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Der Geisterspiegel

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 87:

 

Der Geisterspiegel

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Eine Schachtel Wachszündhölzer.

Die Geschichte vom Geisterspiegel hat seiner Zeit in allen Blättern gestanden. Leider aber beruhte das, was die Herren von der Presse ihren Lesern über diesen eigenartigen Kriminalfall mitteilten, zum größten Teil auf freier Erfindung.

Harald Harst und ich haben herzlich gelacht, als wir eins dieser Phantasieprodukte lasen. Gerade die Hauptmomente waren gänzlich aus der Luft gegriffen. All diese Artikel stellten eine trübe Bouillon ohne Saft und Kraft dar: Kunstbrühe!

Hier bringe ich nun die Tatsachen, wie sie sich eine aus der andern damals entwickelt haben. Hier ist die Wahrheit, abgesehen von ein paar Namen, die ich aus leicht begreiflichen Gründen ändern mußte.

In Lucknow in Indien fing die Sache an. Sehr harmlos. Da erreichte uns im Hotel Imperial ein Brief aus Berlin. Wir hatten gerade mit Detektivinspektor Webster abends im Speisesaal ein Souper von sechs Gängen hinter uns, als der braune Kellner den Brief brachte.

Harst las ihn, gab ihn mir.

„Ein anspruchsvoller Herr, dieser Mr. Marmaduc Battenham,“ meinte er dazu. Dann unterhielt er sich mit Freund Webster. –

Die Anschrift auf dem Umschlag lautete:

Herrn Harald Harst,

Bombay, Indien

Hotel Excelsior.

Bitte nachsenden!

Auf der Rückseite stand:

Absender: Dr. Marmaduc Battenham, Berlin, Deutschland,
Eisenacherstraße 168, 2.

Und der Inhalt des Schreibens:

Berlin, den 8. Februar 1922.

Sehr geehrter Herr Harst! Gestatten Sie, daß ich Ihnen zunächst einiges über meine Person mitteile. Ich bin Amerikaner. Meine Eltern waren Deutsche, Auswanderer, wohnten in dem Städtchen El Paso am Rio Kolorado. Sie hießen Battenstein, nannten sich nachher Battenham. Ich habe Medizin studiert, bin Arzt und habe mich stets mit Vorliebe mit dem dunklen Gebiet des Okkultismus beschäftigt, war ein Jahr in Indien und suchte in die Geheimwissenschaft der indischen Yogi-Kaste einzudringen. Heute fünfunddreißig Jahre alt, lebe ich seit anderthalb Jahren in Berlin, wo jetzt nach dem Kriege eine Menge Vereine gegründet worden sind, die sich mit Okkultismus abgeben. Von Hause aus reich und unabhängig, lebe ich nur meinen Neigungen.

Vor zwei Wochen erfuhr ich, daß in der Wohnung einer Dame ganz in meiner Nähe sich häufig ein Okkultistenzirkel zusammenfinde und daß dort auf einem sehr alten hohen Stehspiegel Erscheinungen aller Art sichtbar würden. Ich suchte Anschluß an diesen Zirkel. Ein Bekannter führte mich ein. Vor der Sitzung dieses Geisterseherzirkels mußten wir Teilnehmer, im ganzen 24 Personen, das betreffende Zimmer prüfen und uns davon überzeugen, daß jeder Betrug ausgeschlossen sei.

Wir taten es mit der größten Sorgfalt. Mich täuscht man nicht so leicht. Ich gehöre nicht zu den Blindgläubigen. Ich versichere Ihnen: hier war jeder Schwindel unmöglich.

Das Zimmer wurde verschlossen. Wir 24 standen an der Wand gegenüber dem Spiegel.

Die Dame des Hauses, eine junge Witwe, deren Gatte viele Jahre in Persien gelebt und, wie sie erklärte, von persischen Magiern die Geheimnisse der Kunst der Geisterbeschwörung mitgebracht habe, schüttete auf ein Becken mit Holzkohlen ein Pulver, atmete kniend die Dämpfe ein und verfiel danach in einen starrkrampfähnlichen Zustand.

Im Zimmer brannte lediglich ein mit gelber Seide verhüllter elektrischer Wandleuchter gegenüber dem Spiegel.

Die Dame, Frau W., hatte kaum drei Minuten regungslos auf dem Teppich gelegen, als auf dem Spiegelglas sich wolkenartige Gebilde zeigten, die sich immer dichter zusammenballten und schließlich Form und Gestalt annahmen: die eines Mannes in schwarzer Richterrobe, ein Barett auf dem Kopf.

Eine der anderen Damen sank ohnmächtig um, nachdem sie kreischend gerufen hatte: „Mein Mann – mein Mann!“

Es war die Witwe eines Landgerichtsrats.

Die Sitzung war beendet. Ich nahm den Eindruck mit heim, daß Frau W. eine sehr geschickte Betrügerin sei.

Vier Tage später wieder eine Sitzung. Diesmal wurden von mir und zwei Herren das Zimmer, der Spiegel, der sich leicht von der Wand heben läßt, und alles übrige noch genauer geprüft.

Diesmal zeigte sich in derselben Weise auf dem Spiegel ein Mann in Uniform: ein verstorbener schwedischer Oberst namens Oskarström, dessen Witwe der Sitzung beiwohnte.

Frau Oskarström fiel nicht in Ohnmacht, sondern rief nur leise: „Er ist’s – er ist’s!“

Dann wurde das Spiegelbild undeutlicher.

Die Sitzung war aus und Frau W. hatte wieder etwa fünfzigtausend Mark verdient, denn sie läßt sich „zur Deckung der Unkosten“ freiwillige Beiträge zahlen.

Seitdem habe ich noch drei Sitzungen mitgemacht. Ich stehe vor einem Rätsel. Ich weiß, daß hier betrogen wird. Aber – wie, wie?!

Sie würden nun ein gutes Werk tun, wenn Sie diese Frau W. entlarven wollten.

Ich bin mit vorzüglichster Hochachtung

Ihr Doktor M. Battenham.

Ich gab Harald den Brief zurück. Er schob ihn in die Tasche und sagte zu Freund Webster, dem er den Inhalt des Schreibens kurz mitgeteilt hatte:

„Da müßte ich ja ein Narr sein, wenn ich einer solchen Albernheit wegen plötzlich nach Berlin –“

Er schwieg.

Derselbe Kellner war an ihn herangetreten und hatte ihm eine Depesche gereicht.

Harst öffnete sie, las und rief dann leise:

„Ich nehme die Bezeichnung Albernheit zurück. Kriminalkommissar Bechert telegraphiert hier:

Harald Harst, Bombay, Excelsior,       nachsenden.

Bei Sitzung bei Frau Wargenheim, Eisenacherstr. 170, vor vier Tagen rätselhafter Mord. Auf Spiegel Bild einer verschleierten Frau, die plötzlich Dolch wie zum Wurfe hob und zu schleudern schien. Im selben Moment Amerikaner John Wilcword tot mit Dolch im Herzen zusammengebrochen. Wilcword einer der Teilnehmer der Sitzung. Doktor Battenham teilte mir mit, daß an Sie bereits geschrieben. Sie kennen den Zirkel also. Wenn möglich, sofort herkommen. Fall liegt völlig rätselhaft. – Gruß Bechert.“

Freund Webster nickte ernst.

„Was für Sie, Harst!“

„Ja, es scheint so. Bechert würde mich niemals einer Lappalie wegen zurückrufen.“

„Was halten Sie von der Sache?“

„Sie verlangen zu viel, Webster. Wie soll ich mich von hier aus dazu äußern?!“

Er zog Battenhams Brief wieder aus der Tasche.

„Battenham hat am 8. Februar geschrieben,“ fügte er hinzu. „Der Brief hat mich heute am 2. März erreicht. Becherts Depesche ist am 23. Februar abgeschickt. Der Mord wurde also am 19. Februar verübt. Offenbar will Bechert in seiner Depesche andeuten, daß das verschleierte Weib den Dolch scheinbar diesem Wilcword ins Herz geschleudert hat – scheinbar! Er will mich dadurch nur auf das Rätselhafte des Falles aufmerksam machen.“

„Und Sie werden reisen, Harst?“

„Gewiß. Jetzt lockt mich der Fall!“

Er ließ sich ein Depeschenformular bringen und schrieb:

Fritz[1] Bechert, Berlin-Deutschland,
Klosterstr. 18.

Bedauere erst nach etwa zwei Wochen hier abkömmlich zu sein. Dann Wiedersehen. Gruß Harald.

„Liebsten Webster,“ sagte er darauf. „Sie haben nun also Ihrerseits die Pflicht, zu verschweigen, daß ich Indien verlasse. Ich will unangemeldet in Berlin eintreffen. Verbreiten Sie hier, daß ich zur Elefantenjagd nach Ceylon reise.“

Webster lachte. „Wird gemacht!“

Dann feierten wir Abschied. Am nächsten Mittag entführte uns der Zug nach Bombay, und am 5. März stiegen zwei deutsche Kaufleute Horter und Schrick im Hotel Atlantic in Bombay ab, belegten zwei Kabinen auf dem am 6. abends nach Genua abgehenden Dampfer Old Fellow und – sahen Harst und Schraut in keiner Weise ähnlich.

