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Giftkonfekt

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 89:

 

Giftkonfekt.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.

 

1. Kapitel.

Die Namen Eva Wilcword und Xaver Holdstein haben in der Chronik des internationalen Verbrechertums etwa dieselbe zweifelhafte Berühmtheit erlangt wie die des Hoteldiebes „Fürsten“ Lahovari, Jack des Aufschlitzers und ähnlicher berüchtigter Herrschaften. Der Leser wird sich aus Band 87 noch besinnen, wie wir durch den „Geisterspiegel“ mit diesem Hochstaplerpaar zusammengerieten und wie Harald die beiden um eine Milliardenbeute an Edelsteinen brachte, wobei die damals in der Presse so viel genannte Familientasse eine Hauptrolle spielte.

Eva, Xaver und ihr Anhang waren uns damals entkommen. Die Umstände lagen sehr ungünstig für uns. Wir mußten dieser gefährlichen Gilde einen Vorsprung von vier Stunden gewähren, und diese vier Stunden hatten ihnen genügt, spurlos zu verschwinden. Unser Freund, Kriminalkommissar Bechert, hatte zwar sofort den ganzen Polizeiapparat aufgeboten, um die Bande schleunigst hinter Schloß und Riegel zu bringen, jedoch ohne Erfolg.

Dann rief uns eine Depesche nach Petersburg. Nach unserer Heimkehr nach Berlin wurden wir durch den in Band 88 geschilderten Fall („Geheimnis des Wannsees“) einige Tage in Anspruch genommen, so daß wir Eva und Xaver fast schon vergessen hatten.

Am 19. Mai nachts elf Uhr ging ein sehr schweres Gewitter über die westlichen Vororte von Berlin hinweg. Auch in eine Linde des Harstschen Obstgartens schlug der Blitz ein und riß große Stücke der Rinde weg.

Am 20. morgens neun Uhr waren Harald und ich gerade damit beschäftigt, der Linde einen kunstgerechten Verband anzulegen, als Fritz[1] Bechert sich einfand.

„Sie könnten mir einen Gefallen tun, lieber Harst,“ meinte er nach kurzer Begrüßung. „Ich bin da heute früh sechs Uhr nach der Uhlbornschen Villa im Tiergartenviertel gerufen worden, wo man neben einer vom Blitz ebenfalls übel zugerichteten Buche die Leiche des Hauslehrers des Kommerzienrats Uhlborn aufgefunden hat. Die verbrannte Hutkrempe des jungen Menschen und das zum Teil schwarz verfärbte Gesicht beweisen, daß er unter dem Baume gestanden hat und vom Blitz getötet worden ist. Der Kommerzienrat hat mich nur deshalb von diesem Unglücksfall benachrichtigt, weil man in der zusammengeballten Faust des Toten eine Papierkugel fand, einen Zettel, den ich Ihnen hier mitgebracht habe.“

Er reichte Harald einen zerknitterten halben Briefbogen von lila Farbe mit schmalem Goldrand.

Darauf stand in einer kindlich unbeholfenen Handschrift:

Einzig Geliebter! Um elf Uhr wie stets unter der Buche. Sei pünktlich. Ich habe Dir sehr Wichtiges mitzuteilen. – Deine E.

Harald drehte das Blatt um und sagte dann, nachdem er es noch mit der Lupe kurz geprüft hatte:

„Ich kann mir schon denken, weshalb Uhlborn durch diesen Zettel stutzig wurde. Der junge Hauslehrer dürfte ein sehr streng moralischer Mensch gewesen sein, dem Uhlborn eben keine Liebschaft zutraute.“

„Ganz recht!“ nickte Bechert. „Dieser Heinz Galley steht über jedem Verdacht, sich im Garten seines Brotherrn Stelldicheins gegeben zu haben. Das betonte Uhlborn immer wieder. Galley war seit drei Jahren dort Hauslehrer, und seine Lebensführung war von spartanischer Einfachheit und von einer jeder Heuchelei entbehrenden Sittenstrenge. Es sei ausgeschlossen, erklärte Uhlborn mir, daß Galley einem Mädchen den Schlüssel zur Nebenpforte des Gartens überlassen habe. Ohne den Schlüssel hätte das Mädchen nicht hineingelangen können. Und auf dem Zettel stehe nichts davon, daß Galley das Mädchen erst einlassen solle, sondern lediglich: „– wie stets unter der Buche.“ – Der parkartige Garten hat eine sehr hohe Mauer. Außer dem Haupteingang gibt es da in der östlichen Mauer noch eine kleine eiserne Pforte mit einem Patentschloß, die auf einen schmalen Zufuhrweg mündet. Galley als einziger benutzte diese Pforte zuweilen und hatte auch einen Schlüssel dazu. Den Schlüssel fand ich in seiner Beinkleidtasche.“

„Wohin ist die Leiche geschafft worden?“ fragte Harald, indem er das lila Blatt abermals prüfend beschaute.

„In das Zimmer des Toten im Erdgeschoß der Villa, lieber Harst.“

„Gut, wir begleiten Sie, Bechert. Die Sache ist anrüchig. Da haben Sie recht. Der Zettel hier ist Galley erst nach dem Gewitter und nach dem sintflutartigen Regen in die linke Hand gesteckt worden. Er müßte feucht, halb aufgeweicht gewesen sein. Aber – davon sieht man keine Spur! Dieses Papier ist nie naß geworden. Und bei dem Regenguß hätte es selbst in einer zusammengeballten Hand naß werden müssen.“

„Daran habe auch ich schon gedacht,“ sagte Bechert zögernd. „Ich möchte noch etwas erwähnen, eine mehr gefühlsmäßige Beobachtung: Uhlborn kam mir über Gebühr aufgeregt vor.“

„So?! Wie äußerte sich diese Aufregung?“

„Er – er redete mir zu viel. Und dann – seine Verteidigung des Toten klang so – so erzwungen.“

Wir schritten dem Hause zu.

„Wer fand denn den Zettel in der Hand der Leiche?“

„Der Diener des Kommerzienrats, ein älterer Mann, seit zehn Jahren in dieser Stellung bei Uhlborn.“

„Und – wem gab er den Zettel?“

„Der Kommerzienrätin, da Uhlborn gerade massiert wurde.“

Harald schwieg jetzt. Nach zehn Minuten bestiegen wir das draußen wartende Dienstauto Becherts und fuhren nach der Derfflingerstraße zu Uhlborn.

Der Kommerzienrat, ein hagerer, kühl-vornehmer Mann von vielleicht fünfundvierzig Jahren, führte uns in Galleys Zimmer.

Der Tote lag auf dem Bett. Harald untersuchte ihn und ebenso den Hut mit der zum Teil verkohlten Krempe. Der Hut war noch naß. Auch die Kleider der Leiche waren völlig durchweicht.

Harst stand jetzt, den Hut Galleys in der Hand, am Fenster. Uhlborn lehnte rechts am Schreibtisch.

„Dürfte ich Sie einiges fragen, Herr Kommerzienrat,“ sagt Harald nun, indem er seine grauen Augen fest auf Uhlborns Gesicht richtete. Er nahm den halben Briefbogen aus der Tasche und hielt ihn etwas hoch.

„Kennen Sie dieses Briefpapier?“

Uhlborn schoß das Blut ins Gesicht.

„Nein.“

„Diese kindliche Handschrift auch nicht?“

Da fuhr Uhlborn auf. „Herr Harst, was sollen diese merkwürdigen Fragen?! Ich muß Sie dringend bitten, mir zu erklären –“

„Oh – das werde ich, Herr Kommerzienrat,“ fiel Harst dem Erregten ins Wort. „Also – kennen Sie diese Schrift?“

„Nein. Wie sollte ich wohl?!“

„Wo pflegen Sie Ihr eleganteres Briefpapier zu kaufen?“

Ah – abermals verfärbte Uhlborn sich!

„Ich – ich kaufe mal da, mal da, Herr Harst. – Würden Sie jetzt vielleicht –“

„Sofort. – Nur noch eine Frage: Waren Sie in der vergangenen Nacht im Park? Und zwar während des Gewitters, also gegen ein Viertel zwölf?“

Uhlborns Gesicht verzerrte sich.

„Herr – was soll das alles!“ rief er keuchend. „Das – das sind versteckte Verdächtigungen!“

„Welcher Art?!“ meinte Harald kühl. „Glauben Sie, daß ich Sie verdächtigen will?! Weshalb denn?! Galley starb durch Blitzschlag. Ich möchte lediglich aufklären, woher dieser Zettel stammt.“

Er führte ihn langsam an die Nase, sog die Luft prüfend ein, fügte hinzu:

„Sie benutzen das Parfüm Safranor, Herr Kommerzienrat. Ich kenne so ziemlich alle Wohlgerüche. Und dieser halbe Briefbogen duftet ebenfalls nach Safranor. Es ist jetzt etwas aus der Mode gekommen und nicht gerade häufig in der eleganten Welt anzutreffen.“

Abermals zuckte Uhlborn zusammen. Er beherrschte sich jedoch, sagte kalt:

„Ich habe den Zettel, nachdem meine Frau ihn mir gegeben hatte, auf meinen Waschtisch auf den Aufsatz gelegt. Da steht eine Flasche Safranor. Der Zettel mag auf diese Weise den – den Duft angenommen haben.“

Wie unsicher das klang! Er log natürlich.

Da mischte sich auch schon Bechert ein.

„Herr Kommerzienrat,“ sagte er sehr dienstlich, „die Dinge haben hier durch Harsts Eingreifen eine Wendung genommen, die mich zwingt, Sie jetzt als Beamter nochmals zu fragen: Waren Sie in der verflossenen Nacht während des Gewitters im Park?“

„Nein!“ – Man merkte, daß Uhlborn jetzt seine Fassung wiedergewonnen hatte. „Ich kehrte erst um zwei Uhr heim. Ich war im Universum-Klub am Nollendorfplatz.“

„Von wann an?“ forschte Bechert kurz.

„Von zehn Uhr abends.“

„Ununterbrochen bis zwei Uhr morgens?“

„Ja.“

„Sie können dies durch Zeugen beweisen?“

„Ich hoffe.“

„Das ist keine Antwort. – Was taten Sie gegen elf Uhr im Klub?“

„Ich saß im Lesezimmer.“

„Allein?“

„Ja, allein.“

„Bis wann? – Ich meine, wann trafen Sie mit anderen Klubmitgliedern zusammen?“

„Um – um halb zwölf etwa.“

„Ihre Angaben werden nachgeprüft werden, Herr Kommerzienrat.“

„Bitte.“

Eine feindselige Gewitterstimmung umlagerte uns.

„Gehen wir in den Park,“ sagte Harald.

Uhlborn schritt straff aufgerichtet voran.

Die Buche stand dicht vor einer Fliederlaube. Die Blitzspur in der Rinde war deutlich zu erkennen. Im übrigen verriet der kiesbestreute Boden rings um die Buche nichts. Der Regen hatte alle Spuren weggewaschen. Die vorhandenen Fährten stammten von Personen, die am Morgen den Platz betreten hatten.

„Ich möchte die Pforte mir ansehen,“ sagte Harst dann.

Uhlborn ging wieder voran. Der Garten war dicht bepflanzt. Die hohe Ziegelmauer und die kleine Tür sahen wir erst, als wir uns dicht davor befanden.

Harald war als letzter uns dreien gefolgt und ein Stück zurückgeblieben.

Ohne die Pforte zu beachten, wandte er sich jetzt an Uhlborn:

„Weshalb führten Sie uns auf einem Umwege hierher? Wir hätten doch dort den Weg entlanggehen können, Herr Kommerzienrat.“

Uhlborns Augen verdunkelten sich in jäh aufsteigender Wut. Doch – er behielt seine Fassung, sagte achselzuckend:

„Ich war in Gedanken –“

„Wo?!“

Da brauste Uhlborn auf. „Herr, ich verbitte mir dies alles! Sie sind nicht Beamter. Mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen!“

Das war sehr töricht von ihm.

Harald erwiderte gelassen: „Sie kämpfen hier für eine verlorene Sache. Sie täten besser, die Wahrheit einzugestehen, denn – Sie kennen die Schreiberin des Zettels!“

„Vielleicht beweisen Sie mir das!“ höhnte Uhlborn erbittert.

„Ich werde es beweisen! – Machen wir kehrt, Bechert. Dort in den Büschen an dem Wege, den der Herr Kommerzienrat soeben mied, liegt ein Pavillon. Vielleicht finden wir dort etwas.“

 

2. Kapitel.

Der Glaspavillon stand auf vier gemauerten Pfeilern. Er war dicht von Riesenfarnen umgeben. Sieben Steinstufen führten zu der Flügeltür empor. Sie war unverschlossen. In dem achteckigen Raume befanden sich ein Bastteppich, vier Korbsessel und ein einfacher Holztisch, der rechts schräg an der Wand lehnte.

Harst trat allein ein. Er sah sich sehr genau um, kam dann wieder heraus und sagte zu Bechert:

„Gehen Sie nur mit dem ein Kommerzienrat voran. Wir kommen nach.“

Bechert blickte Harald an. Er verstand ihn.

„Bitte, Herr Kommerzienrat,“ meinte er und machte eine Handbewegung nach der Villa zu.

Und – da erbleichte Uhlborn.

Erbleichte so stark daß sein Gesicht völlig verändert schien.

Bechert wiederholte seine Aufforderung.

„Ich gehe ja schon!“ stieß Uhlborn hervor und stieg die Treppe hinab.

Wir schauten ihm und Bechert nach. Schweigend schritten sie dahin, verschwanden hinter einer Biegung des Weges.

Da sagte Harald leise:

„Mein Alter, glaube nicht, daß ich bereits weiß, was hier geschehen ist. Nur eins weiß ich: Heinz Galley ist nicht durch Blitzschlag getötet worden, und Uhlborn spielt hier eine mehr als zweifelhafte Rolle.“

Ich starrte Harst an. „Nicht durch Blitzschlag? Aber – aber das Aussehen der Leiche?!“

„Komm’!“ meinte er. „Tritt ein. Schau’ Dir den Pavillon innen an.“

Ich tat es. Da war jedoch nichts besonderes zu sehen.

„Schau’ nach oben,“ sagte Harald.

Ja – an der Decke hing eine elektrische Lampe mit langen Glasprismen. Ich hatte schon draußen bemerkt, daß elektrische Drähte von der Villa zum Pavillon führten. Aber – an der Lampe konnte ich nichts Auffälliges feststellen.

„Nun sieh Dir den Bastteppich an,“ fügte Harst hinzu. „Er liegt nicht glatt. Stelle mal den Fuß auf diese Stelle.“

„Hier befindet sich etwas unter dem Teppich,“ erklärte ich rasch.

Harst bückte sich schon und hob ihn halb empor.

Da lagen zwei lange besponnene dicke Kupferdrahtstücke! Jedes war etwa zwei Meter lang.

„Und jetzt betrachte die Tischplatte, mein Alter –“

Auf dem grün gestrichenen Holz waren die Spuren sandig und feucht gewesener Sohlen zu sehen. Diese Spuren, längst wieder getrocknet, verrieten, daß auf dieser Tischplatte Leute gestanden hatten.

„Hier ist Galley getötet worden – durch elektrischen Strom, den man der Lampe da oben entnahm,“ erklärte Harald leise. „Oder, wenn das nicht, so ist doch der elektrische Strom dazu benutzt worden, das Gesicht eines bereits Toten zu entstellen, damit man ihn unter die Buche als Opfer – scheinbares Opfer eines Blitzschlages legen konnte.“

Er schlug den Bastteppich wieder zurück, ließ die Drähte liegen und stellte den Tisch unter die Lampe.

