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Schatten an der Wand

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 90:

 

Schatten an der Wand.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.

 

1. Kapitel.

Die Abendzeitungen Berlins vom 26. Mai 1922 gingen wie die warmen Semmeln weg. Die Zeitungsverkäufer machten glänzende Geschäfte. All diese Blätter trugen als Locktitel auf der Vorderseite mit geringen Textabänderungen die gleiche Kunde:

Harald Harst verschwunden. Wahrscheinlich ein Opfer der berüchtigten Eva Wilcword.

Am Alexanderplatz kaufte auch der eine von zwei älteren, Rucksäcke tragenden Arbeitern solch eine Zeitung. Die beiden Arbeiter waren soeben durch eine Nebenpforte aus dem Polizeipräsidium gekommen. Sie gingen mit müden, schweren Schritten die Treppen zum Stadtbahnhof Alexanderplatz empor und pferchten sich mit in ein überfülltes Abteil 3. Klasse ein. Der Zug fuhr nach Halensee.

In dem Abteil standen auch ein paar junge Leute, die sich mit der Lebhaftigkeit und der warmen Teilnahme der Jugend über Harsts Verschwinden unterhielten.

Da fragte ein alter Herr, der aufmerksam bisher gelauscht hatte:

„Entschuldigen Sie. Wer ist denn dieser Harald Harst?“

„Wie – das wissen Sie nicht?!“ rief der eine der jungen Leute. „Harst ist doch der bekannteste Liebhaberdetektiv, den die Welt seit der Phantasiefigur Sherlock Holmes besitzt! Sherlock Holmes lebte nur in der Phantasie des englischen Schriftstellers Doyle. Harst lebt wirklich, wohnt in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, und hat zuletzt hier eine gefährliche Verbrecherbande verfolgt, für deren Leiterin man eine gewisse Eva Wilcword hält. Harst und sein Freund Schraut sind nun, wie in den Zeitungen steht, seit drei Tagen unauffindbar. Gestern hat der Kriminalkommissar Bechert, ein Bekannter Harsts, den Justizrat Plotz verhaften wollen, der mit Eva Wilcword im Bunde stand. Plotz erschoß sich, hat aber nach den Zeitungsberichten noch ein teilweises Geständnis abgelegt, und so ist man auf eine rätselhafte Explosion in einer Lehmgrube im Walde bei Lichterfelde aufmerksam geworden. Man befürchtet, Harst und Schraut seien dort in der Lehmgrube absichtlich verschüttet worden. Es soll nun sofort mit Nachgrabungen begonnen werden.“

„So – so, – sehr interessant!“ meinte der alte Herr. „Hm – und jene Eva Wilcword?“

„Die ist entwischt. Niemand weiß wo sie steckt. Niemand weiß auch Genaueres über ihre Bande. Plotz hat in dieser Hinsicht nichts verraten.“

Die beiden Arbeiter tauschten einen kurzen Blick aus. Der größere lächelte kaum merklich dabei.

Die lebhafte Unterhaltung über Harst ging weiter. Andere Fahrgäste mischten sich ein. Die Zeitungsartikel wurden zerpflückt. Man stellte allerhand Vermutungen auf, wie Harst und Schraut wohl in jene Falle gelockt worden sein könnten.

Dann hielt der Zug im Vorort Halensee. Die beiden Arbeiter stiegen aus und wanderten die Ringbahnstraße hinab nach Schmargendorf.

Schweigend gingen sie dahin, blieben öfters stehen und setzten ihre Tabakspfeifen wieder in Brand, schauten unauffällig rückwärts.

„Es ist niemand hinter uns her,“ meinte nun der größere.

„Nein,“ bestätigte der andere, der ein wenig behäbiger war. Und fügte hinzu: „Es macht auf einen doch Eindruck, wenn man sich als tot beklagen hört.“

„Ja – einen belustigenden Eindruck, mein Alter. All die Leute dort im Abteil hätten ahnen sollen, daß die beiden Vermißten so dicht neben ihnen standen! – Besser, sie ahnen’s nicht. Wir müssen verschwunden bleiben. Anders fangen wir Eva nicht. Bechert hat die Zeitungsschreiber sehr geschickt informiert. Ich bin zufrieden.“

Sie näherten sich der Blücherstraße.

„So, nun bleibe zurück,“ meinte Harst zu mir. „Ich will nur meine Mutter beruhigen und mitbringen, was wir noch brauchen.“

Ich blieb allein an einer Plakatsäule stehen und studierte die bunten Ankündigungen, um mir die Zeit zu vertreiben.

Da war auch ein grellroter Zettel mit schwarzem Druck. Als ich ihn überflogen hatte, schüttelte ich den Kopf.

Eine merkwürdige Sache war das! Ich mußte doch Harst darauf aufmerksam machen.

Nach einer halben Stunde kam er mit dick vollgepfropftem Rucksack die Straße entlang.

Da sah ich, daß er mit seiner rechten Hand mit einer besonderen Bewegung nach hinten deutete. Es war ein längst verabredetes Zeichen: ich sollte ihn nicht ansprechen!

Ich blieb vor der Plakatsäule stehen und prägte mir den Aufdruck des roten Zettels recht genau ein:

S. S. Olsch – Burgsand!

Brief lagert. Alles mitbringen. Justus Rat erledigt. Auto für 1. Juni bestimmt. – Das Wort.

Dann kümmerte ich mich wieder um Harst, trat zur Seite und blickte ihm nach.

Das Zeichen, das er mir gegeben, hatte ja noch mehr bedeutet: „Ich werde verfolgt!“

Hieran dachte ich erst jetzt, als ich einen Depeschenboten mit Dienstmütze und Armbinde gewahrte, der ein Rad vor sich hin schob. Im übrigen war die Straße nur von spielenden Kindern belebt.

Nur dieser Depeschenbote konnte der Verfolger sein, also ein Spion, der das Harstsche Haus bewacht hatte. Dies war für uns außerordentlich beunruhigend. Der Spion mußte ja mit zu dem sogenannten „Bunde“ gehören, den Eva Wilcword um sich versammelt hatte. Wenn Eva aber das Harstsche Haus noch immer beobachten ließ, dann wußte sie auch, daß wir aus dem Lehmberge da draußen im Walde trotz all ihrer Gewaltmaßnahmen entkommen waren. (Vergl. Bd. 89 „Giftkonfekt“.) Dann hatten wir beide ganz zwecklos in diesen letzten vier Tagen dauernd die Masken gewechselt und uns mit einer Vorsicht bewegt, als wäre ein Heer von Spionen stets um uns, dann waren wir noch genau so wenig auch nur eine Minute unseres Lebens sicher wie bisher. –

Harst war stehen geblieben und hatte den Rucksack abgenommen, verstaute die Sachen darin anders und schaute natürlich nach dem Depeschenboten aus. Der hatte ebenfalls halt gemacht, sein Rad an einen Laternenpfahl gelehnt und eine Zigarette angezündet.

Ich trat rasch wieder hinter die Litfaßsäule, damit er mich nicht bemerkte. Zum Schein studierte ich wieder das seltsame Plakat.

Da geschah etwas noch Seltsameres: ein anderer Radler, der aus der Richtung des Harstschen Hauses gekommen war, sprang ab und drängte sich neben mich. Ich machte Platz. Er las das rote Plakat, pfiff dazu, den Gleichgültigen spielend, einen Gassenhauer und – fuhr wieder davon – wieder nach dem Harstschen Hause zu.

Ich hatte mir den Menschen nur flüchtig von der Seite angesehen. Er sah wie ein Ausländer aus, wie ein Ungar etwa.

Dann blickte ich nach dem Depeschenboten hin. Der kniete jetzt neben seiner Maschine. Harst hatte den Rucksack noch nicht wieder aufgeschultert.

Ich nahm eine leere Zigarrentüte aus der Tasche und schrieb das rote Plakat genau ab. Das war sicherer als mein Gedächtnis.

Als ich gerade den Strich vor „Das Wort“ zog und dabei unwillkürlich das, was noch abzuschreiben war, nämlich „Das Wort“, vor mich hinsprach, hörte ich hinter mir wieder das Surren einer Radkette, dann das Geräusch des Abspringens.

Es war derselbe Mann mit dem langen schwarzen Schnurrbart. Wir schauten uns an. In seinen dunklen Augen lag es wie eine Frage.

Dann – murmelte er, auf das Plakat schauend, ganz deutlich: „Das Wort!“

Ich wurde stutzig. – Was sollte las?!

Und dann – es war die Eingebung eines Augenblicks – wiederholte ich leise:

„Das Wort!“

Da lächelte er und ließ tadellose Zähne sehen, gab mir die Hand, die ich auch schleunigst drückte, und sagte in hartem Deutsch:

„Etwas umständlich diesmal! – Wo wohnst Du denn?“

Ich hatte längst begriffen: hier hatte ich Anschluß an einen Mann gefunden, der zu einer geheimen Vereinigung gehörte, die als geheimes Erkennungszeichen „Das Wort“ gebrauchten.

„In Pankow,“ sagte ich auf gut Glück. „Und Du?“

„In der Kolonie in der Tieckstraße –“

Er lachte wieder. „Da bist Du auch umsonst hergekommen – wie ich! Das ist nichts für uns!“ Er machte eine Handbewegung nach dem Plakat hin.

„Nein – das ist nichts für uns!“ nickte ich.

„Bist Du schon lange drin?“ fragte er nun.

Jetzt wurde die Sache brenzlich. Nur zu leicht konnte ich mich durch eine falsche Antwort verraten. Dann merkte er, daß ich nicht „Zum Wort“ gehörte.

Ich grinste pfiffig. „Entschuldige schon,“ meinte ich. „Ich habe Arbeit – den da!“

Und ich zeigte auf Harst, der gerade den Rucksack hochnahm.

„Ah so! Na dann – grüß Gott!“ – Ein Händedruck noch, und er fuhr davon.

Das war in der Tat ein merkwürdiges Erlebnis!

Ich hatte jedoch nicht Zeit, weiter daran zu denken. Harst wanderte die Straße hinab, der Depeschenbote folgte und ich ebenfalls.

So bewegten wir uns in Zwischenräumen von etwa hundert Meter vorwärts.

Harald wandte sich den Holzlagerplätzen zu, die sich an der Ringbahn hier entlangziehen. Auf den Wegen zwischen endlosen Holzzäunen war weit und breit kein Mensch zu sehen. Wachhunde kläfften hinter den Zäunen und schoben die Schnauzen unter den Toreinfahrten hervor.

Wir kannten diese Gegend ganz genau. Hier hatten wir schon so manches erlebt. Hier gaben sich nachts in dem Gemäuer kaum dem Erdboden entwachsener Häuser, die infolge des Krieges und der nachfolgenden Teuerung nie fertig geworden und jetzt schon von Unkraut halb überwuchert waren, Verbrechen und Laster ein Stelldichein. –

Harst war jetzt nach rechts in einen schmalen Gang zwischen zwei Zäunen eingebogen und verschwunden. Der Spion hatte sich bisher noch nicht ein einziges Mal umgeschaut. Ich fand das von ihm reichlich unbegabt. Der Mann hatte derartige Aufträge sicherlich noch nicht oft erledigt.

Nun bog auch er nach rechts ab.

Nein – er wollte abbiegen.

Da war Harst plötzlich dicht vor ihm. Und er hatte die Clement in der Rechten.

Der Spion ließ das Rad gegen den Zaun kippen und reckte die Arme hoch.

Ich begann zu laufen. Ich war sehr bald zur Stelle.

„Hände binden!“ rief Harald mir zu.

Der Mann hatte einen blonden kurzen Vollbart, einen unnatürlich dicken Schnurrbart, und – beide waren falsch! Das sah man aus der Nähe auf den ersten Blick.

Er wehrte sich nicht. Er zitterte vor Angst vor der Pistole.

Ich band ihm mit dem Taschentuch die Hände auf dem Rücken zusammen. Harst führte ihn dann den schmalen Pfad zwischen den Zäunen weiter bis zu einem dieser durch den Krieg gemordeten Neubauten. Ich nahm das Rad und folgte. Wir stiegen dann in einen der nach hinten gelegenen Keller hinab. Hier waren wir ungestört. Niemand hatte uns beobachtet.

 

2. Kapitel.

Da lagen genug Mauertrümmer umher.

„Setzen Sie sich,“ sagte Harst zu dem Manne, der auch angesichts der Pistole sofort gehorchte. Dann riß er ihm den falschen Bart ab. Ein verlebtes junges Gesicht kam zum Vorschein.

„Wer sind Sie?“ fragte Harald.

Keine Antwort.

Da begann Harst ihm die Kleider zu durchsuchen. Schließlich nahm er ihm auch die Dienstmütze ab.

Der Mensch, bisher teilnahmslos, ward unruhig.

Unter dem durchschwitzten Futter der Mütze lag ein Brief mit Umschlag.

Der Verlebte fuhr jetzt hoch.

„Was wollen Sie von mir?!“ flüsterte er unsicher.

Es war nur ein kläglicher Versuch, das Geheimnis des Briefes zu schützen.

„Lies vor!“ sagte Harst zu mir und reichte mir den Brief. Zu dem Manne: „Setzen Sie sich wieder!“

Der Mensch war blaß geworden und sank matt auf den Mauerklotz zurück.

Die Adresse auf dem Umschlag lautete:

Herrn

Ernst-Edgar von Reppen

Berlin W, Passauerstr. 18. 1.

Die Marke war am 25. Mai dieses Jahres in Heringsdorf-Seebad abgestempelt worden.

Dann der Brief selbst:

Schloß S., d. 24. 5. 22.

Lieber Erngar!

Das Scheusal hat gestern abend an den Berliner Detektiv Harald Harst geschrieben – aus Angst! Du mußt nun unbedingt feststellen, ob Harst auf den Brief hin herzukommen gedenkt. Wenn irgend möglich, lasse Harst nicht aus den Augen. Sollte er sich einmischen, dann müssen wir die Sache vorläufig aufgeben. Am besten wäre es ja, wenn man den Brief an Harst abfangen könnte. Aber wie?! Dazu, glaube ich, sind wir kaum imstande. Sollte Dir ein guter Gedanke einfallen, dann versuch’s. Aber um Himmels willen Vorsicht! Nur nicht alles durch eine Unklugheit aufs Spiel setzen! Nur nicht! – Im übrigen klappt ja alles tadellos. Das Scheusal schleicht blaß und übernächtig umher. Man sieht, wie ihm das Gewissen zusetzt. Das ganze Dorf spricht von nichts anderem als von dem alten General! Kein Mensch wagt sich abends den Weg entlang.

Schreibe mir sofort, falls Harst Miene macht, abzureisen. Oder besser, schicke mir ein harmloses Telegramm. Bekomme ich keine Nachricht, so bleibt es bei unserem Plan. Das Scheusal wird schon kapitulieren.

Innigst Deine Karla.

Als ich mit Vorlesen fertig war, sagte Harald zu unserem Gefangenen:

„Ihre tadellos gepflegten Hände lassen die Vermutung zu, daß Sie selbst Ernst-Edgar von Reppen sind. – Äußern Sie sich.“

Keine Antwort.

„Herr von Reppen, das ist sehr töricht von Ihnen – sehr!“ fuhr Harald fort. „Zumal es Ihnen nicht gelungen ist, den Brief, der heute früh für mich eintraf, meiner Mutter wieder abzuschwindeln. Ich habe diesen Brief, der ebenfalls den Poststempel Heringsdorf trägt, hier in der Tasche. Gelesen habe ich ihn noch nicht.“

Er holte den Brief hervor, der noch nicht geöffnet war.