Wir waren am 5. gegen sieben Uhr abends in Bombay eingetroffen, waren um neun mit dem Abendessen fertig und schlenderten dann durch die Hauptstraßen der großen Hafenstadt. Harald kaufte ein paar Zeitungen, und dann setzten wir uns auf die Terrasse des Cafee Bristol und tranken Eispunsch und lauschten der tadellosen ungarischen Kapelle.

Harst schaute hin und wieder in die Zeitungen hinein.

Dann beugte er sich plötzlich vor.

„Da – lies!“ Und er reichte mir eine Zeitung über das Marmortischchen und deutete auf eine bestimmte Stelle.

Ich las unter „Neueste Depeschen“:

Berlin. Als Ergänzung zu unserer Meldung von dem Mord an dem bekannten amerikanischen Milliardär John Wilcword bringen wir heute folgende Kabeldepesche unseres Berliner Korrespondenten: „Der Amerikaner Doktor Marmaduc Battenham, ein eifriger Besucher der Geisterseherzirkel der Frau Wargenheim, bei der Wilcword am 19. Februar ermordet wurde, ist gestern am 2. März in seinem Schlafzimmer vergiftet aufgefunden worden. Man nimmt Mord an. Als der Tat verdächtig ist die Zimmervermieterin Leokadia Tripitzki, Battenhams Wirtin, verhaftet worden.“

Diese Nachricht hatte mich mit einem Schlage aus meiner beschaulichen Ruhe aufgerüttelt.

„Vermutest Du einen Zusammenhang zwischen beiden Morden?“ fragte ich Harst.

Er zuckte die Achseln und nahm eine frische Mirakulum.

„Lieber Alter,“ meinte er, „dieser Giftmord paßt sozusagen in meine Theorie hinein, die ich mir da während der langweiligen Eisenbahnfahrt zurechtgegrübelt habe. Natürlich ist es eine Theorie, auf Sand gebaut. Und der Sand ist Battenhams Brief und Becherts Depesche.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

„Was aus so dürftigem Tatsachenmaterial kombiniert wird, ist stets mit Hilfe der Phantasie zum größten Teil ergänzt und kann durch andere Tatsachen leicht umgestoßen werden. Der Bau kommt auf dem Sandfundament dann ins Rutschen.“

Ein kleiner brauner Straßenhändler drängte sich jetzt an unseren Tisch heran und bot uns Wachszündhölzer an.

Harald kaufte ihm eine Schachtel ab und steckte sie in die Tasche.

Ich wurde stutzig. Er schaute dem rasch davoneilenden kleinen braunen Bengel so eigentümlich nach.

Plötzlich riß er die Schachtel wieder aus der Tasche heraus und warf sie geschickt über die Steinbrüstung in den Vorgarten mitten in ein Blumenbeet.

Kaum schlug die Schachtel dort auf, als sie auch schon mit einem lauten Knall explodierte.

Der Luftstoß der Explosion war so groß, daß ein paar der dicken Scheiben des Terrassendaches klirrend zersprangen.

Ich stierte Harst fassungslos an. Daß er die Schachtel weggeworfen hatte, war von niemand beachtet worden.

Die Musik schwieg. Kellner eilten herbei und musterten das verwüstete Blumenbeet.

„Nun wissen wir ja, woran wir sind, mein Alter,“ sagte Harst leise. „Die Fäden dieser beiden Verbrechen reichen also bis nach Indien. Man hat mich beseitigen wollen. Der Geisterspiegel scheint ein ganz gefährliches Problem zu sein. Wäre der braune Bengel nicht so überhastet davongestürmt, wie getrieben vom schlechten Gewissen, und hätte ich nicht gemerkt, daß die Schachtel merkwürdig schwer war, dann könntest Du jetzt allein heimreisen.“ –

Eine Stunde drauf waren wir in unseren Hotelzimmern, wo Harst jeden Winkel aufs genaueste durchsuchte, bevor wir uns zu Bett legten.

Als ich morgens erwachte, saß Harald jedoch angekleidet im Wohnsalon und begrüßte mich mit den Worten:

„Es war ganz gut, daß ich leise wieder aufstand und mich anzog. Die Herrschaften sind sehr rührig.“

Er deutete auf die Dielen vor der halb offenen Balkontür.

Und – da lag, wie ich jetzt erst sah, der kleine braune Straßenhändler mit gebundenen Händen und Füßen und blinzelte mich tückisch an.

 

2. Kapitel.

Die Frau mit dem blonden Mädchen.

„Ich saß hier im Dunkeln in der Ecke des Bambussofas,“ erklärte Harald, „und es mag so etwa gegen ein Uhr morgens gewesen sein, als eine Regenwolke Bombay ein wenig einsprengte. Durch die halb offenen Balkontüren sah ich einen Ausschnitt des bewölkten Nachthimmels. Dann turnte von oben an einem Seile plötzlich ein keiner Mensch herab. Ich dachte sofort an den Burschen, der mir die Schachtel Wachszündhölzer angeboten hatte. Der kleine Halunke war nur undeutlich zu erkennen. Ich stellte mich hinter den linken Flügel der Balkontür. Als er dann hier ins Zimmer schlich, bekam ich ihn zu packen. Er wurde vor Schreck ganz steif und ließ sich ruhig fesseln. In seinen Taschen fand ich das da.“

Er zeigte auf den Sofatisch. Da lagen zwei handgroße Stücke Watte und ein Fläschchen mit Glasstöpsel.

„Chloroform!“ sagte Harald. „Von dem Fläschchen hat man das Papierschildchen weggekratzt. Der Bursche sollte uns zu einem recht langen Schlaf verhelfen – möglichst zu einem, aus dem wir nicht mehr erwachten. Ich trat dann auf den Balkon hinaus. Das Seil war verschwunden. Als ich in den Flur wollte, um mal oben im zweiten Stock an der Tür des über diesem Wohnsalon liegenden Zimmers zu lauschen, das ja auch einen Balkon hat, fand ich in unser Türschloß von außen eine Schraube so fest hineingedreht, daß der Schlüssel nicht zu benutzen war. Man hatte uns also eingesperrt. Ich hätte die Türfüllung herausschneiden können, aber ich unterließ es, da ich mir sagte, ich würde ein Stockwerk höher doch kaum etwas ausrichten. Die Leute, die uns hier nachstellen, werden kaum so töricht sein, die Zimmer über den unsrigen gemietet zu haben. So setzte ich mich denn wieder. Es geschah nichts weiter. Es wurde draußen bald hell. Der Regen hörte auf, und die Wolke verschwand. Nun sah ich mir den kleinen Kerl da genauer bei Tageslicht an. Er wird etwa zehn Jahre sein, schätze ich. So jung er ist: er ist eine ganz interessante Persönlichkeit, von seiner Verderbtheit abgesehen. Ich rate Dir, ihn mal aus nächster Nähe zu betrachten.“

Ich tat es. Der braune Bengel hatte merkwürdigerweise graublaue Augen. Und als ich dann seine zerrissene Leinenjacke vom nackten Halse etwas zurückschob, sah ich, daß – der Junge gar kein Inder, sondern ein Europäer war: die Haut war gefärbt! Aber die tieferen Teile hatte man ungefärbt gelassen. Sie waren blendend zart; ein Europäer!

Harald war zur Tür gegangen, neben der das Telephon hing. Er sprach mit dem Hoteldirektor.

„Man hat sich einen dummen Scherz mit uns erlaubt. Lassen Sie bitte die Schraube aus dem Türschloß entfernen!“

Wir trugen den kleinen Gefangenen in unser Schlafzimmer, das keinen besonderen Zugang vom Flur hatte.

Der Hoteldirektor erschien dann persönlich bei uns, entschuldigte sich, wurde von Harald zum Platznehmen aufgefordert und leise ausgeforscht.

„Wer wohnt über uns?“ fragte Harst.

Der geschmeidige Herr sah seine Liste ein.

„Der Oberst Albert Smarcer.“

„Seit wann?“

„Seit gestern abend neun Uhr.“

Ah – dann war dieser Smarcer nach uns gekommen!

„Hat Oberst Smarcer einen kleinen Diener mit?“ fragte Harald weiter.

„Nein. Er ist allein.“ Der Herr Direktor wurde jetzt aufmerksam. Dies Verhör und die in das Schloß eingedrehte Schraube gaben ihm zu denken. „Verzeihung,“ fügte er hinzu. „Haben Sie hier irgendwelche Beobachtungen gemacht, Mr. Horter, die –“

Harst unterbrach ihn. „Ich darf wohl auf Ihre Verschwiegenheit rechnen. Ich bin Harald Harst.“

Der Direktor fuhr aus dem Sessel hoch und verbeugte sich. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Mr. – Mr. Horter!“ Er lächelte etwas. Er hätte beinahe Harst gesagt.