„Man hat Galley hier auf den Tisch auf einen der Korbsessel gesetzt,“ erklärte er. „Da – die Mitte des Tisches zeigt keine Fußspuren, weit dort der Korbsessel stand. Dann waren die Drähte gerade lang genug.“

Nun nahm Harst die Korbsessel einzeln und besichtigte sie mit peinlichster Genauigkeit.

„Dieser ist es,“ sagte er, als er den dritten prüfte. „Hier auf dem bunten Stoff des Sitzpolsters sind lehmige Spuren vorhanden. – Ah – was ist denn dies hier?“

Und er zog aus dem Geflecht der Armlehne das Stümpfchen einer grünen dünnen Stearinkerze hervor, das sich dort festgeklemmt hatte.

Dieses Stümpfchen, vielleicht drei und ein halb Zentimeter lang, behandelte er wie etwas sehr Kostbares, hüllte es in sein Taschentuch ein und sagte mit einem leuchtenden Blick:

„Eine Visitenkarte, mein Alter! Denn – am Ende des Stümpfchens ist in dem herabgeflossenen Stearin ein Fingerabdruck zu erkennen. Das Stümpfchen hat gebrannt, als die Drähte oben an die Lampe angeschlossen wurden.“

Wir kehrten dann in die Villa zurück.

Der Diener führte uns in Uhlborns Arbeitszimmer, wo Bechert und der Kommerzienrat sich stumm gegenübersaßen.

Uhlborn schaute Harst, als wir eintraten, prüfend an. Harald blieb stehen.

„Hatten Sie letzte Weihnacht einen Tannenbaum, Herr Kommerzienrat?“ fragte er leichthin.

Uhlborn war verblüfft. Er witterte hinter dieser Frage eine Falle und nickte nur.

„Mit elektrischen Beleuchtungskörpern?“ wollte Harst wissen.

„Nein – mit Kerzen.“

„Mit den üblichen bunten dünnen Stearinkerzen?“

„Ja –“

Harst nahm sich einen Stuhl und setzt sich. Ich lehnte mich an die Tür.

„Herr Kommerzienrat,“ begann Harald leise, „die Dinge liegen für Sie jetzt noch ungünstiger, denn Galley ist offenbar – ermordet worden.“

Uhlborns Gesicht ward grüngelb.

„Ich rate Ihnen nochmals, die Wahrheit zu sagen,“ fuhr Harst erbarmungslos fort. „Tun Sie es nicht, ist Ihre Verhaftung unvermeidlich. Ich halte Sie nicht für Galleys Mörder, auch nicht für an der Tat beteiligt. Aber Sie sind fraglos gestern nacht im Park gewesen, und da wurden Sie Zeuge von Geschehnissen, die Sie vielleicht nur verschweigen wollen, weil Sie das Stelldichein unter der Buche nicht zugeben dürfen – als verheirateter Mann.“

Er hatte seine Stimme bis zum Flüstern gedämpft.

Auf Uhlborns Stirn lagen jetzt dicke Schweißperlen. Er stierte auf den seidig glänzenden Perser hinab, regte sich nicht.

„Wenn wir Ihnen nun fest versprechen, Sie zu schonen,“ fügte Harst eindringlich hinzu, „dann könnten Sie doch aussagen, was Sie wissen.“

„Die Skandalpresse erfährt ja doch alles!“ murmelte Uhlborn wie verzweifelt.

„Sie irren sich. Niemand wird etwas erfahren. Reden Sie! Sie kennen mich, meinen Ruf. Ich verbürge mich dafür, daß Ihre Ehe nicht leiden wird.“

Uhlborns Widerstand war gebrochen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Sie sollen die Wahrheit hören,“ flüsterte er. „Ich hatte vor zwölf Jahren, ein Jahr vor meiner Verheiratung, eine Liebschaft mit einer gewissen Ethelka Kavaratti. Ich lernte sie in Paris kennen. Sie war noch sehr jung und – sehr schön, eine kalte Schönheit. Vor meiner Hochzeit fand ich sie durch eine namhafte Geldsumme ab. Ich sah sie dann erst vor zehn Tagen wieder. Sie kam in mein Privatkontor nach Geschäftsschluß. Sie sagte, daß es ihr sehr schlecht ginge. – Ich besitze nun in dem nahen [Ort Lich]terfelde[2] ein kleines Schweizerhäuschen dicht am Walde, ganz einsam liegend. Ein altes Ehepaar hält es in Stand und wohnt dort in einem Anbau. Ich selbst benutze es nie. Dieses Häuschen kannte Ethelka von früher her. Sie bat mich, es vorläufig bewohnen zu dürfen. Es ist einfach möbliert. Ich gab ihr einen Brief an die Verwaltersleute mit. Ethelka war überglücklich. Ich schenkte ihr noch Geld, so daß sie ein paar Monate sorglos leben konnte, stellte aber die Bedingung, daß sie sich mir nicht wieder näherte. Sie sah recht ärmlich angezogen aus, hatte jedoch von ihrer früheren Schönheit nichts eingebüßt. Im Gegenteil – sie ist jetzt als reifes Weib noch reizvoller. – Wir trennten uns. Drei Tage drauf schickte sie mir einen Brief in meine Fabrik, in dem sie mich bat, ihr abends um elf eine Unterredung hier im Garten zu gewähren. Haus und Garten habe ich von meinen Eltern geerbt, und Ethelka kannte auch die Fliederlaube neben der Buche von früher her. In dem Briefe hieß es dann weiter, sie wolle nur ein einziges Mal noch mit mir dort weilen, wo wir einst so glücklich gewesen. – Der Brief rührte mich. So ließ ich mich denn herbei, ihr den Schlüssel zu der kleinen Pforte zu senden. Wir trafen uns um elf, blieben etwa zehn Minuten beisammen, ohne daß es zwischen uns zu irgendwelchen Vertraulichkeiten kam. Gestern schrieb Ethelka mir dann einen neuen Brief, flehte mich abermals um eine Zusammenkunft an. Sie würde auf jeden Fall sich um elf Uhr unter der Buche einfinden. –“

„Was haben Sie mit diesen beiden Briefen gemacht, Herr Kommerzienrat?“ fragte Harald jetzt, als Uhlborn nachsinnend schwieg.

„Verbrannt, Herr Harst.“

„So ist der halbe lila Briefbogen nicht für Sie bestimmt gewesen?“

„Das weiß ich nicht. Die Schrift ist jedoch die Ethelkas, und auch das Papier ist genau das gleiche wie das der beiden Briefe von ihr.“

„Erzählen Sie bitte weiter –“

„Ich schickte Ethelka auf diesen zweiten Brief keine Antwort. Ich wollte von ihr loskommen. Was ich für sie empfunden hatte, war längst erloschen. Als ich dann aber im Klub saß, packte mich doch wieder das Verlangen, mit ihr zu plaudern. Sie ist ein geistvolles Weib, kennt die ganze Welt, spricht sieben Sprachen. So fuhr ich denn in einem Mietauto bis zur Heydtstraße und betrat den Park, als gerade die ersten Regentropfen fielen. Ethelka stand in der Finsternis der Gewitternacht an die Buche gelehnt. Kaum hatten wir uns begrüßt, als ein Mann auf uns eindrang: Ethelkas Gatte! – Ich war ganz ahnungslos, wußte nicht, daß sie verheiratet sei. – Zum Glück blieb ich ruhig und klärte die Situation. Der Mann glaubte mir, daß er keinen Grund zur Eifersucht hätte. Im strömenden Regen verließen wir drei den Park durch die Pforte. Ethelkas Gatte, der Joseph Heinsold heißt, bedankte sich noch bei mir, daß ich ihm und seiner Frau das Häuschen in Lichterfelde überlassen hätte.“

„Merkwürdig!“ warf Harst ein.

„Doch nicht so ganz, Herr Harst. Heinsold war von Ethelka insofern belogen worden, als sie ihm gesagt hatte, ich sei ein alter Herr und ein Freund ihres Vaters. Er hatte ihr jedoch nicht recht getraut und uns nachspioniert. – Ich fuhr nach dem Klub zurück, und das Ehepaar nach Lichterfelde. – Erst im Auto, das mich zum Klub brachte, vermißte ich meinen Spazierstock. Ich hatte ihn über den Arm gehängt gehabt, als ich Ethelka unter der Buche begrüßte. Er mußte mir dann entglitten sein, als Joseph Heinsold erschien. Es regnete in Strömen und blitzte unausgesetzt. Bei dem Unwetter konnte ich nicht in den Park zurück und den Stock holen, den ich ja auf keinen Fall dort liegen lassen wollte. Ich stieg daher schon am Lützowplatz vor einer Konditorei aus, blieb hier bis gegen halb zwölf und nahm wieder ein Auto, betrat wieder den Garten durch die Pforte. Es tröpfelte nur noch. Das Gewitter war vorüber. Da gewahrte ich im Pavillon einen matten Lichtschein. Ich bin keineswegs feige. Ich dachte an Diebe. Heutzutage wird ja alles gestohlen, und im Pavillon gab es Korbmöbel. Ich schlich die Treppe empor –“

Er machte eine Pause und blickte Harald wie ratlos an.

„Nun – nun kommt das, Herr Harst,“ fuhr er fort, „was Sie mir nicht glauben werden. Ich schaute also durch die Türscheibe in den Pavillon hinein. Und – was sah ich?! – Da saß mein schüchterner, ehrbarer Hauslehrer in einem Korbsessel, und über ihn gebeugt, ihn umschlungen haltend, stand – Ethelka!“

„Ah!“ machte Harst.

„Ich war so verblüfft, daß ich in einem raschen Gefühl, nicht indiskret sein zu wollen, leider schnell die Stufen wieder hinabeilte. Ich fand meinen Stock unter der Buche und lief auf einem Seitenwege zur Pforte. Gegen drei Viertel zwölf war ich im Klub. – Wenn ich Ihnen nun noch sage, daß Ethelka gleichfalls Safranor benutzt, und wenn Sie jetzt mein Benehmen heute unter dem Gesichtspunkt nachprüfen, daß ich dafür sorgen mußte, daß niemand auf den Gedanken käme, ich könnte mich mit einer Frau im Park verabredet gehabt haben, dann werden Sie alles, was ich tat und verheimlichte, verständlich finden, Herr Harst. Ich mußte auch Herrn Bechert gegenüber, nachdem erst der unselige halbe Briefbogen in Galleys Hand entdeckt worden war, den Hauslehrer als einen Musterknaben hinstellen, obwohl ich ihn jetzt für einen Heuchler halte.“

Harst nickte: „Sie sind von jedem Verdacht völlig gereinigt, Herr Kommerzienrat. Gerade das scheinbar Widersinnige in Ihren Angaben beweist deren Wahrheit. – Eine Frage noch: Welche Art Beleuchtung brannte im Pavillon, als Ethelka den Hauslehrer umschlungen hielt?“

Uhlborn sann nach. „Erst jetzt denke ich daran,“ erklärte er, „daß ich eigentlich gar keine Lichtquelle gesehen habe. Es muß aber ein Licht oder eine Laterne hinter dem umgekippten Tisch sich befunden haben.“

„Joseph Heinsold bemerkten Sie nicht?“

„Nein. Das heißt: es war ja eigentlich nur das verliebte Pärchen beleuchtet. Die andere Seite des Pavillons lag in tiefem Dunkel da.“

Harst zog sein Zigarettenetui. „Sie gestatten, Herr Kommerzienrat. Dieser seltsame Fall ist ein paar Mirakulum wert. Der Zigarettenrauch feuert meinen Geist an. Das ist hier sehr nötig, denn – ehrlich gesagt! – ich finde mich in dieser Geschichte nicht zurecht. Ihre Beichte hat meine erste Theorie, in der Sie eine sehr scheußliche Rolle spielten, vollständig über den Haufen geworfen.“

Er rauchte bedächtig, formte tadellose Ringe und ließ viele Minuten verstreichen, bis er fragte:

„Wieviel Hauspersonal haben Sie? Zählen Sie bitte die Personen einzeln auf und geben Sie mir gleich an, wie lange diese in Ihrem Dienst stehen.“

Uhlborn nannte als vierten seinen Chauffeur Karl Herms, der erst acht Tage bei ihm sei. „Mein früherer Chauffeur wurde nämlich in eine Schlägerei verwickelt und übel zugerichtet. Herms ist nur zur Aushilfe da. Er hatte die besten Zeugnisse.“

„Dann möchte ich ihn sprechen,“ sagte Harald lebhaft und stand auf.

 

3. Kapitel.

Ich will mich kurz fassen, was die Verhaftung dieses Karl Herms, eines noch jungen Menschen mit energischem, klugem Gesicht, betrifft.

Harst durchsuchte die Stube des Chauffeurs und fand eine Schachtel mit Resten von Weihnachtskerzen. Diese Kerzen waren genau so geriffelt wie das grüne Stümpfchen aus dem Pavillon.

Herms leugnete natürlich. Er mußte dann seine leicht eingefetteten Fingerspitzen auf ein Blatt Papier drücken.

Diese Abdrücke verglich Harst mit der Lupe mit dem Abdruck auf dem Lichtstumpf. Das Muster war genau dasselbe wie das von Herms’ linkem Zeigefinger.

So wurde Herms denn von Bechert verhaftet, der ihn sofort nach dem Präsidium brachte.

Wir beide durchsuchten dann die Chauffeurstube nochmals.

Ich war es, der in dem kleinen Kachelofen nach oben zu in der Feuerung eine Schachtel festgeklemmt fand, in der fünf Stückchen Konfekt lagen, sogenannte Fondants. Die Schachtel war eine leere größere Zigarettenschachtel.

„Brav, mein Alter,“ lobte Harald, als er den Fund nun besichtigte.

Auch Uhlborn war nähergetreten.

„Ein merkwürdiger Aufbewahrungsort für Süßigkeiten!“ meinte er.

„Noch merkwürdiger, daß die Fondants auf der Unterseite kleine Bleistiftkreuze haben – kaum sichtbar,“ sagte Harst mit besonderer Betonung. „Dieses Konfekt wollen wir mitnehmen. Schweigen Sie bitte über diesen Fund, Herr Kommerzienrat.“

Uhlborn und ich waren über diese Sätze Harsts in gleicher Weise betroffen.

„Bleistiftkreuze?“ fragte der Kommerzienrat ganz verwirrt. „Das – das sieht ja gerade so aus, als ob –“

„Ja – als ob diese fünf Fondants nicht mit anderen verwechselt werden sollten,“ ergänzte Harald mit gekrauster Stirn. „Ich möchte wohl gern wissen, ob Heinz Galley eine Schwäche für Süßigkeiten hatte,“ fügte er mit einem fragenden Blick auf Uhlborns Gesicht hinzu, dessen Ausdruck deutlich verriet, daß er die furchtbare Schwere dieser letzten Äußerungen Harsts nicht begriffen hatte.

Ich – ich wußte, was es mit diesem Konfekt auf sich haben könnte. Ich verstand auch Haralds Interesse für des toten Hauslehrers harmlose Liebhabereien.

Uhlborn erwiderte jetzt: „Sie erraten wirklich auch alles, Herr Harst. Galley rauchte nicht, trank keinen Alkohol, aber Schokolade und Konfekt konnte er in Massen verspeisen. Vor fünf Tagen hatte er Geburtstag. Da schenkte meine Frau ihm unter anderem ein Pfund Fondants –“

Als er das Wort „Fondants“ ausgesprochen hatte, lief über sein Gesicht die jähe Veränderung eines heftigen Schrecks hin.

„Herr Gott –! Sollte etwa – sollte etwa dieser Herms hier diese Fondants –“ – so stammelte er, schwieg wieder und blickte Harald ratlos an.

„Sie sind auf der richtigen Fährte,“ nickte Harst. „Dieser Mord klärt sich immer mehr. Die fünf Fondants hier dürften – Gift enthalten.“

Uhlborn ließ sich auf den Stuhl fallen. Seine Lippen zuckten.

