute Nacht und auf Wiedersehen. Sollten wir bis sieben Uhr früh nicht zurück sein, so rufen Sie die Kriminalpolizei, Kommissar Fritz Bechert, an und bitten Sie diesen, er möge doch sofort das Blockhaus durchsuchen lassen. – Nochmals – gute Nacht!“ –

Nasser Schnee wehte uns in ganzen Wolken ins Gesicht, als wir in den Hof hinaustraten. Es war kälter geworden. Der Schnee war im Gemüsegarten stellenweise zu spitzen Schanzen zusammengeweht. Dabei war es so dunkel, daß Harald seine Taschenlampe einschaltete, da wir sonst die Gartenpforte nicht gefunden hätten.

Und gerade dieser Umstand, daß der grelle Lichtkegel unseren Weg beleuchtete, ließ uns auf die noch ganz frische Fährte jemandes aufmerksam werden, der erst vor kurzem über den Zaun hier in den Garten eingedrungen war und ihn vielleicht erst bei unserem Nahen verlassen hatte.

Harald beleuchtete die Eindrücke im Schnee nur wenige Sekunden.

„Ein Weib, – – ohne Frage Zelestine Drepp!“ meinte er. „Wir fassen sie noch ab! Also – Laufschritt!“

Zwischen der Rückseite des Harstschen Gemüsegartens und dem weiteren Laubengelände zieht sich eine Art Feldweg hin, der nach Norden zu zwischen hohen Bretterzäunen in die Blücherstraße einmündet.

Die Spuren verliefen denn auch, teilweise verweht, in dieser Richtung.

Man sah es den Fährten an, daß die Frau gleich uns sich sehr beeilt hatte. Trotzdem holten wir sie sehr bald ein. Ich hatte mit Harald nicht gleichen Schritt halten können und kam nun gerade dazu, wie er unter einer Straßenlaterne im heftigsten Schneegestöber mit einer in einen langen Pelzmantel gehüllten Dame rang, die sich mit aller Kraft loszureißen suchte. Ihr dunkler Schleier war jetzt mit Schneeflocken so dicht bedeckt, daß man, zumal sie die Pelzkappe tief in die Augen gezogen hatte, von Ihren Gesichtszügen nichts wahrnehmen konnte. Aber auch sie selbst vermochte wohl kaum etwas hinter diesem weißbetupften Gesichtsschild hervor zu erkennen. Sie weinte in keuchenden Stößen vor zorniger Erregung und rief jetzt halblaut:

„Oh – geben Sie mich doch frei! Ich will Ihnen meinen Schmuck opfern! Geben Sie mich frei!!“

Harald, der ihre Handgelenke gepackt hatte, erwiderte höflich:

„Lassen Sie den Revolver fallen – – bitte!! Wir sind keine Wegelagerer.“

Da erst sah er, daß ich dicht neben ihm stand.

„Nimm der Frau die Waffe ab,“ befahl er kurz.

Nun hatte auch ich die kleine schwarze Mehrladepistole bemerkt. Es war eine solche und kein Revolver.

Die Waffe glitt mir in die Hand.

Die Frau seufzte tief auf, schlug mit den Fingern leicht gegen den verschneiten Schleier und stäubte ihn ab.

„Wer sind Sie?“ fragte sie zögernd.

„Weshalb waren Sie im Harstschen Garten?“ antwortete Harald nach kurzer Pause. „Ich hielt Sie zunächst für Zelestine Drepp …“

Ah – die Dame hatte leise aufgeschrien …

Und – nur deshalb, weil Harald diesen Namen genannt hatte …!

In einem solchen kurzen Aufschrei eines erregten Weibes liegt oft eine ganze Welt von Empfindungen. Hier hatte ich Haß, Wut, Verachtung und ein wenig Überraschung herauszuhören geglaubt.

Da rief die Dame bereits, indem sie wie beschwörend die rechte Hand hob:

„Sind Sie etwa Harald Harst?!“

„Und Sie, gnädiges Fräulein, können nur Thea von Perwart, die Braut Direktor Gußfelders, sein,“ meinte Harald, indem er kurz die weiche warme Sportmütze lüftete.

Heulende Sturmstöße umbrausten uns. Dicht wie Schneemassen, die von einem steilen Dache herabstieben, hüllten uns die eisigen Flocken ein.

Ich mußte die Augen einen Augenblick schließen, mußte mich dem Sturme entgegenstemmen, der orkanartig durch die Blücherstraße fegte.

Als ich die Augen wieder öffnete, standen – – drei Gestalten neben mir – – drei!

Der neue Ankömmling war ein schlanker Herr im Gehpelz mit hochgeschlagenem Kragen …

Er war offenbar wie ein Geist aus dem weißen Nichts soeben aufgetaucht, fragte nun, die etwas zurückweichende Dame scharf musternd:

„Die Herrschaften verzeihen … Ich suche hier das Haus Nr. 10 … Können Sie mir sagen, wo …“

Harald faßte leicht an den Mützenschirm und meinte:

„… wo des Detektivs Harst Grundstück liegt! – Sie können sich die Mühe sparen, Herr Direktor Gußfelder. Ich bin Harald Harst.“

Seltsam genug war all das so inmitten dieses nächtlichen Unwetters. Noch seltsamer jedoch war das plötzliche Verschwinden der Dame, die unmerklich immer mehr auf den Straßendamm zurückgetreten und dann in einer Schneewolke jäh untergetaucht war.

Gußfelder, dessen bartloses amerikanisches Gesicht durchaus sympathisch wirkte, rief jetzt:

„Herr Harst, wer war die Frau?!“

Argwohn klang in seiner Stimme mit. Er schien der Dame nacheilen zu wollen.

„Halt – bleiben Sie!“ erwiderte Harald rasch. „Es war eine Bekannte …“

Diese Erklärung mit ihrem nichtssagenden Doppelsinn genügte dem Direktor.

„Ich wollte zu Ihnen, Herr Harst,“ meinte er. „Ich hätte Ihnen gern mein Leid geklagt.“

„Zelestine Drepps und – – des anderen Mannes wegen,“ entgegnete Harald gleichmütig. „Sind Sie zu Fuß gekommen, Herr Direktor?“

„Nein. Mein Auto wartet an der Ecke der Ringbahnstraße.“

„Sehr gut … – Dann begleiten Sie uns bitte. Schraut und ich haben …“

Er schwieg, horchte …

Irgendwoher kam das Rattern eines Automotors – wurde leiser und leiser – verstummte …

Ich dachte sofort an Thea von Perwart. Auch sie schien ihr Auto in der Nähe gehabt zu haben. –

„Wohin, Herr Harst? Was haben Sie vor?“ fragte Gußfelder merklich unsicher.

„Dorthin, wo … Ihr Feind haust, dem Sie es zu verdanken haben, daß über Sie allerlei Gerüchte wenig angenehmer Art umgehen,“ meinte Harald. „Kommen Sie! Die Sache muß ein Ende haben – in Ihrem Interesse! Den Mann noch weiter zu schonen, wäre eine Dummheit.“

„Gut denn …! Gehen wir!“ nickte Gußfelder und wandte sich der anderen Straßenseite zu.

Wir fanden das Auto, stiegen ein.

Der geschlossene Kraftwagen war elektrisch geheizt. Harst hatte dem Chauffeur zugerufen:

„Bahnhof Grunewald!“

 

5. Kapitel.

Die Blockhütte.

Wir säuberten uns so gut es ging von den Schneemassen, die an unseren Mänteln haften geblieben waren. Wir saßen sehr bequem in dem großen eleganten Wagen, und lautlos fast glitt dieser über die weißen Straßen dahin.

Wir schwiegen – alle drei. Gußfelder schmiegte sich tief in die eine Ecke des Rücksitzes ein, hatte die Augen halb geschlossen. Vielleicht wartete er darauf, daß Harald ihn ansprechen würde.

Und in diesem Schweigen vollführten meine Gedanken wirre Sprünge, hasteten von Ereignis zu Ereignis, suchten nach einer Erklärung für diese Geschehnisse, die noch wie eine Reihe halb verhüllter Bilder vor mir lagen.

Dann räusperte Gußfelder sich.

„Herr Harst,“ begann er zaghaft und beugte sich etwas vor. „Sie erwähnten da vorhin … meinen Feind. Was wissen Sie über ihn?“

„Ich wußte gestern abend noch nichts über ihn, Herr Direktor. Ich habe Sie verwechselt – mit diesem Menschen … der Sie allmählich zugrunde gerichtet hätte – vollständig – auch Ihr Lebensglück! Sie hätten besser getan, nicht nur den anonymen Brief an mich zu senden, sondern …“

„Ah – so haben Sie bereits festgestellt, daß ich der Absender bin?!“

„Allerdings.“ –

Ich hätte mir am liebsten an die Stirne gefaßt. Ich hatte gehofft, daß das Dunkel dieses Vorkommnisses sich lichten würde. Und nun: der Sachverhalt wurde noch verworrener! Ich besann mich ja so gut auf Haralds Äußerung, daß er Gußfelder und Zelestine in der Bar belauscht und daß das Gespräch der beiden auch diesen Brief gestreift hätte! – Wie war denn nun der tatsächliche Sachverhalt – wie?!