„Beschreiben Sie mir den Oberst bitte!“

„Schlank, groß, grauer Schnurrbart, grauer Scheitel, viel Gepäck, vornehme Erscheinung.“

„Und die Zimmer rechts und links von Smarcer?“

„Rechts ein Ehepaar, das bereits vierzehn Tage hier wohnt, links drei leere Zimmer.“

„Leer – hm! Die möchte ich mir mal ansehen.“

Wir gingen mit dem Direktor die eine Treppe empor in den zweiten Stock. Ein Kellner mußte die Schlüssel der drei leeren Zimmer holen.

Wir betraten zuerst dasjenige, welches neben dem Smarcers lag.

Harald untersuchte die Fenster.

„Hier ist jemand hinaus und auf den Balkon Smarcers geklettert,“ erklärte er sehr bald. „Sogar zwei Personen. – Das genügt mir.“

„Was ist eigentlich vorgefallen, Mr. – Mr. Horter?“ fragte der Direktor bescheiden.

Harst überhörte die Frage. „Ich danke Ihnen vielmals. Vielleicht bringen Sie mir eine Liste über die gestern eingetroffenen Hotelgäste. Hatte jemand von diesen Gästen einen Boy bei sich?“

„Nein. – Ich werde die Liste sofort zusammenstellen.“

Wir gingen in unsere Zimmer hinab. Wir waren kaum fünf Minuten oben gewesen. Und doch: unser Gefangener war – verschwunden!

Die zerschnittenen Gardinenschnüre lagen im Schlafzimmer auf dem Bastteppich. Die Flurtür hatte Harst abgeschlossen gehabt. Mithin war jemand mit einem Nachschlüssel eingedrungen und hatte den Jungen befreit.

Harald zuckte die Achseln.

„Das war dumm von ihnen! Nun werden wir sie bald haben. Ich wette, sie wohnen hier im ersten Stock ganz in unserer Nähe. – Laß die Tür nach dem Flur weit auf, mein Alter, und schau’ hin und wieder hinaus. Ich werde zur Vorsicht unsere Zimmer durchsuchen. Die Herrschaften, die uns gern auslöschen möchten, werden hier vielleicht weitere Überraschungen vorbereitet haben!“

Ich gab Harald darin ganz recht, daß diese unbekannten Gegner Zimmer in unserer Nähe innehaben müßten. Wie hätte sich sonst wohl die Befreiung des Jungen bewerkstelligen lassen?!

Ich lehnte mich an den Türrahmen und beobachtete den Flur. Es war neun Uhr vormittags, für Bombay eine Zeit, wo die Hotelgäste zumeist längst unterwegs sind, da bereits um elf Uhr die Hitze geradezu unerträglich ist.

Der Verkehr im Hotelkorridor war daher auch recht schwach. Zumeist sah ich nur Angestellte, die mich erstaunt musterten. Mich ließ das kalt. Es kamen ja auch ein paar Gäste vorüber, aber sämtlich Leute mit harmlosen Gesichtern.

Dann wurden aus einem Zimmer schräg gegenüber zwei große Kabinenkoffer und anderes Gepäck herausgeschafft. Dort reiste also jemand ab. Das interessierte mich.

Zu meiner Enttäuschung erschien nun aus diesem Zimmer eine elegante schlanke Dame mit einem blondlockigen Mädelchen an der Hand, beide zum Ausgehen angezogen. Die Dame hatte ein unendlich hochmütiges Gesicht. Ich war Luft für sie.

Gleich darauf kam der Hoteldirektor. Harst sah die Liste durch. Sie enthielt nur zehn Namen.

Ich hatte die Tür jetzt geschlossen.

„Hier ist eine Frau Badricourt nebst Tochter vermerkt,“ sagte Harst. „Wie alt ist die Tochter?“

„Etwa zehn Jahre, Mr. Harst.“

„So – so! – Und Frau Badricourt ist gestern abend gegen halb acht hier abgestiegen, eine halbe Stunde nach uns.“

Mir wurde plötzlich schwül zu Mute. Ich dachte an die Hochmütige mit dem blonden Mädel.

„Hatte sie besondere Wünsche des Zimmers wegen?“ fragte Harald dann.

„Sie ließ sich verschiedene zeigen. Dann wählte sie das Ihnen schräg gegenüber.“

„So – so!“ sagte Harald noch gedehnter.

Da hielt ich es für richtig, Frau Badricourts Abreise zu erwähnen.

Harst rief sofort: „Dann hat sie das Hotel vor kaum ein paar Minuten verlassen!“

Der Direktor nickte. „Ja – sie fuhr mit ihrem Gepäck zum Hafen. Mittags geht ein Dampfer nach Kolombo ab. Den wollte sie benutzen.“

„Zum Hafen!“

Und Harst griff nach der Mütze. Wir hasteten zum Lift. Wir sprangen in ein Auto.

Am Albert-Kai lag der Dampfer für Kolombo. Doch – Frau Badricourt erschien nicht. Zwei Stunden mühten wir uns ab, festzustellen, wohin sie sich gewandt hatte. Wir fanden das Auto, das sie benutzt hatte. Der Chauffeur erklärte, die Dame sei mit ihrem Kinde und ihrem Gepäck am Hafen ausgestiegen. Mehr wisse er nicht.

Alles Suchen war umsonst. Sie war uns entschlüpft – sie und das blonde Mädelchen.

Harst tröstete mich, als ich mir Vorwürfe machte, weil mir das Paar nicht gleich im Hotelflur verdächtig vorgekommen war.

„Wie solltest Du ahnen, daß aus einem braunen gefärbten zerlumpten Bengel so schnell ein nettes blondes Mädel werden könnte,“ meinte er. „Wir werden ihnen schon wieder begegnen. Wir kennen den Feind nun.“

„Und Du glaubst, die schlanke Frau ist eine Helfershelferin der Mörder oder des Mörders der beiden Amerikaner in Berlin?“

„Ja. Ich nehme es mit ziemlicher Bestimmtheit an. Ich betone nochmals: es geht hier fraglos um große Dinge. Da hat man mich eben kalt stellen wollen, weil man sich ganz richtig sagte, daß ich diesen Geisterspiegel mir als neues Problem nicht entgehen lassen würde und – weil man von mir eine Aufdeckung des Motivs dieser Verbrechen befürchtete. Wenn zum Beispiel etwa gleichzeitig mit Marmaduc Battenhams Brief diese Frau Badricourt, die natürlich ganz anders heißt, von Berlin abgereist ist, kann sie auch etwa zur selben Zeit wie der Brief in Lucknow eingetroffen sein und uns dann nicht mehr aus dem Auge gelassen haben.“

„Hm – dann müßten die Mörder also bereits am 8. Februar den Entschluß gefaßt haben, zunächst den Milliardär John Wilcword zu töten, denn Battenhams Brief ging am 8. ab und Deiner Ansicht nach ist ja die Frau gleichzeitig abgereist.“

„Das haben sie auch, mein Alter. Diese beiden Morde sind, behaupte ich, das Endspiel einer fein ausgeklügelten Schachpartie mit vielen Nebenfiguren.“

Hiermit endete unsere Erörterung des neuesten Falles. Harald kam auf ihn nicht eher wieder zu sprechen, als bis wir in Berlin angelangt waren.

Die Reise von Bombay bis Genua und von da über Wien nach Berlin brachte uns insofern eine Enttäuschung, als wir von Frau Badricourt nichts mehr merkten. Sie schien eingesehen zu haben, daß wir doch zu vorsichtig waren.

Als wir dann am 30. März, nachdem wir von Dresden einen Umweg über Bad Kösen gemacht hatten, um jeden Verfolger irrezuführen, in einem kleinen Hotel am Alexanderplatz in Berlin abgestiegen waren, jetzt als Kaufleute aus Frankfurt am Main, rief Harald Freund Bechert an. Bechert war nicht im Polizeipräsidium. Aber seine Wirtschafterin erklärte dann, er würde nach einer halben Stunde in seiner Wohnung anzutreffen sein.

Um sieben Uhr abends läuteten wir an Becherts Flurtür. Er hatte inzwischen eine andere Wirtschafterin gemietet. Die frühere war uns bekannt. Die neue, offenbar eine sehr mißtrauische Natur, stellte erst ein förmliches Verhör mit uns an, bevor sie uns in Becherts Arbeitszimmer allein ließ.

Nach kaum drei Minuten trat sie dann wieder ein, hinter ihr zwei Beamte der Sicherheitspolizei in Uniform.

„Das sind die beiden, die sich hier schon seit Tagen herumdrücken und auf die der Herr Kommissar schon lange scharf ist,“ sagte die grauhaarige Frau triumphierend zu den Beamten. „Nun haben wir sie.“

Harst lachte in seiner lautlosen Art.