„Vergiftet also –?“ flüsterte er.

„Ja, und durch Herms, der das Giftkonfekt zwischen das andere, das Geschenk Ihrer Gattin, geschmuggelt haben wird. Erst vergiftet, dann im Pavillon mit elektrischem Strom behandelt, damit der Anschein eines Todes durch Blitzschlag hervorgerufen wurde. Denn das, was Sie im Pavillon beobachtet haben, war keine Liebesszene! Nein, da war Galley schon tot, und jene Ethelka hat den Körper in dem Korbsessel nur festgehalten.“

Uhlborn schüttelte wie geistesabwesend den Kopf.

„Aber – aber wozu dieser Mord?! So ein harmloser Mensch wie Galley! Das – das ist doch undenkbar!“

„Oh – wir werden auch das Tatmotiv enthüllen,“ meinte Harald, und sein schmales Gesicht war finster und drohend. „Giftmörder sind die gefährlichsten Kreaturen! Da darf man keine Rücksicht nehmen.“

„Ethelka – Ethelka!“ murmelte Uhlborn. „Dann – dann wäre sie also mitbeteiligt! Das – das kann ich nicht glauben! Ich – ich finde mich überhaupt in alledem nicht zurecht –“

Harst winkte mir.

„Herr Kommerzienrat, wir müssen uns sofort verabschieden,“ sagte er zu Uhlborn. „Es gibt für uns noch viel zu tun. Bitte nehmen Sie diese Schachtel mit dem Giftkonfekt an sich. Dürfen wir Ihr Auto benutzen?“ –

So fuhren wir beide denn, nebeneinander vorn auf dem Kraftwagen sitzend, nach Lichterfelde hinaus. Uhlborn hatte uns die Lage seines Schweizerhäuschens genau beschrieben.

Während der Fahrt konnten wir in den weiten unbebauten Straßenzügen den Fall Galley in aller Ruhe durchsprechen. Vieles an diesem Morde war mir noch unklar. Die Tat selbst erschien mir äußerst kompliziert, und das Tatmotiv lag für mich völlig im Dunkeln.

Harst erklärte nochmals, daß auch er sich nicht erklären könnte, weshalb dieses Ehepaar Heinsold den Hauslehrer ermordet hatte.

„Karl Herms, der Chauffeur, dürfte nicht der einzige Komplice der Heinsolds sein,“ meinte er unter anderem. „Erinnert Dich der Name Heinsold nicht an einen Namen, der und letztens bekannt wurde?“

Ich dachte nach. Ich verneinte.

„Es fehlt in Heinsold nur ein einziger Buchstabe, mein Alter, ein t –! Stellst Du die Buchstaben um, erhältst Du – Holdstein! Xaver Holdstein! Und diese Ethelka, deren Gesicht Uhlborn als schön, aber eisig-hochmütig beschrieb, könnte Eva Wilcword sein, während der Chauffeur Herms jenes Mitglied der internationalen Bande sein dürfte, das schon bei Eva den Chauffeur spielte.“

Mir blieb bei diesen Eröffnungen schier der Atem weg.

„Sieh mal, lieber Alter, diese gefährliche Eva und ihr Anhang mußten sich doch, nachdem sie vor uns geflohen waren, einen Unterschlupf suchen. Ihre Flucht liegt etwa vierzehn Tage zurück. Und vor zehn Tagen war „Ethelka“ bei Uhlborn und bat um Überlassung des Häuschens. Das stimmt alles so gut, daß ich kaum mehr daran zweifle, die Gesuchten vor uns zu haben.“

„Allerdings. Es ist nur die Frage, ob sie sich noch in dem Häuschen befinden. Herms wird sie telephonisch gewarnt haben, nachdem wir mit Bechert bei Uhlborn erschienen waren.“

„Das nehme auch ich an. Trotzdem werden sie vielleicht noch anwesend sein – absichtlich – unseretwegen!“

„Um uns in ihre Gewalt zu bekommen?“

„Ja.“

„Hm – das wäre doch ein sehr gewagtes Spiel! Du glaubst also, sie erwarten uns?“

„Vielleicht tun sie es. Wenn sie zum Beispiel vor der Villa Uhlborn einen Spion postiert hatten, können sie jetzt längst wissen, daß wir beide allein in einem Auto davongefahren sind. Und – es war ein Spion da: ein altes Weib als Zündholzverkäuferin herausstaffiert! Als wir in Uhlborns Arbeitszimmer saßen, konnte ich von meinem Platz aus durch das Fenster die Derfflingerstraße ein Stück überschauen. Das Weib benahm sich ungeschickt. Sie hatte ihre Augen schlecht in der Gewalt. Diese Augen glitten immer wieder über die Villa hin. Das Weib wird Evas sogenannte Köchin gewesen sein.“

„Wie – und Du hast sie laufen lassen, Harald?! Wir hätten sie doch festnehmen –“

„– und dadurch alles verderben können! – Lieber Alter, diesen Leuten gegenüber muß man die allerfeinsten Arbeitsmethoden anwenden. Jede voreilige Handlung ist da verderblich. Deshalb fahren wir auch so ganz offen ohne Verkleidung hinaus. Deshalb werden wir so tun, als dächten wir nicht im entferntesten an Eva und ihre Clique. Wir haben ja unsere Clementpistolen mit. Die stecken wir uns in die rechten Ärmel – gespannt und entsichert. Und so werden wir das Häuschen betreten, werden dann mit größter Rücksichtslosigkeit vorgehen. Wahrscheinlich wird es sich darum handeln, wessen Kugel schneller den Lauf verläßt!“ –

Nachher stellten wir das Auto in einer Gastwirtschaft unter und wanderten im prallen Sonnenschein des Maimittags die sandige Straße zum Walde entlang.

Wir sahen das Schweizerhäuschen schon von weitem. Ein weißer Staketenzaun leuchtete förmlich, und hohe Kiefern im Garten ragten hoch über das rote Schindeldach hinweg.

Die Gartenpforte stand halb offen. Wir gingen auf das Häuschen zu. Ein schwarzer, schon recht steifbeiniger Pudel kam uns kläffend entgegen und lockte ein graubärtiges Männchen hinter dem Hause hervor.

„Sie sind der Verwalter Schierke, nicht wahr?“ fragte Harald. „Sind Heinsolds anwesend?“

„Heinsolds?“ meinte der Mann kopfschüttelnd. „Hier wohnt kein Heinsold.“

„Aber doch eine Dame Ethelka Kavaratti?“

„Ne, Herr, auch nicht mehr. Die ist vor einer Stunde abgereist! – Gott sei Dank! Wie der Herr Kommerzienrat die hier wohnen lassen konnte – unbejreiflich! Ein Betrieb war das hier – wie in ’ner Destille. Na – uns jeht das ja nichts an. Jedenfalls – sie is wej! Ihr Bruder half ihr beim Packen. Sie haben sich mächtig beeilt. Die Schlüssel hat sie mitgenommen, da ihre Koffer noch abgeholt werden.“

„Wir kommen im Auftrage des Kommerzienrats,“ erklärte Harald nun. „Hier ist ein Zettel für Sie, Herr Schierke. Sie sehen, wir können hier tun, was wir wollen.“

Der Alte nickte und grinste. „Aha – Polizei! Ick merke wat! Ick dacht’ mir schon immer, daß die Jeschichte so enden würde. Die Frau empfing zu viel Jäste. Es war der reine Taubenschlag.“

„Sie haben also keine Schlüssel für das Haus mehr?“

„Doch – doch! Die Reserveschlüssel. Wenn Sie rein wollen – ick hole die Schlüssel.“

Wir begleiteten ihn bis zu dem Anbau, in dem er mit seiner Frau wohnte. Hinter dem Hause zog sich ein Gemüsegarten bis zum Walde hin. Im Garten arbeitete eine alte Frau in einem Erdbeerenbeet. Sie hatte eine große weiße Sonnenhaube auf und kümmerte sich nicht weiter um uns.

Schierke kam jetzt wieder aus dem Anbau heraus.

„Meine Olle hat die Schlüssel verkramt,“ brummte er ärgerlich. Dann rief er über den Hof:

„Anna, wo sind die Hausschlüssel?“

„In ’n Wichskasten, Otto!“

Sie kam langsam herbei, klopfte sich die Erde von der Schürze und wusch sich die Hände in einem Regenfaß.

„Treten die Herren doch ein,“ rief sie uns zu. „Die Sonne sticht heute. Es jibt ein Jewitter.“

„Komm’,“ meinte Harald. Und – ohne die Lippen zu bewegen: „Achtung!“

Hier war also irgend etwas nicht in Ordnung. Hier drohte also wirklich ein Gewitter. Woher aber?! Vermutete Harald, daß Eva und Xaver – ihr Bruder! – heimlich zurückgekehrt seien und uns erwarteten – dort im Häuschen?!

Kühl und hart lag die Clement in meinem Ärmel. Ich brauchte nur die Hand zu drehen, und die kleine neunschüssige Waffe glitt hinein. Dies Bewußtsein, gerüstet zu sein, war besser als eine Leibwache.

Wir betraten den Flur des Anbaus. Die Tür rechts stand weit offen. Da kramte der alte Schierke kniend in einem Kasten herum. Der Raum war die Küche. Auf dem Gasherd dampfte ein Topf.

Ich war dicht hinter Harald, flüsterte:

„Was gibt’s?“

„Schminke!“

Das war alles.

Da dachte ich an Frau Anna Schierke, an die große Haube, an –

Und – da auch schon eine helle kalte Stimme hinter uns:

„Arme hoch – oder es knallt!“

Wir standen mit dem Rücken nach der offenen Haustür.

Und – jetzt hatte auch der alte Schierke in jeder Hand einen Revolver, hohnlachte:

„Arme hoch, meine Herren!“

Harst gehorchte. Auch ich streckte die Arme empor.

Der angebliche Schierke kam näher, stets auf uns zielend.

„Eva – die Stricke!“ sagte er.

Die Situation war bedenklich. Sobald Eva Wilcword uns die Hände gefesselt hatte, waren wir wehrlos.

Es kam anders – kam noch schlimmer.

Alles – alles war hier für unseren Empfang vorbereitet gewesen. Das merkten wir jetzt, als von der Balkendecke des Flurs zwei durch Ringe laufende Wäscheleinen herabkamen, deren Schlingen uns über die Köpfe gezogen wurden.

„So,“ sagte Schierke nun, „jetzt haben wir Sie! Rühren Sie sich nicht, Schauen Sie mal nach unten. Sie stehen gerade auf der Falltür, die in den Keller führt. Wenn ich an diesem Draht ziehe, schiebt sich der Riegel zurück und Sie erleben das, was man am Galgen erlebt.“

Eva Wilcword in ihrer tadellosen Maske als altes Weib schloß die Haustür, riegelte ab und schaltete die elektrische Flurlampe ein. Dann trat sie vor uns hin. Die bisher wie von der Last der Jahre gebückte Gestalt richtete sich auf. In den großen Augen erschien ein Ausdruck unendlichen Hasses.

„Wir haben Sie,“ sagte sie eisig zu Harst. „Wir haben den Mann, der uns um die Milliardenbeute brachte! Diesmal entgehen Sie uns nicht!“

 

4. Kapitel.

„Oder – umgekehrt!“ erwiderte Harald achselzuckend. „Ihre Spionin in der Derfflingerstraße war sehr ungeschickt, Eva Wilcword!“

Das war wie ein Hieb aus dem Dunkeln. Das war eine Andeutung, die der Phantasie den weitesten Spielraum ließ.

Der Hieb saß auch. Evas Gesicht ward unruhig. Auch ihr Genosse, fraglos Xaver Holdstein, der Artist, der Verwandlungskünstler, horchte auf.

Harald spielte den zweiten Trumpf aus.

„Ich gebe zu, daß Sie die Sache hier recht schlau eingefädelt haben,“ sagte er mit jener überlegenen Kaltblütigkeit, die noch nie ihre Wirkung verfehlt hat. „In Ihrer Rechnung ist nur ein Fehler.“

„Und das wäre?“ fragte Eva Wilcword schnell.

Harst lächelte gemütlich. „Das werden Sie schon sehen, Frau Wilcword. Übrigens ist diese Armhaltung mit der Zeit etwas lästig, außerdem für Sie auch unpraktisch, da wir uns ja leicht oben an den Stricken festklammern können und dem Gehenktwerden so entgehen. Wir werden also die Arme sinken lassen.“

Er tat es. Ich tat es auch, bevor die beiden Gegner noch Einspruch erheben konnten.

Unsere Lage war jetzt um fünfzig Prozent günstiger – trotz drei Revolvermündungen dicht vor uns.

Eva und Xaver schnitten wütende Gesichter.

„Sie spielen mit ihrem Leben!“ fauchte unsere schöne Feindin.

„Sie noch viel mehr, Ethelka Kavaratti! Mit mir – spielt man stets mit Verlust! – Weshalb haben Sie Galley ermordet?“

Das Sprunghafte dieser merkwürdigen Aussprache verwirrte den Feind.

Ich bog langsam die rechte Hand nach hinten. Leider war mir die kleine Clement jetzt bis zum Ellenbogen gerutscht. Ich zupfte am Ärmel, drehte den Arm hin und her. Die Pistole glitt abwärts.

„Ich möchte gern wissen, wie Sie ihn aus seinem Zimmer herausgelockt haben,“ fuhr Harst fort, als die beiden stumm blieben. „Der zerknüllte halbe Briefbogen mit Ihrer Schrift, Eva Wilcword, den Sie der Leiche in die Hand drückten, sollte wohl den Kommerzienrat zwingen, das Ehepaar Heinsold der Polizei um jeden Preis zu unterschlagen, da er ja ähnliche Briefe erhalten hatte. Er sollte so halb und halb Mitwisser werden. Aber – wie lockten Sie Galley in den Park?“

Xaver Holdstein sagte jetzt rauh:

„Wir müssen hier Schluß machen! Wir lassen uns nicht wieder einschüchtern!“

Er hielt in der linken Hand den Draht, der durch ein Loch um Fußboden nach unten lief. Er zog den Draht straffer.

„Lassen Sie das!“ rief Harst und streckte wie befehlend den rechten Arm aus.

Ich merkte: die Entscheidung kam! Ich hatte die Clement schon in der Hand.

Dann – ein Knall.

Holdstein flog der eine Revolver aus der Hand.

Und Harsts rechter Fuß warf jetzt die Küchentür vor dem Überraschten krachend ins Schloß.

Diesen Trick hatte ich nicht erwartet. Dieser Trick schützte uns vor Evas Kugeln.

Harst hatte auch bereits den Schlüssel der Tür umgedreht.

Da – hinter der Tür drei – vier Schüsse.

Die Türfüllung war dick. Die Kugeln drangen nicht hindurch.

Und jetzt – Haralds Stimme:

„Halsschlingen herunter!“

Keine Sekunde zu früh wurde ich die Schlinge los.

Die Falltür schlug nach unten.

Harst warf sich zur Seite, riß mich mit. Wir hingen im Ausschnitt des Fußbodens, schwangen uns hoch, standen auf den Beinen.

Harst war mit einem Satz an der Flurtür, riegelte sie auf.

Den Hauptweg des Gartens entlang rannten Eva und Xaver dem Walde zu. Sie hatten vielleicht achtzig Meter Vorsprung.

Wir rannten – wir kamen ihnen näher. Aber der Wald nahm sie auf. Da waren lange Reihen von Erlenbüschen an einem Wassertümpel. Dort verschwanden die Flüchtlinge.

Wir brachen durch die Büsche. Kiefernduft umwehte uns. Ein steiler Abhang führte hinter dem Buschwerk in eine große Lehmgrube hinab.

Von Eva und Xaver nichts mehr.