Das Auto hielt. Der Chauffeur riß die eine Tür auf.

„Herr Direktor – Bahnhof Grunewald!“ meldete er mürrisch.

Wir stiegen aus.

„Sie warten hier auf uns,“ befahl Harald.

Der Mann brummte etwas vor sich hin. Viel Respekt schien er vor seinem Brotherrn nicht zu haben.

Wir durchschritten den langen Tunnel, der unter den Bahnhofsanlagen hinweg nach dem Walde führt.

„Meine Leute werden aufsässig,“ meinte Gußfelder finster. „Ich hätte dies alles nicht mehr lange ertragen. Sie haben ganz recht, Herr Harst: es muß ein Ende gemacht werden!“

„Wissen Sie, daß Generaldirektor Doktor Malesto tot ist?“ fragte Harald da, indem er stehen blieb.

„Ja. Deshalb wollte ich Sie jetzt nachts herausklingeln. Der Chauffeur Malestos war nämlich nur bewußtlos und hat noch einiges ausgesagt, bevor er wieder die Besinnung verloren.“

„Und – er hat behauptet, daß Sie die Unglücksfahrt mitgemacht und das Auto in das Schaufenster gelenkt haben?“

„Ja. So ist’s. Ich soll unterwegs, kaum fünfzig Schritt von meiner Villa, das Auto angerufen und mich dann vorn zum Chauffeur gesetzt haben. Zum Glück konnte mein Hauspersonal – meine Gäste waren bereits fort – bestätigen, daß ich das Haus nicht verlassen hatte, daß ich also …“

„Gut – gehen wir weiter. Das genügt mir.“

Wir gingen – kamen in den brausenden Kiefernforst, tappten durch Schnee und Dunkelheit hinter Harald drein, der mit der Sicherheit eines Pfadfinders seinen Weg wie bei Tageslicht verfolgte.

Wir zogen die Köpfe tief in die hochgeklappten Kragen ein. Schneeflocken schmolzen – rannen den Hals entlang. Meine Füße waren wie Eis in dem bereits aufgeweichten Kulturschuhwerk. Transtiefel hätte man in dieser Nacht tragen müssen.

Die schlanken Stämme, wie ein Heer von finsteren Gestalten uns umdrohend, stöhnten und ächzten unter den Stößen des Orkans.

Oh – ich werde diese Nacht nicht vergessen! Ich vergesse solche Stunden nie. In meinem Hirn sind unzählige ähnliche Erinnerungen aufgestapelt. Über allen steht in Flammenschrift: Harald Harst! Ihm verdanke ich dieses Leben, das ich liebe, diese Aufregungen, die wie ein Opiumrausch sind …

Nur ihm! – – Und er, von dem jede Erregung abprallt, der nie seine kühle Gelassenheit verliert, – er schritt uns voran wie eine Spukgestalt, eingehüllt in das tolle Flockengeriesel, – er zögerte auch nicht einen Moment, traf die Richtung so gut, als hätte er diesen Weg unzählige Male zurückgelegt. Ich kenne niemand, der in Berlin und in der Umgebung dieses Millionenpfuhls so gut Bescheid weiß wie er.

Doktor Gußfelder hielt sich stets dicht neben mir. Als der Orkan eine Weile Atem schöpfte, um nachher mit doppelter Wut aus den ungeheuren Lungen eines dämonischen Untiers über die Reichshauptstadt mit heulendem Blasen hinwegsausen zu können, da benutze ich diese Gelegenheit zu der raschen leisen Frage:

„Ihr Feind hat mit Ihnen offenbar eine Ähnlichkeit, wie sie selten vorkommt. Wer ist dieser Mensch?“

„Ja – wenn ich das wüßte!“ war die verlegene Antwort. „Wirklich, ich weiß es nicht, Herr Schraut,“ fügte Gußfelder hastig hinzu. „Ich warte seit zwei Monaten etwa …“

Da hatte Harald plötzlich haltgemacht, hatte sich umgewandt, sagte kurz: „Hier ist die Pforte des Stacheldrahtzaunes. Wir wollen sie besser nicht benutzen, da …“

Der Rest seiner Worte verwehte. Der Sturm riß sie ihm von den Lippen weg, zerfetzte sie …

Harst zog die Drahtschere hervor, zerschnitt die Stacheldrähte, deren Rostschicht noch gefährlicher war als das enge spitzige Geflecht.

Und abermals schritt er voraus. Verschwommen kamen die Umrisse des Blockhauses zum Vorschein. Dann standen wir an dem Fenster links vom Eingang. Starke Holzladen verwehrten jeden Einblick in den erleuchteten Raum. Durch schmale Ritzen schimmerte das Licht wie feine goldige Fäden.

Harald ging weiter – um das Haus herum. Hier waren wir unter Wind. Hier herrschte im Gegensatz zur Vorderseite der Blockhütte eine fast beängstigende Stille, da das Dach weit vorsprang und eine Art offene Veranda überwölbte.

Wir standen – und lauschten …

Ein feines Surren kam aus dem Innern des Hauses – wie von einer Maschine, die sich im Gang befindet.

„Schleifbänke,“ meinte Harald gleichmütig. „Schleifbänke für Diamanten, für Edelsteine. Ich glaube, dies hier dürfte die Zentrale jener Bande von Edelsteindieben und -schiebern sein, denen die Polizei seit Monaten auf den Fersen ist, ohne einen endgültigen Erfolg zu erzielen. – Gehen wir. Wir müssen Kriminalbeamte herbeiholen. Bei diesem Unwetter könnte die Bande uns …“

Er schwieg – – horchte …

Das Surren war verstummt.

„Schraut – nach vorn! Pistole heraus!“ befahl er mir. „Du läßt niemand durch – niemand! Zögere nicht lange, abzudrücken. Vergiß nicht, daß diese Burschen den Generaldirektor Malesto ermordet haben, der als Edelsteinsammler bekannt war und stets in einem Beutelchen auf der Brust die Hauptstücke seiner Sammlung bei sich trug. Sein Frackhemd war vorn weit aufgerissen. Man hat ihn bestohlen, hat gleichzeitig durch den Krach des zersplitternden Schaufensters die Detonation der Explosion des Tresors im Juwelierladen übertönt und so … zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen …“

Wenige Sätze – und doch brachten sie Licht in das Dunkel der allerletzten Vorgänge!

Ich lief um das Haus herum …

Ich … kam zu spät, fand die Haustür offen, fand im Flur einen lohenden Haufen von Kisten und Stroh …

Holte Harst und Gußfelder …

Es war keine Möglichkeit mehr, in die Blockhütte einzudringen. Beizender Petroleumdunst schlug uns mit dem dicken Qualm entgegen. Das Feuer verbreitete sich im Nu weiter, hatte schon die Balkenwände erfaßt. –

Der Leser wird sich vielleicht auf die kurze Notiz in den Zeitungen vom 24. und 25. November besinnen – auf diese harmlose Notiz, die nur besagte, daß in der Nähe der Försterei Eichkamp ein Blockhaus niedergebrannt sei, welches ein Südamerikaner namens Josef Bennarara gekauft hatte.

Die Presse wurde damals von der Polizei absichtlich im Unklaren gelassen, was dieser Brand bedeutete. Und nachher, als Bennararas Name alle Zeitungen füllte, war diese Feuersbrunst in jener Wintersturmnacht längst zur Nichtigkeit gegenüber Bennararas sonstigen Taten und Untaten zusammengesunken. –

Das Haus brannte vollständig nieder.

Wir hatten damals die Brandstelle sehr bald wieder verlassen, bevor noch jemand gewahr wurde, daß wir Zeugen gewesen, wie der Bewohner jede Spur hinter sich gründlichst vernichtete, jede Spur und jeden Beweis, was es mit der Blockhütte auf sich gehabt hätte.