„Freuen Sie sich nicht zu früh!“ meinte er. „Sie haben hier die falschen erwischt!“

Die Beamten beobachteten uns scharf.

„Sie sind verhaftet!“ sagte der eine drohend. „Strecken Sie die Arme vor!“

Haralds Gesicht veränderte sich jäh.

Er schnellte hoch, warf den Stuhl um, wollte zum Fenster.

Da hatte der eine der Uniformierten sich schon mit einem Satz auf ihn gestürzt.

Der andere bekam mich bei der Kehle zu packen.

All das ging so rasch, daß ich mir kaum darüber klar werden konnte, wir seien hier in eine Falle geraten.

Ich hörte einen dumpfen Schlag – etwas wie ein Ächzen folgte.

Auch auf meinen Kopf sauste ein mit nassem Sand gefüllter Beutel herab, diese gefährlichste aller Schlagwaffen.

Ich verlor die Besinnung.

 

3. Kapitel.

Ein Ehedrama.

Selten wohl hat eine Verbrecherbande so viel gewagt wie diese Leute, die, auch in unsere Beziehungen zu Bechert eingeweiht, mit beispielloser Frechheit die Wirtin des Kommissars kurz vor unserem Eintreffen gefesselt und geknebelt hatten, damit ihre Verbündete uns als Becherts neue Haushälterin empfangen könnte.

Der ganze unerhört kühne Streich hatte sich in einer knappen Viertelstunde abgespielt, wie später festgestellt wurde. Als Bechert heimkehrte, fand er seine Wirtin im Badezimmer in der leeren Badewanne liegen. Er befreite sie von den Fesseln und erfuhr nun, was sich hier abgespielt hatte. Freilich, die Haushälterin wußte nur, daß zwei Sipo-Beamte Einlaß begehrt hatten, von denen sie dann überwältigt worden war. Sie wurde ins Badezimmer geschleppt und hörte hier, daß nach einer Weile die Flurglocke anschlug, daß eine Frauenstimme erklang und daß dann mehrere Personen durch den Flur gingen. Dann ertönen aus Becherts Arbeitszimmer allerlei Geräusche, und die eingedrungenen Leute entfernten sich darauf wieder. Die Flurtür fiel ins Schloß und es wurde still. –

So weit der Bericht der Haushälterin, die uns die baldige Heimkehr Becherts telephonisch in Aussicht gestellt hatte. – Bechert selbst fand in seinem Arbeitszimmer den umgestürzten Stuhl, einen mit Sand gefüllten Sack und Harsts jedem seiner Freunde wohlbekannten altindischen Brillantring, den Harald bei dem Überfall rasch vom Finger gestreift haben mußte, wie Bechert sich sagte, damit man wüßte, daß wir hier in eine Falle gelockt worden waren.

Bechert gab sofort telephonisch die nötigen Befehle zur Verfolgung unserer Entführer, fragte persönlich die Hausbewohner und andere Personen auf der Straße aus, ob man zwei Sipo-Beamte mit zwei Arrestanten wahrgenommen hätte.

Niemand hatte irgend etwas bemerkt. Alle Nachforschungen blieben umsonst. –

Was war inzwischen mit uns geschehen?

Ich will mich kurz fassen. Ich habe hier bei dem Problem des Geisterspiegels noch so zahlreiche weit spannendere Einzelheiten zu schildern und kann unserer Überwältigung und den damit zusammenhängenden Geschehnissen nur einen knappen Raum gewähren.

Als ich zu mir kam – die Betäubung durch den Schlag war nur schwach gewesen – wurde ich gerade, brutal gefesselt und geknebelt, in einen hohen sogenannten Musterkoffer gezwängt.

Ich befand mich in einem einfach möblierten Zimmer mit zwei Fenstern und einem Bett hinter einem grünen Wandschirm. Eine alte dreiarmige Gaskrone brannte schräg über mir. Ein zweiter großer Musterkoffer war bereits geschlossen. Die angebliche Haushälterin Becherts, jetzt in Hut und Mantel und mit einem dichten Schleier vor dem Gesicht, zog soeben den Schlüssel des Koffers ab.

Die beiden falschen Sipo-Beamten waren mit mir beschäftigt. Der eine sah, daß ich die Besinnung wiedererlangt und die Augen geöffnet hatte.

Er rief der Frau leise zu:

„Die Flasche her!“

Man drückte mir ein chloroformgetränktes Tuch auf das Gesicht. Widerstand war unmöglich.

Nach dieser Narkose erwachte ich in einer ganz anderen Umgebung. Der Chloroformrausch konnte nicht allzu tief gewesen sein, denn es blieben all die unangenehmen Folgeerscheinungen zum Glück vollständig aus.

Es war ein großer, dreifenstriger, salonartig eingerichteter Raum, der sich jetzt meinen Blicken zeigte. Eine Kristallkrone, außerdem acht elektrische Deckenlampen brannten. Ich lag halb ausgestreckt in einem Klubsessel mit hoher Rückenlehne. Ein zweiter gleicher Sessel stand neben dem meinen und beherbergte Harald.

Mir (und auch Harst) waren die Arme mit Lederriemen kreuzweis über der Brust festgeschnallt. Harald war ebenfalls schon wach. Vor uns standen ein schwerer eichener Tisch, mit einer türkischen Decke belegt, dahinter ein Paneelsofa und um den Tisch geschnitzte Eichenstühle.

In einer der Sofaecken saß eine blonde Frau.

Ich starrte sie ganz entgeistert an. Wenn irgend etwas geeignet gewesen wäre, mich schnell vollends munter zu machen, so war es der Anblick dieses hochmütigen kalten Gesichts.

Diese elegante Frau da war ja niemand anders als die angebliche Frau Badricourt aus dem Excelsior Hotel in Bombay –!

Wir waren mit diesem Weibe, dessen reife Schönheit nur zu sehr durch den eisigen Hochmut, der sich in ihrem Antlitz widerspiegelte, an Eindruck verlor, in dem großen Gemach allein.

Sie spielte mit einem Lorgnon, das ihr an goldener Kette um den weißen Nacken hing. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Hauskleid aus dunkelblauer Seide, mit kremefarbenen Spitzen garniert. Sie beobachtete uns scheinbar gelangweilt und sagte dann plötzlich:

„Sie beide haben es ja nicht anders gewollt! Sie hätten sich um diese Dinge nicht kümmern sollen.“

Die Stimme war farblos, eintönig, frostig, durchweht von einem Eishauch. Diese Frau, dachte ich, ist zu allem fähig.

Sie sprach das Deutsche mit leichtem Akzent, etwa wie eine Engländerin.

Sie schien eine Erwiderung von Harsts Seite zu erwarten, denn sie schaute ihn jetzt durch das Lorgnon lange an.

In dieser Stille vernahm ich in der Ferne das Rollen eines Eisenbahnzuges und das gedämpfte Aufkreischen einer Autopfeife.

Harald blieb stumm.

Dann fuhr die Frau fort:

„Wie denken Sie sich nun das Ende, Herr Harst?!“

Es lag eine versteckte Drohung in diesen Worten.

„Welches Ende?“ fragte Harald kühl.

„Das Ende dieser Ihrer Gefangenschaft –“

„Das hängt doch ganz von mir ab,“ ertönte Harst ebenso gleichmütig.

Sie schien durch die strikte Ruhe doch überrascht zu sein.

„Sie vergessen die Schachtel Wachskerzen!“ sagte sie dann schärfer.

„Soll das heißen, daß ich oder besser wir Sie zu fürchten haben?!“

Ich beobachtete ihn von der Seite. Er lächelte ironisch und fügte hinzu:

„Bisher haben meine Gegner stets den kürzeren gezogen. Glauben Sie da etwa eine Ausnahme zu werden?“

„Ja!“ Das klang noch drohender. „Wir können uns dies Wortgeplänkel schenken. Ich verlange, daß Sie und Ihr Freund –“

„Halt!“ meinte Harald da. „Wir können uns auch dies schenken! Sie hoffen, uns durch Drohungen einschüchtern zu können. Sie hoffen, wir werden Ihnen ehrenwörtlich versprechen, uns mit John Wilcwords Tod –“

Da machte er eine Pause. Und ich sah, wie das Gesicht der Frau sich für einen Moment wie in wildem Haß verzerrte. Dieser Haß konnte nur[2] John Wilcword gelten, und diese Pause nach diesem Namen war also von Harald feinste Berechnung gewesen.

„– Tod nicht mehr zu beschäftigen,“ schloß er den begonnenen Satz, und seine Lippen umspielte ein befriedigtes Lächeln, das fraglos dem Eindruck galt, den dieser Name auf die Frau gemacht hatte. „Dieses Versprechen werden wir aus dem sehr einfachen Grunde nicht geben, weil – wir Sie in der Hand haben, Frau Evelyn Wilcword!“

Ah – der Schuß hatte gesessen!