Wo waren sie geblieben? Wo nur?

Wir trennten uns. Harst lief rechts um den Abhang herum, ich links.

In der Lehmgrube stand eine windschiefe Bretterbude. Davor lagen zwei Karren ohne Räder und ein paar Feldbahnschienen.

Die Bäume standen licht, und die Fliehenden hatten kaum noch dreißig Schritt Vorsprung gehabt.

Wo waren sie? Wo nur?!

Ein Förster tauchte vor mir auf, ein älterer Mann. Er musterte mich scharf.

„Haben Sie ein Weib und einen alten Graubart gesehen?“ fragte ich atemlos. „Wir sind Detektive –“

„Ah so! – Dort rechts kletterten zwei Leute die Berglehne hinauf!“ erwiderte er.

Ich rief Harst zu – winkte – deutete die Richtung an.

Harald kam herbeigehetzt – mir nach, holte mich ein.

„Was sagte der Förster?“

„Dort – den Berg hinauf!“

Und wieder stürmten wir weiter, bis – bis Harst stehen blieb.

„Unmöglich – sie können diese Richtung nicht eingeschlagen haben!“ keuchte er.

Er drehte sich um. Der Förster war nicht mehr da.

Harald raste plötzlich wieder zur Lehmgrube zurück. –

Wozu soll ich hier noch ganz genau schildern, wie wir nun erkannten, daß wir – geleimt worden waren.

Der Förster war kein anderer als Holdstein gewesen, Holdstein, der Artist, der Verwandlungskünstler.

Wir fanden die beiden nicht. Wir kehrten nach dem Schweizerhäuschens zurück, fanden hier – etwas anderes: im Keller des Anbaus das gefesselte und geknebelte Ehepaar Schierke.

Wir durchsuchten das Haus. Schierke erzählte, daß die „Freundin“ des Herrn Kommerzienrats und deren „Bruder“ ihn und seine Frau vor etwa einer Stunde in den Keller geschafft hatten, erzählte weiter, daß die angebliche Ethelka sehr viel Besuch empfangen und daß in dem Hause Zechgelage bis zum Morgen stattgefunden hatten.

In den fünf Zimmern sah es recht wüst aus. Ethelkas Koffer waren nicht mehr da.

Während wir gerade das Speisezimmer in Augenschein nahmen, schrillte im Flur das Telephon.

Harst meldete sich.

Und jenseits des Drahtes meldete sich Eva Wilcword!

„– Der Förster läßt grüßen! Das nächste Mal werden wir dafür sorgen, daß Sie den Mund nicht mehr zu einem einzigen Wort auftun können, Herr Harst! – Auf Wiedersehen!“ –

Wir holten unser Auto und fuhren nach Berlin zurück. Harald war stumm. Diese Niederlage ärgerte ihn.

Um vier Uhr nachmittags waren wir bei Uhlborn. Dort trafen wir Bechert an. Harald erstattete Bericht. Freund Bechert schwieg dazu. Er als Beamter verübelte uns unsere Eigenmächtigkeit, mit der wir gegen die beiden Verbrecher in Lichterfelde vorgegangen waren. Sein kluges, sympathisches Gesicht konnte sehr unnahbar werden. Diese Miene hatte er jetzt aufgesetzt.

Harald mit seiner übergroßen Feinfühligkeit merkte, daß unser Verhältnis zu Bechert heute stark getrübt worden war. Er mit seiner Offenheit sprach dies auch rückhaltlos aus.

Bechert erwiderte nur: „Hätten Sie mich vorher benachrichtigt und mir Zeit gelassen, durch Beamte in aller Stille das Schweizerhaus zu umstellen, so würden Eva Wilcword und Xaver Holdstein jetzt in sicherem Gewahrsam sein.“

„Das bezweifle ich, lieber Bechert,“ erklärte Harst mit liebenswürdiger Vertraulichkeit. „Sie täuschen sich über die Großzügigkeit der Vorsichtsmaßnahmen dieser Leute. Sie unterschätzen sie. Ich bin überzeugt, daß das Schweizerhaus durch Wachen in weitem Umkreis gesichert war. Ich selbst habe Eva Wilcwords Anhang der Zahl nach falsch taxiert. Es waren Wachen da. Sogar ein Mann mit einem Motorrad.“

Ich besann mich jetzt: da hatte tatsächlich am Anfang des Feldweges, der zur Villa abzweigte, am Wegrand ein Motorradler gesessen, dessen Maschine an einen Baum gelehnt stand.

„Bevor Ihre Beamten hätten zugreifen können, wäre das Nest leer gewesen,“ fügte Harald hinzu. „Es ist so, Bechert. Außerdem –“

Er schwieg. Bechert hatte in seinem Ärger eine Handbewegung gemacht, als ob er die Worte Harsts anzweifle.

Harald erhob sich verletzt.

„Auf Wiedersehen,“ sagte er kühl mit knapper Verbeugung gegen Bechert hin. Dem Kommerzienrat reichte er die Hand.

Gleich darauf sauste ein Mietauto mit uns nach der Blücherstraße 10 in Schmargendorf – nach Hause. Harald hüllte sich in Schweigen. Auch abends fiel zwischen uns nicht eine Bemerkung über den Fall Galley. Selbst der folgende Tag verging, und wir hörten weder von Bechert noch von Uhlborn etwas, vermieden ebenso zwischen uns das ärgerliche Thema, das eine langjährige Freundschaft, die mit Bechert, zerstört zu haben schien.

Erst die Abendzeitungen brachten nun eine kurze Notiz über den Mord im Park der Uhlbornschen Villa. Man ersah daraus, daß Bechert die Presse absichtlich über alle Einzelheiten im unklaren gelassen hatte. Nichts war da von Eva Wilcword und ihrer Bande, nichts von dem Schweizerhäuschen oder dem Giftkonfekt erwähnt. Es hieß da lediglich, der Hauslehrer sei tot im Garten aufgefunden worden und gewisse Umstände ließen mit Sicherheit auf einen Mord schließen. Als mutmaßlicher Täter sei der Aushilfschauffeur Karl Herms verhaftet worden, der sofort mit seiner Verteidigung den Justizrat Plotz betraut habe und hartnäckig jede Schuld abstreite.

 

5. Kapitel.

Wir hielten uns mehrere Zeitungen. Es war gegen neun Uhr abends, als wir in Haralds Arbeitszimmer diese Blätter durchsahen und Harst mich nun plötzlich fragte:

„Ist im Tageblatt etwas von dem Giftkonfekt und Uhlborns Schweizerhäuschen erwähnt?“

„Nein – nichts!“ – Ich las ihm die Notiz vor.

„Wörtlich dasselbe steht hier in der Vossischen und in der Allgemeinen. Bechert hat also Befehl gegeben, die Öffentlichkeit über die näheren Tatumstände nicht zu unterrichten.“

Ich war froh, daß Harald nun endlich wieder über den Fall Galley sprach.

„Ob die Leiche Galleys schon seziert sein mag?“ fragte ich. „Ob man wohl Spuren von Gift gefunden hat?“

„Ganz, bestimmt!“ nickte Harst und griff lebhaft nach einer frischen Mirakulum. „Ich habe jetzt wieder Interesse für Eva, Xaver und dieses Verbrechen, lieber Alter. Ich mußte erst mein inneres Gleichgewicht zurückgewinnen. Becherts Benehmen hat mich sehr gekränkt. – Galley ist ohne Zweifel vergiftet worden. Ich stelle mir die Ereignisse jener Nacht folgendermaßen vor. Herms hatte am Tage in das Konfekt, das Galley von Frau Uhlborn erhalten hatte, eines der vergifteten Fondants gemischt. Galley aß dieses Stück abends und starb lautlos in seinem Zimmer. Das Gewitter kam, und der Blitz schlug in die Buche ein. Da beschlossen Eva, Xaver und Herms, diesen Blitzschlag als Mörder hinzustellen, holten die Leiche aus dem Erdgeschoßzimmer durch das auf den Park hinausgehende Fenster und ließen im Pavillon den elektrischen Strom diejenigen Veränderungen an dem Toten bewirken, die den Mord als Unglücksfall erscheinen lassen sollten, steckten der Leiche noch die Papierkugel in die Hand und glaubten so alles getan zu haben, das Verbrechen völlig undurchsichtig zu machen. – Dies sind die Vorgänge jener Nacht in aller Kürze. Daß sie sich so abgespielt haben müssen, könnte ich an Hand von Kleinigkeiten beweisen. Nun das Motiv: weshalb beseitigte die Bande diesen harmlosen Menschen? – Da müssen wir die anderen Vorgänge, alles, was mit „Ethelka“ und Uhlborn zusammenhängt, zu Hilfe nehmen und uns fragen: Hat Ethelka-Eva nicht einen ganz besonderen Zweck im Auge gehabt, als sie sich Uhlborn wieder näherte? Wollte sie lediglich von ihm das Schweizerhäuschen zur Verfügung gestellt bekommen? – Nein! Sie wollte mehr, behaupte ich. Sie wollte sowohl den Patentschlüssel zu der Pforte sich beschaffen als auch den Park nachts besuchen dürfen, das heißt, sie wollte Herms, den Chauffeur, in der Garage auch nachts sprechen können. Kurz: sie planten etwas – gegen die Villa Uhlborns, etwas, wobei ihnen Galley hinderlich war. – Weshalb nun hinderlich? – Vielleicht deshalb, weil sie – einen anderen Hauslehrer, einen ihrer Genossen als Hauslehrer dort unterbringen wollten. Denke an Uhlborns anderen Chauffeur, der bei einer Schlägerei so böse zugerichtet wurde, daß Herms als Aushilfschauffeur eingestellt werden mußte. Die Schlägerei ist fraglos „bestellte Arbeit“ der Bande gewesen. Galley prügelte sich nicht mit Leuten herum. Also wandte man ein ganz radikales Mittel an: man tötete ihn! Auf Menschenleben kommt es Eva Wilcword nicht an. Das wissen wir. – Dies wäre die eine Möglichkeit. Die andere wäre die, daß Galleys Zimmer eine Weile leer stehen sollte, weil man gerade dieses Zimmer für den Anschlag auf die Villa irgendwie gebrauchte. – Was für ein Anschlag nun? Da gibt es nur eine Antwort: Diebstahl! Uhlborn gilt als der drittreichste Mann Berlins. Schon sein Vater besaß –“

Das Telephon auf dem Schreibtisch schlug an. Harst ging hin, nahm den Hörer ab.

„Ah – Bechert! – Guten Abend. – So – dann ist das Mißverständnis zwischen uns ja wieder beseitigt. – Allerdings habe ich mir den Fall Galley in diesen beiden Tagen gründlich durch den Kopf gehen lassen. Was macht denn Herms? – So – so, sein Verteidiger besucht ihn jeden Tag. – Wie – Sie meinen, dieser Justizrat hielte ihn von einem Geständnis ab? – Ach so – nur mehr Gefühlssache bei Ihnen! – Warten Sie noch vierundzwanzig Stunden, lieber Bechert, dann will ich Ihnen den Fall klarstellen. Fragen Sie nichts mehr. Ihre Mitteilungen waren mir sehr wertvoll. Wiedersehen.“

Er kam und setzte sich wieder. „Lassen wir die Theorie ruhen,“ meinte er hastig. „Die Praxis ist jetzt wichtiger. – Es war kein Zufall, mein Alter, daß ich vorhin wieder von dieser Sache zu sprechen begann. Der Name Plotz, der in den Notizen über den Mord zu finden ist, versetzte mir förmlich einen Stoß.“ – Er holte seine Brieftasche hervor und legte eine halb verbrannte Visitenkarte vor mich hin. Sie enthielt noch folgenden leserlichen Aufdruck:

Justizrat Dr. jur. Plo
Rechtsanwalt und Not

Berlin W 57
Steinmetzstr. 18.

Es war also die rechte Seite der Karte zum Teil weggebrannt.

„Ich fand die Karte,“ erklärte Harald nun, „in dem Herrenzimmer des Schweizerhäuschens im Ofen zwischen den Stäben des Rostes festgeklemmt, als Du das Schlafzimmer durchsuchtest. Ich steckte sie zu mir. Sie erschien mir bisher wertlos. Jetzt nicht mehr. Es ist fraglos eine Karte des Justizrats Plotz. – Ich frage Dich: wie kommt sie in den einen Ofen des Schweizerhäuschens – gerade die Karte des Anwalts, den Herms sofort mit seiner Verteidigung betraut hat? Ich frage Dich weiter: wie kommt es, daß dieser Plotz nach Becherts Ansicht Herms von einem Geständnis zurückhält?! Ist Plotz einer von Evas Garde?! – Wie wär’s, wenn wir diesen Plotz mal genauer unter die Lupe nehmen wollten? Es dürfte lohnen! – Verändern wir uns etwas. Und dann – hin nach der Steinmetzstraße!“ –

Da war unten in Nr. 18 eine kleine Kneipe. Da saßen wir um halb zehn und bemühten uns, eine recht große Zeche zu machen. Da kam der dicke Wirt und schob seinen Bauch mit unter unseren Tisch.

Um zehn Uhr waren wir beim Hausklatsch angelangt. Harst fragte, ob Plotz ein gerissener Anwalt sei.

„Hm – wie man’s nimmt!“ grinste der Wirt. „Bei dem sieht die Rechte nicht, was die Linke tut. Anständje Leute jehn kaum zu ihm. Bei seinen Kollegen ist er sehr im Verruf, der olle Junggeselle. Aber wenn Sie mal so recht in der Tinte sitzen – der wäscht Sie rein! Der besorgt Alibizeugen, Stück zu zwanzigtausend Märker, und macht – Na – ich will mir nicht das Maul verbrennen.“

Dies schien Harald für heute zu genügen. Um zwölf waren wir wieder daheim. Aber um acht Uhr morgens schoben zwei Männer einen mit Pappkartons beladenen Handwagen in die Steinmetzstraße, machten[3] vor Nr. 20 halt und begannen ihre Stullen zu verzehren. Um neun Uhr verließ ein hagerer Herr im leichten Sommermantel, spitzbärtig, auf der messerscharfen Hakennase einen Kneifer, Nr. 18 und ging eilends nach der Potsdamerstraße zu davon. Es war Plotz. So hatte der Kneipwirt ihn uns beschrieben. – Die beiden Männer folgten ihm mit Ihrem Handwagen. In der Potsdamer verschwand Plotz in einem Konfitürengeschäft.

„Geh’ – kaufe auch etwas!“ sagte Harald zu mir. Und einer der Handwagenschieber kaufte eine Tafel Schokolade, während für Plotz ein Schächtelchen Fondants eingepackt wurde.

Als ich Harald mitteilte, daß Plotz ausgerechnet Fondants erstanden habe, meinte er: „Nun dürfen wir ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.“

Und wir schoben unseren Handwagen wieder hinter Plotz drein, der nach Hause eilte und erst eine Stunde später wieder auf der Straße erschien. Seine linke Manteltasche stand weit ab. „Dort steckt die Schachtel Fondants,“ sagte Harst.

Dann betrat er rasch die Kneipe und bat den Wirt, auf den Handwagen aufzupassen. Ein Tausendmarkschein unterstützte die Bitte.

Der hakennasige Plotz fuhr mit der Straßenbahn nach dem Alexanderplatz und stelzte würdevoll ins Polizeipräsidium hinein, ließ sich bei Bechert melden und verlangte ins Gefängnis zu Herms geführt zu werden.

Kaum schritt er dann den Gang entlang, begleitet von einem Beamten, als wir bei Bechert anklopften.

„Bechert,“ rief Harald leise, „wir sind’s – Harst und Schraut. Kommen Sie mit ins Gefängnis –“

Fragen und Antworten flogen hin und her. Dann hasteten wir durch Flure, über Treppen und Höfe – bis wir im Polizeigefängnis waren.