Wir fanden Gußfelders Auto jenseits des Tunnels vor und kehrten heim – saßen dann zu vieren, den Studiosus Karl Hock eingerechnet, in Haralds Arbeitszimmer und lauschten Harsts kühlen klaren Worten:

„Und nun noch meine Theorie über das Paket im Urbanhafen, meine Herren … – Ich habe Grund zu der Annahme, daß Ihr Doppelgänger, jener Direktor, Zelestine Drepps Eifersucht erregt hat, daß er mit Zelestines Kollegin flirtete und – daß er ein großer Hundefreund ist. Zelestine ließ Mucki aus Rache die Diamanten verschlucken, die der geheimnisvolle Verbrecher ihr anvertraut hatte, und wollte dann den Hund aus Rache ersäufen, um den Ungetreuen doppelt zu treffen. Diese meine Theorie mag Ihnen etwas gewaltsam erscheinen, aber – solche Rache entspricht ganz der Weibesnatur, bei der durch Eifersucht alle schlechten Instinkte urplötzlich auflohen. Sie werden sehen, daß meine Theorie richtig ist. Ich brauche jedoch Zeit, Ihnen dies zu beweisen.“

Gußfelder verabschiedete sich dann und versprach, uns vormittags neun Uhr zu besuchen.

An der Haustür sagte Harald noch zu ihm: „Ihre Braut werde ich völlig überzeugen, daß Sie mit Zelestine Drepp nie Beziehungen unterhalten haben. – Gute Nacht …“

Gußfelder eilte verwirrt durch den Vorgarten seinem Auto zu …

Und – vom Südteil der Blücherstraße her traf ein gellender Pfiff, das Unwetter übertönend, unsere Ohren mit aufdringlicher Schärfe.

„Wir werden bewacht,“ meinte Harald. Dann schloß er die Haustür …

Und ich schließe den ersten Teil der Geschichte des Pakets im Urbanhafen. Im zweiten Teil findet man von der ersten Zeile an so seltsame weitere Begebnisse, daß ich sie dem Leser hier auch nicht einmal anzudeuten vermag …

 

 

Zelestines goldenes Herz.

 

1. Kapitel.

Was Harst beweisen wollte.

… Vormittags elf Uhr. – Karl Hock und ich saßen am Sofatisch beim Frühstück. Harst stand am Schreibtisch, den Hörer des Fernsprechers am Ohr …

„Gußfelder ist krank,“ sagte er und legte den Hörer auf die Stützen zurück. „Er klagt über Schmerzen in allen Gliedern. Ich soll ihn nachher nochmals anrufen. Jetzt ist gerade der Arzt bei ihm. Er liegt zu Bett …“

Und Harald nahm wieder Platz.

Mucki thronte neben Hock auf dem Sofa. Wer von den beiden größeren Appetit entwickelte, war schwer zu entscheiden.

„Sie beziehen also oben das Erkerzimmer, lieber Hock,“ meinte Harald zu dem jungen Studenten, der trotz seiner etwas weichlichen Art ein lieber guter Kerl war. „Betrachten Sie sich bitte als mein Dauergast, bis Sie Ihre Studien beendet haben. Da Sie Waise sind, wird …“

Diese Äußerungen des menschenfreundlichen Herzens meines alten gütigen Harald wurden durch das Schrillen der Flurglocke unterbrochen.

Harst lauschte, fügte hinzu:

„Besuch! Und zwar Thea von Perwart, die einzige Erbin der Perwartschen[6] Kohlengruben, die reichste junge Dame Deutschlands, Waise wie Sie, lieber Hock, Besitzerin des Perwart-Palais in der Erlenstraße im Tiergartenviertel …“

Hock schaute Harald erstaunt an.

„Sehen Sie, Sie wundern sich nun, daß ich weiß, wer uns besuchen will,“ lächelte mein Freund. „Und doch ist die Sache verblüffend einfach. Ich hörte in der verflossenen Nacht die Hupe des Autos der jungen Dame, hörte diese sehr eigenartigen Töne soeben wieder und dazu Geräusche auf der Straße, die mir anzeigten, daß ein Kraftwagen vor dem Hause halt gemacht und …“

Es klopfte. Die Köchin Mathilde meldete … Fräulein von Perwart an.

Thea von Perwart trat ein, sie setzte sich, war etwas verlegen und überwand dies ebenso schnell.

Sehr energisch sagte sie: „Bitte, lesen Sie diesen Brief meines Verlobten, Herr Harst. Noch nie hat er mir einen mit Maschine geschriebenen Brief geschickt – noch nie!“

Und sie reichte Harald Umschlag und Brief, der folgenden Inhalt hatte:

Fräulein Thea von Perwart,

Erlenstraße 16.

Zu meinem Bedauern muß ich die Verlobung mit Ihnen lösen, da ich eingesehen habe, daß Sie mir nicht dasjenige Maß von Vertrauen entgegenbringen, welches zu einer glücklichen Ehe unerläßlich ist. Ihre Zweifel an meiner Treue haben Sie in der verflossenen Nacht zu Herrn Harst getrieben, der Ihnen wahrscheinlich …

Doch nein! Diese Gedanken will ich als Gentleman für mich behalten.

Anbei Ihre Geschenke und Ihre Bilder zurück, für die ich keinerlei Verwendung mehr habe. Damit die Öffentlichkeit nicht Ihr Konto mit diesem Bruch zwischen uns belastet, werde ich das Gerücht verbreiten, daß Sie die Verlobung aufgehoben haben, weil wir nicht füreinander passen.

Doktor Benn Gußfelder.

Das blasse vornehme Gesicht der jungen Dame rötete sich jetzt langsam.

„Der Brief ist eine Brutalität, die ich Gußfelder nie zugetraut hätte,“ meinte sie. „Gewiß, ich gebe zu, daß ich sehr – sehr eifersüchtig bin und – auch mit gutem Recht. Ich wollte Sie nun bitten, Herr Harst, einige Vorkommnisse aufzuklären, die mir gänzlich unbegreiflich sind. Zunächst: ich habe meinen bisherigen Verlobten seit acht Tagen durch eine Detektei beobachten lassen. Der Beamte dieses Instituts, ein gebildeter Herr, hat mir nun …“

Harald machte eine kurze Handbewegung.

„Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein … Gußfelder hat mit Zelestine Drepp bestimmt nie etwas zu tun gehabt. Er hat einen Doppelgänger, der …“

„Mein Gott – – Doppelgänger?! Aber – – das ist ja unmöglich!“

Sie schwieg und strich mit der Hand, über die Stirn.

„Ich kann mir leicht zusammenreimen,“ sagte Harald, „daß der Detektiv Ihnen mitgeteilt hat, Gußfelder …“

„Oh – er behauptete unter anderem,“ fiel sie ihm ins Wort, „Gußfelder wäre gleichzeitig an verschiedenen Orten gesehen worden …“

Harst nickte. „Natürlich mußte der Detektiv dies unschwer feststellen. Wie erklärte er diese Tatsache?“

„Er meinte, Benn hätte sich einen Doppelgänger sozusagen herausstaffiert, damit ihm seine …“

„… Abwege nicht so leicht nachgewiesen werden könnten …! – Hm – nicht übel – ganz logisch auch, und doch falsch, gnädiges Fräulein. – Ich werde Gußfelder sofort anrufen, und dann sprechen Sie vielleicht mit ihm persönlich …“ –

Ich will Einzelheiten hier weglassen. – Fräulein von Perwart mußte sich unverrichteter Sache verabschieden, da Benn Gußfelder sich jede Einmischung Haralds in seine Privatangelegenheiten zwar sehr höflich, aber auch ebenso bestimmt verbat und außerdem erklärte, Fräulein von Perwart möge ihn in keiner Weise weiter belästigen.

Wie sehr die junge Besitzerin des unermeßlichen Vermögens der Perwarts durch diese schroffe Ablehnung ihres Annäherungsversuches sich gedemütigt fühlte, sah man ihrem Gesichtsausdruck deutlich an.

Als sie gegangen, meinte Harald kopfschüttelnd zu Hock und mir:

„Aus Liebe ist hier Haß geworden, fürchte ich. Thea von Perwart wird Gußfelder diese Kränkung nie vergessen.“

Dann rief er das Polizeipräsidium an und teilte dem zuständigen Kriminalkommissar die Ereignisse der Nacht mit.

Um ein halb eins war Kommissar Dr. Vogler bei uns. Er war uns kein Fremder mehr. Auch den Berlinern ist er unter seinem wahren Namen wohlbekannt. Man findet ihn sehr oft in den Zeitungen erwähnt, und die Verbrecherwelt hat vor ihm einen heillosen Respekt. –

Heinz Vogler saß im Klubsessel und streckte die Beine behaglich von sich. Harst hatte ihm in aller Kürze die Geschehnisse der Nacht mitgeteilt, ebenso seinen Verdacht, daß der schwedische Student Sigurd Tomför ermordet worden sei.