Mit einem Knack zerbrach der Stiel des Lorgnons in ihren Händen. Sie war blaß geworden. Sie regte sich nicht, stierte wie gebannt zu Harst hinüber.

Harald lachte wieder.

„Jetzt haben Sie mir die Bestätigung meiner Vermutungen gegeben, Frau Wilcword,“ meinte er dann wieder völlig ernst. „Meine Theorie über diesen Mord stimmt. Sie, Frau Wilcword, liegen seit einem Jahr mit Ihrem Manne in Scheidung. Alle Zeitungen berichteten über diesen Prozeß. Alle Zeitungen ergriffen für Sie Partei, obwohl feststeht, daß Sie vor elf Jahren, als John Wilcword Sie in Monte Carlo kennenlernte, den Namen einer Baronesse von Teger-Wilden zu Unrecht trugen und daß Sie durch eine raffinierte Komödie Wilcword für sich einfingen. Zehn Jahre fast spielten Sie dann in Neuyork in der ersten Gesellschaft als Frau Wilcword eine führende Rolle, spielten aber auch nebenbei das weiter, was Sie früher waren: Juwelendiebin aus Leidenschaft für kostbaren Schmuck! – Eines Tages wurden Sie eines Diebstahls überführt. Man vertuschte die Sache. Wilcword war froh, endlich einen Grund zur Scheidung von einer Frau zu haben, die ihm längst unheimlich geworden war. – Sie zogen nach Berlin und kauften hier im Villenstadtteil Westend ein Haus nebst Garten. Ihr neunjähriges Töchterchen Inge hatten Sie mitgenommen. – All dies wußte ich schon, als Becherts Depesche mir John Wilcwords Tod meldete.“

Und mir hatte Harald all das verschwiegen! Keine Silbe hatte er davon erwähnt! –

Frau Evelyn Wilcword hatte sich jetzt endlich gefaßt. Man sah ihr die namenlose Wut an, sich so verraten zu haben. Sie erhob sich langsam. Sie sagte noch langsamer, noch eisiger:

„Jetzt müssen Sie sterben! Jetzt rettet Sie nichts mehr!“

„Glauben Sie, daß Sie dadurch den Kopf aus der Schlinge ziehen können?!“ erwiderte Harald. „Ihre Villa wird überwacht, seit ich in Genua europäischen Boden betrat und Gelegenheit fand, Bechert eine Chiffredepesche zu senden. Sie selbst haben keinen Schritt mehr tun können, der nicht beobachtet wurde.“

Sie schürzte verächtlich die Lippen.

„Lügen Sie nur! Lügen Sie nur! Meine Spione wissen es besser, Herr Harst. Sie haben nicht an Bechert telegraphiert, und gegen mich hegt die Polizei nicht den allergeringsten Verdacht. Ich war ja nachweislich im Orient, als Wilcword starb. Dieser Verdacht wäre im übrigen auch unsinnig. Aller Welt ist Wilcwords Ende ein Rätsel. Nur Sie spielen hier den Besserwisser.“

„Wie unlogisch Sie sind!“ meinte Harst achselzuckend. „Wenn Ihr Gewissen rein wäre, wozu dann die Attentate auf uns, wozu diese Falle in Becherts Wohnung?!“

Sie biß sich auf die Lippen, warf dann den Kopf zurück.

„Sie werden sterben – beide!“ sagte sie kurz. „Ich habe Sie nicht unterschätzt, Herr Harst! Sie – Sie sollen mich nicht um die Frucht all dieser Vorbereitungen bringen!“

Sie schritt an uns vorbei – entschwand meinem Blick. Eine Tür klappte hinter uns.

Und Harst meinte nach ein paar Sekunden halblaut:

„Nun erbt Inge Wilcword die Milliarden ihres Vaters! Darauf kam es an.“

Kein Wort äußerte er über die Gefahr, die uns drohte! Kein Wort über die Möglichkeit einer Rettung!

Da sagte ich noch leiser:

„Ich traue dem Weibe das Schlimmste zu!“

Er drehte den Kopf, blinzelte mich in besonderer Weise an.

„Sie wird sich hüten, mein Alter, uns ein Haar zu krümmen!“ erklärte er. „Sie weiß recht gut, daß ihre Spione wohl manches in Erfahrung bringen konnten, aber nicht alles! Ich bin überzeugt, daß Bechert jetzt bereits weiß, daß zwei große Musterkoffer hier in die Villa gebracht wurden, und daß er in kurzem hier sein wird.“

Dann wie ein Hauch ein Nachsatz:

„Es liegt jemand unter meinem Sessel!“

Nun verstand ich seine Taktik: er wollte seinerseits Evelyn Wilcword einschüchtern. Es war dies die einzige Möglichkeit, dieses Weib von einem neuen Verbrechen, von einem Morde an uns beiden, abzuhalten!

Plötzlich erloschen sämtliche Birnen der elektrischen Beleuchtungskörper. Es wurde völlig finster in dem Gemach.

Ich horchte mit angespannten Sinnen. Und ich hörte tatsächlich ganz – ganz schwache Geräusche hinter uns: es kroch jemand über den Teppich der Tür zu. Und um den Rückzug dieses Lauschers zu decken, hatte man hier in der Villa die Sicherung am elektrischen Zähler herausgeschraubt, damit das Licht ausginge.

Ich wartete – horchte weiter.

Nichts mehr. Es blieb still und dunkel.

 

4. Kapitel.

Die Schleier sinken.

Nur – nur Harst bewegte sich.

Was tat er?! Versuchte er sich zu befreien?!

Das Leder seines Sessels knarrte. Es waren Sessel mit glatter, schräger Rückenlehne. Ein langer Riemen hielt mich an dem Sessel fest. Dieser Riemen lief mir über die Brust, war durch die Armfesseln durchgezogen.

Meine Beine waren frei. Ich hob sie empor. Ich setzte die Hacken auf den Sitz, richtete mich auf.

Und – es gelang: ich schob den Brustriemen höher und höher, konnte durch Bewegungen des Oberkörpers nachhelfen, konnte mich vollends, auf dem Sitz stehend, aufrichten, und – da glitt der Riemen über den Oberrand der Rückenlehne. Da – war ich frei – bis auf die gefesselten Hände.

Dann auch Haralds leise Stimme:

„Brav, mein Alter! Nun steige herab. Meine Zähne werden mit den Schnallen der anderen Riemen schon fertig werden!“

Ich fühlte seinen Atem, fühlte, wie er an den Schnallen sich abmühte. –

Es waren Minuten höchster Spannung. Es waren Augenblicke, die vielleicht über Leben und Tod entschieden.

Endlich – endlich war ich frei!

Dann in aller Hast auch Haralds Fesseln beseitigt, dann ein rasches Beraten – ein Betasten unserer Taschen.

Was ich nie zu hoffen gewagt: meine Clementpistole steckte noch in der Schlüsseltasche der Beinkleider.

„Wir bleiben!“ raunte Harald mir zu. „Ich werde eins der Fenster öffnen, damit es so aussieht, als ob wir dort hinausgeklettert wären.“

Nachher zog er mich mit hinter einen Vorhang, der eine Türnische verbarg.

Im Hause blieb es still. Wir wurden sehr bald ungeduldig.

„Sollte Evelyn Wilcword das Weite gesucht haben?“ meinte Harald. „Sollte sie wirklich auf meinen Trick hereingefallen sein?! Ich kann es kaum annehmen. Oder – haben ihre Helfershelfer sie gezwungen, zu entfliehen? Auch das wäre möglich. Sie mag sich dagegen gesträubt haben. Sie durchschaute mich. Aber der Lauscher unter meinem Sessel, mit dem sie halb unbewußt einen Blick tauschte, als ich ihr sagte, wer sie sei, wird Angst bekommen haben. – Ich denke, wir tun klüger, uns einmal die anderen Räume anzusehen.“

Auch unsere Taschenlampen hatte man uns gelassen. Harald schaltete die seine hinter dem Vorhang jetzt ein und schaute erst einmal nach, ob in unseren Patronenrahmen auch nicht etwa leere Hülsen steckten. – Nein, die Waffen waren geladen. Wir spannten und entsicherten sie. Dann schritt Harst voran – auf die Tür zu, durch die Evelyn Wilcword verschwunden war.

Das Zimmer, ein Speisezimmer, war leer. – Wir gingen weiter. Wir kamen in ein elegantes Schlafgemach – auch leer! Wir kamen in den Flur, stiegen ins Erdgeschoß hinab. Nirgends eine lebende Seele.

Die Villa war nur klein. Wir brauchten kaum eine Viertelstunde, um sie zu durchsuchen.

Es war elf Uhr abends, als wir sie verließen. Harst war etwas niedergeschlagen. Die Flucht dieses Weibes mußte uns notwendig viel neue Arbeit machen. Eine Evelyn Wilcword würde nicht so leicht zu finden sein.

Schweigend gingen wir durch die leeren Straßen, bis wir ein Auto fanden.