Ein Aufseher schlenderte da vor der Zelle Nr. 10 auf und ab.

„Justizrat Plotz ist drinnen bei Herms,“ meldete er Bechert.

„Wissen wir, Müller,“ nickte Bechert. „Gehen Sie jetzt sofort ebenfalls hinein und sagen Sie dem Justizrat, ich möchte ihn nachher sprechen. Wenn Sie die Zelle dann wieder verlassen, ziehen Sie die Tür nicht völlig ins Schloß. Machen Sie es geschickt.“ –

Der Aufseher kehrte wieder in den Flur zurück. Die Zellentür war nur angelehnt.

Harst schlich näher, öffnete sie noch mehr – so behutsam, daß nicht das geringste Geräusch entstand.

Da saß Herms gefesselt auf dem Bettrand, und dicht vor ihm der Hakennasige, der gerade eindringlich flüsterte:

„Es ist rausgekommen, daß Du Fondants gekauft hast, Karl! Um jeden Verdacht zu vermeiden, mußt Du hier den Anschein erwecken, als ob Du auf Süßigkeiten versessen bist. – Da – iß! Ich lasse Dir die Schachtel hier. Bei einer Revision der Zelle wird man sie finden. Dann sagst Du, Plotz habe sie Dir aus Gefälligkeit zugesteckt.“

Ich stand dicht hinter Harald. Ich ahnte jetzt, was hier vor sich ging – eine ungeheure Schurkerei – ein Mordversuch!

Herms meinte jetzt zögernd: „Du, so recht verstehe ich nicht weshalb –“

„Iß – zum Teufel! Es ist das einzige Mittel, Dich reinzuwaschen!“ sagte der Hakennasige kurz.

Herms streckte die Hand aus – griff in die offene Schachtel hinein.

Harst hatte die Clement schon bereit.

Die Zellentür flog auf.

„Halt!“ rief er. „Xaver Holdstein, diesmal werden Sie hier nicht Förster spielen!“

Holdstein war hochgeschnellt. Sein Blick ruhte jedoch auf Herms.

Um Sekunden zu spät war Haralds „Halt!“ erklungen.

Herms hatte ein Stück Fondant bereits in den Mund geschoben und hatte zugebissen.

Und Holdstein – Holdstein warf Harald die Schachtel geschickt ins Gesicht, führte die Hand zum Munde, kaute, schluckte. –

Die beiden Verbrecher starben nach wenigen Minuten. Karl Herms konnte nur noch ein teilweises Geständnis ablegen: daß Eva Wilcword es auf das goldene Tafelservice der Familie Uhlborn abgesehen gehabt hatte, das unter Galleys Zimmer im Keller der Villa in einem eingemauerten Eisenschrank verwahrt war. Galley hatte sterben müssen, damit die Bande, von seinem Zimmer aus an den Eisenschrank durch den Fußboden herankönnte. –

Und der echte Justizrat Doktor Plotz –? Wie hatte Xaver Holdstein dessen Rolle spielen können –?

Mit der Beantwortung dieser Fragen soll der zweite Teil dieses Kriminalfalles begonnen werden.

 

 

Das Drama der Lehmgrube.

 

1. Kapitel.

Wir saßen in Fritz Becherts Dienstzimmer. Die klare Maisonne zog einen leuchtenden Strich über die Dielen und über einen Teil der Wand.

„An einem solchen wundervollen Tage wirkt ein solches Drama noch erschütternder,“ meinte Bechert und öffnete das rechte Fenster, als ob er die Erinnerung an die soeben in Herms’ Zelle durchlebten Szenen sich ins Freie verflüchtigen lassen wollte. Dann setzte er sich wieder und blickte Harald sinnend an, der, die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, in Becherts Schreibsessel vor sich hinbrütete.

„Wollen wir nach der Steinmetzstraße zu Plotz fahren?“ fragte Bechert.

Harst nickte.

„Ja, fahren wir! Plotz ist nun der einzige Faden, der vielleicht noch zu diesem Weibe führt, die nun Ihres Haupthelfers beraubt ist. Denn das war Xaver Holdstein.“

Er erhob sich. „Wir wollen das Präsidium jedoch durch einen Nebenausgang verlassen, Bechert. Ich betone nochmals: Eva Wilcwords Anhang ist größer als Sie ahnen! Diese internationale Gaunerbande besteht seit mindestens vierzehn Jahren. Das wissen wir. Vierzehn Jahre hat die Kriminalpolizei aller Länder sich umsonst bemüht, dem Treiben dieser Verbrecher Einhalt zu tun. Freilich – man war über die Bande noch im unklaren. Man glaubte an einzeln arbeitende Personen. Nun ist die Frage geklärt: es ist eine Organisation, geleitet von genialen Köpfen! Der genialste mag Holdstein nicht gewesen sein. Ich halte Eva für gefährlicher. Es wird Zeit, daß man sie lahmlegt. Ich habe mit ihr abzurechnen. Hier heißt es: Sie oder ich! Davon bin ich überzeugt. Mein Leben ist wie das eines Käfers, der über eine Promenade durch ein Menschengewühl läuft: jeden Augenblick kann es zertreten werden! – Gehen wir!“

Wir beide trugen noch die Verkleidung der Männer, die den Handwagen geschoben hatten.

Durch eine Seitenpforte gelangten wir auf eine stille Straße. Ein Radler war der einzige Mensch, den wir sahen. Er kam uns entgegen, hielt an.

„Dürfte ich um Feuer bitten?“ sagte er zu Harst, der zunächst der Bordschwelle ging.

Es war ein junger Mensch im Sportanzug mit gebräuntem Gesicht und dunklem Schnurrbart, eine Hornbrille vor den Augen. Hornbrillen sind jetzt modern.

Bechert war’s, der ihm eine Zündholzschachtel reichte. Der junge Mensch brannte sich eine Zigarette an und gab die Zündholzschachtel mit einem „Danke sehr!“ zurück, schwang sich in den Sattel und sauste davon.

Bechert rief: „Ein Zettel! – Da – eingeklemmt in die Schachtel!“

Und er entfaltete den Streifen Papier. In Eva Wilcwords kindlicher charakterloser Handschrift stand da:

„Das Maß ist jetzt zum Überlaufen voll. Die beiden Toten haben es gefüllt. – Eva.“

„Unglaublich!“ murmelte Bechert.

„Sie war es selbst,“ sagte Harald und deutete dem Radler nach, der gerade um eine Ecke verschwand. „Sie hat also auch im Präsidium ihre Spione, lieber Bechert, denn – woher wüßte sie sonst jetzt schon, daß Holdstein und Herms tot sind? Wünschen Sie noch weitere Beweise von der Ausdehnung dieser Organisation?“

Bechert kniff die Lippen zusammen, dann stieß er hervor:

„Sie haben recht, Harst: Spione im Präsidium! Das ist unerhört!“

Ein Mietauto brachte uns bis zur Ecke Steinmetzstraße. Dann läuteten wir in der ersten Etage rechts von Nr. 18 an.

Ein kleiner Schreiber öffnete, so ein Bengel mit fahlem Gesicht und verdorbenen Augen.

„Ja – der Herr Justizrat ist zu Hause. Wen darf ich melden?“

Bechert klopfte an, öffnete sogleich.

An einem frei vor den Fenstern stehenden Schreibtisch saß der Justizrat mit dem Rücken nach der Wand zu. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Holdsteins Maske. Wer flüchtig hinsah, konnte Holdstein wohl für Plotz gehalten haben.

Plotz hatte den Kopf gesenkt und fixierte uns über den Rand des Nickelkneifers hinweg.

„Sie wünschen?“ fragte er kühl.

„Kriminalkommissar Bechert,“ stellte der sich vor. „Hier meine Legitimation.“

„Danke. Glaube Ihnen. Nehmen Sie Platz, meine Herren.“

Keine Spur von Erregung bei diesem Manne, der sich nur von dunklen Geschäften nährte.

Bechert setzte sich. Wir spielten die Kriminalbeamten und blieben stehen.

„Herr Justizrat,“ begann Bechert, „es hat da jemand in Ihrer Maske sich als Justizrat Plotz vor drei Tagen mir vorgestellt, nachdem ein Untersuchungsgefangener namens Herms Sie zu seinem Verteidiger bestimmt hatte. Er schrieb an Sie einen Brief, den ein Beamter hier zu Ihnen brachte!“

„Bedauere, ich habe keinen Brief erhalten. Ich kenne keinen Herms.“

„Ihr Doppelgänger wies sich mir gegenüber durch fraglos echte Papiere aus.“

„Dann hat man mir die Papiere gestohlen.“ –

An diesen Mann war schwer heranzukommen. Bechert schwieg.

Da trat Harst vor.

„Sie besitzen doch Visitenkarten, Herr Justizrat?“

„Natürlich. – Wer sind Sie?“

„Harald Harst, Gerichtsassessor a. D. – Dort mein Freund Max Schraut.“

„Ah – Herr Harst! Sehr interessant. Habe schon viel von Ihnen gehört. Sehr viel. – Bitte – dort sind Stühle. Lassen Sie uns in Ruhe diese Sache besprechen.“

War das ein kaltblütiger Halunke!

Wir setzten uns.

„Dürfte ich mal eine Ihrer Besuchskarten sehen?“ bat Harald.

„Gewiß. – Hier –“

„Ja – es ist dieselbe Karte,“ nickte Harald. „Eine Ihrer Karten lag im Ofen eines Hauses, zum Teil verbrannt. In dem Hause hatte sich eine Hochstaplerbande eingenistet.“

„Nun – und?“ fragte Plotz sehr gedehnt.

„Ich möchte wissen, wie die Karte dort hinkam, Herr Justizrat.“

„Ja – das möchte ich auch wissen!“

„Sie glauben, die Karte wurde Ihnen ebenfalls gestohlen?“

„Keine Ahnung, Herr Harst. – Welches Haus ist es denn, wo Sie die Karte fanden?“

„Ein Schweizerhäuschen in Lichterfelde.“

Plotz wiegte den Kopf hin und her. „Nein – in Lichterfelde habe ich keine Bekannten, Herr Harst. Wirklich nicht.“

„Wie mag es wohl zu erklären sein, daß der Mann, der in Ihrer Maske sich Zutritt zu der Zelle Herms’ verschafft hat, heute morgen dieses Haus verließ, Fondants kaufte und hierher zurückkehrte, nach einer Stunde wieder erschien und sich –“

Plotz lächelte harmlos und fiel Harald ins Wort. „Hier im Hause vermieten viele Leute möbliert. Der Mann wird hier gewohnt haben, allerdings eine Frechheit!“

„Ich werde im Hause gleich mal nachfragen,“ sagte Harald ebenso harmlos und ging hinaus.

Plotz wandte sich an Bechert. „Sie entschuldigen mich wohl. Ich habe dringend zu arbeiten.“

Er beugte sich über ein Aktenstück und begann zu schreiben.

Bechert warf mir einen langen Blick zu. In seinen Augen flackerte es vor Grimm. Dieser Plotz verhöhnte uns, fühlte sich ganz sicher.

Ich kniff ein Auge zu und deutete auf die Tür, durch die Harst verschwunden war. Das hieß: „Harald wird ihn schon festnageln!“

Nach einer Viertelstunde erschien er wieder.

„Im Erdgeschoß nach hinten heraus bewohnte ein angeblicher Kaufmann Müller seit zwei Wochen ein Zimmer mit Flureingang,“ erklärte er. „Ich fand in dem Zimmer in Müllers Koffer Schminken, falsche Bärte, Perücken und anderes. Dieser Müller und Holdstein dürften ein und dieselbe Person gewesen sein.“

„Holdstein – Holdstein?“ fragte der Justizrat, in seinen Schreibsessel zurückgelehnt. „Also Holdstein heißt der Mann. Ein Holdstein war in letzter Zeit mehrmals bei mir einer Wechselgeschichte wegen. Da wird der Mensch wohl nur mein Gesicht studiert haben, um mit der Maske zurechtzukommen!“ –

War das ein schlauer Fuchs! Und diese steinerne Ruhe! Nerven hatte der Mensch sicher nicht! –

„So wird es wohl gewesen sein, Herr Justizrat,“ meinte Harst.

Plotz lächelte gutmütig. „Meine Herren, Sie haben hier offenbar wichtige Feststellungen machen wollen. Sie dachten, der alte Plotz, der einen so schlechten Ruf hat, steckte mit diesem Holdstein unter einer Decke. Ich kann Ihnen nicht helfen: ich kenne Holdstein nur ganz flüchtig – eben weil er als Klient zu mir kam. Sollten Sie noch etwas wissen wollen, fragen Sie getrost. Ich bin besser als mein Ruf.“

Bechert schaute Harst an. Harst zuckte nur die Achseln und sagte: „Wir können gehen.“

„Verzeihung,“ bat Plotz da, „was ist denn eigentlich mit diesem Holdstein und diesem Herms los?“

„Sie sind – tot – beide!“ erklärte Harald und beobachtete Plotz scharf.

„Tot?!“ Das klang nur gerade so neugierig, wie es klingen mußte.

„Vergiftet,“ ergänzte Harst.

„Ah – vergiftet! Also ermordet. – Wo denn?“

„Im Präsidium in Herms’ Zelle.“

„Wie – dort?! Das ist doch wohl unmöglich!“

„Es ist so. – Sie gestatten, daß wir uns verabschieden,“ sagte Harald höflich. „Entschuldigen Sie die Störung, Herr Justizrat.“

Wir gingen. Auf dem mit Linoleum benagelten Treppenabsatz deutete Harst nach unten und flüsterte:

„Da – staubige Radspuren! Das Linoleum ist frisch geölt.“

Und er schritt weiter.

Vor dem Hause fügte er hinzu – ganz leise:

„Eva Wilcwords Rad hatte neue Pneumatiks mit besonderer Riffelung. Dieselbe Riffelung zeigt die Staubspur auf dem Linoleum. Eva ist uns voraus zu Plotz geeilt. Ich glaube, Bechert, jetzt erst haben wir das wahre Oberhaupt der Bande gefunden: Plotz!“

Bechert und ich brachten kein Wort heraus. Diese Äußerung war wie ein Blitz gewesen.

„Natürlich muß Plotz unbelästigt bleiben,“ fuhr Harald fort. „Nur so finden wir Eva. Nur so werden wir die Bande fassen. – Sie müssen jetzt Holdsteins Zimmer sich ansehen, Bechert. Wir beide haben etwas anderes vor. Überlassen Sie uns den Justizrat. Uns ganz allein.“

„Einverstanden, lieber Harst!“

 

2. Kapitel.

Wir hatten einen weiten Weg vor uns. Der Tag war heiß. Gemächlich schoben wir unseren Karren vor uns her.

„Was nun?“ fragte ich.

„Was würdest Du tun, mein Alter?“

„Mich im Hause gegenüber von Nr. 18 einmieten und Plotz nicht einen Schritt unbewacht –“

„Falsch!“ unterbrach Harst mich. „So fängt man doch einen Plotz nicht. Nein, mein Alter. Plotz hätte uns schon nach ein paar Stunden dort aufgespürt.“

Er nahm den Hut ab und fächelte sich Luft zu. Dann fiel der Hut auf die Straße. Er hob ihn auf, lächelte weiter und sagte: „Der Bengel ist hinter uns her – der kleine Schreiber!“

Wir waren gerade in der wenig belebten, breiten Insbruckerstraße.

„Von jetzt an dürften wir stets eine Ehrenwache haben,“ meinte ich.

„Die wir schon nachmittags abschütteln müssen,“ lachte Harst unternehmungslustig. „Ich will für ein paar Tage mit Dir verschwinden. Für jeden – selbst für Bechert.“ –

Um zwei Uhr waren wir daheim, aßen mittag, packten unsere beiden Koffer und telephonierten ein Autoverleihgeschäft an.