„Das vermuten wir längst, können es aber nicht beweisen, lieber Herr Harst,“ warf Vogler ein. „Wir lassen die Drepp beobachten, haben jedoch nichts irgendwie Belastendes ermitteln können. Was nun Gußfelders Doppelgänger betrifft: ich glaube nicht an diesen Doppelgänger! Niemals! Selbst nicht nach den Bekundungen des Herrn Hock. Ganz unter uns: Gußfelder ist ein Abenteurer! Schon seine Behauptung, er habe sein großes Vermögen als Digger, als Goldgräber, in Australien erworben, klingt sehr romantisch.“

„Und wer ist der Mann, der in der nunmehr niedergebrannten Blockhütte hauste?“ fragte Harald gedehnt.

„Natürlich Gußfelder! Wer sonst?!“ lächelte Dr. Vogler sehr selbstsicher. „Gußfelder unter dem Namen Josef Bennarara. Es ist vielleicht der kühnste, genialste Trick dieses Abenteurers, das Märchen von dem so verblüffend ähnlichen Doppelgänger in die Welt gesetzt zu haben.“

Die Unterredung ging weiter – ohne Zweck und Ziel, wie ich dunkel empfand. Ich hatte das Gefühl, daß Harald wenig bei der Sache war und daß seine Gedanken durch irgend etwas abgelenkt würden.

Schließlich erklärte Vogler, die Polizei würde sich jetzt, nachdem in den Resten des Blockhauses tatsächlich die durch Feuer verbogenen Teile von drei Schleifbänken für Diamanten gefunden worden seien, zu einem entscheidenden Schritt aufschwingen und Gußfelder und Zelestine Drepp verhaften.

Harald schwieg eine Weile. Dann meinte er: „Warten Sie damit noch bis morgen früh, Doktor. Bis dahin hoffe ich Ihnen folgendes beweisen zu können: Erstens – daß der Doppelgänger existiert. Zweitens – daß dieser Doppelgänger Anführer der großen Diamantenschieberbande ist. Drittens – daß Sigurd Tomför erschossen wurde. Und viertens – –, ja, was ich als Punkt vier beweisen werde, will ich vorläufig noch für mich behalten.“

Dr. Vogler war einverstanden. „Gut – bis morgen mittag unternehme ich nichts, bester Harst. Dann aber – klappt die Falle zu!“

Gleich darauf waren wir allein. Auch Karlchen Hock verabschiedete sich, da er seinen Umzug bewerkstelligen wollte. Er nahm Mucki mit, weil der reizende Pinscher[7] ein wenig Bewegung haben mußte.

Nun waren Harald und ich ganz unter uns. Nun sagte er leise und versonnen, indem er fast mit Andacht eine Mirakulum anzündete:

„Fahren wir nach Eichkamp in den Wald – zu den Trümmern der Hütte des rätselhaften Josef Bennarara. Man kann nie wissen, ob man nicht dort im Schutt noch etwas findet, das …“

Der Satz wurde nicht beendet.

Das Telephon schlug an …

 

2. Kapitel.

Die Kriegskasse.

Zelestine Drepp meldete sich und bat Harald, wir möchten uns doch mit ihr um fünf Uhr nachmittags im Restaurant Hundekehle treffen, jedoch darauf achtgeben, daß wir nicht beobachtet würden. Sie sei sehr in Angst ihrer eigenen Sicherheit wegen. – Das war alles, was sie uns mitteilte. Sie hängte sofort ab, so daß Harald sie nichts mehr fragen konnte.

„Zelestine in Angst!“ meinte Harald achselzuckend. „Hm – wenn das nur stimmt! Die Frau macht auf mich durchaus nicht den Eindruck, als ob sie ängstlich sei. Im Gegenteil. – Jedenfalls: wir gehen zu dem Rendezvous! Und jetzt – zur Blockhütte …! Verkleidung wäre zwecklos. Wir werden ja doch beobachtet. Ich habe schon morgens ein paar Leute um unser Grundstück patrouillieren sehen, die mir stark nach Spionen aussehen.“

Kurz vor ein Uhr nachmittags waren wir an Ort und Stelle. Der in der Nacht gefallene Schnee war größtenteils schon wieder unter den Strahlen der vom fast julimäßig blauen Himmel herabglänzenden Sonne dahingeschwunden.

Von den Resten der Balken des Blockhauses war nur noch sehr wenig übrig. Holzgierige Leute hatten wohl schon morgens weggeschleppt, was wegzuschleppen war. Selbst den Zaun hatte man nicht geschont.

Eine Unmenge Radspuren durchkreuzten die noch vorhandenen Schneeschanzen. Menschen waren nicht in der Nähe. Der Platz lag wie ausgestorben da.

Nein – doch nicht ganz einsam …

Ein junger, ärmlich gekleideter Bursche mit schmieriger Ballonmütze durchwühlte die Brandstätte mit einem Stock und steckte gelegentlich etwas in einen Sack, den er über dem Rücken trug.

Da wir uns nach aller Gewohnheit vorsichtig genähert und stets hinter Bäumen Deckung genommen hatten, waren wir von dem jungen Menschen noch nicht bemerkt worden.

Harald winkte mir. „Bleib’ stehen,“ sagte er leise. „Weißt Du[8], wer der „Altertumsforscher“ dort ist?“ (So nennt der Berliner scherzend die Leute, die in den Müllbergen nach noch leidlich brauchbaren Dingen suchen.)

Ich schaute schärfer hin.

„Beachte die Schlappmütze,“ fügte Harald noch hinzu.

„Ah – das ist … ein verkleidetes Weib!“ meinte ich rasch. „Die tief ins Genick gezogene Mütze verbirgt das Haar …“

„Zelestinchen ist’s!“ erklärte Harst mit eigentümlicher Ironie. „Zelestinchen hat sich, bevor sie sich in diesem Kostüm hierher wagte, vergewissern wollen, ob wir beide auch hübsch artig daheim seien. Deshalb läutete sie an, deshalb das Rendezvous in Hundekehle! Vastehste, min Jong, – – deshalb!! Sie wollte um keinen Preis mit uns hier zusammentreffen. Sie beobachtet auch stets die Umgebung nach Süden zu. Daß jemand von Norden her, also nicht aus der Bahnhofsrichtung … – Ah – was bedeutet das …?!“

Wir standen hinter zwei benachbarte dicke Kiefern geklemmt gut gedeckt da …

Wir hatten soeben Zelestines Schlappmütze noch über die Balkenreste hinwegragen sehen. Nun – – sahen wir nichts mehr von ihr – auch nichts von Zelestine selbst, obwohl Harst mich rasch hinter eine weiter links stehende Tanne gezogen hatte, von wo wir in die Trümmerstätte einen besseren Einblick nehmen konnten.

„Verschwunden!“ meinte Harald …

„Allerdings.“ – Ich schaute ihn unsicher an. Und fügte hinzu: „Das Blockhaus scheint also Kellerräume gehabt zu haben, und …“

„… wahrscheinlich noch andere … Räume,“ nickte er, die Ruine drüben im Auge behaltend. „Wir werden Zelestine folgen. Vorwärts!“

Nachdem wir uns überzeugt hatten, daß wir zurzeit wirklich hier die einzigen Lebewesen waren, näherten wir uns nun rasch den Brandresten, fanden auch die oben mit Eisenblech benagelte Kellerluke, über der die Asche, Holzreste und Schmutz eine nasse schmierige Kruste bildeten, – fanden unten am Lukendeckel eine Holztreppe von acht Stufen und eine Art Kartoffelkeller, dessen Wände und Decke gleichfalls mit Blockhölzern verkleidet waren. In diesem vielleicht drei Quadratmeter großen Raume standen nichts als zwei riesige leere Kisten mit lose aufgelegten Deckeln.

Unserer Taschenlampen neugierige weiße Lichtkegel flitzten umsonst in jeden Winkel. Zelestinchen war nicht da. Aber auf der Treppe waren noch die feuchten Spuren ihrer Schuhe sichtbar gewesen. Mithin – gab es hier eine Fortsetzung der unterirdischen Welt. Die Balkenwände logen. Sie taten nur so, als sei hier die Welt mit Brettern vernagelt.

Harald war schon eifrig dabei, diesen Schwindel zu enthüllen, wobei er jedes Geräusch vermied.

Die Luke hatten wir hinter uns wieder zugeklappt. Wir durften hoffen, hier nicht gestört zu werden. Ich betrachtete mir denn auch in aller Ruhe die beiden mächtigen Kisten und zerbrach mir den Kopf, wie man die Dinger durch die enge Kellerluke hier hinabgebracht haben könnte. Und derart angestrengt überlegte ich mir dies, daß ich leicht zusammenfuhr, als Harald leise neben mir sagte:

„Es sind Hick-Bock-Patentkisten, mein Alter. Ein englisches Patent. Sie lassen sich leicht auseinandernehmen und wieder zusammenfügen. Aber – das ist nicht das wichtigste. Sieh Dir mal da die Aufschriften an …“

Ich entzifferte mühelos:

Olkins, Sydn., Austrl. 102

auf der einen, und auf der anderen dasselbe, nur statt 102 stand da 103. Außerdem war noch über diesem Farbstempel der Speditionsfirma eine Menge von lateinischen Buchstaben in blauer Farbe sichtbar, ohne Frage mit Blaustift flüchtig hingemalt.