„Eisenacherstraße 150!“ befahl Harst dem Chauffeur.

Wir fuhren die Charlottenburger Chaussee entlang, durch den Tiergarten. Harald blieb stumm. Da fragte ich denn: „Du willst Eisenacher 170 einen Besuch abstatten – der Witwe Wargenheim, und vor Nr. 150 willst Du bereits aussteigen –“

„Das will ich, mein Alter. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Evelyn ihre Verbündete warnt, denn – das ist die Wargenheim! Sie gehört mit zu der Bande, die John Wilcwords Milliarden nachjagt.“

Harst schien jetzt mitteilsamer Stimmung zu sein. Das mußte ich ausnutzen.

„Welche Rolle spielte denn Marmaduc Battenham bei alledem?“ fragte ich. „Und – war’s etwa Inge Wilcword, die in Bombay als brauner kleiner Hausierer auftrat?“

„Ich wundere mich, daß Du Battenhams Brief nicht schon in Bombay richtig eingeschätzt hast,“ erwiderte er lebhaft. „Battenham war fraglos einer der Hauptmacher dieses verbrecherischen Spiels. Sein Brief und Evelyn Wilcword, geborene Rißhübler, einst Artistin und zwar Reckturnerin, dann Hochstaplerin, Diebin und Baronesse, schließlich Gattin eines Mannes, der als Besitzer der größten Porzellanfabriken Amerikas Milliarden zusammengescharrt hatte, – also die Evelyn, richtig Eva Rißhübler, traf doch zur selben Zeit wie der Brief in Indien ein. Der Brief war ein Lockmittel für mich, ein Fühler. Die Bande wollte durch Battenham mit mir in Verbindung treten, wollte sehen, ob der Geisterspiegel mich interessieren und nach Europa – locken würde. Du verstehst: die Leute rechneten bestimmt darauf, daß ich Battenham nicht mißtrauen und ihn, falls ich Europa und Berlin entgegen ihren Anschlägen erreichte, in manches einweihen würde. So könnten sie ihres gefährlichsten Gegners Schritte stets beobachten, glaubten sie. – Vielleicht wäre ihnen das auch geglückt, wenn nicht erstens Evelyns Auftreten in Bombay mir Battenhams Schreiben in andere Beleuchtung gerückt und wenn nicht zweitens die Bande es für nötig gefunden hätte, Battenham zu beseitigen. – Was den kleinen braunen Hausierer betrifft, so hättest Du Dir ebenfalls, mein Alter, schon von selbst sagen können, daß diese kleine Verbündete Evelyns nicht ihr Kind gewesen sein dürfte. Nein, dieses Mädelchen dürfte aus Artistenkreisen stammen. Bedenke: sie kletterte vom oberen Balkon an einem Seil zu uns herab! Das bringt kein verwöhntes Milliardärstöchterchen fertig. – Überhaupt dürfte diese ganze Verbrechergesellschaft aus früheren sehr guten Bekannten der Wienerin Eva Rißhübler sich zusammensetzen. Sie gab die nötigen Geldmittel her. Sie hatte Beziehungen zu der Witwe Wargenheim, der Besitzerin des famosen Geisterspiegels, die übrigens heute Becherts Haushälterin gemimt haben wird. In den Zeitungen, die wir auf der Fahrt nach Genua lasen, stand ja, daß die Berliner Polizei der Wargenheim nichts hätte am Zeuge flicken können, da sie eine Frau von tadelloser Vergangenheit sei, die auch niemals für die Teilnahme an den Geisterspiegelsitzungen Geld gefordert hätte. Ihre Gäste zahlten freiwillig. Sie hat auch Wilcword nie gekannt. Kurz: die Polizei ließ sie ungeschoren, nachdem sich all dies herausgestellt hatte. Sie wird also noch in ihrer Wohnung wie bisher hausen und vielleicht sogar, um ihre Harmlosigkeit darzutun, weiter heimlich Dumme empfangen, die ihren Spiegelschwindel sich ansehen möchten.“

„Und der Schwindel selbst?“ meinte ich gespannt.

„Kann nur auf eine ganz bestimmte Weise durchgeführt werden. Gerade weil diese Wargenheim das Geisterzimmer und den Spiegel vorher stets untersuchen ließ und weil, wie ja ebenfalls in den Zeitungen zu lesen war, scheinbar wirklich etwas Übernatürliches an der Sache ist, muß – Doch nein! Ich will Dir lieber zeigen wie sie’s macht!“

 

5. Kapitel.

Der rollende Schrank.

So sanken für mich während dieser Autofahrt die Schleier, die einen Teil dieser Verbrechen und ihrer Begleitumstände so unklar hatten erscheinen lassen. –

Das Auto hielt vor Eisenacherstr. 150. Wir stiegen aus, Harst bezahlte den Chauffeur, und dann gingen wir langsam die Straße hinab.

Kurz vor Nr. 170 begegneten wir einem alten weißbärtigen Herrn – gerade unter einer Laterne.

Wir trugen noch unsere Verkleidung. Und – der alte Herr war auch nicht der, für den er gehalten sein wollte.

Harst schaute ihm nach, rief leise:

„Bechert!“

Freund Bechert hatte sich gut in der Gewalt, machte kehrt, blieb vor uns stehen.

„Können Sie mir vielleicht ein Streichholz geben?“ fragte er laut. Und ganz leise: „Herr Gott – sind Sie’s wirklich, Harst?“

„Wir sind’s. Treten wir in diese Türnische. – Was tun Sie hier, Bechert?“

„Oh – ich lasse seit halb acht abends nach Ihnen beiden suchen. Jetzt warte ich hier als Professor Grimm auf einen Doktor Tolkin, der bei der Wargenheim jede Sitzung mitmacht. Die Wargenheim hat den früheren Betrieb wieder aufgenommen, ist nur vorsichtiger geworden. Viermal war ich bereits als Grimm bei ihr, weil ich hoffe, so endlich herauszubekommen, wie der Spiegelzauber befingert wird. Jedenfalls ist die Wargenheim an dem Morde Wilcword in keiner Weise beteiligt. Der Mörder ist einer der damaligen Teilnehmer jener Sitzung. Er hat Wilcword einfach erdolcht, als das Spukbild zufällig die Armbewegung machte. Bei der Spannung, mit der alle auf den Spiegel blickten, ist der Dolchstoß allen entgangen. Aber – wer der Mörder sein mag – es kommen ja zwanzig Personen in Betracht, ließ sich nicht ergründen. Der einzige der Teilnehmer, der den Milliardär persönlich kannte, war Doktor Tolkin, ein bekannter Arzt, den Wilcword hier konsultiert hatte. Tolkin kam mit ihm gelegentlich in ein Gespräch über Spiritismus und Okkultismus, und da entpuppte Wilcword sich als leidenschaftlicher Anhänger der Geisterlehre. So nahm Tolkin ihn denn mit zu der Wargenheim. Und gleich bei der ersten Sitzung geschah der Mord. Tolkin ist über jeden Verdacht erhaben.“

„Und Battenham?“ fragte Harald sehr gedehnt.

„Ah so – der! Nun, Battenhams Tod ist ebenfalls noch unaufgeklärt.“

„Kannte er Wilcword?“

„Nur ganz flüchtig. Er hat Wilcword jedoch Tolkin als Arzt empfohlen.“

„Aha! Also das ist der Zusammenhang: Battenham wußte, daß Tolkin bei der Wargenheim aus und ein geht, und da hat er Wilcword mit Tolkin zusammengebracht, damit dieser den Milliardär bei der Wargenheim einführte! Sehr fein!“

Bechert blickte jetzt scharf nach einem kleinen Herrn aus, der sich langsam näherte.

„Es ist Tolkin,“ meinte er.

„Bechert,“ flüsterte Harst rasch, „lassen Sie uns beide mit ins Haus ein. Alles weitere findet sich dann. In welcher Etage wohnt die Wargenheim?“

„Zweiten Stock. – Gut – Tolkin hat einen Hausschlüssel. Die Sitzung ist für Mitternacht heute anberaumt. Ich werde Tolkin einweihen. Er schwört auf die Harmlosigkeit der Wargenheim.“ –

Gleich darauf standen wir beide allein im Hausflur von Nr. 170. Bechert und Tolkin gingen die Treppen empor. Sie hatten die Nachtbeleuchtung eingeschaltet. Als das Licht wieder erloschen war, schlichen wir über den Hof die Hintertreppe empor. Bald blitzte auch Harsts Taschenlampe auf und beleuchtete das Porzellanschild an der Küchentür der Geisterbeschwörerin.

Harald horchte eine Weile. Dann begann er mit seinem Taschenmesser die untere Türfüllung herauszuschneiden. Ich half ihm. Wir hätten wohl sehr lange arbeiten müssen, um uns hier einen Zugang zu schaffen. Plötzlich jedoch von innen Becherts Stimme: „Achtung!“

Die Sicherheitskette wurde losgehakt, ein Riegel zurückgeschoben und der Schlüssel umgedreht.