„Ich werde ihn jetzt aber lesen, Herr von Reppen. – Ich hoffe, daß –“

Der Gefangene hatte plötzlich die Hände frei, war zugesprungen, hatte Harst den Brief entrissen und stopfte ihn schnell in den Mund.

Ich wollte ihm an die Kehle. Er sollte den Brief schon wieder hergeben!

„Laß doch! Wozu?!“ sagte Harst da. Und lächelte Reppen ironisch an. „Schmeckt der Bissen?! Kauen Sie nur! Ich brauche den Brief nicht! Glauben Sie denn, ich werde Schloß S. in der Nähe von Heringsdorf nicht finden?! Und glauben Sie, das „Scheusal“ wird mir nicht mündlich wiederholen, was in dem Briefe gestanden hat?“

Da spie der junge Mensch den Brief wieder aus.

Harst wurde ernst. „Heben Sie ihn auf und lesen Sie vor! – Vorwärts! Oder wünschen Sie, daß ich Sie der Polizei übergebe?!“

Der Mann gehorchte, glättete den Brief, riß den Umschlag auf und las:

„Schloß Sandburg, Insel Usedom, bei Seebad Heringsdorf, den 23. 5. 1922. – Sehr geehrter Herr! Sollte Ihnen etwa durch Zeitungsgeschwätz etwas von den Vorgängen hier bekannt werden und sollten Sie, der so gern sogenannte Rätsel löst, die Absicht haben, sich mit dem toten General von Reppen zu beschäftigen, das heißt, hier an Ort und Stelle nachschnüffeln wollen, was an der Sache eigentlich daran ist, so erkläre ich Ihnen schon jetzt, daß ich für Sie nicht zu sprechen bin. – Ergebenst – Holger von Reppen, Majoratsherr auf Sandburg.“

Das Gesicht unseres Gefangenen war zum Malen, als er dies immer langsamer vorlas.

„Ah – Sie hatten etwas anderes erwartet, Herr Ernst-Edgar von Reppen,“ sagte Harald nun. „Ich auch – offen gestanden! – Wer ist dieses „Scheusal“, dieser Holger von Reppen? Ihr Verwandter, Ihr Onkel etwa?“

Keine Antwort.

Da wurde Harst böse. „Wir können uns mit Ihnen hier nicht lange aufhalten!“ meinte er kurz. „Schraut, geh’ und läute Bechert an. Er soll Reppen von hier sofort ohne alles Aufsehen abholen lassen.“

Diese Sätze hatten eine merkwürdige Wirkung. Der Mann begann zu zittern, schnappte nach Luft und stieß dann hervor:

„Nur – nur das nicht! Herr Harst – haben Sie Erbarmen!“

„Sind Sie Ernst-Edgar von Reppen?“

„Ja –“

„Kennen Sie eine gewisse Eva Wilcword?“

Reppen schüttelte den Kopf. „Auf Ehrenwort – nein!“

„Das dachte ich mir. Es ist Ihr Glück, Herr von Reppen! Ich hielt Sie erst für einen Spion anderer Leute. – Was haben Sie da in Sandburg vor?“

„Oh – nichts!“

„Seien Sie nicht albern, Herr! – Wer ist Karla? Ihre Schwester?“

„Ja –“

„Nun gut. Ich habe nicht Zeit, mich mit Ihren Angelegenheiten zu beschäftigen. Hören Sie genau hin: Sollten Sie es wagen, Ihre Schwester zu warnen, so sind Sie ein paar Stunden drauf Polizeigefangener. Sie bleiben hier in Berlin und unternehmen nichts! Verstanden?!“

„Ja –“

„Also merken Sie sich: Keine Depesche, kein Brief nach Sandburg und hier bleiben! – Sie begeben sich jetzt nach Ihrer Wohnung. Sie werden fortan beobachtet werden. – So – wir sind vorläufig miteinander fertig. Dort ist Ihr Rad.“

Reppen stand blaß und verschüchtert da.

„Schonen Sie uns, Herr Harst!“ stammelte er nochmals. „Wir – wir – kämpfen um unser Recht!“

„Das wird sich herausstellen. – Auf Wiedersehen.“

Reppen machte eine tadellose Verbeugung und verschwand.

„Das war ein böser Schreckschuß, mein Alter,“ sagte Harald leise. „Ich fürchtete wirklich, Evas Trabanten könnten wieder hinter uns her sein und alle Vorsicht wäre umsonst gewesen.“

„Das fürchtete ich auch. – Nun könntest Du mir eigentlich gleich Deinen Feldzugsplan gegen Eva Wilcword verraten, falls ich Dir nicht erst berichten soll, was ich erlebt habe.“

„Du hast etwas erlebt?“

„Etwas recht Merkwürdiges!“ Ich erzählte und gab Harst die Zigarrentüte, auf die ich den Inhalt des Plakats geschrieben hatte.

Harald las die Bleistiftzeilen.

„Du hast ganz genau alles abgeschrieben?“ fragte er plötzlich.

„Ganz genau!“

„Und Du kannst mir dies Dein Erlebnis so gelassen erzählen?! Wie ist das möglich?! Wie konntest Du nicht sofort, als Reppen den Brief vorlas, an diese Überschrift des Plakats „S. S. Olsch – Burgsand!“ denken! Das heißt doch, von hinten gelesen „Schloß Sandburg“ –! – Max Schraut, Du wirst nie ein Genie werden! Nie!“

Weiß der Henker: ich wurde rot – ich schämte mich!

Und Harald sprach weiter. Die grauen Augen strahlten. Er war die Verkörperung von Energie und Scharfsinn in diesem Moment.

„Max Schraut, blindestes aller Hühner, Du ahnst ja gar nicht, was uns der Zufall da in den Schoß geworfen hat! Max Schraut, Du fragtest nach meinem Feldzugsplan! Ich hatte keinen. Ich wollte warten, bis Eva Wilcword irgendwo auftauchte, sich bemerkbar machte! Sie hat ja zugegeben, daß sie „ein großes Ding drehen will“! Und nun – nun haben wir eine Spur von ihr, denn dies Plakat ist ja nichts anderes als ein Befehl an bestimmte Mitglieder ihrer Bande! Vergleiche, was der „Ungar“ mit Dir sprach: daraus geht hervor, daß die Bande die Befehle stets durch solche Plakate erhält, die wahrscheinlich nur an wenigen Säulen oder gar nur an einer unbefugt angeklebt werden! Wo dies geschieht, wird den Mitgliedern durch Zeitungsannonce vielleicht mitgeteilt. Der Ungar sagte zu Dir „Das ist nichts für uns!“ – Das heißt also: er ersah aus dem Inhalt des Plakats, daß diese Befehle ihn nichts angingen, daß sie vielmehr nur für erlesene Mitglieder bestimmt waren. – Was „Brief lagert“ und „alles mitbringen“ bedeutet, das weiß ich nicht. Aber „Justus Rat erledigt“ – das kann nur heißen: der Justizrat ist tot! Der Justizrat Plotz! – „Auto für 1. Juni bestimmt“ bedarf keiner Erläuterung. Und dann: „Das Wort“! – Max Schraut – geheimes Erkennungszeichen „Das Wort“! Das hast Du ja selbst festgestellt. Und Eva Wilcword – Wilc – word – wort, – da hast Du den Gleichklang! Begreifst Du: „Das Wort“ ist Eva, die Feindin! Und das wichtigste – die Überschrift: Schloß Sandburg! Begreift Du: Dort will Eva etwas unternehmen – stehlen, weiß Gott was! In Sandburg, wo auch die Geschwister Reppen im Trüben fischen! – Das ist noch nicht alles, mein Alter: Dein „Ungar“ sagte, er wohne in der Kolonie in der Tieckstraße. – Tieckstraße – Norden Berlins – galante Gegend, Studenten- und Zigeunerviertel – Zigeuner! Denn in der Tieckstraße gibt’s ein paar Mietskasernen, in denen nur Zigeuner hausen! Zigeuner war Dein „Ungar“! – Und weiter: besinne Dich auf die Schreckensnacht in der Lehmgrube! Da tanzte Eva am Lagerfeuer einer Zigeunerbande!“

Ich stand da und ließ all das sich in mein Hirn einbohren wie die Leuchtkugeln eines Raketenschwarms.

Ich stand und freute mich: dies Raketenfeuer hatte ich ja entfacht – ich durch das Plakat!

Harald drückte mir die Hand.

„Hast Deine Sache doch gut gemacht, Alter! Hast den Ungar fein bemogelt. – Nun los denn – an die Arbeit. Masken wechseln! Heraus mit den Lumpen aus dem Rucksack! Wenn uns jemand in den Kostümen erkennt, will ich Gift schlucken!“ –

Eine halbe Stunde drauf waren die biederen Arbeiter zu Vagabunden geworden. Kein Zuviel war an der Maskierung. Sie war darauf berechnet, daß uns nicht etwa jeder Grüne sofort aufs Korn nahm. – Unsere Rucksäcke richteten wir mit Erde und Kalkstaub so her, daß auch sie zum Übrigen paßten. Dann gingen wir durch die Pracht des Maiabends dem düsteren Mietskasernenviertel im Norden Berlins zu.

 

3. Kapitel.

Gegen acht Uhr standen wir im Hofe des ersten Hauses der Zigeunerkolonie. Unsern Ungar hier herauszufinden, war ein Kunststück. Aber wir kannten ja ein Zauberwort, das uns Anschluß verschaffen mußte:

Das Wort!

Harst schaute sich um. Hier im Hofe war der reine Jahrmarkt: In Gruppen feilschten abenteuerliche Gestalten um allerhand Dinge. Goldene Uhren blinkten, Ringe, Armbänder. – Tuchballen wurden geprüft. Seidenstoffe zeigten ihren Glanz –: Zigeunerbörse – meist gestohlenes Gut von auswärts.

Wir standen, bis ein alter dicker Zigeuner, der jedem Maler als Modell wertvoll gewesen, auf uns zukam – Mißtrauen in den durchdringenden schwarzen Augen, Kraft in jeder Bewegung, Schlauheit um die Mundwinkel.

„He – was soll’s?“ fragte er und pflanzte sich vor uns auf.

„Das Wort!“ flüsterte Harald mit Nachdruck.

Der Zigeuner stutzte, flüsterte hastig zurück:

„Das Wort! – Was gibt’s?“

„Erst Dein Name. Der Beschreibung nach bist Du’s!“

„Joseph Jenkel.“

„Dann stimmt’s,“ nickte Harald. „Wir müssen Dich allein sprechen.“

Der Zigeuner winkte. „Kommt!“

Er ging uns voran ins Vorderhaus, zwei Treppen empor. Da war rechts an der Flurtür ein Pappschild:

Joseph Jenkel,
Pferdehändler.

Er schloß die Flurtür auf und brachte uns in ein peinlich sauberes, einfach möbliertes Zimmer, halb Kontor.

„Setzt Euch!“ – Er holte eine Flasche Schnaps und drei Gläser aus dem Schrank, schenkte ein.

„Prosit!“

Wir tranken. Es war ein tadelloser Kirschlikör.

„Nun los!“ sagte Jenkel dann zu Harst. „Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr?“

Er ging und zog die Fenstervorhänge zu, zündete die Gaslampe an und setzte sich wieder.

„Von der Landstraße kommen wir,“ erwiderte Harald. „Fahrende sind wir, – Kochemer! (Ausdruck aus der Gaunersprache, gleich „Kluge“, „Schlaue“.) Wir fanden viel schofele Winde (Leute, die Bettlern nichts geben), mußten malochen (arbeiten, um Essen zu bekommen) und hatten nur selten einen Stuppen (Dummen) zum Vorführen (im Falschspiel das Geld abnehmen). Auch mit dem Krampfzug (Stehlen) war’s nichts. Wir mußten meist platt machen (im Freien schlafen), hatten nie Münze und meist den Riemen zu (Hunger), bis wir die feine Schickse (Dame) trafen.“

„Wo war das?“

„In Pommern – vorgestern, nachts im Walde. Sie gab uns Münze und schickte uns her. Erst wollte sie uns einen Schwarzwisch (Brief) mitgeben für Dich. Dann sagte sie, ich solle Dir mündlich ausrichten, daß das auf dem roten Zettel nicht gemacht werden soll.“

„Weshalb nicht?“

„Weiß ich nicht. Wir sollen’s hinbringen. Wir kennen die Gegend da genau. Wir haben voriges Jahr in Sandburg auf Ernte gearbeitet. Mein Freund da ist Chauffeur gewesen, hat vier Jahr Knast gehabt (im Gefängnis gesessen).“

Jenkel überlegte.

„Sollt Ihr das Auto also auch hinbringen?“

„Ja. Gleich, hat die feine Schickse gesagt.“

„Ihr beide allein?“ – In dieser Frage lag gelindes Mißtrauen.

„Nein, mit Dir. Die Schickse traut uns nicht.“

Jenkel war beruhigt.

„Einkluften (bessere Kleider geben) sollst Du uns auch,“ fügte Harald hinzu.

„Das ist selbstverständlich.“ Jenkel stand auf und trat an den Schreibtisch, nahm den Hörer vom Telephon.

„Norden 18 163,“ verlangte er. Dann:

„Wer dort – hier Jenkel – Das Wort! – Gut, das Wort! – Janos, das Auto steht in einer Stunde vor dem Hause. Du brauchst nicht mit. Packe aber alles in die Koffer. Sie hat die Befehle geändert. Ich fahre mit. Also in einer Stunde.“

Er legte den Hörer auf die Stützen und sagte zu uns:

„Kommt – einkluften!“

Er führte uns in ein Hinterzimmer. Da standen nur Schränke und ein großer Spiegel mit Gaslampen zu beiden Seiten. Das Gas puffte auf. Jenkel schaute uns prüfend an, taxierte unsere Größe. Die Schränke enthielten nur Anzüge. Da war alles vertreten: Fräcke, Gehröcke, fein auf Seide, Paletots, Ulster, Hüte aller Art, Schuhe, Wäsche.

Wir paßten Lodenanzüge an, bekamen Wäsche, Mützen, lange gelbe Staubmäntel.

„Zieht Euch um. Ich hole Ausweispapiere für Euch. Da sind Scheren. Beschneidet Euch die Bärte.“ Dann ging Jenkel hinaus.

Harst flüsterte rasch: „Tritt frecher auf! Du bist zu doof!“

Als wir gerade umgekluftet waren, kam Jenkel zurück, musterte uns.

„Gut so! Ihr versteht’s!“

„Haben früher Patte malocht (Taschendiebstähle ausgeführt),“ grinste Harst.

Jenkel begann nun selbst mit der Toilette. Auch er war ein Verwandlungskünstler. Der vornehme alte Herr, der durch den goldenen Kneifer so kühl dreinschaute, hatte mit Jenkel nur noch wenig Ähnlichkeit.

„Wollt Ihr noch etwas essen?“ fragte er.

Harst bejahte.

In einem ebenfalls peinlich sauberen Speisezimmer setzte Jenkel uns leckere Dinge vor, dazu eine halbe Flasche Wein.

Harst erzählte ihm im Gaunerjargon von unseren (angeblichen) Stromerfahrten. Dann war es Zeit. Das Auto meldete sich unten.

Wir fanden vor dem Hause einen großen Tourenwagen vor. Der Chauffeur stand daneben, offenbar auch ein Zigeuner.