„Die Kisten stammen aus Australien,“ meinte ich kurz. „Benn Gußfelder kam aus Australien, und …“

„Den Rest fragen wir Zelestinchen,“ – womit Harald mich rasch nach links vor die nördliche Kellerwand schob.

Hier gab es denn auch eine tadellos versteckt angelegte Tür in dem Gebälk, deren Schloß jedoch nur eingeklinkt war. – Harst hob den Klinkenriegel und stieß die Balkentür auf. Dahinter … Finsternis …

Finsternis … Balkenwände … Ein enger Gang – geradeaus laufend, muffig, eisig, faulendes, nasses Laub als Streu auf den roh behauenen Dielen …

Und Harald, vor mir schreitend, zog die Clement …

Ein feines Knacken …

Die Sicherung sprang zurück. –

Ich tat es ihm nach. Er traute hier dem Frieden also nicht. Und Zelestinchen traute er am allerwenigsten.

Der Gang war genau 63 Schritt lang.

Dann eine Balkentür, ein viereckiger Raum mit einem eisernen Ofen, dessen Abzugsrohr oben wahrscheinlich in einen hohlen Baum mündete; ein Tisch, drei Stühle und … eine eiserne uralte Kriegskasse, also ein Eisenkasten von etwa drei Viertel Meter Höhe, Breite und Länge.

Sonst … nichts …

Absolut … nichts … –

Wo war Zelestine?!

Harst bückte sich zu der Kriegskasse hinab. Der Schlüssel steckte oben im Schlüsselloch, das sich mitten im Deckel, zwischen plumpen Verzierungen befand.

Er streckte schon die Hand aus, um den Schlüssel zu erfassen …

Mitten in dieser Bewegung verharrte sein Arm wie gelähmt.

Sein Kopf flog herum …

Nach der Balkentür – nach dem Gange hin …

Und – da war die Tür auch schon zugefallen …

Da klirrte, kreischte etwas – etwas wie ein mächtiger verrosteter Riegel.

Mein Sprung zur Tür hin war eine Reflexbewegung – war die Folge von Haralds jäher Kopfdrehung. Und doch kam die Drehung zu spät. Mein Sprung desgleichen. Wir waren eingesperrt worden – von Zelestinchen …!!

Harald nickte mir zu und deutete auf den eisernen Kasten:

„Ein Uhrwerk!“ – Das war alles. Sein Gesichtsausdruck war die Ergänzung.

Ich wurde etwas fahl. Ich fühlte es.

„Attentat?“ quetschte ich heiser hervor.

„Ja …“

Er richtete sich langsam auf. Sein Blick wanderte an dem Ofenrohr hoch …

Und seine Taschenlampe enthüllte dort in der Balkendecke ein rundes, mit Eisenblech benageltes Loch, durch das das Rohr hindurchlief.

Dann war er schon mit einem Satz auf dem Tische, war mit der Rechten zwischen Rohr und Blechrand …

Riß beides ab …

So legte er in der Balkendecke einen Ausschnitt frei, der recht umfangreich war – einen Notausgang, bisher verdeckt durch Rohr und Schutzblech. Einen sehr schlauen Notausgang – in der Tat! Das merkte ich, als Harald mich hineinhob in diese Röhre, als ich bald Steigeisen fühlte – eingeschlagene Nägel – hier – dort – ganz bequem.

Eine hohle Eiche war’s, uralt. –

In einer nahen Schonung, die mit einer Ecke bis an das Waldgrundstück heranreichte, stand dieser Baum – trutzig, knorrig, und doch ein Helfershelfer von Gaunern, die oben ein Stück des Stammes als Klapptür eingerichtet hatten.

Ich sprang in den Schnee hinab.

Harald war sofort neben mir – atmete tief auf und sagte:

„Du, das war vielleicht um Bruchteile von Sekunden der einzig mögliche Rettungs…“

Er packte meinen Arm. Wir taumelten hin und her. Ein Erdbeben schien den Boden in Wellenform aufzustauchen.

Aber alles ging schnell vorüber. Wir hatten unter uns nur einen dumpfen Knall gehört, bevor die Erde durch die Explosion zu bersten drohte.

„Du schaust blaß darein, mein Alter,“ lächelte Harald gutmütig. „Schade, daß wir keinen Kognak dahaben.“

Dann beobachtete er durch die dichten jungen Tannenreihen der Schonung die Brandstätte, von der nur wenig zu bemerken war.

Und rief: „Ah – Zelestine verschwindet gemächlich Richtung Bahnhof Eichkamp …! Sie glaubt, wir seien nun erledigt. Sie wird sich wundern – sehr wundern!“

Und er drückte mich näher an die Eiche heran, war mir im Nu auf den Schultern und schwang sich oben in das Baumloch hinein.

„Warte – in fünf Minuten bin ich da …“

„Ich komme mit!“ erklärte ich.

„Auch gut!“

Er half mir empor.

Wir fanden den Zugang zu dem Raume unten nicht versperrt, fanden die Sprengstücke der Kriegskasse wie Granatsplitter überall in den Balken stecken, fanden von Tisch und Stühlen nur noch Trümmer, den Ofen zerstört, die Tür nach dem Gang hin aus den Angeln geflogen.

Wir wären hier also fraglos in Atome zerfetzt worden, und ob man je entdeckt hätte, wo Harst und Schraut geblieben, möchte ich bezweifeln.

Harald sagte gar nichts – schritt in den Gang hinein – bis zu den beiden Patentkisten hin.

„Beleuchte die blauen Buchstaben,“ bat er.

Dann schrieb er sie ab.

Und dann kehrten wir durch die Eiche in die Schonung zurück, begaben uns auf Umwegen nach Halensee, fuhren zu Freund Bechert, Kriminalkommissar, und entliehen von ihm, was wir brauchten.

Bechert fragte nichts. Bechert kannte Harald. Der hatte ihm nur gesagt: „Freund Fritz, wir, Schraut und ich, sind mausetot. Zelestine Drepp hat uns abgemurkst – – glaubt sie! Also – spielen wir die Toten!“

 

3. Kapitel.

Das goldene Herz.

Um halb vier Uhr nachmittags ging Bechert wieder in den Dienst, und wir waren Alleinherrscher in seiner Zweizimmerwohnung.

Harald, ausnahmsweise eine Zigarre qualmend, grübelte über den blauen Buchstaben, saß in der Sofaecke und rief schließlich:

„Nicht leicht – – nicht leicht!!“ –

Hier sind die Buchstaben. Zunächst die der oberen Kiste:

ELLA S ZREV I NEHE K EFUA B
UBIE R

Ich lade den Leser freundlichst ein, diesen ersten Teil einer nach Haralds Ansicht für Zelestine bestimmten „Kistenmitteilung“ uns lösen zu helfen.

Bitte – doch nicht sofort die geistige Flinte ins Korn werfen! Weshalb so gedankenträge sein?! Es ist ja gar nicht so schwer – wirklich nicht.

Freilich – ich selbst hab’s ja auch nicht herausgefunden. Ich eigne mich nicht dazu. Aber vielleicht Sie … Also … –

„Na wenn’s dann so nicht geht, geht’s anders!“ brummelte Harst mit einem Male. „Hör’ zu: Alles verziehen. Kaufe bei Bur … – das ist die Lösung.“

Allerdings – das war sie: erste vier Buchstaben von hinten lesen und den fünften alleinstehenden anhängen, ergibt „alles“, dann in derselben Art weiter …

Verblüffend einfach und verdammt schwer scheinend! Also Bluff!! –

Und die Buchstaben der zweiten Kiste ergänzten den Anfang zu:

„Alles verziehen. Kaufe bei Burky goldenes Medaillon. Unter Pastellbild.“

Das war alles.

Es genügte uns. – Harst nahm das Adreßbuch vor und fand:

Burky, Nathan, Juwelier, Auguststr. 328, Norden.

„Aha – Herr Nathan Burky!“ lächelte er. „Nun besinne ich mich. Burky, der nie zu fassende Großhehler! – Los – hin zu ihm!“

So zogen denn zwei Herren, die uns beiden durchaus nicht glichen, sondern mehr den Stammgästen fragwürdiger Cafees aus der Gegend Grenadierstraße, gen Norden und betraten einzeln den winzigen Laden Nathan Burkys, der hinter dem Verkaufstisch noch durch ein Schutzgitter gesichert war. Harst ging als erster hinein. Wir taten, als kannten wir uns nicht.