Um halb vier verließen wir das Haus und gingen, jeder einen der Handkoffer tragend, die Blücherstraße hinab. An der nächsten Ecke hielt ein langer Tourenwagen mit ratterndem Motor. Im Nu waren wir hinein, der Chauffeur gab Vollgas, und der Wagen sauste davon.

Als wir die Westfälischestraße erreicht hatten, drehte Harald sich um. Eine Straßenbahn, ein anderes offenes Auto und ein Motorradler waren zu sehen.

Harst rief den Chauffeur, der uns schon oft gefahren hatte, etwas zu.

Wir jagten nach rechts den Kurfürstendamm hinab, bogen links ab, wieder links, kamen durch die Bahnüberführung am Bahnhof Charlottenburg und bald in die Bismarckstraße.

Harald hatte den Hohlspiegel in der flachen Hand und beobachtete nach hinten.

Abermals rief er den Chauffeur an:

„Links abbiegen! Kreuz und quer fahren! Sie verstehen, Bohlke!“

„Und ob, Herr Harst! – Ein besserer Vorschlag: ich kenne da ein kleines Hotel am Bahnhof Charlottenburg. Das hat einen zweiten Ausgang nach der Krummen Straße. Sie steigen schnell aus, ich fahre leer weiter.“

„Gut, Bohlke. Los denn!“

Das Auto hielt kaum, als wir schon im Hoteleingang verschwanden. Es raste davon.

Der Wirt stand in der Vorhalle. Ein paar Sätze genügten. Er führte uns über zwei Höfe. Dann standen wir mit unseren Koffern in der Krummen Straße, gingen der Kantstraße zu.

Ein Taxameterauto kam leer vorüber. Wir hinein.

„Bahnhof Grunewald!“ hatte Harst befohlen.

Das Auto war neu. Der Chauffeur fuhr tadellos. Bald waren wir in der einsamen Trabenerstraße, die am Bahndamm dem Grunewald zu entlangläuft.

Kein Verfolger mehr hinter uns.

Dann durchschritten wir den langen Tunnel und gelangten in den Wald. Das Auto war zur Stadt zurückgekehrt.

Der Kiefernwald nahm uns auf. Zwei Spaziergänger mit Handkoffern – eine Seltenheit. Ausflügler schauten uns nach.

Die Region des verstreuten Stullenpapiers lag hinter uns. Wir drückten uns in eine Schonung hinein, fanden eine kleine Lichtung und begannen mit der Toilette.

Unsere Handkoffer ließen wir stehen. In den Koffern hatten sich auch zwei Reisetaschen befunden. Die nahmen wir mit.

„Wohin nun eigentlich?“ fragte die kleinere Frau die Schlanke.

„Nach – nach Lichterfelde, mein Alter.“

„So?! Und dort?!“

„Dort ist vorgestern im Walde ein Forstgehilfe angeschossen worden – unter etwas eigentümlichen Umständen, wie in der Zeitung stand. Er liegt jetzt in der Klinik eines Doktor Grabert, die zugleich Sanatorium ist. Wir werden dort wohnen.“ –

Die beiden älteren, verschleierten Damen fuhren mit dem Zuge von Station Grunewald bis Nikolassee, von da mit der Wannseebahn nach Lichterfelde.

Um halb acht betraten wir den Garten des Sanatoriums. Doktor Grabert mußten wir notgedrungen ins Vertrauen ziehen. Der alte Herr wies uns zwei Zimmer im Erdgeschoß an. Um neun Uhr abends führte er uns in das Nebengebäude zu Otto Borstel, dem Forstgehilfen.

Der junge Mensch hatte zwei Schüsse erhalten, Revolverkugeln, eine in den rechten Arm, die andere in die linke Schulter.

Ich wußte bisher über die näheren Umstände nichts. Ich hatte die Notiz in der Zeitung übersehen, und Harald hatte sich ebenfalls ausgeschwiegen. „Ich will Dir die Überraschung nicht abschwächen,“ hatte er gemeint.

Borstel ging es ganz gut. Doktor Grabert sagte ihm, wir seien zwei Kriminalbeamte. Er solle uns alles recht genau erzählen. – Auch Grabert wußte nicht, was wir eigentlich vorhätten. Er glaubte, es handele sich lediglich um den Überfall auf den Forstgehilfen.

Borstel begann dann zu berichten. Der Arzt war wieder gegangen.

„Zu meinem Revier gehört auch die südwestliche Waldgrenze. Es gibt da unweit des Waldrandes eine tiefe, große Lehmgrube –“

Ich hielt den Atem an. Lehmgrube –! – Nun wußte ich Bescheid.

„–, die freilich nicht mehr ausgebeutet wird. Der vielen Holzdiebstähle wegen müssen wir Beamte auch nachts sehr oft Patrouillengänge machen. Ich habe nun einen vortrefflichen Hund gehabt, einen deutschen Vorstehhund –“

Borstels Stimme zitterte mit einem Male.

„Ich hatte meinen Ajax sehr – sehr lieb, meine Herren. – Vor fünf Tagen kam ich nachts gegen zwölf Uhr an der Lehmgrube vorüber, und zwar oben am Westrande. Dort fällt sie ganz steil wohl acht Meter tief ab. Ajax war neben mir. Plötzlich knurrte er, rannte in langen Sätzen davon. Es war ziemlich mondhell. Ich sah, daß er von Osten her, wo der Zugang zu der Lehmgrube sich befindet, auf eine baufällige Bretterbude zulief. Dann heulte er plötzlich auf. Ich rief, pfiff. Er meldete sich nicht mehr. Da bekam ich Angst und stürmte um die Grube herum – auf die Hütte zu –“

„Der Hund war tot?“ fragte Harald voller Teilnahme.

„Ja – ja, – erstochen war er – mitten ins Herz! – Ich machte meine Büchse schußfertig, durchsuchte die Hütte. Ich fand keine lebende Seele. Da habe ich Ajax nach Hause getragen und mir den Hund meines Vorgesetzten geholt, einen großen deutschen Schäferhund. Förster Ring begleitete mich. Der Schäferhund wurde vor der Lehmgrube an die Leine genommen. Wir hatten auch Radlaternen mit. Wir – wir fanden nichts. Rings tadellos dressierter „Lord“ fand auch nichts. Nur etwas fiel uns auf: es roch vor der Bretterbude nach Petroleum, und die lehmige Erde war stellenweise noch feucht von Petroleum.“

„Wo? Dicht bei der Bretterbude?“

„Ja. Nach Osten zu. Da liegt ein Haufen Feldbahnschienen und ein paar kaputte Schubkarren. Neben dem Haufen war es. Ring meinte, hier hätte jemand absichtlich Petroleum verspritzt, damit ein Hund keine Witterung fände.“

„Rochen Sie denn das Erdöl schon, als Sie allein die Grube durchsuchten?“

„Nein. Da war noch kein Petroleum vergossen.“

„Und Ihr Ajax lag ebenfalls tot neben dem Haufen?“

„Ja. Vielleicht zwei Meter ab nach Süden zu.“

„Bitte weiter –“

„Ring und ich gingen dann morgens nochmals hin. Aber wir konnten nichts feststellen. In der nächsten Nacht legte ich mich am Westrand der Grube auf die Lauer. Auch das war umsonst. Doch – mein Ajax sollte gerächt werden! Deshalb schlich ich in der folgenden Nacht wieder dorthin. Es war dieselbe Nacht, als das schwere Gewitter gegen elf Uhr niederging.“

Harst warf mir einen Blick zu. Ich verstand: in der Nacht war Galley ermordet worden!

„Ich hatte meine Lodenpelerine mit,“ fuhr der Forstgehilfe fort. „Es regnete hier nur wenig. Aber der Gewittersturm hat manchen Baum entwurzelt. Da war auch dicht am Rande der Lehmgrube eine mächtige Kiefer, ein Prachtbaum. Ich lag keine fünf Schritt entfernt, als die Kiefer umbrach. Sie fiel zuerst sehr langsam, dann mit furchtbarer Wucht mit der Krone in die Lehmgrube hinab, während der Wurzelstock oben am Rande des Abhangs hängen blieb. Das Getöse der zersplitternden Äste war so stark, daß ich mich nicht dafür verbürgen kann, ob ich aus der Grube herauf wirklich einen gellenden Schrei gehört oder mir dies nur eingebildet habe. Immerhin glaubte ich an diesen Schrei und eilte nach links am Abhang hinab und in die Lehmgrube hinein. Ich hatte für alle Fälle unter meiner Pelerine eine brennende Radlaterne bereit gehalten. Da es sehr finster war und in der Grube große Steine und Lehmklötze umherliegen, enthüllte ich die Laterne. Ich sah dann, daß die Krone die Hütte gestreift und halb umgerissen hatte. Ich war stehen geblieben. Und – da glaubte ich ein Stöhnen zu hören – ein Ächzen. Es mag auch der Sturm gewesen sein. Plötzlich knallten dann Schüsse dicht vor mir. Sie kamen aus der Baumkrone. Ich wurde getroffen, taumelte, fiel auf einen Stein, schlug mit dem Hinterkopf auf und verlor das Bewußtsein. Mein Vorgesetzter, Förster Ring, der durch meine lange Abwesenheit unruhig geworden, fand mich morgens um fünf ohne Besinnung in der Lehmgrube auf. Die Polizei hat dann die Grube durchsucht – ohne Ergebnis. – Das ist alles, meine Herren.“

„Herr Borstel,“ sagte Harald nun sehr eindringlich, „Sie werden unser Geheimnis bewahren: ich bin Harald Harst, und die Dame da ist mein Freund Schraut. Wir werden Ihren Ajax rächen. Aber – zu niemandem ein Wort, wer wir sind! Selbst die Krankenschwester ahnt es nicht. Nur Doktor Grabert weiß Bescheid. – Wenn ich Sie nun frage, ob Sie mehr geneigt sind, den gellenden Schrei und das Stöhnen als Wirklichkeit hinzunehmen denn als eine Sinnestäuschung, was würden Sie antworten?“

Borstel überlegte. „Mehr als Wirklichkeit,“ erklärte er dann.

„So – jetzt vergegenwärtigen Sie sich die Ereignisse der Nacht, als man Sie niederschoß, recht genau. Gehen Sie sie in Gedanken nochmals durch. Haben Sie nichts zu erwähnen vergessen?“

Der Forstgehilfe sann angestrengt nach.

„Ja – da fällt mir noch ein, Herr Harst,“ meinte er, „daß ich, wie ich so vor der Baumkrone stand und meine Laterne das dichte Astgewirr beschien, etwas eigentümlich funkeln sah – mitten in den Zweigen, – so wie ein Tautropfen morgens im Sonnenlicht funkelt, so in allen Farben –“

„Wie ein Edelstein, Herr Borstel?“

„Ja – genau so.“

„War dieses Funkeln in Augenhöhe?“

„Nein – tiefer, Herr Harst. Etwa ein Meter über dem Boden.“

„Und sonst nichts besonderes mehr? Einen Menschen sahen Sie nicht? Hat die Polizei keine Spuren gefunden?“

„Nein –“

Aber dieses letzte Nein klang sehr zögernd. – Harald, der am Kopfende des Bettes auf einem Stuhl saß, beugte sich näher zu dem Verwundeten hin.

„Das war ein „Nein“ mit Vorbehalt, Herr Borstel. Sie haben noch etwas auf dem Herzen.“

Merkwürdigerweise errötete der Forstgehilfe jetzt.

„Herr Harst,“ flüsterte er fast verschämt, „ich – ich weiß, daß man Ihnen wohl auch andere Geheimnisse anvertrauen kann. Ich – ich habe da eine Bekanntschaft gemacht –“

Harald lehnte sich wieder im Stuhl zurück.

„Also ein Mädchen, Herr Borstel –“, half er dem Verlegenen.

„Ja. Oder doch – nein! Eine Dame – eine wunderschöne Dame, eine Malerin –“

„Und was ist’s mit der?“

„Ich war dreimal mit ihr zusammen. Sie malte die Lehmgrube. Sie hatte Ihre Staffelei oben am Westrand des Abhangs neben der Fichte aufgestellt gehabt, die nun entwurzelt ist. Ich möchte Sie bitten, Herr Harst, daß Sie ihr einen Gruß von mir ausrichten.“

„Gern – falls wir die Dame sehen. Wie werden wir sie aber als die richtige erkennen?“

„Sie ist dunkelblond und hat große, ernste dunkelbraune Augen. Sie hat einen breitrandigen Strohhut auf und trägt ein Sportkostüm.“

„Und der Name?“

„Den kenne ich nicht. Sie muß hier in Lichterfelde wohnen.“

„Dann war diese Bekanntschaft wohl so etwas geheimnisvoll?“

Ich hatte von Haralds Seite eine ähnliche Frage erwartet. Denn eine Lehmgrube malt doch niemand schräg von oben! Und: Haarfarbe und Augen stimmten genau mit denen Eva Wilcwords überein! Außerdem hatte Eva ja ganz in der Nähe der Grube im Schweizerhäuschen gewohnt. –

Borstel erwiderte mit schwachem Lächeln: „Nein, Geheimnisvolles war nicht dabei. Es war am 4. Mai, als ich morgens acht Uhr am Waldrande daherkam. Ich glaubte plötzlich aus der Richtung der Lehmgrube Axthiebe oder dergleichen zu hören. Ich schlich näher heran. Da sah ich die Malerin stehen. Sie sang ganz laut, bemerkte mich und –“

„– schwieg,“ ergänzte Harald eifrig. „Wann begann sie denn zu singen?“

„Erst als ich schon ziemlich dicht heran war.“

„Und die Axthiebe?“

„Ich hatte mich wohl getäuscht. Es war nichts mehr zu hören.“

„Dann sprach die Dame Sie an?“

„Ja. Sie fragte, ob es verboten sei, hier zu malen. Wir kamen dann ins Gespräch. Nach einer halben Stunde schickte sie mich weg. Sie meinte, es könnte ihrem guten Rufe schaden, wenn man uns zusammensähe. Ich beruhigte sie. Dort nach der Lehmgrube kommt so selten jemand. Sie gab mir die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen. Wenn Sie wieder mal hier vorbeikommen, pfeifen Sie bitte schon von weitem recht laut. Wenn ich dann als Antwort ein Lied beginne, dürfen Sie mich begrüßen. Sonst machen Sie einen großen Bogen um die Lehmgrube – meines Rufes wegen!“ – Ich versprach es ihr. Ich sah sie noch zwei Mal, am 7. und am 16. Seitdem leider nicht mehr.“

„Vielleicht treffen wir die Malerin. Dann werde ich Ihre Grüße ausrichten, Herr Borstel. – War denn am 16. das Bild noch nicht fertig?“

„Nein. Die Dame malte sehr, sehr sorgfältig und langsam.“

„Es war also eine feine Dame?“

„Ja – bestimmt. Sie hatte eigentlich ein sehr hochmütiges Gesicht. Aber das war nur so äußerlich. Sie konnte sehr liebenswürdig sein.“

„Noch etwas, Herr Borstel. Sind Sie mit der Dame vertrauter geworden?“

„Wo denken Sie hin, Herr Harst! Ausgeschlossen!“

„Aber so etwas verliebt hatten Sie sich doch?“

„Ja – leider!“ Er seufzte.

Dann sagten wir ihm gute Nacht und gingen in das Hauptgebäude zurück in unsere Zimmer.

Die Lehmgrube erschien mir jetzt wichtiger als der fragwürdige Justizrat Plotz. Eine gefährliche Romantik umspann die Grube: ein toter Hund, ein stürzender Baum und ein verliebter Forstgehilfe, der durch Revolverkugeln niedergestreckt wird –! Das war wirklich allerhand für einen so prosaischen Fleck Erde, wie eine Lehmgrube es ist.