„Es sind noch nicht alle versammelt,“ flüsterte Bechert. „Dienstboten hält die Wargenheim sich nicht.“ – Dann eilte er wieder davon.

Wir schlossen die Tür ab und schlichen in den Flur, der nach dem Vorderhause zu rechtwinklig abbog.

Die Wohnung war offenbar sehr groß. Das Haus war alt, und der Vorderflur bog, wie wir jetzt sahen, nochmals rechtwinklig ab. Tür an Tür lag in diesen Fluren, alle dunkel gestrichen.

Hinter der ersten Tür, der einzigen Flügeltür, hörten wir das Summen zahlreicher Stimmen.

Harst zog mich rasch wieder von dieser Tür weg. Bechert hatte uns gesagt, daß das „Geisterzimmer“ eins der Hinterzimmer sei.

Wir fanden die Türen unverschlossen. Die dritte, die wir öffneten, führte in den Geisterraum hinein.

Harsts Taschenlampe bestrahlte den Spiegel, die übrigen wenigen Möbelstücke. Neben dem riesigen Spiegel standen zwei Säulen, darauf japanische große Vasen. Links vor eins der Fenster war ein Paneelsofa gerückt.

Harald besichtigte den Spiegel nur ganz oberflächlich. Dann krochen wir unter das Sofa. Da kein Tisch davor stand, konnten wir die Spiegelscheibe bequem beobachten.

Nun lagen wir im Dunkeln dicht an die Wand gedrückt da und warteten.

Zehn Minuten vergingen. Dann im Flur flüchtige Schritte. Dann ein Geräusch, als würde im Flur ein schweres Möbelstück, das auf Rollen lief, vor die Tür des Geisterzimmers geschoben.

Die Schritte entfernten sich.

Harald lachte leise. „Nun hat die Wargenheim den großen Schrank, den Du ebenfalls bemerkt hast, als Blende vor unsere Tür gerückt.“

„Wozu das?“

„Begreifst Du es nicht?“

Da – Schritte im Flur – Stimmen.

Dann Stille.

Dann wieder Stimmen und Schritte – Stille.

Kaum Sekunden dauerte es: wieder das rollende Geräusch! – Der Schrank wurde an die alte Stelle zurückgeschoben.

Jetzt auch schon Gemurmel vieler Personen.

Die Tür ging auf. Eine Frau trat als erste ein. Ich sah nur ihren Rocksaum und ihre Schuhe.

Sie ging und schaltete den Wandleuchter rechts ein.

Die Teilnehmer der Sitzung kamen und stellten sich rechts an der Wand auf. Der Wandleuchter gab nur spärliches Licht.

Frau Wargenheim stellte ein Kohlenbecken auf die Dielen, während Doktor Tolkin feierlich sagte: „Wir haben uns soeben wieder überzeugt, daß jede Täuschung hier ausgeschlossen ist. In andächtiger Stimmung wollen wir entgegennehmen, was die geheime Kunst der persischen Magier uns zeigen wird. Damals als das Unheil eines Mordes diese Stätte entweihte, ist auf dem Spiegel das Bild meiner Frau erschienen, die sich in geistiger Umnachtung selbst den Tod gab, indem sie sich erdolchte. Ich will mit aller Energie an die Verstorbene denken. Vielleicht erscheint sie uns abermals.“

Die Wargenheim verfuhr dann genau so, wie Marmaduc Battenham es uns beschrieben hatte. Sehr bald lag sie wie leblos zusammengekrümmt auf dem Boden.

Ich – ich dachte nur daran, was Doktor Tolkin soeben gesagt hatte: daß dieses Zimmer untersucht worden sei! – Wie war das möglich?! Hier diesen Raum hatte doch niemand betreten! –

Harst stieß mich an. Ich kroch nach vorn. Ich sah jetzt den Spiegel.

Und sah, daß auf dem Glase dunkle Wolkengebilde erschienen, aus denen sich langsam eine Gestalt formte: die eines Weibes in dunklen schleppenden Gewändern, tief verschleiert – das Gesicht kaum zu erkennen.

Harald wartete nicht länger.

Er schlüpfte unter dem Sofa hervor.

Laute unwillige Rufe.

Dann Becherts Stimme: „Im Namen des Gesetzes – bleiben Sie auf Ihren Plätzen!“

Frau Wargenheim erhob sich taumelnd. Sie war noch jung, dunkelblond.

Harst sagte jetzt zu ihr, indem er sich an die Tür stellte:

„Sie täten gut, ein Geständnis abzulegen. Frau Wilcword ist entflohen. Ich bin Harald Harst.“

Die Wargenheim stand mit schlaff herabhängenden Armen da. Sie war wie versteinert vor Entsetzen.

„Um auch gleich den plumpen Schwindel hier aufzudecken,“ fuhr Harald fort, „mögen Sie, Bechert, den großen Schrank im Flur ein Stück weiterrollen. Sie werden dahinter eine Stubentür finden, die in ein genau so eingerichtetes Zimmer wie dieses führt, werden aber auch in der Wand, wo drüben der Wandleuchter hängt, irgend eine Öffnung entdecken, durch die man auf diesem Spiegel hier mit einem kleinen kinematographischen Apparat Bilder erscheinen lassen kann, da dieser Spiegel die Eigentümlichkeit der bekannten chinesischen Zauberspiegel hat: durchsichtig zu sein und doch auf der anderen Seite alles widerzuspiegeln. In dem zweiten Kabinett dort steckt auch Frau Wargenheims Gehilfe oder eine Gehilfin. Frau Wargenheim ließ also stets das Nebenzimmer durchsuchen, nachdem sie den Schrank vor diese Tür gerückt hatte. Nach der Durchsuchung schlüpfte der Gehilfe hinein und der Schrank wurde an die alte Stelle geschoben. Da der Flur zahlreiche Türen enthält, merkte niemand der Herren, die an der Durchsuchung beteiligt waren, daß sie nachher ein zweites völlig gleiches Zimmer betraten.“ –

Bechert, Doktor Tolkin und ein dritter Herr begaben sich jetzt hinüber und – kehrten dann mit einem jungen, blassen Menschen zurück, der niemandem der Gäste bekannt war.

Im ganzen waren außer uns und Bechert noch vierzehn Personen anwesend.

Harst fragte Tolkin nun, ob in jener Mordnacht, als Wilcword starb, einer der heute hier Erschienenen ebenfalls zugegen gewesen.

Tolkin zeigte auf einen schwarzbärtigen hageren Herrn.

„Dort – Herr Otto Lottmöller!“

„Sind Sie Wiener, Herr Lottmöller?“ wandte Harst sich an den Hageren.

Diese Frage brachte eine ungeahnte Wirkung hervor.

Frau Wargenheim schrie plötzlich: „Ich werde alles gestehen – alles! Ich habe nicht gewußt, daß Lottmöller Wilcword ermorden sollte! Bei Gott – ich habe es nicht einmal geahnt!“ –

Ihr Geständnis, will ich hier nur noch kurz bemerken, bestätigte Haralds Theorie in allen Punkten.

Damit begann der zweite Teil dieses Dramas: Die Geschichte der Familientasse! –

Der Geisterspiegel war für alle Zeiten abgetan.

 

 

Die Familientasse.

 

1. Kapitel.

„Sie werden an uns denken!“

Ein Geheimnis anderer Art wird der Leser hier kennenlernen. Das Geheimnis eines Toten, der ein Mädchen aus adligen Kreisen als Gattin heimzuführen glaubte, sich durch deren äußere Vorzüge bestechen ließ und dann erst, als es zu spät war, merkte, daß er einer gefährlichen, gefühllosen Abenteurerin seinen in ganz Amerika so angesehenen Namen Wilcword gegeben hatte. –

Luzie Wargenheim war vor Aufregung und Angst nach dem kurzen Aufschrei, der den Zusammenbruch ihres Widerstandes gegen ein offenes Geständnis angekündet hatte, ohnmächtig umgesunken.

Sie, jener Otto Lottmöller und der blasse junge Mensch, der sich Herbert Konlin nannte, wurden dann nach dem Polizeipräsidium gebracht.

Lottmöller und Konlin verweigerten jede Aussage. Inzwischen hatte sich Frau Wargenheim jedoch so weit erholt, daß sie vernommen werden konnte.

Dieser Vernehmung wohnten wir, Harst und ich, auf ausdrücklichen Wunsch Becherts bei.