Burkys ehrwürdiges Greisengesicht mit den Habichtsaugen unter diesen weißen Brauen wandte sich mir zu.

„Und Sie?“ fragte er.

„Uhrkette …“ – Ich reichte ihm meine Uhrkette.

„Woher?“

„Jefunden – vor zwee Jahre,“ erklärte ich.

Er schüttelte den Kopf. „So was mach’ ich nich. Da – gehn Se man wieder …“

Ich blieb. „Ich wollt’ ein Medaillon kaufen für meine Braut,“ sagte ich vereinbarungsgemäß.

Sein Gesicht veränderte sich jäh.

Argwohn glomm in den Habichtsaugen auf. Seine Lippen wurden noch dünner. Seine Blicke flogen von Harst zu mir, von mir zu Harst. Und wir beiden kümmerten uns nicht einen Deut umeinander.

„Auch e Medaillon,“ brummelte Nathan. „Auch e Medaillon. Und der biet’ e goldene Uhr an, der e goldene Kett’. – Macht, daß Ihr kommt hinaus, Ihr beide!“

„Mensch, haste denn wahrhaftig keene Medaillons nich?!“ platzte Harst heraus. „Wir brauchen se! Unbedingt! Zwee mit Pastellbilder – goldene Medaillons.“ Er zwinkerte mich an. „Siehste, Edewacht, der Burky riecht’s, det hier wat stinkt. Also – nu mit die Ehrlichkeit. Also, Burkychen, leih’ sie uns, die Medaillöner, Mensch!“

Der Alte fiel darauf hinein. „Was wollt Ihr damit – he?“ meinte er heimtückisch – gierig.

Harst lachte auf. „Det kennt Dir so passen, Burky! Ne – jeredt wird nischt! Also – jibste se oder nich? Wir lassen Uhr und Kette als Pfand hier, vastehste, und morgen hast de die Medaillöner zurück und ’n Batzen Schutt (Geld) dazu – vastehste!“

„Hm – hm … ein Medaillon …“ – Der Hehler schwankte. „E komische Sach’ …! Es war heit’ schon was los mit ’n …“

Da schwieg er. Er hatte fraglos sagen wollen: „… mit ’n Medaillon“, und hatte also auf Zelestine angespielt.

Jetzt – – hatten wir ihn!!

Jetzt sagte Harald grinsend: „Mensch, det Medaillonjeschäft mit det Mäjen hätt’s de ooch schlauer drehn kenn’n, Du! Da war mehr zu vadienen, Du!“

Nathan unterlag Harstscher Gerissenheit.

„So?! Mehr? Kennst de det Freilein?“ zischte Burky hastig.

„Und ob! Zelestine Drepp heeßt se …“

„Wie?! Zelestine … Drepp?“

„Na – tu man nich so, Nathan!! Det ist doch die Freindin von den Austral-Josef, Du, – von ’n Josef Bennarara, Du!“

Burky hüstelte …

„Bennarara?! Unbekannt!“ Er zuckte dazu die Achseln.

Und dann – ließ Harald jäh die Maske fallen.

Richtete sich straffer auf. Seine Stimme ward Stahl, jedes Wort ein Hieb:

„Ich bin Harald Harst, Herr Burky, und draußen stehen vier Kriminalbeamte. Sie haben die Wahl, sich sofort verhaften zu lassen oder uns die Wahrheit zu sagen. Entscheiden Sie sich! Rasch!“

Ein Blick unsäglicher Wut traf uns.

„Nu – die Wahrheit!“ geiferte der Alte.

„Schön. – Wann brachte Bennarara Ihnen das Medaillon, und was sagte er dazu?“

„Heute früh gegen neun Uhr. Er sagte, das Medaillon solle ich einer Dame übergeben, die nach einem solchen fragen würde.“

„Wie sah es aus?“

„Es hatte Herzform und ließ sich schwer öffnen. Innen war ein Pastellbildchen, einen Kinderkopf darstellend.“

„Sonst nichts?“

„Bestimmt nicht.“

„Haben Sie das Bild herausgehoben?“

„Ja.“

„Und es war nichts darunter?“

„Nur ein rotes Stückchen Seide in Herzform.“

„Danke. – Sollten Sie uns belügen, so haben Sie die Folgen zu tragen. – Woher kennen Sie Bennarara?“

„Er wollte mir ein paarmal Steine anschmieren, minderwertige.“

„Näher kennen Sie ihn nicht?“

„Bei Gott – nein!“

„Wissen Sie, daß er einen Doppelgänger hat?“

Burky riß die Augen auf. „Doppelgänger?! Wie … wie meinen Sie das?!“

„Schon gut … Wo wohnt Bennarara? Mit wem verkehrt er?“

„Keine Ahnung, Herr Harst …“ –

Wir verließen den Laden.

Als wir in die Friedrichstraße einbogen, rief Harst ein Auto an. – „Krokodil-Bar, Augsburger,“ befahl er.

Im Auto lehnte er sich an mich. „Nun wird Zelestinchen ihr güldenes Herzchen hergeben müssen,“ meinte er. „Armes Zelestinchen! Du wirst diese Nacht in einer Polizeizelle zubringen!“

Dann schrieb er rasch ein paar Zeilen für den langen Doktor Vogler, steckte sie in einen Umschlag und schickte den Brief nachher durch das Auto zum Präsidium.

Es war dreiviertel sechs Uhr, als wir die Bar betraten. Wir wollten hier die „Weaner Galgenvögel“ spielen.

„Servus, Frailain, Servus …!“

Zelestine thronte hinter dem Bartisch – einsam im einsamen Raume.

„’n Abend,“ sagte sie maulfaul.

An ihrem Halse an goldenem Kettchen hing … das Medaillon.

Harst hopste auf den hohen Stuhl, schob den Hut ins Genick.

„Also – da san wir, Frailain … Nu wird’s gemietlich, Frailain … A Sekt wollen wir … Und a Weaner Walzer …“

Zelestine taute auf. Gäste, die was springen ließen, waren ihr willkommen.

Keine Ahnung hatte sie, daß die beiden Weaner dieselben waren, die jetzt eigentlich zu Gulasch zerteilt bei Eichkamp vier Meter unter der Erde liegen sollten …

Sie taute noch mehr auf. Sie neppte uns nach Strich und Faden.

Harst sah nach der Uhr. Er wollte feststellen, ob Vogler mit seiner Garde bereits zur Stelle sein könne.

Er gab mir heimlich ein Zeichen. – Draußen hatte jemand auf einer Kinderflöte ein paar Takte gespielt. Auch ich hatte dies Signal gehört.

Nun konnten wir also beginnen.

Ich … hatte plötzlich die Clement in der Hand, sagte nur:

„Fräulein Drepp, der Eisenkasten läßt grüßen! Wenn Sie sich rühren, drücke ich ab …“ (Was ich natürlich nicht getan hätte!)

Und Harst – – griff zu, riß ihr das Medaillon vom Halse …

Sie war tatsächlich mehr tot als lebendig. Sie rührte sich nicht. Sie ächzte nur – so etwa, als unterdrücke sie wahnsinnige Schmerzen.

Drei Herren betraten die Bar. –

Zelestine Drepp fuhr zwischen uns der nächsten Polizeiwache zu. Vogler blieb im Krokodil und warnte den Wirt, ja nichts von Zelestinens Verhaftung laut werden zu lassen.

Auf der Wache fand sich dann auch Vogler ein. Und da erst begann Harald, die Drepp ins Gebet zu nehmen.

„Sie waren heute nachmittag bei den Trümmern der Blockhütte Bennararas,“ begann er. „Bennarara hatte Ihnen dies aufgetragen, telephonisch, nicht wahr?“

„Ja …“

„Was sagte er zu Ihnen?“

Sie schwieg. Ihr Gesicht bekam Farbe. Ihre Augen Leben und Widerstandskraft.

„Wenn Sie nicht sprechen, wird die Geschichte mit der eisernen Kiste von mir hier dem Herrn Kommissar ohne jede Nachsicht vorgetragen werden, Fräulein Drepp,“ meinte Harald eisig. „Andernfalls werde ich annehmen, daß … ein Versehen vorlag … – Also …“

Sie atmete keuchend …

„Er … er sagte, ich … ich würde auf den Kisten Nachricht finden. Mehr dürfe er mir nicht durch den Fernsprecher mitteilen …“

„Sie waren mit ihm uneins geworden – aus Eifersucht? – Und Sie wollten den kleinen Hund ertränken und die Edelsteine …“

Wieder war sie leichenblaß geworden.