Ich stieg auf den Führersitz, band die Autobrille vor. Da sah ich, daß rechts auf dem Fahrdamm der „Ungar“ sich mit einem Mädchen unterhielt, jetzt aber scharf nach mir hinschaute. Unsere Blicke trafen sich. Ich zog rasch die Autobrille höher, hakte sie fest, wollte anfahren.

Der „Ungar“ war schon neben mir.

„Scher’ Dich!“ rief Jenkel ihm zu.

Der Wagen ruckte an, lief davon.

Mir klopfte das Herz bis in den Hals hinein. Das war noch im letzten Moment entwischt. Der „Ungar“ hätte uns da eine nette Suppe einbrocken können! Offenbar hatte er mich an meinem kurzen Hals und den hohen Schultern erkannt. Vielleicht auch an der Nase. –

Eine halbe Stunde drauf sausten wir schon die Chaussee nach Eberswalde entlang.

Um halb zwölf nachts passierten wir Pasewalk.

Jenseits der Stadt lief die Chaussee eine weite Strecke schnurgerade. Die Nacht war mondhell.

Da erschien plötzlich Harsts Kopf neben mir.

„Jenkel schläft,“ rief er. „Ich habe ihm eine Opiumzigarette gegeben. Biege in den nächsten Waldweg ein.“

Vor uns lag die schwarze Wand eines Forstes. Ich fuhr langsamer. Dann nahm der Wald uns auf, dann hielten wir auf einem schmalen Wege.

Harst sprang ab, löschte die Laternen und Scheinwerfer.

„Jetzt werden wir den Inhalt der drei Koffer untersuchen, mein Alter. – Dieser Jenkel spielt in Evas Bande fraglos eine Hauptrolle. Jenkels Wohnung scheint das Hauptquartier zu sein. Welch ein Triumph, wenn wir die Geheimnisse dieses Verbrecherbundes enthüllen!“

Die Koffer waren hinten aufgeschnallt. Unsere Rucksäcke hatten wir mitgenommen. Jenkel hatte sie keines Blickes gewürdigt. Er lag im Wagen und schlief.

Wir schnallten die bestaubten Koffer los, und Harst schloß den ersten mit den Schlüsseln auf, die er Jenkel aus der Tasche genommen hatte.

Der Mond stand schräg über uns. Ein Wagen ratterte unter Hufgeklapper auf der nahen Chaussee vorüber. Dann ein Auto.

Harst hob den Kofferdeckel. Zwei Sauerstoffstahlflaschen lagen darin.

„Das genügt,“ meinte Harald und schaltete seine Taschenlampe wieder aus. „Einbruch – Geldschrank knacken! Eva Wilcword macht alles.“

Er schloß den Koffer wieder zu. Wir schnallten ihn fest, standen mit dem Rücken nach der Chaussee hin.

Da kam’s.

Da waren wie die Teufel fünf – sechs geschmeidige Kerle über uns, drückten uns zu Boden, lagen auf uns.

Eine Messerspitze ritzte mir die Genickhaut.

„Lieg’ still, Hund!“

Im Nu waren wir wehrlose Bündel.

„Macht Ihr das Maul auf, fährt Euch der Stahl in die Rippen!“ drohte dieselbe Stimme.

Es war die des Mannes von der Plakatsäule.

Man riß uns hoch.

„Mund auf!“

Die Messer drohten. Man schob uns Knebel zwischen die Zähne, band sie im Genick fest, warf uns in das Auto, warf Decken darüber.

Jenkel war erwacht. Seine tiefe Stimme kam durch die Decken:

„Ersäufen werden wir Euch – ersäufen!“

So fuhren wir weiter. Ich hörte, daß ein zweites Auto dicht vor uns war. Ich begriff alles: das andere Auto hatte uns verfolgt auf Veranlassung des Ungarn!

Ersäufen wollten sie uns! – Ob sie wußten, wer wir waren? – Nein – sie mochten uns für Kriminalbeamte halten. –

Wir lagen nebeneinander, die Rücken halb gegen die Seitenwand gestützt.

Ersäufen! So weit war’s noch nicht! Harst stieß mich mit dem Ellenbogen an.

Dann sein Mund dicht an meinem rechten Ohr.

Dann: „Ich habe die Hände frei! Die Idioten sollten Unterricht im Fesseln nehmen! – Ich werde Dir die Stricke lockern. Wir lassen uns ruhig ins Wasser werfen. Sie tun’s sicher von irgend einer Brücke aus –“ –

Harst hatte das richtige vermutet. Das Auto hielt. Die Decken wurden weggerissen. Man zerrte uns heraus.

Alles ging so blitzschnell, daß ich gar nicht recht zur Besinnung kam.

Da glänzte im Mondlicht ein Fluß. Da war ein Brückengeländer.

Ich flog hinüber, hinab – nicht allzu tief.

Das Wasser spritzte auf. Ich hatte die Hände schon aus den Schlingen heraus, zog den Knebel aus dem Munde, versank, blieb ruhig, streifte die Fußfesseln ab.

Ein paar Schwimmstöße. Oben war ich – die Brücke über mir. Ein Kahn lag da vertäut. Ich hielt mich fest.

Da war auch Harald schon. Zwei Bündel zog er hinter sich her, unsere Rucksäcke, die die Leute uns nachgeworfen hatten. –

Der Morgen kam. Die Sonne trocknete unsere Kleider. Wir saßen an einem Feldrain, und um uns her lagen die Requisiten für das neue Kostüm.

Harald war glänzender Laune. „Mein Alter – das wird der größte Fang werden, den wir je gemacht haben. Ich depeschiere an Bechert. Zehn Mann muß er mitbringen. Oh – das wird eine große Sache!“

 

4. Kapitel.

In der Schankstube des Wirtshauses des Dorfes Sandburg saßen zwei einfach gekleidete Herren und verzehrten ihr Abendbrot. Sie waren einzeln gekommen, schienen sich nicht zu kennen. Offenbar waren es Badegäste aus dem nahen Heringsdorf.

Der Wirt brachte ihnen jetzt den Nachtisch, Butter und Käse, nahm am Tische des kleineren der beiden Platz und begann mit ihm ein Gespräch. Da stand der andere auf und kam an denselben Tisch.

„Sie gestatten – darf ich mich zu Ihnen setzen? – Stadtsekretär Müller aus Stettin,“ stellte er sich vor.

„Zahntechniker Schrock,“ sagte der Kleinere. „Angenehm. Bitte –“

So saßen sie nun zu dreien.

Müller erzählte Schnurren. Er konnte das vorzüglich. Der Wirt hielt sich den Bauch vor Lachen.

Aber Müller hatte anderes im Sinn. Am Morgen dieses Tages hatte er noch an einem Feldrain sich sehr sorgfältig den blonden Spitzbart und dicke blonde Augenbrauen angeklebt.

Er lenkte jetzt das Gespräch auf ein ernsteres Gebiet.

„Da hat mir der Kellner im Hotel Strandschloß heute eine gruselige Geschichte mitgeteilt,“ begann er. „Hier in Sandburg soll’s ja spuken, Herr Wirt. Was ist eigentlich Wahres daran? Stimmt es, daß sich an der Mauer des Schloßparkes des Herrn von Reppen nachts beim Mondschein der Schatten des Generals von Reppen zeigt, der im Dreißigjährigen[1] Kriege oben im Schloß von seinem Bruder ermordet wurde? – Zunächst bringen Sie uns aber mal eine Flasche Rotwein, Herr Wirt, – nein, gleich zwei, und drei Gläser. Der Gang hierher hat mich durstig gemacht.“

Der Wirt holte das Gewünschte.

Müller beugte sich über den Tisch.

„Du, Bechert hat telephoniert,“ flüsterte er. „Sie kommen in Autos.“

Ich, der Zahntechniker Schrock, erwiderte:

„Die Zigeunerbande lagert hinter dem Wirtshaus auf der Wiese. Der Wirt erzählte es mir.“

Da kehrte der Wirt zurück und stellte die Flaschen auf den Tisch.

Nach dem ersten Glase und nachdem wir uns jeder noch eine Zigarre angesteckt hatten, begann der Wirt:

„Die Herren müssen mich nicht auslachen. Aber der Spuk existiert wirklich.“

„Daran zweifele ich nicht,“ warf Harst ernsthaft ein.

Wir beide hatten ja bereits in Heringsdorf, wo wir tatsächlich abgestiegen waren, von dem „Schatten an der Wand“, wie der Spuk hier in der Gegend allgemein hieß, manches gehört. Hinzu kam noch der Brief des Majoratsherrn Holger von Reppen an Harst. Aus diesem Brief war ja manches Ungesagte herauszulesen gewesen. Der Schloßbesitzer von Sandburg hatte offenbar sehr triftige Gründe, Harst fernzuhalten. Wenn diese „Spukgeschichte“ hier für uns auch nur eine Nebenrolle spielte, so wollten wir sie doch ebenfalls mit erledigen, wo wir schon einmal hier waren.

„Es gibt auch nichts daran zu zweifeln, Herr Müller,“ fuhr der Wirt fort. „Ich habe den Schatten vor einer Woche mit eigenen Augen gesehen. – Die Sache ist die, meine Herren. Der General Karl von Reppen, so heißt es in den alten Chroniken, brachte aus dem Dreißigjährigen Kriege große Schätze mit. Er war so ein richtiger Abenteurer gewesen und wollte sich dann bei seinem Bruder hier auf Schloß Sandburg ausruhen. Dieser Bruder, Holger mit Vornamen wie der jetzige Schloßherr, der Junggeselle ist, soll nun den General der Schätze wegen ermordet haben. Jedenfalls war der General eines Tages spurlos verschwunden. Sehr bald soll sich dann der Schatten an der Mauer des Schloßparks gezeigt haben, und zwar so deutlich, daß man in dem Schatten den General in seiner Tracht aus der Zeit Wallensteins genau wiedererkannte. – Nun kommt das Grausige der Geschichte, meine Herren. Der General hatte aus dem Kriege auch ein wunderschönes Weib mitgebracht, eine Italienerin soll’s gewesen sein. Auch die war verschwunden. Das Schattenbild des Generals an der Parkmauer – geben Sie acht! – trug nun in den vorgestreckten Händen den Kopf einer Frau mit lose herabhängendem Haar. Auch diesen Kopf will man als den der Italienerin erkannt haben. – Jahrhunderte vergingen. Der Spuk meldete sich nicht wieder, bis – bis er vor acht Wochen etwa wieder auflebte – an derselben Stelle der Mauer wie damals nach dem Dreißigjährigen Kriege. Er zeigt sich nur in mondhellen Nächten, wenn der Mond die Mauer bescheint. Der jetzige Schloßherr Holger von Reppen, ein Geizhals, dabei enorm reich, ist infolge des Wiederauftauchens des Spuks schon ganz krank geworden. Wir hier im Dorfe hielten diese Gespenstermär aus den alten Chroniken stets für eine Sage. Nun sind wir eines besseren belehrt worden. Wie ich schon erwähnte: ich habe den Spuk selbst gesehen! Er zeigt sich an der Südseite des Buchenberges, auf dem das Schloß liegt. Dort läuft ein Feldweg an der Parkmauer entlang. Gegenüber liegt die neue Dorfschule. Wenn man im Obstgarten unseres Lehrers am Zaun steht, kann man den Schatten genau erkennen. Meist erscheint er genau um Mitternacht, bleibt eine Weile sichtbar und verschwindet wieder. – So, meine Herren, das wäre alles.“

„Hm – weshalb regt den jetzigen Majoratsherrn der Spuk denn so sehr auf, Herr Wirt?“ fragte Harald, indem er die Gläser wieder füllte.

„Dja – ganz unter uns! – Der Majoratsherr ist hier sehr unbeliebt. Man munkelt, er habe seinen jüngeren Bruder um die Erbschaft betrogen. Die Eltern der beiden Brüder hatten ein Testament errichtet und dem jüngeren Sohn, der ja das Gut und das Schloß nicht bekommen konnte, die berühmte Reppensche Münzensammlung vermacht. Diese Sammlung, viele Millionen wert, ist nach dem Tode der Eltern, die gleichzeitig am Typhus starben, nicht aufzufinden gewesen. Holger von Reppen soll sie bei Seite geschafft haben – soll! Wenn es wahr ist, hat er seinen Bruder Otto tatsächlich betrogen. Hier im Dorfe geht nun das Gerücht um, daß der alte General sich nur dann als „Schatten an der Wand“ zeigt, wenn ein Reppen ein Unrecht an einem anderen des Geschlechts begangen hat. Vielleicht – vielleicht ist der Majoratsherr aus Gewissensbissen halb krank geworden.“

„Der angeblich betrogene Bruder ist wohl schon tot?“ meinte Harst-Müller.

„Ja. Er soll vor fünf Jahren gestorben sein und zwei Kinder hinterlassen haben. Die Brüder sind seit dem Tode der Eltern, das war 1910, nie mehr zusammengekommen.“

Harald blies nachdenklich den Zigarrenrauch von sich.

„Der Lehrer wohnt also der Parkmauer gegenüber,“ sagte er dann. „Hat er nicht Besuch? Eine Dame? Mir wurde in Heringsdorf so etwas erzählt.“

„Ja – eine Malerin aus Berlin. Die wohnt bei ihm schon drei Monate. Sie malt meist Heidebilder und Seestücke. Ein nettes junges Mädchen ist’s. Kara Roth heißt sie – Roth mit th. Kara – ein komischer Vorname!“

Harst blinzelte mich an. Ich verstand: Kara – Karla, Ernst-Edgars Schwester! – Ich verstand jetzt überhaupt alles: die Geschwister wollten ihren Onkel durch den Spuk zur Herausgabe der Münzensammlung zwingen. Karla hatte den Spuk inszeniert. Vor acht Wochen war er wieder aufgelebt, und Karla war seit drei Monaten hier! Das stimmte alles sehr gut. Nur – wie ließ sie den alten General erscheinen? Das war noch zu ergründen!

Harst prostete uns zu. Dann meinte er: „Ich sah da Zigeuner drüben auf der Wiese lagern, Herr Wirt.“

„Ja – es sind harmlose Landstreicher. Sie stehlen ausnahmsweise nicht. Sie lagern dort schon zwei Tage und geben abends Vorstellung. Da ist ein Weib dabei, eine Tänzerin! Großartig! Sie müßten sich die mal ansehen!“

Harald und ich bezahlten unsere Zeche. Wir wanderten der Wiese zu. Weit war es nicht.

„Wie die Karla Reppen den Schatten wohl hervorbringt?“ fragte ich Harst. „Durch einen Projektionsapparat etwa?“

„Nein, ausgeschlossen! Bedenke, daß die Linse eines solchen Apparates einen hellen Lichtkreis gibt. Dieser Lichtkreis würde den Schwindel sofort verraten. Karla von Reppen macht es anders. Wir haben heute Mondlicht. Da hoffe ich Dir zeigen zu können, wie sie’s macht!“

Wir hatten die Wiese erreicht. Da stand ein großer Kreis von Dörflern um den Zigeunerwagen herum. Es war derselbe Wagen, den wir schon einmal gesehen hatten: in der Lehmgrube bei Lichterfelde, als Eva Wilcword in Schleier gehüllt am Lagerfeuer getanzt hatte.

Wir erlebten jetzt eine Enttäuschung: die Zigeuner brachen auf!

Mit einem Male erkannte ich unter ihnen meinen „Ungar“, der jetzt ganz zigeunermäßig aussah, und im selben Moment flüsterte Harst mir zu: „Joseph Jenkel steht dort bei den Pferden – in Zigeunertracht! – Verschwinden wir!“

Als wir den Garten des Wirtshauses durchschritten, schien Harald aus tiefem Sinnen zu erwachen.