 

3. Kapitel.

Wir saßen nun trotz des heißen Abends in unserem Wohnsalon bei geschlossenen Fenstern und sorgfältig zugezogenen Vorhängen. Als Licht brannte nur die Stehlampe auf dem Schreibtisch, deren grüner Schirm den Schein der Glühbirne so weit dämpfte, daß unsere Sofaplätze im Halbdunkel lagen.

„Die Sachlage ist doch klar, mein Alter,“ begann Harald.

„Vollkommen –“

„Dann bitte –: Bericht!“ – Er hielt mir sein Etui hin, und ich nahm mir eine seiner Mirakulum-Zigaretten heraus.

„Zunächst also die Malerin,“ sagte ich und blies den Rauch stoßweise nach oben. „Ihr Platz oben am Westrande ermöglichte es Ihr, jeden rechtzeitig zu bemerken, der sich der Lehmgrube näherte. Sie paßte dort auf, damit jemand anders, der in der Grube irgendwie tätig war – die Axthiebe! – gewarnt werden könnte – durch den Gesang. Die Malerin war zweifellos Eva Wilcword. Da Borstel sie bereits am 4. Mai kennen lernte, und da Eva das Schweizerhäuschen erst später bezog, muß Sie und ihre Bande mit der Lehmgrube schon längst etwas vorgehabt haben. Evas Bitte an Borstel, zu pfeifen, wenn er sich näherte, war ein feiner Trick und diente auch nur der Sicherheit der Leute, die sich in der Grube betätigten.“

„Bravo, Max Schraut! – Nun kommt der arme Ajax heran.“

„Borstels nächtliche Erlebnisse hängen natürlich mit dem Geheimnis der Lehmgrube eng zusammen,“ erklärte ich. „Der Hund hat in der Grube etwas gewittert, stürmte dorthin und wurde von einem Menschen erstochen.“

„Wo blieb der Mensch?“

„Er entfloh in den Wald, bevor Borstel in die Lehmgrube eindrang.“

„Hm –! – aber weiter!“

„Die stürzende Kiefer in der anderen Nacht –“

„Halt – Du vergißt das Petroleum!“

„Richtig! Der Hundemörder kehrte zurück, nachdem Borstel mit dem toten Ajax im Arm sich entfernt hatte und sprengte den Boden mit Petroleum ein.“

„Hm –! Weiter!“

„Möchtest Du Deine Korrekturen nicht sofort anbringen, Harald? Wir scheinen jetzt nicht ganz einig zu sein.“

„Stimmt. Über die Hauptsache nicht. Davon später.“

„Nun gut. – Die stürzende Kiefer traf einen von Evas Leuten, der trotz des Gewitters in der Lehmgrube weilte. Der Mann schrie auf – wohl mehr vor Schreck. Dann sah er Borstel mit der Laterne nahen. Er konnte nicht fliehen. Er mag leicht getroffen und bewegungsunfähig gewesen sein. Um von Borstel nicht gefunden zu werden, schoß er ihn nieder.“

Harald nickte. „Ja – so war’s! – Weiter!“

„Das wäre alles, denke ich!“

„Und das Funkeln – der sprühende Tautropfen, den Borstel in der dichten Krone des niedergesausten Baumriesen bemerkte?“

„Vielleicht die glimmende Spitze einer Zigarette.“

„Hm –! – Borstels Laterne bestrahlte die Krone, mein Alter. Vergiß das nicht. Eine glimmende Zigarette und ein Tautropfen, im Sonnenschein sprühend, sind im Aussehen grundverschieden. – Hast Du Dir den Justizrat heute vormittag gründlich angeschaut, so, wie unsereiner sich derartige Leute anschauen muß?“

„Ich denke –“

„Dann wird Dir auch zweierlei aufgefallen sein. Was –?“

„Er war sehr nachlässig gekleidet, Haar und Bart ungepflegt, der schwarze „Eisenschlips“ so speckig, als hätte er ihn schon jahrelang getragen.“

„Aha – der Schlips! Und Du merktest, wie er mit der Linken unwillkürlich immer wieder nach diesem Scheusal von Schlips faßte?“

„Ja – jetzt besinne ich mich.“

„Der Schlips und diese Handbewegung sind wichtig, genau so wichtig wie das Loch und die linke Hand.“

„Loch? Was für ein Loch.“

„Das kommt später heran, lieber Alter. – Nun die Hauptfrage: Was taten Evas Leute in der Lehmgrube?“

Ich hatte schon eine Antwort bereit.

„Sie suchten etwas!“

„Ah – einen vergrabenen Schatz!“ Wie ironisch das klang.

Ich warf den Zigarettenrest in den Aschbecher. Ich war etwas verletzt.

Im selben Moment klopfte es. Wir hatten die Tür abgeriegelt. Es war bereits nach zehn Uhr. Im Sanatorium mußte von zehn an Ruhe herrschen.

Ich stand auf, ging zur Tür und fragte, wer draußen sei.

„Anna,“ kam die Antwort. „Das Stubenmädchen. – Der Herr Doktor schickt den Damen noch Erdbeerplatten.“

Ich öffnete und nahm dem Mädchen die beiden Glasteller ab, ließ dem Doktor danken und drehte den Schlüssel wieder um.

Die Erdbeeren dufteten verlockend auf den Mürbeteigplatten.

„Wie gerufen!“ lachte Harald.

Wir aßen mit bestem Appetit. Dann sagte Harst: „So – nun die Weiberkleider herunter!“

Unter den Kleidern trugen wir unsere gewöhnlichen grauen Sportanzüge.

Harald entnahm seiner Handtasche drei Ersatzbatterien für die Taschenlampen.

Wir öffneten das eine Fenster, nachdem wir das Licht ausgedreht hatten, und horchten in die windstille Nacht hinaus.

Der Himmel war leicht bewölkt. Der Mond, von Wolkenschleiern umhüllt, milderte die Dunkelheit.

Wir sprangen hinaus und waren sofort in den schützenden Büschen des Gartens. Wir überkletterten die Mauer und schlugen die Richtung zum Walde ein, schritten auf einem Feldrain entlang.

Dann tauchte die schwarze Wand des Kiefernforstes auf, wurde deutlicher, löste sich, wurde zu einzelnen Stämmen.

Ein Käuzchen schrie irgendwo – der Totenvogel!

„Schlechtes Vorzeichen,“ meinte Harald. „Wollen vorsichtig sein und jetzt kriechen. Steht eine Wache am Waldrand, dann muß sie unsere aufgerichteten Gestalten bemerken.“

Wir krochen, Harald voran. Wir kamen in den Baumschatten.

Da drückte Harst meinen Arm.

„Rechts!“ flüsterte er.

Ich wandte den Kopf. Der Wald lief hier zu einer Spitze aus. Ich sah dort drüben einen Menschen laufen – eine Frau – ganz weit – ganz undeutlich. Die Frau verschwand etwa achtzig Meter rechts von uns unter den Bäumen.

„Das gefällt mir nicht,“ meinte Harald. „Ein Weib! Und vorhin das Käuzchen!“ Er sagte das so gedehnt, so nachdenklich.

Ich gähnte verstohlen. Ich war müde. Der Tag war anstrengend gewesen. Vorn in der Stirn meldete sich auch ein bohrender Schmerz – etwas, das ich noch nie an mir wahrgenommen hatte.

Auch Harst gähnte.

Und – abermals der Käuzchenruf – dies tiefe, gräßliche Lachen der Vogelstimme.

Mir lief es kühl über den Rücken.

„Weiter,“ und Harald richtete sich auf. „Clement entsichert! In die rechte Jackentasche!“

Er huschte voran – von Stamm zu Stamm.

Blieb stehen.

„Teufel – was ist das?!“ sagte er dumpf. „Ich habe scheußliche Kopfstiche!“

Ich war bereits zu müde, um noch zu antworten. Mein Kopf pendelte hin und her, wog einen Zentner. Der Hals trug ihn nicht mehr.

Ich stolperte hinter Harald drein. Eine stumpfe Gleichgültigkeit machte mich zu einem schlechten Begleiter für dieses Unternehmen. Ich hatte nur einen Wunsch: Schlafen!

Es ging den Berg hinab, den wir schon einmal abwärtsgestürmt waren, Eva und Xaver Holdstein nach. Ich dachte an diese Verfolgung – aber so, als läge sie Jahre zurück.

Ja – was war das auch mit mir?! Woher diese bleierne Schwere in den Gliedern? Woher diese Schmerzen in der Stirn, die jedes Denken zur Qual machten?!

„Kriechen – so höre doch!“ fuhr mich Harst an.

Ich schrak zusammen, warf mich hin. Ich fühlte: wenn ich jetzt die Augen schloß, würde ich sofort einschlafen!

Ich raffte den Rest meiner Energie zusammen.

Ich biß die Zähne in die Unterlippe. Der Schmerz rüttelte mich auf.

Nun hatten wir den Westrand des steilen Abhangs der großen Lehmgrube erreicht.

Nun drückte Harald ein paar Ginsterstauden zur Seite.

Ich schob mich noch weiter vor – blickte hinab.

Ein Traum –?! War das ein Traum –?!

Ich schloß die Augen, riß sie wieder auf.

Das phantastische Bild da unten war dasselbe.

Da stand ein mit Leinwand bedachter Zigeunerwagen. Da standen zwei Pferde, brannte ein Feuer.

Da saßen im Halbkreis Menschen herum.

Und – ein Weib tanzte – tanzte, in weiße Schleier gehüllt.

Der Feuerschein zuckte rötlich über sie hin. Ein Tamburin klang ganz leise.

„Eva!“ – kam Haralds Stimme in mein Hirn geschlichen.

Eva?! – Mein Blick wurde starr.

Da stand die Tänzerin still – das Gesicht uns zugekehrt. Das Tamburin schwieg.

Ja – sie war’s! Sie stand da – nachlässig, den Kopf zurückgeworfen – hochmütig – unnahbar. –

Plötzlich schlugen mir die Zähne im Frostschauer klappernd zusammen. Vor meinen Augen zuckten Sternlein auf.

Und wieder Harsts Stimme – wie von ganz weit her:

„Die Erd–beer–kuchen –!“

Er lallte nur noch. –

Der Ohnmachtsanfall ging vorüber. Ich konnte wieder sehen.

Und ich sah, daß Eva Wilcword ein Mantel über die Schultern geworfen wurde, daß sie ein brennendes Scheit ergriff, daß sie dem Ausgang der Lehmgrube zuschritt, gefolgt von zwei Männern in Zigeunertracht.

Abermals kroch Harsts Stimme träge in mein Bewußtsein:

„Flie–hen –! Fort – von – hier!“

Dann ein Ächzen.

„Vorbei – wie – gelähmt –“ –

Fliehen?! – Ich wollte rückwärts kriechen. Kein Glied gehorchte mir mehr. Nur das Hirn arbeitete noch wie eine Maschine mit schwachem Druck.

Wieder der Schüttelfrost – die Sternchen.

Und dann – dann riß mich jemand halb hoch, setzte mich aufrecht.

Über mir flackerte das brennende Scheit. Vor mir wallten Evas Schleier – der dunkle Mantel.

„Willkommen, meine Herren!“ sagte das Weib ganz laut. Ihre Stimme triefte vor Hohn. „Sie können sich nicht beklagen. Wir haben Sie würdig empfangen.“

Andere Männer traten hinzu – alle schwarzbärtig, alle die Hüte tief ins Gesicht gedrückt. Man hob uns empor, trug uns hinab in die Lehmgrube, legte uns in den Zigeunerwagen auf Decken, verband uns die Augen, fesselte uns die Hände auf die Brust, umschnürte uns wie Pakete.

Und trug uns wieder davon.

Stufen hinab. Ich roch dumpfe, feuchte Luft: Erdgeruch, Lehmduft.

Ich war tot. Nur die Sinne wach. Mir würgte immer wieder jähe Übelkeit in der Kehle.

Dann setzte man mich auf einen harten Stuhl. Die Beine band man mir fest, den Oberkörper.

Wozu all das?! Ich konnte mich ja doch nicht mehr bewegen. Ich war ungefährlich.

Jetzt drückte man mir den Mund auf, bog den Kopf nach hinten.

Eine Flüssigkeit tropfte auf die Zunge. Ich schluckte. Blitzartig die grauenvolle Ahnung: Gift – Gift! Eva Wilcword wollte ihre Rechnung mit uns gründlich glatt machen – gründlich – für immer!

Ich schluckte. Die Zunge, die Muskeln taten es gegen meinen Willen.

Um mich her Gemurmel.

Es erstarb. Schritte gingen, wurden leiser.

Dann Stille.

Seltsam – der Schmerz in der Stirn wich. Mir wurde so merkwürdig leicht in Kopf, im Körper. Als ob ich die Erdenschwere verloren hätte.

Und – ich mußte gähnen – immer wieder gähnen. Die Übelkeit schwand. Ein fast feuriges Kraftgefühl durchglühte mich.

Da – nahm man mir das Tuch von den Augen.

Da – sah ich – Sah –

 

4. Kapitel.

Eine Höhle – Lehmwände – Tische, Stühle, eine Lampe, eine große Petroleumlampe mit Blechschirm an der Lehmdecke.

Mir gegenüber an der anderen Wand Harst, genau wie ich auf einen Holzstuhl gefesselt. Sechs Meter trennten uns.

Und zwischen uns am rohen Holztisch lehnte Eva, die Feindin, – Eva, jetzt im Sportkostüm, mit Strohhut.

Ihre Blicke glitten von mir zu Harald.

„Fühlen Sie sich besser, Herr Harst?“ fragte sie etwa so, als stünden wir hier in einem Salon zusammen als gute Freunde.

„Ja.“

„Sie sind also wieder fähig, klar zu denken. Ich möchte Ihnen erklären, welch groben Fehler Sie gemacht haben. Sie hätten sich selbst sagen müssen, daß ich jemand in Graberts Sanatorium schicken würde, damit der Narr, der Borstel, unter Beobachtung bliebe. Ich schickte ein Mädchen hin, als Patientin. Nachdem Sie beide uns durch den zweiten Ausgang des Hotels entschlüpft waren, fühlte ich mich wirklich etwas verlegen, wie ich Sie wiederfinden sollte. Da liefen Sie uns von selbst wieder in die Arme – bei Grabert. Meine Spionin durchschaute Ihre Masken. Sie ist selbst Schauspielerin gewesen. Das Telephon meldete mir Ihr Eintreffen. Ich gab die entsprechenden Befehle. Die Spionin brachte Ihnen die Erdbeertörtchen. Ich ahnte ja, daß Sie die Lehmgrube besuchen würden. Die Wirkung der Törtchen mußte voll nach einer halben Stunde eintreten. Wären Sie noch in Ihrem Zimmer gewesen, hätten wir Sie beide herausgeholt. Aber das war nicht nötig. Sie hatten es sehr eilig, die Lehmgrube sich anzusehen. Die Spionin kam und meldete, daß Sie nahten, daß Sie – gegessen hätten – die schönen Törtchen. Nun wußte ich, daß alles klappte. Und – nun sind Sie mein!“

„Vorläufige, Frau Wilcword!“

Sie lachte. „Wollen Sie mich wieder einschüchtern?!“

„Nein. Nur warnen.“

„Wovor?! – Sparen Sie Ihre Intelligenz, Herr Harst!“ Heute vormittag mußte auch Holdstein sterben. Er sollte Karl Herms vergiften. Herms war ein Feigling. Er hätte uns verraten. Freilich: er spielte nur eine untergeordnete Rolle im Bunde. Er wußte nicht viel. Immerhin wären wir etwas belästigt worden. Meine Spione im Präsidium waren auf dem Posten. So konnte ich Ihnen als Radler den Zettel zukommen lassen. – Ja – das Maß ist zum Überlaufen voll! Sie haben uns geschädigt. Eine Milliarde büßten wir durch Sie ein: die Edelsteine John Wilcwords! Dann noch das goldene Tafelservice Uhlborns! – Sie sind jedem lästig, Herr Harst, der abseits auf dunklen Pfaden wandelt. Jetzt – werden Sie beide niemandem mehr schaden.