„… die Edelsteine, die dem Studenten Sigurd Tomför gehört hatten, für immer verschwinden lassen … – Hat Bennarara Tomför ermordet?“

„… Ja …“ Nur gehaucht, das Ja, nur angedeutet …

„Haben Sie Tomför mit Bennarara bekannt gemacht?“

Sie begann zu zittern. Ihr Unterkiefer flog. Ein Nervenschock[9] drohte. Vogler reichte ihr rasch Kognak.

Dann beichtete sie: Bennarara hatte Tomför wiederholt hypnotisiert, hatte ihm schließlich ohne ihr Wissen in der Hypnose den Befehl gegeben, sich dann und dann zu erschießen. Diesem sogenannten posthypnotischen Befehl war der Student auch wirklich nachgekommen, übrigens eine unheilvolle Wirkung suggestiver Art, deren Möglichkeit viel umstritten ist. – Bennarara hatte dann durch Zelestine die Diamanten aus dem Versteck abholen lassen, wo Tomför sie verborgen gehabt hatte, weil er in seiner Wohnung nicht solche Werte unterbringen mochte. Noch hatte Zelestine die Wahrheit nicht geahnt. Erst eine Bemerkung Bennararas ließ jäh den Verdacht in ihr aufsteigen, daß hier ein Verbrechen vorläge …

Was sie noch weiter aussagen wollte, hörten wir von anderen Lippen. Zelestine selbst brach plötzlich ohnmächtig zusammen.

 

4. Kapitel.

Das Krähennest.

Wir bemühten uns um die Bewußtlose. Ein Arzt kam. Erst nach einer halben Stunde gelang es, Zelestine wieder ins Leben zurückzurufen. Der Arzt verordnete vollständige Schonung, sprach etwas von schwachem Herzmuskel, Morphiumsucht und Alkoholismus und deutete an, daß ein Nervenfieber dieses morsche Körpergerüst vollends erledigen würde.

Der lange Vogler war bitter enttäuscht.

„Was nun?!“ wandte er sich an Harald. „Nun sind wir eigentlich genau so schlau wie vorher. – Geben Sie mir doch mal das goldene Herz, lieber Harst. Es muß doch irgend etwas mit diesem Medaillon auf sich haben.“

„Bitte …“ –

Man hatte Zelestine derweil im Auto nach dem Polizeipräsidium geschafft. Vogler und wir beide waren im Dienstzimmer des Reviervorstandes allein.

Der Kommissar nahm auch das herzförmige Stückchen Seide aus dem Medaillon heraus, beschaute alles mit Luchsaugen, fand nichts, schüttelte den Kopf …

„Ich entdecke nichts Besonderes,“ meinte er.

Harald erwiderte auf Voglers fragenden Blick mit einem Achselzucken: „Es muß etwas darin sein, muß. Ich werde mir’s daheim ansehen.“

Dann klopfte er gemächlich den Tabak in einer Zigarette fest, setzte sie in Brand und fügte hinzu: „Ich wollte bis morgen mittag viererlei beweisen, Vogler, – besinnen Sie sich. Dreierlei ist bewiesen.“

„So?!“

„Ja: daß …“ – er hielt das Medaillon in der Hand und betrachtete das Pastellbildchen darin durch seine scharfe Lupe – „… daß der Doppelgänger existiert – erstens! Zweifeln Sie noch daran?“

„Nein …“

„Zweitens: daß Bennarara Anführer der Diamantengaunerbande ist …“

„Hm – die Möglichkeit gebe ich zu …“

„Möglichkeit?!“ Harst verzog den Mund. „Dieses Kinderbild mit den üppigen Locken ist ein weiteres Zeichen von Josef Bennararas fabelhafter verbrecherischer Intelligenz. – Bitte, nehmen Sie die Lupe und prüfen Sie die Locken. Was sehen Sie?“

Vogler tat’s. Er zog die elektrische Deckenlampe tiefer und …

„Donnerwetter!“ entfuhr es ihm. „Buchstaben – – Worte – –, ah – ich lese hier:

Krähennest – Du weißt!! Vierter vom hohlen! Treffpunkt Hamburg am 27.

All das eingeritzt mit einer Nadel – kaum sichtbar, – – allerdings glänzend!!“

„Nicht wahr?! Glänzend! Ein Krähennest nur …“

Vogler schnitt ein Gesicht. „Und das – das soll der Beweis für …“

„Fahren wir hinaus,“ meinte Harst. „Es gibt noch mehr zu tun heute abend.“

„Wohin?“

„Eichkamp – Grunewald. Im Auto hören Sie mehr.“ –

Und im Auto erklärte er: „Vierter vom hohlen, – das kann nur heißen: vierter Baum von den hohlen Baum! – Es steht nun dort in der Nähe von Bennararas niedergebrannter Hütte eine Eiche, die gut in einen Räuberroman paßt: hohl, Steigeisen darin, darunter eine Erdhöhle, ein Gang … Sie werden sich’s anschauen können. – Wir haben Bennarara doch in der Nacht zu schleuniger Flucht gezwungen, haben ihm die Polizei auf die Fersen gehetzt. Da hat er, besorgt um seine Sicherheit, außerdem im Gedanken an einen neuen letzten großen Schlag und an die geringe Vertrauenswürdigkeit der Mitglieder seiner Bande, alles das, was er an wertvoller Beute besaß, in dem Krähennest vorläufig untergebracht …“

„Ah – so deuten Sie’s! Aber – weshalb holt er die Sachen nicht selbst, lieber Harst?! Weshalb all diese Umstände, Zelestine Drepp auf …“

„Er … ist nicht abkömmlich, Vogler …“

„Was heißt das?! Nicht abkömmlich?!“

„Ja – das gehört mit zu dem vierten Beweispunkt, den ich noch nicht genannt habe. – Nun lassen Sie’s genug sein mit dem, was ich bisher von meinen Vermutungen preisgab.“

So endete das Gespräch. – Vogler und ich hatten jetzt neue Anregung zu neuem Nachdenken. – Bennarara … nicht abkömmlich?! Das klang ja fast, als ob er verhaftet worden sei?!

Meine Gedanken drehten sich im Kreise. Da war noch so viel Unklares. Da war Benn Gußfelder …

Ich stutzte mit einem Male … – Benn – Benn Gußfelder – – Bennarara – –!! War das ein Zufall?!

Da hielt das Auto schon, und durch Finsternis und Waldesrauschen strebten wir drei der Schonung zu – der hohlen Eiche.

Drangen in die Schonung ein, suchten bei den weißen Lichtblitzen unserer Taschenlampen den vierten Baum …

Ja – in einer so dichten Schonung gibt es viele vierte Bäume, von einem bestimmten Punkt gerechnet. Da war schlecht Suchen. – Das Licht unserer Lampen lockte einen Förster herbei. Der Beamte half uns. Ohne ihn hätten wir die junge Eiche nach Norden zu kaum oder doch erst weit später gefunden. Und in diesem Jungstamm, in einer Astgabel, die rings durch die herüberragenden Zweige von Tannen geschützt war, ein großer schwarzer Klumpen Strauchwerk: ein liederlich gebautes Krähennest!

Vogler wollte in seinem Eifer sofort nach oben turnen. Aber Harald hielt ihn zurück.

„Man kann nie wissen, Freund Vogler …!! Das Nest kann auch andere Dinge enthalten!“

„Na nu – was denn?! – Unsinn – ich …“

„Warten Sie!“ – Gegen diesen Ton gab es keinen Widerspruch.

Harald kniete neben der Eiche und beleuchtete den Stamm …

Rutschte rund um den Baum, der etwa Schenkeldicke hatte und stellenweise dicht bemoost war. – Er kratzte das Moos weg und – erhob sich plötzlich …

„Ich gebe zu, daß ich mich geirrt habe,“ meinte er. „Bitte, entfernen Sie drei sich eine Strecke … Stellen Sie sich am besten dort hinter jene Buche … – So gehen Sie doch! Und – – erschrecken Sie nicht!“

Wir drei entfernten uns zögernd …

Standen kaum hinter der Buche, als … mit gewaltigem Knall oben in den Wipfeln schräg vor uns das Nest … explodierte … –

Unser Auto jagte gen Friedenau, Bismarckstraße, zu Doktor Benn Gußfelder.

„Die elektrische Batterie war am Fuße der Eiche vergraben,“ meinte Harald. „Die Drähte, die zu dem Explosivkörper oben im Nest emporliefen, hatte Bennarara mit Moos am Stamm verdeckt. Ich habe unten den Kontakt hergestellt, und da flog oben die Geschichte in die Luft. Zelestine sollte also beseitigt werden und wäre wohl auch in Atome zerrissen worden. Bennarara wollte die Mitwisserin los sein. Meine erste Annahme – Beute im Nest – bestand bei sorgfältiger Nachprüfung nicht ganz, weil zu vieles dagegen sprach, daß Bennarara der eifersüchtigen Drepp plötzlich wieder so großes Vertrauen schenken sollte …“

 

5. Kapitel.

Bennarara und Benn.