„Sie haben es auf die Münzensammlung abgesehen,“ sagte er unvermittelt. „Eva mag irgendwie von dem Spuk gehört haben und auch von dem betrogenen Erben. An alledem ist ja fraglos etwas Wahres. Vielleicht hat sie einen ihrer Spione nach Schloß Sandburg geschickt. Der mag den Majoratsherrn nicht aus den Augen gelassen haben, auch nachts nicht. Das böse Gewissen, wachgerufen durch den „Schatten an der Wand“ wird Holger von Reppen dorthin getrieben haben, wo er die Münzensammlung verborgen hat. Dieses Versteck muß ein Eisenbehälter sein, dem Evas Leute mit dem Sauerstoffgebläse zu Leibe gehen wollen –“

So entrollte er in wenigen Sätzen ein vollständiges Bild von Evas Plänen, stellte auch die einzig mögliche Verbindung zwischen dem Vorhaben der Geschwister von Reppen und dem Bunde „Das Wort“ her.

„Du bleibst jetzt in der Wirtsstube,“ fuhr er fort. „Ich folge den Zigeunern von weitem. Sie werden kaum sehr weit wandern – nur bis dorthin, wo Joseph Jenkels Autos halten – irgendwo an einer einsamen Stelle. Es genügt, wenn ich allein hinter Ihnen bleibe. Um elf Uhr wollte Bechert sich hier im Wirtshaus einfinden. Sollte ich bis dahin nicht zurück sein, so bestelle ihm, daß er seine Leute für diese Nacht bereithält. Sie sollen sich an der Südecke des Gartens des Lehrers verbergen. Es wird dort schon ein Versteck geben. Bechert mag bei ihnen bleiben.“

Er drücke mir die Hand. „Wiedersehen, mein Alter!“

„Sei vorsichtig, Harald,“ warnte ich.

„Keine Sorge! Eva hält uns für tot, und Jenkel glaubt, zwei Kriminalbeamte ersäuft zu haben.“

Dann schritt er wieder der Wiese zu.

Es war jetzt fast zehn Uhr geworden. In der Wirtsstube saßen ein paar Bauern und ein einzelner Mann, der neben sich einen großen Hausiererkasten stehen hatte.

Ich setzte mich abseits. Der Mann mit dem Hausiererkasten putzte umständlich seine Brille. Ohne die Brille war es – Fritz[2] Bechert! – Er klappte seinen Kasten auf und nahm ein paar Bücher heraus. Dann kam er zu mir, pries mir die Schriften an, flüsterte zwischenein: „Wo ist Harst?“

Ich bat ihn Platz zu nehmen. „Ich muß mir die Bücher erst ansehen.“ Und dann tat ich, als machte ich ihn leise auf etwas in dem einen Buche aufmerksam, richtete ihm dabei Harsts Auftrag aus.

Ich bezahlte ein Buch, und er ging an seinen Tisch zurück. Bald darauf verließ er mit seinem Kasten die Wirtsstube.

Ich trank ein Glas Bier. Ich fühlte, wie die Erregung, die Erwartung sich steigerten. Harald nahm fraglos an, daß Eva in dieser Nacht ins Schloß einbrechen wollte. Die Zigeuner waren abgezogen, damit der Verdacht nicht auf sie fiele, den Einbruch ausgeführt zu haben.

Die Bauern entfernten sich auch. Der Wirt wollte das Lokal schließen. Um ihm etwas zu verdienen zu geben, bestellte ich wieder Rotwein. Wir waren bei der zweiten Flasche, und er hatte mir noch mancherlei über den Schloßherrn erzählt, als Harald erschien.

Der Wirt war einer von den pfiffigen Pommern. Er lächelte und meinte: „Die Herren können mir ruhig die Wahrheit sagen. Sie sind Polizeibeamte. Ich bin verschwiegen.“

Harald gab es zu. „Begleiten Sie uns zum Lehrergarten,“ bat er. „Aber führen Sie uns über die Felder.“

„Gern, meine Herren. Meiner sind Sie sicher. Ich bin hier gleichzeitig Gemeindevorsteher.“

Es war dreiviertel zwölf, als wir aufbrachen. Harald hatte mir nur über den Verbleib der Zigeuner ganz kurz erklärt: „Sie lagern in einer Schlucht in der Heide. Eva ist bei ihnen. Die beiden Autos stehen in einem Gebüsch am Waldrande fünfhundert Meter weiter. Sie hatten Wachen ausgestellt. Die Sauerstoffgebläse halten sie bereit.“

 

5. Kapitel.

Das Dorf zieht sich an einer Kreischaussee hin. Es ist sehr ausgedehnt, und das Wirtshaus liegt etwa in der Mitte. – Wir gingen zwischen einigen Scheunen hindurch und an einem mit Gestrüpp bewachsenen Grabenrand entlang. Der Wirt erwähnte noch, daß sich jetzt niemand mehr dort an die Parkmauer nachts heranwage. Der Weg dort würde nach Dunkelwerden ängstlich gemieden.

Nach zehn Minuten lag das Lehrergehöft vor uns. Das rote Ziegeldach ragte über die Obstbäume hinweg. Der Garten war sehr groß. Als wir die Südecke des Zaunes erreicht hatten, richtete sich Bechert auf. Er und seine Leute hatten sich in einem Strohschober verborgen gehabt.

„’n Abend, Harst!“ Sie schüttelten sich die Hand. „Wie steht’s denn nun?“

Harald deutete auf eine Wolkenwand, die von Westen heraufzog. „Nach einer halben Stunde regnet es. Eva wird in dieser Nacht losschlagen. Die Zigeuner werden den Regen abwarten. Dann schützt die Dunkelheit sie. Postieren Sie Ihre Leute dicht um das Schloß herum. – Haben Sie sich bei dem Majoratsherrn angemeldet?“

„Ja – wie Sie es wünschten.“

„Und die Hunde sind eingesperrt?“

„Ich bat Reppen darum.“

„Gut – dann also dicht ans Schloß heran, Bechert. Klettern Sie irgendwo über die Mauer.“

„Habe mir die Stelle schon ausgesucht. – Und Sie?“

„Wir folgen sehr bald. – Wiedersehen!“

Bechert mit seinen zehn Beamten verschwand.

„Wir danken Ihnen nun,“ sagte Harst zu dem Wirt.

„Hm – darf ich nicht mitmachen? Ich bin hier doch Polizeiperson. Es würde mir eine Ehre sein. Ich habe Ihren Namen soeben gehört, Herr Harst –“

„Gut. – Gehen Sie voran. Aber leise. Ich möchte den Spuk sehen.“

Der Wirt stieg über den Staketenzaun in den Obstgarten.

„Leiser!“ mahnte Harst.

Wir schlichen, einer hinter dem andern, von Baum zu Baum. Dann standen da vor uns Haselnußsträucher mit tief herabhängenden Zweigen.

„Dort – geradeaus!“ flüsterte der Wirt.

Wir sahen noch nichts. Wir schoben uns unter den Ästen hindurch, richteten uns halb auf.

Ah – da war die hohe, gekalkte Ziegelmauer jenseits des Feldweges.

Und da – sechs Meter vor uns! – da war der dunkle Schatten an der Mauer – der Spuk!

Ich gebe ehrlich zu: es wirkte unheimlich, selbst für aufgeklärte Gemüter! Das Unheimliche war der Frauenkopf in den Händen des Generals und der sofort aufblitzende Gedanke: wie kann dieser Schatten mit seinen scharfen Umrissen auf der Mauer entstehen?! –

Der Wirt war zurückgeblieben.

Harald brachte seinen Mund dicht an mein Ohr: „Es ist so, wie ich dachte, genau so! Sieh Dir die riesige Kastanie jenseits der Mauer –“

Er schwieg.

Da war ein kurzer gellender Aufschrei erklungen.

Dann ein Prasseln, Rauschen von Zweigen.

Ich blickte empor.

Drüben aus den Ästen der Kastanie, die weit über die Mauer hinwegragten, fiel – ein Weib herab, fiel in den dicken staubigen Sand des Feldweges.

Der Staub wirbelte hoch in schweren Wolken, wehte zur Seite.

Da lag die Frau. Neben ihr ein dunkles Filzhütchen.

Sie lag auf dem Gesicht, regte sich nicht.

„Karla!“ hauchte Harst. „Oben – Mauerkrone!“

Ja – da lugte ein Gesicht über die Mauer – ein Zigeuner. Schwang sich hoch, als er sich sicher wähnte, war mit einem Satz unten, stand neben Karla von Reppen.

Er bückte sich, schien zu horchen, ob sie noch atmete. Dann trat er an die Mauer heran, reckte den Arm, stand gerade vor dem Schatten.

Und – riß den Schatten herunter, knüllte ihn zusammen.

Nun wußte ich: es war eine aus dunklem Stoff geschnittene riesige Silhouette gewesen! Und Karla hatte sie aus der Krone der Kastanie an der Mauer an Schnüren hinabgelassen. Unten war die Silhouette fraglos irgendwie beschwert gewesen, damit sie glatt hinge. – Verblüffend einfach! Ein genialer Gedanke.

Der Zigeuner warf jetzt den zerknüllten Stoff über die Mauer zurück, nahm einen Anlauf, sprang an der Mauer empor und wollte offenbar mit den Händen die Mauerkrone packen. Das erste Mal mißlang es ihm. Dann glückte es, und mit affenartiger Gewandtheit zog er sich nun vollends empor und verschwand wieder im Schloßpark.

„Er war allein,“ sagte Harald leise. Er sprach die Worte so langsam, als läge zwischen jedem eine Unmenge unausgesprochener Gedanken.

Dann schwang er sich über den Zaun, hob das Mädchen und ihr Filzhütchen auf und reichte sie mir über den Zaun zu. Ich trug sie tiefer in den Obstgarten hinein an eine mondhelle Stelle.

Der Wirt und Gemeindevorsteher hatte ebenfalls alles beobachtet. Er war noch ganz starr vor Schreck.

Wir untersuchten Karla von Reppen. Eine Kugel war ihr in die linke Schläfe gegangen. Sie war tot. Selbst unter der Staubschicht, die ihr Gesicht bedeckte, erkannte man, daß sie nicht mehr ganz jung gewesen.

„Herr Gemeindevorsteher,“ sagte Harst sehr ernst, „Sie tragen die Leiche jetzt ins Lehrerhaus. Sie erklären dem Lehrer, Sie wären zufällig des Weges dahergekommen und hätten die Tote so gefunden. Mehr wissen Sie nicht. Verstanden?! Kein Wort von uns beiden oder der Kriminalpolizei. Im Vertrauen: Ihr Dorf wird berühmt werden! Hier wird man die gefährlichste Verbrecherbande festnehmen, die Deutschland seit vielen Jahrzehnten in einer solchen Großzügigkeit nicht gekannt hat!“

Er blickte durch die Obstbaumzweige zum Himmel empor.

Die Wolkenwand stand jetzt fast über uns.

„Vorwärts!“ – Das galt mir.

Dann half er mir über die Mauer. Ich zog ihn von oben empor. Ein indianischer Fährtensucher hätte sich beschämt gefühlt, wenn er beobachtet hätte, wie wir jetzt bergan schlichen – dem Schlosse zu!

Noch schien der Mond. Aber jeden Augenblick konnte er hinter dem Gewölk verschwinden.

Ein hohler Regenwind, der Vorbote der fallenden Tropfen, sauste durch die Bäume des Parkes. Wir hatten nun die flache weite Bergkuppe erreicht. Vor uns, umgeben von Rasenflächen und Taxushecken nach englischer Art, lag der mächtige uralte düstere Bau. Der Mond verschwand jetzt – ganz allmählich. Ein seltsamer Anblick, wie das Nachtgestirn, je mehr es verhüllt wurde, langsam die Erde in Dunkelheit tauchte, wie das Schloß uns ferner und ferner zu rücken schien, weil seine Umrisse und Fensterreihen mehr und mehr an Klarheit verloren.

Nun war das Mondlicht völlig abgesperrt.

Finsternis deckte die Erde. Der Regenwind pfiff um die Turmzinnen. Die Parkbäume ächzten. Wie Brandungsgeräusch schwoll das Rauschen des Blättermeeres an.

Wir standen dicht vor einer Fontäne. Wir mußten jetzt Bechert oder einen seiner Leute finden.

Da – wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt neben uns. Die dunkle Hecke als Hintergrund schützte uns vor dem Erkanntwerden.

„Das Wort!“ flüsterte die Gestalt.

„Das Wort!“ flüsterte Harald zurück.

Der Stimme nach, auch der kaum als dunklerer Fleck wahrnehmbaren Figur nach war es Joseph Jenkel.

„Lauft und teilt den andern mit, daß nichts unternommen werden soll,“ keuchte Jenkel. „Soeben Meldung von der Wache auf dem Wege nach Heringsdorf, daß elf Greifer (Polizeibeamte) nach Sandburg kamen. Rasch! Werdet Ihr angehalten, schießt Ihr!“

Harst sprang zu, hatte Jenkels Hals umkrallt.

Ich schlug zu – mit dem Pistolenkolben. Jenkel knickte in die Knie. Im Nu war er geknebelt und gefesselt. Wir legten ihn in das Bassin der Fontäne. Es war wasserleer und sehr tief. –

Wir fanden einen von Becherts Leuten.

„Dort links herum, Herr Harst,“ flüsterte er. „Ich bin auf dieser Seite allein. Ein Diener hat sechs Kerle in den Keller des Ostflügels eingelassen.“

Ein Diener! – Also hatte Harald recht gehabt: Eva hatte einen Verbündeten hier!

Wir huschten weiter. Der Ostflügel schien der älteste Teil des Schlosses zu sein.

Da war eine überdachte Kellertreppe. Da war der zweite Kriminalbeamte – neben einem gefesselt am Boden liegenden Manne, der hier offenbar Posten gestanden hatte.

„Im Keller geradeaus, dann rechts,“ gab der Beamte Bescheid. „Die Schufte fühlen sich ganz sicher.“

Wir kamen gerade noch zur rechten Zeit. In einem Kellerraum, angefüllt mit leeren Fässern, stand ein großer eiserner Kasten in der Mitte, eine sogenannte Kriegskasse. Das Sauerstoffgebläse fauchte Schmelzglut auf das Eisen. Das Schloß des Kastens gab nach. Der Deckel flog hoch. Gierige Hände hoben drei schwarze Holzkästen heraus.

Dann ein leiser Befehl Becherts.

Laternenschein blitzte auf. Dienstpistolen hielten die sechs Überraschten in Schach. Handschellen schnappten zu. Es waren fünf Zigeuner und der Diener. –

Die Münzensammlung war gefunden. Gefunden war auch Karla von Reppens Mörder, einer der fünf Zigeuner. Die Luftpistole, mit der er sie erschossen hatte, trug er noch bei sich.

Bechert, wir und acht Beamte eilten durch Finsternis und Regen sofort in die Heide.

Wir trafen den Rest der Zigeuner noch an: sechs Leute, drei Weiber darunter, und vier Kinder.

Aber eins der am Waldrande versteckt gewesenen Autos fehlte. Mit diesem Auto war „das Wort“ entflohen. –

Telephon und Telegraph spielten. Eva konnte noch nicht weit gekommen sein. Alle Wege wurden gesperrt.

Am Morgen fand man das Auto herrenlos dicht bei Heringsdorf im Walde. Eva war entwischt.

Und – morgens fand man „das Scheusal“, den Majoratsherrn von Sandburg, in seinem Herrenzimmer erschossen auf. Er hatte den Tod der Schande, sich als Erbschaftsbetrüger entlarvt zu sehen, vorgezogen.