„Ahnten Sie, weshalb Borstel niedergeschossen wurde, weshalb Xaver und ich Ihnen damals entkamen?“

„Ja. – Daß es hier eine Höhle in dem Lehmberg geben müsse, ward mir klar, als ich in der Zeitung vom dem Überfall auf Borstel las, – eine Höhle mit einem tadellos versteckten Zugang.“

„Den wir erst anfangs des Monats schufen, Herr Harst! Die Höhle kennt nur der Bund. Einer von uns fand sie dadurch, daß sein Teckel in den verlassenen Fuchsbau kroch und dann in der Höhle halb verschüttet wurde. Sein Herr grub das Schlupfloch weiter und entdeckte die Höhle. Wir brauchten ein Versteck für die Stunde der Not. Wir wußten Sie auf unserer Spur. So entstand dieser Unterschlupf. Jetzt – ist er überflüssig. Er wird wieder vernichtet werden. Er wird einstürzen.“

Sie zeigte schräg nach oben. Da hingen drei dicke Schnüre vom der Lehmdecke.

„Zündschnur, Herr Harst. Darüber Dynamit. Eine kleine Blechkiste voll. Der Lehmberg wird bersten. Sie beide werden acht Meter Lehm über sich haben, zerquetscht werden, vermodern –“

Ihre Augen funkelten böse.

„Drei Zündschnüre. Eine Stunde wird’s dauern. Dann ist es aus mit Ihnen. Erlischt eine der Schnüre, brennen noch zwei weiter. Ich will diesmal sicher gehen. Diesmal ist keine Hoffnung für Sie – keine. Bechert, so wurde mir gemeldet, war schon dreimal in Ihrer Wohnung. Auch er kommt noch an die Reihe. – Haben Sie noch etwas zu sagen? Einen Wunsch?“

„Ja.“

„Und der wäre?“

„Lassen Sie Bechert am Leben, Frau Wilcword. Er ist verlobt.“

Sie verzog den Mund.

„Maifieber –! Lächerlich! Liebe –! Als ob es auch nur einen Mann gäbe, der Liebe wert wäre! Schwachköpfe alles – selbst Sie!“

„Mag sein. – Schonen Sie Bechert.“

Sie schaute Harst lange an. Dann sagte sie leiser:

„Ich nehme den Schwachkopf zurück. Vielleicht sind Sie wirklich ein Mann. Sie bitten für den Freund. Das ist – anständig.“

„Ich würde auch für Schraut bitten, wenn ich nicht wüßte, daß es zwecklos wäre.“

„Allerdings. – Gut denn: Bechert wird geschont werden. Ich werde ihn nicht weiter beachten. Unsere nächsten Unternehmungen planen wir fern von Berlin.“

Sie rieb ein Zündholz an.

Mir blieb das Herz stehen.

Ja – sie ging – hielt das Zündholz nacheinander an die Zündschnüre – warf es weg.

Die Schnüre pendelten hin und her – unten schwelend.

Dann – schraubte sie die Lampe herab.

Dunkelheit.

Bis Ihre Taschenlampe mit weißem Lichtfinger durch die Finsternis griff, bis sie davonschreitend sagte:

„Es ist vielleicht doch schade um Sie beide!“

Die Lehmhöhle mußte da links eine scharfe Biegung machen. Der weiße Finger und die Gestalt verschwanden.

Tiefe Dunkelheit. Nur die drei Fünkchen dort glommen schwach: die Todesschnüre!

„Harald!“ flüsterte ich.

„Ja, mein Alter –“

„Keine Hoffnung?“

„Nein – keine! Es sei denn, daß die Lehmdecke sich öffnete und ein Quell die Funken löschte.“

– Keine Hoffnung –! Und – wie Harst das gesagt hatte – so, als wollten die Worte nicht über die Zunge.

Ich sank in meinen Fesseln in mich zusammen.

Keine Hoffnung! Sterben –!

Meine Augen ruhten auf den drei Fünkchen, die da in der Finsternis glühten.

Ob denn die Fesseln nicht abzustreifen waren?! Ob man nicht bis zu den Fünkchen sich hinwälzen könnte samt dem Stuhl?

Nein – auch das unmöglich! Wie sollte man sich wieder aufrichten?!

Da – von Harald her ein seltsames Geräusch.

Ich horchte auf, fragte:

„Was tust Du?“

„Tu’ dasselbe! Es ist die einzige Möglichkeit: Auch die Stühle sind ja festgebunden. Man hat Pflöcke in die Lehmwand getrieben. Die Knoten der Stricke sind mit dem Munde nicht zu erreichen. – Tu’ das, was auf den Bahnhöfen in Straßenbahnen als Verbot angeschlagen ist. Es sind etwa zwei und ein halb Meter bis zu den Fünkchen. Ein paar Tropfen Speichel genügen. Aber – ruhig bleiben! Zielen!“

Verbot – Straßenbahn –! –:

Nicht auf den Boden spucken!

Die Lehmdecke sollte sich öffnen – ein Quell hervorsprudeln.

Den Quell hatten wir im Munde! –

Wieder das Geräusch von Harald her.

Das eine Fünkchen pendelte –

Und auch ich zielte.

Nur zwei und ein halb Meter! Wir hatten eine Stunde Zeit.

Das zweite Fünkchen schwang hin und her.

Und – erlosch mit leisem Zischen.

„Ruhe!“ mahnte Harald. „Langsam –, nicht übertreiben!“ –

Eva Wilcword war doch nicht schlau genug gewesen. Die drei Fünkchen waren verschwunden.

 

5. Kapitel.

„Nun müssen wir versuchen, die Stühle von den Pflöcken loszuwuchten,“ sagte Harald. „Besser, Du überläßt das mir. Warte –“

Ich hörte seine Anstrengungen, hörte den Stuhl knarren, hörte Harst keuchen.

Dann ruhte er sich aus.

„Es wird schon werden, mein Alter. Etwas beeilen müssen wir uns. Ich schätze, daß bisher eine halbe Stunde vergangen ist. Die Spione Evas sollen nicht umsonst aufpassen.“

Ich verstand ihn nicht ganz. Er arbeitete wieder, keuchte.

Dann ein leiser Krach.

„So – ich bin von den Pflöcken frei! Ich komme!“

Er wälzte sich näher – immer näher. Ich fühlte, daß seine Zähne die Knoten an meinen Stuhlbeinen lösten.

Nun hatte ich die Beine frei.

„Hilf mir mit den Füßen, daß ich mich aufrichten kann!“ befahl Harst.

Es gelang. Er nahm meine anderen Stricke vor. Alles in tiefer Finsternis.

Dann war ich wieder Herr meiner Hände. Dann stand ich auf.

„Schnell!“ mahnte Harald. – Ich knotete ihn los.

„So,“ meinte er, „nun die Pistolen zur Hand und erst mal Ausschau halten.“

Wir fanden die Treppe, die in einen Gang hinabführte, der mit Brettern abgestützt war. Wir fanden die Falltür – den Ausgang.

Drückten sie hoch. Sie war schwer, hatte zackige Ränder, war oben mit einem Lehmklotz benagelt, der das Holz verdeckte.

Harst streckte den Kopf heraus. Ich hörte das Rieseln des Regens.

Harald ließ die Tür wieder herab. „Es gießt in Strömen. Sehr günstig für uns. Nun die Zündschnüre.“

Er eilte durch den Gang zurück. Ich mußte an der Falltür wachen.

Er kam sehr bald.

„Sie brennen. Ich habe sie gekürzt. – Hinaus jetzt!“

Wir krochen durch lehmige Pfützen – durch klatschenden Regen – in den Wald hinein.

Harst gab mir die Hand. „Sonst verlieren wir uns!“ meinte er.

Ich tappte hinter ihm drein. Um die Lehmgrube herum, links den Berg empor.

Wir standen und warteten. Plötzlich ein dumpfer Knall – ein Krachen stürzender Stämme. Prasseln brechender Äste. –

„So, mein Alter, nun sind wir tot. So glaubt Eva Wilcword! Nun können wir nachschauen, was von der Bretterbude übrig geblieben ist, denn Evas Spione werden sich jetzt entfernen. Sie haben wie wir gehört, daß der Lehmberg einstürzte. Was sollen sie noch hier?!“ –

Die Hütte lag auf der Seite. Aber sie bot doch noch Schutz gegen den Regen. Wir harrten auf das Tageslicht. Der Morgenwind vertrieb die Wolken. Kaum war es hell, begann Harst auch schon die Krone der entwurzelten Kiefer zu durchsuchen. Ich stand Posten – für alle Fälle. Ich sah die Verwüstungen der Explosion an der westlichen Wand. Mir graute.

Da war ein Dutzend Kiefern kreuz und quer übereinander gefallen. Da klaffte ein Riß in der Wand wie ein Scheunentor.

Harald kam.

„Umsonst!“ meinte er.

„Was suchtest Du eigentlich?“

„Den blitzenden Wassertropfen, der anderswo fehlt.“

Er schritt in den Wald hinein. Wir säuberten uns, fuhren mit einem Zuge vom nahen Schlachtensee über Nikolassee nach Station Grunewald, holten unsere Koffer aus der Schonung und zogen uns um, wurden zu zwei älteren Herren, die dann nach Berlin sausten – im Mietauto bis Alexanderplatz.

Da war eine kleine Kneipe, in der hauptsächlich Kriminalbeamte verkehrten.

Harst sprach den einen an. „Sagen Sie Herrn Bechert, er solle sofort nach der Steinmetzstraße kommen und dort auf und ab gehen. Er weiß schon Bescheid.“

„Wer sind Sie?“ fragte der Beamte.

„Ein Mann, den Bechert kennt. – Gehen Sie!“

Der Beamte verließ die Kneipe.

Wir frühstücken, übergaben die Koffer dem Wirt und bestiegen wieder ein Auto. –

In der Steinmetzstraße schlenderte ein älterer Telephonarbeiter hin und her: Bechert!

Wir gingen an ihm vorüber, Harst flüsterte:

„Uns folgen – Harst!“

Im nahen Postamt waren wir sicher.

„Bechert, kein Mensch darf erfahren, daß wir noch leben,“ erklärte Harst leise: „Wir müssen das Haus des Justizrats beobachten. Nur so fangen wir das Weib.“ – Er schilderte kurz unsere Erlebnisse.

Bechert sagte kein Wort, schüttelte nur den Kopf. –

Ich will hier nur erwähnen, daß wir zwei Tage auf der Lauer lagen. Aber wir bemerkten nichts Verdächtiges. Die Leute, die bei Plotz aus und ein gingen, waren nicht Eva Wilcword.

Da sah auch Harst ein, daß Eva und der Bund Berlin wirklich verlassen hatten. Da – griffen wir zu.

Am dritten Nachmittag geschah’s. Bechert und wir, Harst und ich in einer noch sorgfältigeren Verkleidung, saßen wieder in des Justizrats Sprechzimmer.

„Was steht zu Diensten, Herr Kommissar?“ fragte Plotz mit öliger Liebenswürdigkeit.

„Harst und Schraut sind spurlos verschwunden, Herr Justizrat. Ich hatte hier diese beiden Beamten mit Nachforschungen betraut.“

„Oh – wie schade! Hoffentlich ist den beiden berühmten Herren nichts passiert.“ – Hohn war das – frecher Hohn! Er fühlte sich sicher.

„Jäger,“ wandte Bechert sich an Harst, „nun reden Sie!“

Und Jäger sagte im tiefsten Baß: „Herr Justizrat, kennen Sie die Lehmgrube östlich von Lichterfelde im Walde?“

„Lehmgrube? Ich?! – Nein! Ich mache kaum Ausflüge.“

„Da ist letztens eine Kiefer umgestürzt – in der Nacht, als der Hauslehrer Galley ermordet wurde. Und in derselben Nacht schoß jemand den Forstgehilfen Borstel nieder – in jener Lehmgrube.“

„Na – und?!“

„Das – taten Sie, Herr Justizrat!“

Plotz lachte gutmütig. „Herr Jäger, Sie scherzen wohl!“

„Durchaus nicht. – Sie haben da am linken Handgelenk noch heute kaum vernarbte Striemen – vier Risse. Die rühren von den Zweigen der Kieferkrone her, von der Sie niedergerissen wurden.“

Plotz seufzte komisch. „Herr, Jäger – Sie phantasieren!“

„Durchaus nicht. – Sie haben da einen schwarzen langen blanken Schlips um, Herr Justizrat. Sie fassen mit der linken Hand so oft ganz unbewußt nach dem Schlips, weil etwas in dem Schlips fehlt –“

Ah – das saß! Plotz’ Gesicht verlor den überlegen-harmlosen Ausdruck.

„In dem Schlips ist nämlich ein Loch, Herr Justizrat. Da hat eine Nadel gesteckt. Die Nadel vermissen Sie.“

Plotz ward fahl.

„Die Nadel wurde Ihnen von den Zweigen derselben Kiefer herausgerissen, Herr Justizrat. Sie blieb dort hängen in der Baumkrone, die Nadel mit dem großen Brillanten, den Borstel im Licht seiner Laterne funkeln sah.“

Harst faßte in die Tasche.

„Hier ist die Nadel. Ich fand sie in der Lehmgrube. Sie waren es also, der Borstel niederschoß.“

Plotz lief der Schweiß über die Stirn.

„Und daß Sie mit Eva Wilcword dort in der Lehmgrube sich öfters getroffen haben, wird Ihnen auch bewiesen werden, Herr Justizrat. – So – nun verhaften Sie ihn, Herr Kommissar.“

Dazu kam es nicht. Die Barrikade der Aktenböcke hinderte uns, Plotz in den Arm zu fallen. Er hatte einen Revolver aus der Schublade herausgerissen, erschoß sich im Schreibsessel, lebte noch vier Minuten trotz des Herzschusses.

Wir hatten ihn auf das Sofa gelegt. Mit geschlossenen Augen lag er da. Bechert drängte die Schreiber wieder zur Tür hinaus.

Harald hatte sich über den Sterbenden gebeugt.

„Plotz – ich bin Harald Harst! Ich lebe!“ sagte er eindringlich.

Die Lider gingen hoch. Plotz starrte das fremde Gesicht an.

„Wo ist Eva Wilcword?“ fragte Harald rasch.

Plotz lächelte haßerfüllt.

„Suchen – suchen Sie sie!“ stieß er hervor.

Dann starb er. –

Was die Zeitungen dann berichteten, was weiter geschah, wie wir Eva fanden, – all das bringe ich im nächsten Band. –

Das Drama der Lehmgrube war aufgeklärt. Plotz war tot. Eva lebte. Und an der hohen Mauer des Schloßparks lebte der Spuk auf.

 

Nächster Band:

Schatten an der Wand.

 

 

Verlagswerbung:

Wie

benehme ich mich?

Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte

Von W. v. Neuhof

 

Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Hans“. Nur in Heft 87, 89 und 90 heißt der Kriminalkommissar Bechert „Hans“ mit Vornamen. Dagegen in allen anderen Heften davor und danach „Fritz“. Bandübergreifend und einheitlich auf „Fritz“ geändert.
  2. Die letzten zwei Worte dieser Zeile: „Walde, ganz“ sind mit der nächsten Zeile identisch, was aber so keinen richtigen Sinn ergibt. Sinngemäß ergänzt, was dann auch mit der Zeilenlänge der Vorlage paßt.
  3. In der Vorlage steht: „machte“.