Ein Diener empfing uns in Gußfelders Villa. Es war mittlerweile neun Uhr abends geworden.

„Der Herr Direktor schläft,“ erklärte der Diener. „Ich bedauere, die Herren nicht melden zu können. Der Arzt hat strengste Ruhe verordnet.“

„Welcher Arzt?“ fragte Harald. „Hat Ihr Herr bereits früher einen Arzt konsultiert? Ist es derselbe Arzt?“

„Nein. Es ist ein Doktor Lobling, Sanitätsrat Lobling. Vor vier Wochen hatte der Herr Direktor Doktor Prager holen lassen, als er die Mittelohrentzündung …“

„Danke. – Wann teilte Ihr Herr Ihnen mit, daß er krank sei?“

„Heute früh.“

„Er lag im Bett im halbdunklen Zimmer?“

„Ja …“

„Dann …“ – Harald wandte sich an Vogler – „dann verlangen Sie kraft Ihres Amtes, daß der Diener uns bis an die Schlafzimmertür führt.“

Es geschah. – Harst wollte die Tür ohne weiteres aufreißen. Sie war von innen versperrt.

„Aufbrechen!“ kommandierte er rücksichtslos.

Zwei Schultern preßten sich gegen das lackierte Holz. Da brachen die Riegel …

Und – – das Bett war leer …

Aber – – das Fenster war nur angelehnt. Und von dem Balkon draußen hing eine seidene Strickleiter ein Stück herab, die mit einer Schnur von einer nahen Linde aus sich wieder nach unten ziehen ließ.

Vogler und ich kamen gar nicht dazu, irgend etwas zu fragen. – Harst brachte die Tür wieder in Ordnung, sagte zu dem Diener: „Sie schweigen darüber, daß wir hier gewesen sind – auch Ihrem Herrn gegenüber, verstanden!“

Der Mann war völlig vertattert vor Überraschung.

„Ich … ich gehorche,“ stammelte er.

„Dann – weiter!“ rief Harst …

Und das Auto raste durch Berlin dem Tiergartenviertel zu … nach der Erlenstraße 16, zu Thea von Perwart.

Kein Wort sprach Harald – kein Wort …

Vogler war wütend.

Am Anfang der Erlenstraße verließen wir den Kraftwagen.

„Ich gehe voran,“ entschied Harald nach kurzem Überlegen. „Wir müssen das Perwartsche Palais beobachten. Falls in der Nähe von Nr. 16 ein Auto hält, ist der Mann noch da. – Du bleibst hier bei unserem Auto – auf dem Vordersitz neben dem Chauffeur,“ befahl er mir. „Sobald ich einen Schuß abgebe, kommst Du mit dem Kraftwagen herbei. – Und Sie, Vogler, sprechen mit dem Chauffeur des anderen Autos und setzen sich in den Wagen. – Vorwärts …“ –

Vogler und er verschwanden. Der Kommissar kehrte jedoch sehr bald zurück. – „Es ist kein Auto da. Sie sollen langsam an Nr. 16 vorüberfahren und dann halten …“

Ich sah dann, als wir gerade an dem Gittertor von Nr. 16 vorbeikamen, daß ein Diener einem eleganten schlanken Herrn die Pforte aufschloß. Der Herr war kein anderer als Gußfelder. Er rief das Auto an. Im selben Moment erschien Harald von der anderen Seite, flüsterte: „Als Fahrgast mitnehmen!“ und schlenderte harmlos weiter.

Wir trugen noch die Kostüme, die wir Becherts Garderobenschrank verdankten, und daher glaubte Gußfelder dem Chauffeur denn auch ohne weiteres, daß ich „ein Freund von ihm sei, der auf’n Chauffeur lernte“.

„Neue Hafenstraße, am Bahnhof Putlitzstraße,“ gab Gußfelder als Ziel an. – Ich riß eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb das Ziel auf, warf den Zettel Vogler zu, der an der Straßenecke stand, – zum Schein lenkte ich selbst dann den Kraftwagen. Als wir unter der Putlitzbrücke hindurchkamen, gab Gußfelder das Zeichen zum Halten, stieg aus, zahlte und schritt eilends zu Fuß weiter – hinein in das Dunkel der einsamen Fabrikstraßenzüge, zwischen denen hier und da noch armselige Häuschen stehen. In einem dieser Häuschen verschwand er.

Vogler und Harst waren dicht hinter mir gewesen. Und hinter ihnen wieder sah ich vier Kriminalbeamte.

Das Häuschen wurde umstellt. Im Erdgeschoß links brannte hinter den Laden Licht. Wir hörten Stimmen – Lachen, dann … einen Schrei – einen Fluch …

„Schuft – Schuft!! Wollte Gott, ich hätte Dich schon in Australien niedergeknallt!“ brüllte jemand. „Habe ich Dich deshalb, nur weil Du mein Zwillingsbruder bist, aus dem Zuchthaus in Sydney befreit, damit Du jetzt wie ein Vampyr Dich …“

Erneutes Hohngelächter … –

Harsts Dietrich arbeitete an der Hintertür. Die Zange half. Die Tür ließ uns ein.

Wir drei schlüpften in den Flur.

Dann – flog die Tür jäh auf – die Tür des erleuchteten Zimmers.

„Polizei!“ rief Vogler. „Hände hoch …!!“

An einen Lehnsessel gefesselt saß da ein Mann – der wahre Benn Gußfelder …

Und sein Doppelgänger und vier andere Kerle, äußerlich Gentlemans, stierten uns an … Nur einer regte sich, griff blitzschnell in die Tasche: Bennarara!

Da schoß Vogler …

Der Verbrecher sank nach hinten, kollerte auf den Teppich. Die Kugel hatte ihm die Stirn durchschlagen. Er war tot.

Wir hielten uns hier nicht lange auf. Mit dem befreiten Dr. Gußfelder fuhren wir nach der Erlenstraße zurück, weckten die Dienerschaft, fanden Thea von Perwart in ihrem Schlafzimmer mit Chloroform betäubt auf, fanden den Wandsafe im Schlafzimmer ausgeräumt: Bennararas letzte Tat! –

Bennarara hatte seinen Bruder Benn in der vergangenen Nacht nach dem Häuschen in der Neuen Hafenstraße verschleppen lassen, hatte in dessen Villa dessen Rolle gespielt, hatte sich krank gestellt, den Brief an Thea von Perwart getippt und war dann heute abend bei ihr als reuiger Sünder erschienen, um sie zu berauben, – anscheinend Gußfelder, und doch dessen Doppelgänger. Und vorher hatte er in der Bismarckstraße in Friedenau in ähnlicher Weise seinen Bruder bestohlen, ebenfalls das Stahlfach dort erbrochen. Alles, was er so erbeutet, alles, was noch sein gewesen an Kostbarkeiten, wurde in dem Häuschen der Neuen Hafenstraße beschlagnahmt. –

„Sehen Sie, Vogler,“ sagte Harald, als wir das Brautpaar dann verließen, „der vierte Beweispunkt war eben der, daß Gußfelder entführt und Bennarara jetzt Herr der Villa in der Bismarckstraße war. – Wie ich darauf gekommen, fragen Sie? Durch den getippten Brief, lieber Freund! Welcher Mann von Bildung wird einer Dame einen solchen Brief schreiben – mit Maschine, selbst die Namensunterschrift?! Und Fräulein von Perwart hatte noch nie von ihrem Verlobten einen getippten Brief erhalten, betonte sie. – So entstand der erste Verdacht. So kam eins zum anderen. – Im übrigen bin ich recht gespannt, was Gußfelder uns über seine australischen Abenteuer erzählen wird. – Gute Nacht … Wir haben den Schlaf verdient.“ –

Was Gußfelder erzählte, gehört nicht mehr hierher. Ich bringe es zu Anfang des nächsten Bandes, der uns dem Leser als … Australienforscher vorstellt.

 

Nächster Band:

Der unheimliche Mieter.

 

 

Verlagswerbung:

Wie

benehme ich mich?

Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte

Von W. v. Neuhof

 

Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „zutrieb“.
  2. In der Vorlage steht: „Krahnes“.
  3. In der Vorlage steht: „Innsbruckerstraße“.
  4. In der Vorlage steht: „Rehpintscher“.
  5. In der Vorlage steht: „du“.
  6. „Perwart’sche(n)“ / „Perwartsche“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Perwartsche(n)“ geändert.
  7. In der Vorlage steht: „Pintscher“.
  8. In der Vorlage steht: „du“.
  9. In der Vorlage steht: „Nervenchock“.