Einer der verhafteten Zigeuner, der einzige, verriet alles, was er über die Organisation des Verbrecherbundes wußte. In Berlin und in anderen Städten wurden noch dreißig Personen verhaftet. Eva Wilcword hatte jetzt keinen Rückhalt mehr an irgend welchen Verbündeten. Sie stand allein da.

Und doch –!

Was weiter geschah, weshalb Karla von Reppen ermordet wurde, wird der Leser im „rätselhaften Klub“ finden.

 

 

Ein rätselhafter Klub.

 

1. Kapitel.

Wir erfuhren [von][3] Holger von Reppens Tod, als wir mit Bechert im Dorfwirtshaus beim Frühstück saßen.

Um zehn Uhr vormittags waren wir oben im Schloß. Der Oberinspektor Reppens, ein älterer Herr, teilte uns mit, daß Sandburg mit seinen drei Vorwerken nunmehr an Ernst-Edgar von Reppen gefallen sei. Er würde den neuen Majoratsbesitzer sofort telegraphisch benachrichtigen und ihm auch den Tod seiner einzigen Schwester schonend mitteilen.

Harald erwiderte darauf: „Überlassen Sie die Abfassung dieser Depesche bitte mir. Ich habe Herrn von Reppen noch anderes zu melden.“

Er schrieb dann folgenden Telegrammentwurf:

Ihre Schwester verunglückt. Ihr Onkel hat selbst Hand an sich gelegt. Bitte herkommen. Harald Harst.

Ich sah ein, daß die Absendung der Depesche durch Harald nötig war, da wir Ernst-Edgar verboten hatten, Berlin zu verlassen.

Um drei Uhr nachmittags kam seine Antwort:

Treffe abends 8 Uhr Swinemünde ein. Bitte Auto zur Bahn und Harst. – Reppen.

Mit Holger von Reppens Auto fuhren wir um sieben Uhr von Sandburg ab. Bechert war bereits nach Berlin zurückgekehrt. Um drei Viertel acht hielten wir vor dem Hauptbahnhof des großen Seebades.

Der Zug lief ein. Wir hatten uns an der Sperre aufgestellt. Reppen, einen kleinen Handkoffer in der Hand, war einer der letzten. Tief gebeugt, blaß und verstört, kam er langsam daher.

Wir trugen keine Verkleidung. Daß wir dem Dynamitattentat in der Lehmgrube entgangen waren, konnte jetzt Eva Wilcword kaum länger verheimlicht werden. Im Dorfe Sandburg hatte es sich blitzschnell herumgesprochen, daß Harald Harst jetzt dort weilte. Einer der Kriminalbeamten mußte wohl geplaudert haben. Oder der Wirt hatte doch nicht reinen Mund halten können.

Reppen gab seine Fahrkarte an der Sperre ab. Harald trat auf ihn zu.

„Guten Abend, Herr von Reppen. – Mein Name ist Harst. Hier mein Freund Schraut.“

Reppen zog den Hut, verneigte sich und blickte uns seltsam geistesabwesend an.

Dann fragte schon ein Mann mit einer Hotelportiermütze auf dem Kopf, ob der Herr im Seeschloß absteigen wolle. „Zimmer Nummer 13 ist gerade noch frei,“ fügte er hinzu.

Diese merkwürdige Anpreisung eines Zimmers mit der gefürchteten Nummer „13“ übte auf den blassen jungen Majoratsherrn eine noch merkwürdigere Wirkung aus.

Seine Gesichtsfarbe spielte jetzt ins Grünliche. In seinen Augen lag ein Ausdruck hellen Entsetzens. Der Koffer entfiel seiner Hand.

Hier vor der Sperre herrschte noch ein starkes Gedränge. Der Hotelportier wurde beiseite geschoben, war plötzlich verschwunden.

Auch Harald hatte genau wie ich Reppens Schreck bei den Worten des Portiers bemerkt und stieß nun die Umstehenden rücksichtslos zur Seite, schaffte sich Platz und lief in den Bahnhofsflur hinein – dem Portier nach.

Reppen benahm sich immer seltsamer.

„Herr Schraut, holen Sie bitte Herrn Harst zurück,“ sagte er hastig. „Schnell – holen Sie ihn – schnell!“

Mir erschien dies so eigentümlich, daß ich sofort den Argwohn hatte, Harald solle den Portier nicht mehr erwischen.

„In diesem Gedränge finde ich ihn nicht, Herr von Reppen,“ meinte ich achselzuckend. „Kommen Sie, gehen wir um das Gebäude herum. Vorn hält das Auto.“

Er seufzte, hob seinen Koffer auf und schlich wortlos neben mir her, den Kopf tief gesenkt.

Keine Frage nach seiner Schwester – nichts!

Merkwürdig genug: diesem Manne war ein Besitz von 18 000 Morgen Land, ein Schloß, Wälder, Seen in den Schoß gefallen, und er – er zeigte für nichts Interesse – für nichts!

Am Schlage des Autos stand ein alter Diener.

„Ich heiße den neuen gnädigen Herrn herzlich willkommen,“ stammelte der Diener.

Reppen nickte zerstreut. Das war alles.

Dann drehte er sich um.

„Wo bleibt Herr Harst nur?“ fragte er mich hastig.

Seine Augen glitten unruhig über die Menschen und die Hotelwagen hin.

Harald tauchte auf der Treppe zu den Schalterräumen auf. Als er vor uns stand, sagte er kurz:

„Der Kerl ist weg – wie in den Boden gesunken. – Kannten Sie ihn, Herr von Reppen?“

„Nein – nein – woher denn?“

„Weil Sie solch einen Schreck bekamen,“ meinte Harst ganz leise.

„Sie – Sie täuschen sich. Ich – ich bin nur sehr abgespannt und – und auch etwas abergläubisch. Die Zahl 13 hasse ich! Es war ein schlechter Empfang für mich, mit dieser Zahl hier begrüßt zu werden.“

Er log. Er machte Redensarten.

„Steigen wir ein,“ sagte Harald.

Reppen hatte jetzt offenbar sein inneres Gleichgewicht wiedergewonnen.

Das Auto glitt die Chaussee nach Heringsdorf entlang – zwischen Wäldern hindurch. Der Abendhimmel flammte in feurigem Rot.

Da fragte Reppen nach seiner Schwester.

Harst schilderte die letzten Ereignisse.

„Erschossen?!“ rief Reppen jetzt. „Erschossen – von einem der Zigeuner?! – Ja – weshalb – weshalb nur?! Was konnte Karlas Tod diesen Verbrechern nützen?“

„Das bleibt aufzuklären. Einer der Zigeuner hat bereits ein Geständnis abgelegt. Über den Tod Ihrer Schwester konnte er nichts aussagen. Der Mörder selbst schweigt ebenso hartnäckig wie die andern Verhafteten!“

„Unbegreiflich!“ murmelte Reppen.

Er tupfte heimlich ein paar Tränen ab. Karlas jähes Ende schien ihm doch sehr nahe zu gehen.

Ermattet lehnte er in der Wagenecke und schwieg jetzt.

Dann sagte er unvermittelt:

„Bitte – seien Sie meine Gäste auf Schloß Sandburg. Bleiben Sie noch bei mir. Ich – ich brauche Menschen um mich, mit denen ich mich aussprechen kann.“

Wir passierten das Seebad Ahlbeck. Der Chauffeur fuhr langsamer.

„Wir nehmen Ihre Einladung an, Herr von Reppen,“ erwiderte Harst. „Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Daß Sie offen sind!“

„Inwiefern?“

„Sie kannten den Portier, der kein Portier war.“

„Nein, Herr Harst. Ich kannte ihn nicht. Mein Wort darauf.“

„Das Wort?!“ fragte Harald mit besonderer Betonung.

Ich verstand: es war die Probe, ob etwa Reppen „Das Wort!“ kannte.

„Verzeihung – ich verstehe Sie nicht. – Das Wort? Wie meinen Sie das?“

Er war nicht eingeweiht. Das merkte man.

„Eva Wilcwords Bande benutze als geheimes Erkennungszeichen „Das Wort“ als Anklang an die zweite Silbe des Namens Wilc-word.“

„Ah so!“ – Er hatte weiter kein Interesse dafür.

Harst blieb unerbittlich. „Wenn Sie den angeblichen Portier nicht kannten, Herr von Reppen, so müssen Sie doch aus dem, was er sprach, besondere Schlüsse gezogen haben. Sehen Sie, ich bin schwer zu täuschen. Mein selbstgewählter Beruf schärft Augen und Ohren.“

Ernst-Edgar wurde rot.

„Herr Harst, ich versichere Ihnen, daß das, was mir in den Sätzen des Portiers auffiel, lediglich mit Dingen zusammenhängt, die nichts mit Karlas Tod oder mit den Zigeunern oder mit meinem Onkel zu tun haben. Wirklich nicht. Das ist die volle Wahrheit.“

„Und doch ließen Sie vor Entsetzen den Koffer fallen!“

Wir hatten Ahlbeck fast passiert. Da ging vor uns ein alter Herr über den Weg. Der Chauffeur mußte bremsen, fluchte. Der alte Herr blieb stehen. Wir glitten an ihm vorbei. Da warf er einen Brief in das Auto.

Ich drehte mich um. Ich sah den Herrn plötzlich laufen, in ein Haus hinein.

Harst war schon aus dem Wagen, jagte dem Manne nach, verschwand im selben Hause.

„Halt!“ rief ich dem Chauffeur zu. „Halt!“

Reppen hatte den Brief aufgehoben. Ich las die Adresse mit:

Herrn Ernst-Edgar v. Reppen.
Sofort öffnen.
13.

Das stand auf dem Umschlag.

13! Wieder die 13! Und – wieder war Reppen grüngelb im Gesicht geworden!

Das Auto hielt.

Ich lief Harald nach. Diesmal sollte uns dieser Mann nicht entkommen.

Das Haus, das ich nun ebenfalls betrat, hatte einen durchgehenden Flur. Ich sah Harald auf dem Hofe stehen. Er sprach mit einer alten Frau.

„Der Kerl ist noch im Hause,“ rief er mir zu. „Die Frau hat hier Holz gespalten. Sie hätte ihn sehen müssen.“

Ich blieb dann im Hausflur. Harald fragte in jeder Wohnung nach.

Eine Viertelstunde ging so hin. Dann kam er die Treppe wieder herab.

„Nichts – entwischt!“ sagte er wütend.

Wir verließen das Haus. Da raunte er mir zu:

„Eine Spur haben wir! Später!“

Ich teilte ihm rasch mit, daß auf dem Briefumschlag die Zahl 13 gestanden hatte.

„Ah – da hättest Du besser bei Reppen bleiben sollen, mein Alter. Ich wette, er hat den Brief verbrannt.“

Reppen schritt neben dem Auto auf und ab, schaute uns jetzt entgegen. Dann sagte er ärgerlich:

„Meine Herren, das war doch wirklich nicht nötig! Weshalb verfolgen Sie den Mann?!“

„Und der Brief?“ meinte Harald scharf.

„Eine reine Privatangelegenheit, Herr Harst. Sie können mir glauben.“

„Das muß eine merkwürdige Angelegenheit sein!“ platzte ich heraus. „Sie wurden beim Anblick der 13 auf dem Umschlag wieder aschfahl!“

„Überreizte Nerven – nichts weiter!“ erklärte er fast unliebenswürdig.

„Sie haben den Brief verbrannt, nicht wahr?“ Und Haralds graue Augen ruhten fest auf Reppens schmalem Gesicht.

„Allerdings. Sollte ich Sie um Erlaubnis fragen?!“

Das war ein Ton, den Harald sich nie gefallen lassen durfte!

Aber – seltsam! – er lächelte jetzt.

„Herr von Reppen, Ihre Nerven sind wirklich überreizt. Fahren wir weiter.“

Wir stiegen ein. – Reppen blieb stumm. Wir langten vor dem Schlosse an. Der Oberinspektor, der Rendant, die anderen Gutsbeamten und das gesamte Personal waren am Fuße der Freitreppe versammelt.

Wir hielten uns zurück. Der Oberinspektor bewillkommte den neuen Herrn von Sandburg und stellte ihm die Beamten vor.

Das machte einen recht feierlichen Eindruck. Reppen war jetzt ein anderer als vorhin am Bahnhof. Seine schlanke Gestalt hatte Haltung. Er fühlte sich nun erst als Besitzer all der Reichtümer, war nun erst der neue Majoratsherr, gab jedem die Hand, sprach ein paar Worte über „gedeihliches Zusammenarbeiten“ und „sofortige Abstellung der durch die Sparsamkeit seines Vorgängers entstandenen Mißhelligkeiten.“

Ich war erstaunt. Auch Harald meinte leise:

„Man soll ihn nicht unterschätzen!“

Dann bat Reppen uns, ihn zu begleiten.

Wir speisten zu acht im großen Speisesaal. Da hingen an den Wänden die Ölgemälde derer von Reppen.

Als die Tafel um zehn Uhr von Reppen aufgehoben wurde, fiel von seiner Seite kein Wort mehr über die Einladung. Wir verabschiedeten uns.

Durch die helle Sommernacht schritten wir dem Dorfe zu.

Harald pfiff leise eine Melodie aus Griegs Peer Gynt.

Dann sagte er:

„Er wollte uns los sein. Er wollte es erst, nachdem er den Brief mit der 13 gelesen hatte. – Bist Du sehr müde?“

„Nein.“

„Dann werden wir uns von dem Wirt Räder leihen und nach Ahlbeck radeln.“

 

2. Kapitel.

Ich war nicht weiter erstaunt hierüber.

„Was hast Du in dem Hause in Ahlbeck festgestellt?“ fragte ich.

„Daß dort ein Badegast seit gestern wohnt, ein bartloser Herr, den ich auch zu Gesicht bekam. Er hat ein Zimmer mit Flureingang im ersten Stock. Es war derselbe Mann, der den Brief in das Auto warf. Er hatte sich den angeklebten grauen Bart schlecht abgerissen in der Eile. Am linken Ohr war noch ein Stückchen Bart haften geblieben.“

„Was hältst Du von dem Portier und der „13“?“ forschte ich gespannt weiter.

„Sehr viel! Reppen hat Geheimnisse zu hüten, die recht ungewöhnlicher Art sein müssen. – Karlas Tod will mir nicht aus dem Sinn. Weshalb ermordete der Zigeuner sie?! Doch fraglos auf Eva Wilcwords Befehl! Welches Interesse aber kann dieses Weib an dem Tode Karla von Reppens gehabt haben?! Ich tappe da noch völlig im Dunkeln.“ –

Der Wirt Gottfried Knuth hatte eine neue Überraschung für uns bereit.

„Es ist für Sie ein Brief abgegeben worden, Herr Harst,“ sagte er und reichte Harald das Schreiben.

Wir waren mit Knuth allein in der Gaststube.

„Wer brachte den Brief?“

„Ein Junge aus dem Dorfe. Ein Herr hatte ihm den Brief gegeben. Der Herr war aus einem Auto gestiegen, das er selbst lenkte. Nachher fuhr er nach Heringsdorf zu davon.“

„Wann war das?“

„Etwa um neun Uhr abends – vor anderthalb Stunden.“

„Sie könnten uns Ihr und Ihres Sohnes Rad borgen, Herr Knuth. Wir möchten noch bis zur See fahren und baden.“

„Gern, Herr Harst. Ich werde gleich die Schläuche aufpumpen.“ – Er ging hinaus.

Harald schnitt den Brief unter der Lampe stehend auf. Der Umschlag trug nur die Maschinenaufschrift:

Herrn H. Harst

Sandburg

Gasthof Knuth.

In dem Umschlag steckte ein halber weißer Briefbogen. Ebenfalls in Maschinenschrift stand da:

Ich muß mich vorläufig für besiegt erklären. Sie haben meine Organisation gesprengt, was ich nie für möglich gehalten habe. Ich verlasse Europa. Seien Sie überzeugt: ich werde zurückkehren – wieder mit einer Armee blind-gehorsamer Geschöpfe hinter mir! Dann – Kampf – Kampf bis zur Entscheidung, Herr Harst! Daß ich allein Ihnen nicht beikommen kann, weiß ich! Suchen Sie mich nicht. Es wäre zwecklos. Ich melde mich schon! – Eva.

„Sehr charakteristisch, mein Alter, dieser hochfahrende Ton!“ meinte Harald und schob den Brief in die Tasche. „Sie wird Europa natürlich nicht verlassen. Ich hatte beinahe schon den Argwohn, daß auch Reppen mit zu Evas Garde gehört haben könnte. Aber das stimmt nicht. Reppens Geheimnisse sind anderer Art. Was Evas Drohung von der neuen „Armee“ betrifft, die sie um sich versammeln will, so dürfte sie da die Wahrheit geschrieben haben. Einem Weibe von ihrer Intelligenz, Energie und Vielseitigkeit wird es leicht gelingen, neuen Anhang zu finden.“

Da kam Knuth und meldete, die Räder ständen bereit.

Es gibt Zustände, in denen man wie im Traum handelt, Zustände einer so tiefen geistigen und körperlichen Abgespanntheit, daß alles eigene Tun wie im Traum dahingleitet, daß wir wie aufgezogene Automaten die Bewegungen und Worte herunterleiern, die der Verfertiger des Automaten von uns verlangt.

So ging es mir damals in jener Nacht. Man stelle sich vor: seit 38 Stunden waren wir ununterbrochen auf den Beinen! Wir waren von Aufregung zu Aufregung gehetzt worden. Wir hatten mehr erlebt, als andere in Monaten erleben, hatten geglaubt, diese Nacht in den hochgetürmten Federbetten des Fremdenzimmers Gottfried Knuths (denn es gab nur eins!) zubringen zu können und mit der Lösung der Frage: „Weshalb wurde Karla ermordet?“ etwas Zeit zu haben. – Eine Täuschung! Ernst-Edgar von Reppen traf ein, und neue Rätsel fielen über uns her. Sollte nun auch die dritte Nacht ohne Schlaf hingehen?! Fast schien es so!

Harald fuhr voran. Und er legte ein Tempo vor, daß ich wie besessen strampeln mußte, um nicht zurückzubleiben.

In einer Viertelstunde hatten wir das „Anhängsel“ von Heringsdorf, das langgestreckte Dorf Neuhof, erreicht. Nun kam der steile Berg nach Heringsdorf hinein. Den schaffte ich nicht. Ich streikte. Da sprang Harst ab, wartete. Ich schob mein Rad.

„Wir werden in Heringsdorf starken Kaffee trinken,“ meinte er. „Auf dem Bahnhof. Ich fahre voraus und bestelle den Kaffee. Wiedersehen, mein Alter.“

Weg war er. –

Die Bahnhofstraße in Heringsdorf läuft völlig eben. Ich stieg wieder auf. Von Harst war nichts mehr zu sehen.

Die Badesaison hatte hier noch nicht richtig begonnen. Die Straße war leer. Dann der Bahnhof, eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln. Im Wartesaal nur zwei Hotelportiers, die sich an einem Schnaps labten. – Wo war Harald?!

Ich fragte den Bahnhofswirt, ob ein schlanker Herr zwei Tassen Bohnenkaffee, extra stark, bestellt habe. – Nein – kein Herr sei da gewesen.

„Bitte also zwei Tassen. Ich werde gleich bezahlen. Ich komme sehr bald wieder,“ erklärte ich.

Ich schob mein Rad hinaus, wartete, spähte. Die helle Sommernacht war so schön. Der Duft der Wälder, das ferne Rauschen der See, – das war Frieden und Stimmung. Aber meine Unruhe wuchs. Schließlich schwang ich mich auf die Maschine, radelte langsam zurück. Harst war irgend etwas zugestoßen. Das stand für mich fest.

Auf dem Radfahrerweg links am Straßenrande lag ein feiner Überzug von Feuchtigkeit. Ich sah Radspuren wie Striche in diesem Hauch von Nässe. Haralds Maschine hatte einen ganz neuen Reifen am Hinterrad. Das Muster dieses Reifens war wie ein Faden, an dem ich mich nun gleichsam weitertastete. Ich hatte die Radlaterne abgenommen und beleuchtete den schmalen Radlerweg, schritt langsam wieder dem Bahnhof zu. Kurz vor dem Bahnhof bog eine gepflasterte Straße nach rechts in den Buchenwald ab. Sie war nur von einigen Villen flankiert und verlor sich bald als tief ausgefahrener Waldweg zwischen den alten Bäumen.

Hier, wo diese Straße sich abzweigte, war Harst offenbar abgesprungen. Die Radspur führte dann rechts die Straße hinauf.

Es war infolge des Mondlichts so hell, daß ich den Weg bis in den Wald hinein übersehen konnte. Ich erblickte denn auch unter einer Buche ein Zweirad. Es lag umgekippt da.

Sofort kam mir der Gedanke, Harald könnte hier in den Wald gelockt und überfallen worden sein.

Ich richtete mich danach, nahm rasch die Clement aus der Tasche und entsicherte sie. Dann schob ich mein Rad weiter, bis ich jene Buche erreicht hatte.

Plötzlich prallte ich förmlich zurück.

Da hing drei Bäume weiter an einem dicken Ast, die Beine etwa ein Meter über dem Boden, ein Mensch.

Harst – Harst!

Und – er bewegte sich! Er zog die Beine an, streckte sie wieder aus.

Dann sah ich alles – alles: Harald war da aufgeknüpft worden – an einer hellen Leine. Der rechte Arm war hochgereckt, hielt die Leine über dem Kopfe umklammert.

Mit ein paar Sprüngen war ich bei ihm.

Ein Blick rundum – und ich kletterte an der Buche hoch.

Kletterte, wie ich nie geklettert bin, wie gepeitscht von glühenden Ruten.

Schnitt die Leine durch.

Und Harst fiel matt zu Boden.

Im Nu war ich neben ihm.

War er das wirklich?! War dieses dicke, gedunsene blaurote Gesicht mit dem halb offenen Munde und der halb herausragenden Zunge das meines Freundes?!

Ich griff zu, lockerte die den Hals umschnürende Schlinge.

Harst atmete keuchend, stoßweise. Die Augen hatte er geschlossen. Auf der Stirn standen dicke Schweißperlen. Der linke Arm war noch auf dem Rücken festgeschnürt.

Ich beugte mich über Harald.

„Wie geht es Dir? Bist Du bei Besinnung?“

Dann die Überraschung – dann der Beweis, daß dieser Körper von einer übermenschlichen Energie selbst in diesem Zustande gemeistert wurde.

„Ich bin bei Besinnung. Will es aber nicht sein! Trage mich davon. Lege mich unten an der Bahnhofstraße nieder. Hole dann die Räder –“ – Das ward geflüstert, ohne daß die Augen sich öffneten. Die Lippen bewegten sich kaum.

Ich hob ihn empor, schleppte ihn bis hinab an den Zaun eines Grundstücks, lief zurück, brachte auch die Räder dorthin.

Ein Hoteldiener stand jetzt tief über Harst gebückt. Sein Handwagen erschien mir recht geeignet zum Krankentransport.

Der junge Mensch schaute mich mißtrauisch an.

„Mein Freund ist plötzlich ohnmächtig geworden,“ erklärte ich. „Helfen Sie mir, ihn in das nächste Hotel bringen.“

„Da ist das Bahnhofshotel,“ nickte er. „Ich bin der Portier. Es sind keine dreißig Schritt.“

Zehn Minuten später lag Harald auf einem Diwan eines der Fremdenzimmer des ersten Stocks. Ich sparte mit dem Gelde nicht. Man tat, was ich wünschte.

Harst tat, als käme er jetzt erst zur Besinnung, erholte sich dann schnell, trank ein Weinglas Kognak und fiel anscheinend in tiefen Schlaf.

Der Hotelbesitzer und der Kellner, denen ich das Logis für eine Nacht nebst reichlichem Trinkgeld vorausgezahlt hatte, ließen uns allein.

Es war jetzt halb ein Uhr morgens. – Harst winkte mir vorsichtig mit den Augenlidern zu. Ich beugte mich über ihn.

„Schlüsselloch verhängen. Dann Licht aus,“ befahl er.

Ich setzte mich im Dunkeln zu ihm an den Diwan.

„Was ist nun eigentlich vorgefallen?“ fragte ich leise.

„Etwas, das mit der 13 zusammenhängen dürfte, mein Alter. Die Sache war so. Als ich vorausradelte, sah ich plötzlich einen anderen Radfahrer vor mir. Es war – rate wer?“

„Wie soll ich das raten?! – Halt – die Dreizehn! War es Ernst-Edgar von Reppen?“

„Ja. – Ich mäßigte mein Tempo, um ihm nicht zu dicht auf den Leib zu rücken. Er sprang an der Seitenstraße, die in den Wald führt, ab und schaute sich wie suchend um. Ich stand hinter einer der Linden am Straßenrande, beobachtete ihn, folgte ihm, als er dann den steilen Weg aufwärtsschritt, ließ mein Rad zurück und kroch im Schatten des Zaunes rechts weiter. Er betrat den Vorgarten der letzten Villa oben auf der Anhöhe und pochte dann – dreizehn Mal sehr kräftig an die Haustür, worauf er eingelassen wurde. Die Villa war völlig in Dunkel gehüllt. – Du kannst Dir denken, mein Alter, daß ich jetzt den Mann in Ahlbeck völlig vergessen hatte. Reppen erschien mir wichtiger. Ich wartete also ein paar Minuten und schob dann mein Rad in den Wald, um hinter einer Buche hervor die Villa im Auge zu behalten. Plötzlich fiel mir eine Schlinge über den Kopf. Man riß mich nach hinten um. Ich schlug mit dem Kopf auf einen Stubben auf und verlor für Sekunden das Bewußtsein. Da hatte man mir schon die Arme auf den Rücken gefesselt und zog mich an dem Ast empor, von dem Du mich nachher losschnittst. Zwei Männer waren’s, die mich dergestalt überwältigt hatten – zwei –“

„– Zigeuner,“ ergänzte ich.

„Ja. – Ich wußte, daß es hier um Sein oder Nichtsein sich handelte. Ich bekam die rechte Hand frei und packte die Leine, um nicht vollends erwürgt zu werden. Die Zigeuner liefen hohnlachend davon. Wärest Du auch nur eine halbe Minute später gekommen, so – Na – es ist eben nicht geschehen – ich lebe noch! Und jetzt werden wir schleunigst zum Fenster hinausklettern und nachschaun, was Reppen dort in der Villa treibt. Drehe aus den Bettlaken Stricke – rasch! Ich helfe Dir –“

 

3. Kapitel.

Der Mond war hinter den bewaldeten Anhöhen verschwunden. Die Villa lag im Schatten. Kein einziges Fenster war erleuchtet.

Wir waren nicht die steile Straße hinaufgegangen, sondern über den Zaun in den großen Garten gestiegen, der recht ausgedehnt war und mehrere flache Terrassen bildete. Die Villa lag in der Westecke des Gartens, ganz nahe am Walde. Am Zaune nach dem Nachbargrundstück hin standen noch hinter hohen Büschen und Ahornbäumen halb versteckt ein Stall und ein Turm, über dessen Zweck wir uns nicht sofort klar werden konnten. Der Garten war völlig verwahrlost. Auf den Wegen wucherte das Gras in hohen Büscheln, die Sträucher waren nicht verschnitten und ragten mit ihren Schößlingen weit in die Wege hinein.

„Unbewohnt und verkäuflich,“ flüsterte Harald, als wir an dem Turme vorüber der Villa zu schlichen. „Du hast doch das Plakat an dem Pfahle gesehen, nicht wahr?“

Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als er mich hastig hinter einen Busch und in einen schmalen Steg zog, wo wir jetzt völlig im Dunkeln standen.

„Sie kommen!“ hauchte er.

„Wer?!“ – Meine Frage war überflüssig gewesen.

„Zähle!“ erwiderte Harald.

Da kamen sie schon auf dem Hauptwege entlang, einer hinter dem andern, dreizehn Männer, jeder eine tief herabreichende Seidenmaske vor dem Gesicht.

Dreizehn Männer! Gerade dreizehn!

Und der Figur nach erkannte ich in dem zweiten der Reihe Ernst-Edgar von Reppen! – Er schien der jüngste der dreizehn zu sein. Er schritt am elastischsten dahin. In seinen Bewegungen lag die Frische der besten Mannesjahre.

Ich ersah noch mehr aus seiner Haltung: einen gewissen hochmütigen Trotz! – Er trug den Kopf zurückgeworfen, und seine rechte Hand ballte sich wiederholt zur Faust.

Nun waren die dreizehn verschwunden – nach dem Turme hin. Das geringe Geräusch einer gut geölten, schweren Tür, die man langsam schließt, war an mein Ohr gedrungen.

„Im Turme also!“ flüsterte Harald leise.

Wir standen noch regungslos und warteten.

Da – ein Glück, daß wir uns nicht schon hervorgewagt hatten! – da kehrte einer der dreizehn zurück und ging der Villa wieder zu. Er ging hastig – wie einer, der etwas vergessen hat.

„Gib acht!“ hauchte Harst.

Ich blickte dem Manne nach. – Worauf wollte Harald mich aufmerksam machen?

„Reppen war der zweite,“ erwiderte ich, nur um etwas zu sagen.

„Das meine ich nicht, mein Alter. Aber still jetzt! Es wird sich fraglos noch mehr ereignen.“

Der Zug dieser dreizehn maskierten Männer hatte auf mich bereits einen so starken Eindruck gemacht. Dieser Eindruck war um so nachhaltiger, weil ich kurz vorher Harald aus ernstester Lebensgefahr befreit hatte und weil diese dreizehn Leute unzählige nicht leicht zu beantwortende Fragen in mir wachriefen.

Wer waren diese dreizehn?! Eine geheime Vereinigung etwa, die heute hier tagte?! Und – wie war Ernst-Edgar in diesen Kreis geraten, vor dem er doch offenbar sich fürchtete, wie sein ganzes Benehmen kurz nach seiner Ankunft bewiesen hatte?! – Aus diesen Fragen ließen sich wieder andere ableiten. Mit einiger Bestimmtheit konnte ich nur die erste entscheiden: es war eine geheime Gesellschaft, ein geheimer Verein oder Klub! Das geheime Kennwort dieser Leute war eben die Zahl 13! –

Harald stieß mich leise an.

Schritte nahten.

Und – Harst hatte nicht zu viel vorausgesagt: da kamen zwei Männer mit auf den Rücken gefesselten Armen, mit dicht verhüllten Köpfen und Stricken an den Füßen, die ihnen nur gestatteten, ganz kleine Schritte zu machen. Und hinter ihnen her ging der Maskierte, einen Revolver in der halb erhobenen Rechten. Mit der linken Hand schob er die beiden Leute, die offenbar noch aneinander gebunden waren, vorwärts.

Ich war so verblüfft über diesen Anblick, daß ich erst durch Haralds Berührung gleichsam erwachte.

„Hintertreppenroman!“ flüsterte er mit seltsamer Betonung. „Aber einigermaßen wirksam.“

„Wie meinst Du das?“ fragte ich mißtrauisch.

„Das wirst Du sehen! – Die drei sind im Turme verschwunden. Versuchen wir, ob wir ebenfalls in den Turm hineingelangen können.“

„Was bedeutet das alles?!“ flüsterte ich gespannt. „Du scheinst darüber mehr zu wissen, als Du mir verraten willst.“

„Ich weiß nichts. Ich vermute nur etwas. Wäre diese Vermutung richtig, dann hätte ich Eva Wilcword sogar noch unterschätzt.“

Ah – Eva Wilcword! – Ein Gedanke kam mir! Doch nein! Das konnte kaum zutreffen! Zu vieles sprach dagegen. Trotzdem sagte ich zögernd:

„Etwa eine Falle für uns?!“

„Vielleicht – vielleicht, lieber Alter. Vielleicht gehört Eva mit zu diesen dreizehn! Vielleicht war sie es, die jetzt eben die beiden Gefangenen holte. Vielleicht war der Verbrecherbund „Das Wort“ nicht ihre einzige Gründung.“

„Dann müßte ja aber Ernst-Edgar von Reppen, der doch Mitglied dieser 13 ist, Eva kennen! Und – Evas Name übte keinerlei Wirkung auf ihn aus. Besinne Dich: Du nanntest ihm diesen Namen!“

Harald legte mir leicht die Linke auf die Schulter.

„Glaubst Du denn, Eva wird diesen zweiten Bund als Weib unter ihrem Namen ins Leben gerufen haben?! Nein, Alterchen, Du sahst, sie war in Männerkleidern. Als Mann hat sie diesen Klub oder was es sonst ist, gegründet.“

„Bist Du denn überzeugt, daß sie die beiden Gefangenen vorbeiführte – gerade sie?!“

Fragen und Antworten folgten einander jetzt sehr rasch. Ich konnte Haralds Gesicht in der Dunkelheit hier unter den Bäumen nur ganz undeutlich erkennen. Mir schien’s, als ob er jetzt gutmütig lächelte.

„Du hast doch die dreizehn Männer vorhin vorbeidefilieren sehen, nicht wahr? Ist Dir nicht aufgefallen, daß sie alle außer Reppen dahinschritten wie ältere Leute – ohne jugendliche Elastizität?“

„Allerdings –“

„Und dann machte einer der dreizehn kehrt und holte die Gefangenen. Fiel Dir nicht auch da etwas auf?“

„Ja. Der Mann ging hastig und – durchaus nicht greisenhaft! Der Gang war federnd, war leicht, war –“

„– der einer Frau – eines jungen Weibes!“

„Du magst recht haben!“

„Also vielleicht Eva! – Es wäre zweckmäßig, die Pistolen anderswo unterzubringen. Stecken wir sie hinten in den Schoß unserer Jacken zwischen Futter und Stoff. Nimm Dein Messer und trenne mir die Naht dort etwas auf. Unsere Jacken haben ja dort lange Schlitze.“

Ich tat es. Die Idee sagte mir zu. Dort würde niemand unsere Clements suchen.

Harald brachte dann auch meine Waffe in derselben Weise unter. Wir hatten die Mehrladepistolen vorher gespannt und entsichert.

„So – nun der Turm!“ flüsterte Harst. „Er muß einen Blitzableiter haben. Er ist sehr hoch. Der Blitzableiter wird außen an der Mauer entlanglaufen. Sollte die Tür widerstehen, so bleibt uns noch dieser Weg!“

Wir schlichen weiter. Harald war zwei Schritt voraus. Die Tür war von innen verschlossen. Der Schlüssel steckte.

„Hätten wir die Patentzange mit, wär’s eine Kleinigkeit, ihn umzudrehen,“ meinte Harald ärgerlich.

So mußten wir denn den viereckigen Turm umrunden. An der Nordseite fanden wir den dicken Eisendraht des Blitzableiters.

„Warte!“ befahl Harald.

Er begann emporzuklettern.

Ich verfolgte ihn mit den Blicken. Der Turm hatte nur vereinzelte kleine Fenster. Harst schien an dem einen, das er vom Blitzableiter aus erreichen konnte, zu lauschen. Dann klomm er noch höher, schwang sich über die Zinnen auf das flache Dach.

Nun war er verschwunden. Und – im selben Moment packte mich auch schon die Angst um seine Sicherheit. Mir fiel ein, daß er heute schon einmal hatte beseitigt werden sollen. Die Angst trieb mich zu einem Entschluß. Ich zog mich an dem Eisendraht ein Stück empor, bis mein Fuß auf einem der Haken des Blitzableiters Halt fand. Ich gab mir die größte Mühe, jedes Geräusch zu vermeiden. Ich kam höher und höher.

Dann über mir Haralds Stimme:

„Hand her!“

Er half mir vollends empor.

„Dort die Dachluke war nur zugeklappt, nicht verschlossen,“ meinte er. „Ich war schon unten. Eine Leiter führt in das oberste Stockwerk hinab. Die dreizehn sitzen im zweiten Stock. Die Fenster haben sie dicht verhängt. Die Holztreppe knarrt nicht. – Komm’!“

Dann lagen wir lang auf dem Bauche an dem Fußbodenloch, durch das die Treppe nach unten lief.

Ein greller Lichtschein, einer großen Karbidlaterne entströmend, erleuchtete den Raum, in den wir so hinabschauten. Da saßen auf vier langen Gartenbänken die dreizehn Maskierten. Vor ihnen standen, nach der Treppe zu, die beiden Gefangenen. Man hatte ihnen die Tücher, die um ihre Köpfe gewickelt gewesen, abgenommen. Es waren zwei bartlose jüngere Leute, gut gekleidet, jetzt aber verstört und ohne Zweifel voller Angst vor diesem unheimlichen Gerichtshof.

„Beginnen wir!“ sagte jetzt einer der dreizehn.

Es war eine tiefe Männerstimme.

„Beginnen wir! Nummer acht mag die Anklage erheben!“

Neben dem Sprecher zur Linken saß ein schlanker Maskierter, der einen Revolver lässig in der Rechten hielt. Es war der Mann, in dem Harald Eva Wilcword erkannt zu haben glaubte.

Nun kam für uns die Überraschung.

Dieser Mann erhob sich. Schon nach seinen ersten Worten wußte ich, daß es nicht Eva war! Die Stimme unserer Feindin klang ganz anders. Gewiß – ein Weib war es: Niemals Eva!

Und diese Frau sagte nun: „Wir nennen uns Freunde der Gerechtigkeit! Unser Klub, nach außen hin eine Vereinigung mit schöngeistigen Bestrebungen, wurde gegründet, um in Fällen, wo die Justiz des Staates aus irgend einem Grunde machtlos blieb, Schuldige zu bestrafen. – Jene beiden Leute dort klage ich an, meine Mutter, die Generalin de la Chevallerie, in der Nacht vom 13. zum 14. Oktober 1921 in ihrer Villa in Steglitz bei Berlin ermordet und ihr Schmucksachen und Geld im Werte von insgesamt vierzehn Millionen gestohlen zu haben. Diese beiden Mörder, in Untersuchungshaft genommen und durch falsche Zeugenaussagen wieder frei gelassen, sind jetzt durch uns überführt worden. – Schmelter und Glassen, wollt Ihr gestehen?“

„Niemals!“ sagte der eine der beiden dumpf. Der andere schüttelte den Kopf.

„Ihr kennt die Beweise, die der Klub gegen Euch zusammengetragen hat!“ fuhr die Tochter der Generalin erregt fort. „Ihr habt Zeit genug gehabt, Euch zu überlegen, ob Leugnen hier noch einen Zweck hat! Hofft hier nicht etwa auf Milde! Damit Ihr wißt, was Euch bevorsteht: auch die Giftmörderin Frau Kruzarke haben wir abgeurteilt! Die Welt glaubt, dieses Ungeheuer sei zu Verwandten nach Polen gezogen, nachdem das Schwurgericht sie freigesprochen hatte! In Wahrheit ist sie von uns abgeurteilt worden. Sie ist – tot! Nummer eins hat das Urteil vollstreckt!“ –

Ich besann mich, sowohl über den Fall de la Chevallerie als auch über den Giftmordprozeß Kruzarke etwas in den Zeitungen gelesen zu haben. Wir hatten damals noch in Indien uns mit Doktor Greebrac beschäftigt, jenem verbrecherischen Arzt, der uns monatelang in Atem gehalten hatte. –

Die beiden Angeklagten, die hier vor diesem seltsamen Gerichtshof standen, erwiderten nichts, wagten gar nicht aufzublicken.

Die Tochter der Generalin wartete ein paar Minuten. Dann sagte sie – und ihre Stimme klang hart und erbarmungslos:

„Ich beantrage gegen diese beiden Mörder die Todesstrafe. Nicht ohne Grund ist dieser Turm von uns für diese Gerichtssitzung auserwählt worden. Es ist ein Wasserturm. Unten im Erdgeschoß steht ein Elektromotor. Wir haben hier also die Möglichkeit, eine Hinrichtung durch elektrische Hochspannung zu vollziehen. Das Grundstück ist unbewohnt. Lassen wir die Leichen nachher im Turm liegen, wird niemand wissen oder je erfahren, wie Schmelter und Glassen umgekommen sind. Nummer zwei hat das Urteil zu vollstrecken. Er ist an der Reihe.“

Sie setzte sich wieder.

Der Sprecher schaute hinter seiner Maske hervor die Angeklagten eine Weile an. Dann erklärte er:

„Wir werden abstimmen! Führt die beiden wieder nach oben!“

Nun war es für uns höchste Zeit, uns zu verbergen. Harald zog mich mit sich fort. Seine Taschenlampe blitzte auf, erlosch wieder. Da standen zwei riesige eiserne Wasserbehälter. Sie füllten fast den ganzen Raum hier oben aus. Nur in der Mitte, wo die Leiter an der Dachluke lehnte, war ein schmaler Durchgang bis zur Treppe.

Harst stieg rasch die Leiter empor. Ich folgte. Die Dachluke wurde wieder zugeklappt.

Von der nahen See fuhr ein frischer Windstoß durch die Baumkronen. Im Osten lichtete sich der Himmel bereits.

„Das ist ja ein Klub von Wahnsinnigen!“ flüsterte ich. „Wie können nur Leute einer solchen Vereinigung beitreten!“

„Oh – denk’ doch an die heilige Feme im Mittelalter,“ meinte Harald. „Ich könnte Dir eine ganze Menge von Geheimbünden nennen, die ähnliche Zwecke verfolgt haben.“

„Aber diese Urteile, die sie fällen und vollstrecken, sind doch Mord! Unbegreiflich, daß Ernst-Edgar von Reppen diesem Klub angehört!“

„Doch nicht so ganz unbegreiflich! Sein Vater war um eine wertvolle Erbschaft betrogen worden. Da mag der Sohn gehofft haben, durch den Klub den betrügerischen Onkel entlarven zu können.“

„Allerdings – das wäre möglich! – Jedenfalls: Eva Wilcword hat mit diesen dreizehn nichts zu schaffen!“

„Und – Reppen ist jetzt an der Reihe, das Urteil in die Tat umzusetzen, den Henker zu spielen! Ich sah, wie er zusammenzuckte, als die Tochter der Generalin von „Nummer zwei“ sprach. Jetzt verstehe ich auch seine Angst vor dem Klub. Er weiß, daß er gehorchen muß, daß er heute zwei Leute – töten soll! Das ahnte er schon, als er auf dem Bahnhof von dem angeblichen Hoteldiener das Zimmer Nr. 13 angeboten erhielt!“

„Armer Reppen! Wie mag er es jetzt bereuen, jemals Mitglied dieser dreizehn geworden zu sein!“

Harst hatte sich schon gebückt, hatte die Luke wieder etwas angehoben.

Dann flüsterte er:

„Hinab! Schnell! Wir werden Reppen die Augen öffnen!“

Dieser Ausdruck machte mich stutzig. Was hieß das: Augen öffnen?! – Hatte dieser rätselhafte Klub doch vielleicht noch seine besonderen Geheimnisse?! Ahnte Harald etwas davon?! –

Wir huschten die Leiter abwärts.

Und abermals flammte Haralds Taschenlampe kurz auf. Da rechts standen die beiden Angeklagten – an das Geländer der quadratischen Öffnung im Fußboden festgebunden.

Durch die Öffnung fiel immerhin genügend Licht hier nach oben, um ihre Gestalten als dunkle Silhouetten wahrnehmen zu können.

Harald trat näher an sie heran.

Was wollte er eigentlich?! Etwa den Klub zwingen, diese Leute den Behörden zu übergeben?! Wollte er, daß wir beide es hier mit diesen dreizehn aufnehmen sollten, die doch, vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, uns als Verräter ihrer Geheimnisse ebenso rücksichtslos behandeln würden wie sie ihre hirnverbrannten Ziele zu erreichen trachteten! Wollte er von ihnen mit der Waffe in der Hand Zusicherungen erpressen, die Ernst-Edgar von Reppen der Gefahr, den Henker spielen zu müssen, überhoben?!

Wenn ich in diesem Moment schon gewußt hätte, welch verwegener Plan von ihm jetzt eingeleitet wurde und wie vollständig er alles, was hier geschah, durchschaut hatte, dann würde ich, um das Risiko dieses gewagten Unterfangens zu verkleinern, ganz anders gehandelt haben. Aber mein Hirn hatte nicht die ungeheure Regsamkeit des seinen! Mein Hirn nahm die Tatsachen ohne jede scharfe Prüfung aller Einzelheiten hin, wie Harst sie bereits vollendet hatte. Und diese Prüfung hatte ihm die Gewißheit gegeben: So und so muß es kommen, und letzten Endes werde ich doch der Sieger sein!

Ich frage den Leser – und ich frage mit Recht: hat er bereits die Schachzüge dieser unheimlichen Intelligenz durchschaut? Hat er jetzt auch nur im entferntesten an die tote Karla von Reppen gedacht?

Ich glaube nicht!

So mag der Leser denn auch das weitere auf sich wirken lassen wie einen jäh herniederschießenden Sturzbach von unerhörten Vorgängen.

 

4. Kapitel.

Harald stand nun dicht vor den beiden Gefesselten. Und ich neben ihm.

Da war’s mir, als ob hinter uns plötzlich Geräusche erwachten – bedrohliche Geräusche.

Ich wollte mich umdrehen. Ich ahnte eine Gefahr.

Sie war schon da.

Ich fühlte den heißen Atem eines Menschen im Genick. Ich fühlte Hände, die blitzschnell meinen Hals umspannten, fühlte andere Hände an Armen und Beinen, wurde hochgehoben, wurde gewürgt, wurde halb bewußtlos.

Ein schweres Tuch glitt mir über das Gesicht.

Eine Hand preßte mir einen Knebel in den Mund.

Die Arme band man mir auf dem Rücken zusammen.

Und ich schwebte währenddessen in der Luft, gehalten von eisernen Fäusten.

Konnte jetzt atmen, kam vollends zu mir.

„Vorwärts – hinunter!“ hörte ich die Stimme der Tochter der Generalin.

Man schob mich. Ich tappte mit dem Fuße nach der Treppenstufe.

Und Stufe für Stufe hinab.

Blind – das Tuch vor den Augen.

Und stand nun still.

Fühlte Harald dicht neben mir.

„Schmelter und Glassen,“ sagte der Sprecher von vorhin, „wir, die Freunde der Gerechtigkeit, haben mit zwölf gegen eine Stimme Euch beide zum Tode verurteilt –“

Da fiel’s mir wie Schuppen von den Augen.

Wir – wir beide sollten hier hingerichtet werden. Man hatte uns gegen Schmelter und Glassen ausgetauscht.

Eva – Eva Wilcwords Rache –! Eva mußte diesen Klub kennen! Eva hatte dafür gesorgt, daß wir beide hier sterben mußten!

Ich merkte ja: das Tuch über meinem Kopf hing lang herab, hüllte mich ein.

Wie sollten die dreizehn erkennen, daß ich, daß Harst nicht die waren, die hier vor fünf Minuten sich hatten verantworten sollen?!

Doch nein: Eva Wilcword mußte unter diesen dreizehn Helfershelfer haben! Anders war diese Komödie nicht möglich! Ein Teil der Mitglieder war fraglos eingeweiht! Nur – Reppen nicht! Nein, der bestimmt nicht, denn der sollte ja der Henker sein! –

Da sprach der Mann schon weiter:

„Nummer zwei, Dir übergebe ich jetzt die beiden Verurteilten! Du kennst Deine Pflicht!“

„Niemals!“

Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie Reppen aufgestanden und mit einer halb verzweifelten Handbewegung, dieses „Niemals!“ hervorgestoßen hatte.

„Nein – ich tue es nicht!“ fügte er hinzu. „Ich bitte, mir den Austritt aus dem Klub zu gestatten. Ich ahnte nicht, daß der Klub auch derartige Eingriffe in die Justizautorität des Staates wagen würde! Als ich vor sechs Wochen Mitglied wurde, schwor ich Gehorsam auf die Statuten, die man mir vorgelesen hatte. In diesen Statuten stand nichts von Mord – von Urteilsvollstreckungen. Erst gestern in Berlin kam ein Unbekannter zu mir und stellte sich mir als Klubmitglied vor, erzählte mir vom Tode der Giftmörderin Kruzarke und sagte mir, ich als „Nummer zwei“ der Mitglieder sei jetzt an der Reihe, den bedingungslosen Gehorsam gegenüber unserer Vereinigung durch die Tat zu beweisen. Bevor ich diesem Fremden noch etwas erwidern konnte, hatte er das Zimmer schon verlassen. Ich frage nun, und wohl mit Recht: weshalb führe gerade ich im Klub die Nummer zwei?! Ich bin als dreizehnter eingetreten, nicht als zweiter! Ich habe –“

Da fiel der Sprecher ihm ins Wort:

„Die Nummern sind ausgelost worden, bevor Du Mitglied wurdest! Das ist Dir schon einmal gesagt worden. Es blieb für Dich als dreizehnten nur die Nummer zwei übrig. Mehr als dreizehn Mitglieder nehmen wir nicht auf. Die Nummer dreizehn selbst ist mir vorbehalten.“

Reppens Erregung schien zu wachsen. Man merkte es seiner Stimme an.

„Ich bin zu jedem Opfer bereit, wenn der Klub mich frei gibt!“ rief er.

„Opfer?“ höhnte der Dreizehnte. „Etwa Geld?! Welchen Wert haben heute Papiermillionen?! Gar keinen! Außerdem: Schwur ist Schwur! Du bist einer der unsrigen. Du bleibst es. Uns trennt nur der Tod!“

Armer Reppen! Er, der neue Majoratsherr, war hier in eine Gesellschaft höchst anrüchiger Leute geraten. Ich ahnte jetzt, was diese „Freunde der Gerechtigkeit“ beabsichtigten, und eine namenlose Wut packte mich gegenüber so viel raffinierter Verworfenheit! Kein Zweifel: Harald hatte völlig recht gehabt, als er vorhin andeutete, daß hinter alledem Eva Wilcword als treibende Kraft steckte! Ich vergaß über diesen Gedanken vorkommen unsere eigene Lage, völlig das, was uns drohte.

„Ich tue es nicht!“ wiederholte Reppen da in verbissenem Trotz. „Sucht Euch einen anderen Henker!“

Plötzlich laute Rufe.

Ich hörte auch, daß jemand die Treppe emporstürmte.

„Nicht schießen!“ gellte die Stimme des Sprechers.

Ich begriff, was geschehen: Reppen war nach oben geflüchtet!

Dann ein dumpfer, hallender Krach: Reppen hatte auf der Plattform Zuflucht gesucht und die Dachluke hinter sich zugeworfen.

Schritte rasten die Treppe empor.

Und im selben Moment – mehr zu erraten als zu verstehen:

„Bücke Dich! Wirf das Tuch ab!“

Haralds Stimme war’s gewesen.

Ich tat’s. Und es glückte.

Ich richtete mich wieder auf.

Ich sah jetzt – sah alles ringsum.

Da stand die große Karbidlaterne. Da standen sechs des Klubs.

„Er hat den Knebel herausgestoßen! Reißt ihn nieder!“ brüllte jemand.

Da – peng – peng –

Harst hatte gefeuert – hatte die Clement aus dem Jackenschoß herausgenommen. Feuerte mit der gefesselten Hand, sich halb schräg stellend.

Auf den zweiten Schuß zersplitterte die Laterne, erlosch.

„Treppe hinab!“ kam Harsts Stimme.

Dort links war die Treppe, die nach unten führte.

Ein Satz – ich fühlte die Stufe.

Ich hastete hinab.

Da war im unteren Stockwerk ein ganz schwacher Schimmer von Tageslicht. Draußen graute der Morgen. Dämmerung kroch durch die Fenster hinein. Da war der Elektromotor, das Pumpwerk des Wasserturmes. Da war Harst, der am Fuße der Treppe nach oben rief:

„Wer sich herabwagt, erhält eine Kugel!“

Oh – das war ein Triumph für uns! Das war der Sieg!

Denn von der Plattform her jetzt ebenfalls Schüsse – Revolverschüsse, – dünn und rasch verhallend, aber doch ein Alarmruf für die Nachbarn.

„Rasch – die Knoten auf – rasch!“ flüsterte Harald.

Oben liefen die Klubleute aufgeregt hin und her.

Wir hatten uns hinter das Pumpenrohr gestellt. Zum Glück! – Kugeln zischten, platschten gegen die Wände.

Harald drängte mich fort.

Er feuerte wieder.

Oben ein kurzer Aufschrei.

„Tür aufschließen, mein Alter!“

Ich sprang zur Tür, reckte mich hoch, ergriff mit den gefesselten Händen den Schlüssel, drehte ihn um – zweimal.

Bekam den Drücker zu fassen.

Stieß die Tür auf.

Flog ins Freie – behielt den Schlüssel in der Hand.

Harst nahm ihn mir ab. Verschloß die Tür.

Sieg – Sieg! Wir hatten den Klub – wir hatten fraglos auch Eva mit hier eingesperrt.

Ich knotete Harald die Fesseln vollends auf. Ich war selbst frei.

„Du die Nord- und Ostseite – ich die anderen Seiten!“ befahl er. „Du läßt keinen zum Fenster hinaus!“

So bewachten wir den Turm. Es war die reinste Räuberromantik.

Ich hatte mich hinter einen Baum gestellt. Ich hörte Harald rufen:

„Herr von Reppen – Herr von Reppen!“

Und von oben die Antwort:

„Teufel – sind Sie’s wirklich, Herr Harst?!“

„Ja –! Bewachen Sie die Luke! Keiner darf heraus!“

„Keine Sorge! Bin bewaffnet!“

Dann schon andere Stimmen. Drei Bahnbeamte nahten. Reppens Schüsse hatten sie herbeigelockt.

Harst klärte sie auf.

Das war so etwas für die drei!

„Wir helfen, Herr Harst!“ versicherten sie.

Hinter mir vom Zaun des Nachbargrundstücks ein Anruf:

„Herr, was ist hier los?! Was soll diese Schießerei?“

Ein Mann stand da, eine Dogge am Halsband haltend, eine Mauserpistole in der Hand.

Ich sagte ihm hastig, wer wir waren, wer dort im Turme steckte: Verbrecher!

Er kletterte über den Zaun. Die Dogge sprang elegant herüber.

Der Mann stellte sich neben mich. Es war der Gärtner der Nachbarvilla.

 

5. Kapitel.

Seltsam: im Turme Totenstille! Kein Laut – nichts! Kein Gesicht an den Fenstern – kein Versuch mehr, auszubrechen!

Wir erhielten noch mehr Verstärkung. Der Turm war jetzt dicht umstellt.

Und – noch immer kein Laut von drinnen.

Harst kam zu mir.

„Was hältst Du davon?!“

„Weiß nicht!“

Dann Reppens Stimme von der Plattform:

„Herr Harst, sie wollen sich ergeben!“

„Dann sollen sie einzeln den Turm verlassen!“

Nun auch ein Gesicht an dem kleinen Fenster neben der Tür. Es war einer der beiden Leute, die hier Schmelter und Glassen gespielt hatten.

„Herr Harst!“ rief der Mann, „Eva Wilcword ist tot. Wir ergeben uns.“

Ah – also wirklich: unsere Feindin war dabei gewesen.

„Sie hat sich vergiftet,“ fügte der Mann hinzu. „Sie hat ihnen diesen Zettel hinterlassen.“

Er warf Harald ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu.

Wir lasen:

„So haben Sie doch gesiegt, Harald Harst! Und gerade hier, wo ich meine Rache bestimmt vollenden zu können gehofft hatte. – Sie werden den Zusammenhang längst begriffen haben: ich hatte außer dem großen Verbrecherbund noch diesen zweiten Klub gegründet – nur Reppens wegen! Die Klubmitglieder sind bis auf Reppen meine Kreaturen. „Freunde der Gerechtigkeit“ nannten wir uns, um Reppen an uns zu locken. „Freunde der Rache“ waren wir. Reppen sollte Majoratsherr werden, sollte Sie beide dann nötigenfalls richten. Dann hätten wir ihn ganz in der Hand gehabt. Dann wäre er uns mit Leib und Seele verfallen gewesen – er und seine Reichtümer. Das wollten wir! Wir haben uns natürlich niemals um die Mörder der Generalin gekümmert, ebensowenig um die Kruzarke! Die „Tochter“ der Generalin war heute hier eine bekannte Taschendiebin. – Wünschen Sie noch näheren Aufschluß, so fragen Sie meine Kreaturen aus. Ich selbst verzichte darauf, vor ein Schwurgericht und von da zur Hinrichtungsstätte zu kommen. Ich richte mich selbst. Jetzt werden Sie Ruhe vor mir haben. Die beiden Zigeuner, von denen Sie aufgeknüpft wurden, handelten ohne meinen Befehl. Hätten wir Sie beide heute nicht hierher gelockt, wäre es morgen geschehen. Jeder Ihrer Schritte wurde beobachtet. – Sie haben gesiegt. Zyankali tötet rasch. Mein Fluch Ihnen beiden über alle Ewigkeit hinaus! – Eva Wilcword.“

Angeekelt zerriß Harald den Zettel und streute die Schnitzel in die Büsche. –

Dann kamen sie heraus, die vierzehn Gefangenen, – in großen Abständen.

Alles Verbrecher, von der Polizei längst gesucht, wie sich später herausstellte.

Ein Fang war’s, wie wir ihn noch nicht gemacht hatten. –

Als der letzte erschien, fragte Harald, wo sich die Leiche Eva Wilcwords befände.

„Im Mittelstock!“ erklärte der Mann finster. Es war der „Sprecher“. Er hatte eine Kugel im linken Oberarm – Harsts Kugel!

Wir beide gingen nun in den Turm hinein. Hinter uns kam der Gärtner mit der Dogge.

„Schicken Sie den Hund nach oben,“ wandte Harald sich plötzlich am Fuße der Treppe an den Mann.

Die Dogge flog die Stufen bellend empor.

Verschwand.

Harst war stehen geblieben, schaute mich an.

Die Dogge bellte oben noch lauter.

Nun Reppens Stimme vom obersten Stockwerk:

„Harst – Harst, Vorsicht! Das Weib lebt!“

Ein Wutschrei – ein Schuß.

Die Dogge heulte auf.

Poltern – ein Krach.

Dumpf knurrte der Hund.

Und wieder Reppen:

„Sie schoß auf mich. Der Hund hat sie niedergeworfen.“

Harald stürmte die Treppe hinan. Ich hinterdrein.

Da lag Eva Wilcword quer über einer der umgestürzten Bänke. Der Revolver ein paar Schritt weiter.

Da lag sie – betäubt von dem Sturz – wehrlos.

Der Gärtner rief die Dogge zurück.

Wir hoben die Feindin auf. Wir waren auch diesem letzten Anschlag entgangen. Sie hatte den Selbstmord nur vorgetäuscht, hatte uns niederknallen wollen, sobald wir uns der „Leiche“ genaht hätten.

Sie kam sehr bald wieder zu sich. Ein Blick traf Harst – ein Blick ohnmächtiger Wut, wildesten Hasses.

Kein Wort sprach sie mehr. –

Man schaffte die fünfzehn Gefangenen in einem Autoomnibus ins Gefängnis nach Swinemünde. Landjäger begleiteten den Transport. Wir fuhren in Reppens Auto voraus.

Freund Bechert traf aus Berlin mittags im Kraftwagen ein und verhörte die Gefangenen. Eva als letzte. Wir waren dabei. Eva leugnete nichts, gab auch zu, daß Karla von Reppen auf ihren Befehl hin erschossen worden war, gab weiter zu, daß sie Reppen hatte völlig ausplündern wollen, nachdem er uns hätte „hinrichten“ müssen.

Die zynische Offenheit dieses Weibes wirkte so abstoßend, daß selbst Bechert, der doch genug Verworfenheit in seinem Leben kennengelernt hatte, empört rief:

„Weshalb dieser Mord an dem jungen Mädchen, Sie Ungeheuer?!“

„Vielleicht – vielleicht wollte ich Reppen zwingen, mich zu heiraten,“ lächelte sie. „Vielleicht war mir seine Schwester da im Wege!“ –

Man brachte sie in ihre Zelle zurück.

Und – abends fand man sie tot auf. Sie hatte sich jetzt wirklich vergiftet. Sie mußte das Gift irgendwo am Körper verborgen gehabt haben. –

Wir blieben noch drei Tage auf Schloß Sandburg. Dann rief uns eine Depesche nach Berlin zurück.

Eva Wilcword war eine der unsympathischsten Verbrecherinnen, die uns je begegnet sind. Ihr Charakter wies auch nicht den geringsten versöhnenden Zug auf. Geldgier, Machthunger und ein unwiderstehlichen Trieb zum Bösen hatten sie von Verbrechen zu Verbrechen gehetzt. Harald erwähnte sie nie mehr. Wir vergaßen sie auch sehr bald. Ein anderer Typ von modernem Gesetzesverächter nahm uns so vollständig in Anspruch, daß Evas Bild mit all den häßlichen Einzelheiten in kurzem in unserer Erinnerung völlig verblaßte.

Ja – ein anderer Typ! Diesen Mann soll der Leser im folgenden Band kennen lernen.

 

Nächster Band:

Der tote Zigeuner.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „dreißigjährigen“.
  2. In der Vorlage steht: „Hans“. Nur in Heft 87, 89 und 90 heißt der Kriminalkommissar Bechert „Hans“ mit Vornamen. Dagegen in allen anderen Heften davor und danach „Fritz“. Bandübergreifend und einheitlich auf „Fritz“ geändert.
  3. Fehlendes Wort „von“ ergänzt.