Ich will die Angaben der Wargenheim hier in knappster Form wiederholen, will jedoch noch bemerken, daß Bechert sofort die nötigen Befehle zur Verfolgung Evelyn Wilcwords und deren Komplicen gegeben hatte. –

Eva Rißhübler, so lautete ja der Vatersname Evelyn Wilcwords, hatte einer internationalen Bande von Hochstaplern und Juwelendieben bereits als Artistin angehört. Sie war damals die Geliebte eines gewissen Martin Tenham gewesen, der sich später Marmaduc Battenham nannte. Ihre Stiefschwester Luzie Jong hatte einen Konsulatsbeamten namens Wargenheim geheiratet und sich von ihr völlig losgesagt. Ihr Stiefbruder Herbert wieder, der je nach Bedarf den Namen wechselte und hier in Berlin als Herbert Konlin aufgetreten war, hatte im Gegensatz zu seiner Schwester Luzie die Beziehungen zu Eva auch nach deren Verheiratung nie völlig aufgegeben. Er war auch – das wußte Luzie nicht genau – offenbar noch immer Mitglied jener Bande.

Als Eva oder Evelyn Wilcword dann in Neuyork unmöglich geworden war und sich nach Berlin mit ihrem Kinde begeben hatte, wohnte Luzie Wargenheim bereits als Witwe in der Eisenacherstraße Nr. 170 und ernährte sich durch das Halten von Pensionären, wobei Ihr die geräumige Wohnung sehr von Vorteil war. Sie hatte weder von ihrem Bruder Herbert noch von ihrer Stiefschwester Eva seit Jahren etwas gehört. Mit der nach dem Weltkriege ständig steigenden Teuerung wurde Luzie Wargenheims pekuniäre Lage immer schwieriger. Ihre nur dürftig ausgestattete Wohnung eignete sich nicht zum Vermieten an gutzahlende Personen. Im Dezember 1921 erschien dann eines Tages Martin Tenham alias Battenham bei ihr und riet ihr, die Neigung weiter Kreise zu Geheimkünsten, Spiritismus und Okkultismus, auszunutzen. Sie ließ sich auch dazu bestimmen, als Geisterbeschwörerin ihre Einnahmen zu vergrößern. Battenham war der „Erfinder“ der beiden völlig gleichen Zimmer, des rollenden Schrankes und des Geisterspiegels. Da der Konsulatsbeamte Wargenheim acht Jahre in Persien dienstlich tätig gewesen, mußten persische Magier ihm angeblich ihre Beschwörungsmittel verraten haben.

So geriet Luzie denn in Battenhams Klauen. Noch wußte sie nichts von Eva Wilcwords Anwesenheit in Berlin. Erst als durch Doktor Tolkin John Wilcword bei ihr eingeführt wurde, und das war vier Tage vor der nächsten Geistersitzung, fragte sie Battenham über Evas Ergehen aus. Er sagte ihr die Wahrheit: daß Wilcword die Scheidungsklage angestrengt hätte und dieserhalb auch nach Berlin gekommen sei, wo Eva-Evelyn in Westend jetzt eine eigene Villa mit ihrem Töchterchen Inge bewohne.

Luzie ahnte nichts Böses. Mittlerweile hatte Battenham ihr auch Herbert, ihren Bruder, als Gehilfen für die Geistersitzungen und ebenso Otto Lottmöller, ebenfalls ein Mitglied der internationalen Bande, zugeführt.

Die entscheidende Sitzung kam, John Wilcword brach plötzlich mit einem Schrei zusammen. Ein langer orientalischer Dolch steckte noch in seinem Herzen.

Da erst wurde Luzie Wargenheim klar, weshalb Battenham vor dieser Sitzung für den kinematographischen Apparat das Bild der verschleierten Frau in der Weise vorbereitet hatte, daß diese Frau, der man eine entfernte Ähnlichkeit mit Tolkins verstorbener Gattin gegeben hatte, einen Dolch wie zum Wurfe erhob. Da erst sah sie ein, daß es sich hier um ein sorgfältig vorbereitetes Verbrechen handelte. Sie erkannte aber auch, daß es ihr schwerfallen würde, ihre Schuldlosigkeit vor der Polizei darzutun, falls sie ihren Verdacht gegenüber Bechert, daß es von vornherein nur auf John Wilcwords Ermordung abgesehen gewesen, irgendwie äußerte. Daher verheimlichte sie alles, verschwieg auch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu Wilcword und erreichte, daß die Polizei dieser Tragödie nicht auf den Grund kommen konnte.

Sie wurde nicht einmal verhaftet. Sie hatte vor Bechert sehr geschickt die völlig Harmlose gespielt und später auf Battenhams Rat auch die Geistersitzungen wieder aufgenommen, zumal die Polizei sie nicht weiter belästigte, da Bechert hoffte, durch Teilnahme an den Sitzungen irgendwie das Geheimnis dieses Mordes aufklären zu können. Gegen Frau Evelyn Wilcword hatte Bechert nie Argwohn geschöpft, da sie bereits drei Wochen vor dem Morde mit ihrem Kinde nach Ägypten gereist war. –

Auf Becherts Frage, wieviel Mitglieder der Bande sich wohl noch in Berlin befänden, erklärte Luzie Wargenheim, sie könnte hierüber keine Auskunft geben. Sie betonte, daß sie jetzt alles, was sie wisse, ausgesagt habe. Über die Vergiftung Battenhams könne sie nichts angeben.

Bechert ließ sie nunmehr in eine Zelle des Polizeigefängnisses bringen.

Der Leser wird nach diesem Geständnis Luzie Wargenheims zweierlei zugeben müssen: erstens, daß diese beiden Verbrechen ohne Harsts Eingreifen wahrscheinlich stets in tiefstes Dunkel gehüllt geblieben wären, und zweitens, daß wohl selten zur Beseitigung eines Menschen, nämlich John Wilcwords, ein solcher fein ausgeklügelter Plan entworfen wurde, wobei die Hauptmacher, Battenham und Eva-Evelyn, sehr schlau Wilcwords Neigung für Geheimwissenschaften mit berechnet hatten.

Nicht nur um so auf meines Freundes geniales Kombinationstalent hinzuweisen (Harald hatte ja diesen Plan bereits in Bombay durchschaut!), sondern auch um Eva Wilcwords moralische Verderbtheit ins rechte Licht zu rücken, habe ich hier Luzies Aussage wiedergegeben. Von dieser Verderbtheit und Evas gefährlichen Talenten sollten ja gerade wir beide sehr bald recht unangenehme Proben zu kosten bekommen. –

Jetzt wurde Herbert Jong alias Konlin vorgeführt. Bechert erklärte ihm, daß gegen ihn wegen Beihilfe zum Morde Anklage erhoben werden würde und las ihm Luzies Geständnis teilweise vor.

Jong sah nun wohl ein, daß die Sache sehr schlecht für ihn stehe. Er suchte zu retten, was noch zu retten war, und gab zu Protokoll, daß Battenham auch ihm über die Mordabsichten im unklaren gelassen habe.

Dies war ohne Zweifel gelogen.

Dagegen schien die weitere Aussage Jongs über Eva Wilcwords Helfershelfer und über den Mord an Battenham der Wahrheit zu entsprechen. Er behauptete, daß das ganze Bedientenpersonal der Villa Eva Wilcwords aus Mitgliedern der Bande bestanden habe. Der Diener, der Chauffeur, die Köchin und die Zofe seien frühere Bekannte Evas gewesen. Von diesen vier Personen sei der Diener, ein gewisser Xaver Holdstein, am meisten Evas Vertrauter gewesen. Holdstein habe auch Battenham vergiftet – aus Eifersucht, da er schon immer Eva mit Liebesbeteuerungen verfolgt habe und Battenhams intimen Beziehungen zu Eva ein Ende machen wollte. – Er schilderte diesen Xaver Holdstein, der jahrelang als Verwandlungskünstler die Weltstädte bereist habe, als einen außerordentlich schlauen, rücksichtslosen Menschen. Gerade Holdstein hätte zuletzt die Leitung der Bande an sich gerissen gehabt. Holdstein und der Chauffeur waren es auch, die als Sipo-Beamte Harst und mich in Becherts Wohnung überwältigt hatten, während die Köchin Evas Becherts Haushälterin gespielt hatte.

Die Falle in Becherts Wohnung war ebenfalls sorgfältig vorbereitet worden. Holdstein hatte zu diesem Zweck auf demselben Flur bei einer alten Dame ein Zimmer gemietet, damit wir zuerst dorthin geschafft werden könnten. In diesem Zimmer waren wir dann in die bereitgehaltenen Koffer verstaut worden, die Holdstein dann als angeblicher Geschäftsreisender durch Evas Chauffeur auf einem Handwagen nach der Villa in Westend bringen ließ.

Nun war also auch das Rätsel aufgeklärt, weshalb man weder im noch vor dem Hause von den beiden falschen Sipo-Beamten und ihren Arrestanten etwas bemerkt hatte. –

Auch diese Einzelheit bewies aufs neue die großzügige „Arbeitsmethode“ dieser Verbrecher. –

Dann wurde Herbert Jong von Harst gefragt, wer das blonde Mädchen gewesen sei, die in Bombay bei den Attentaten gegen uns mitgeholfen hatte. Jong erklärte, es handele sich hier um kein Mädchen, sondern um den sehr hübschen Knaben der Köchin Evas, der bereits ein Jahr in einer Parterreakrobaten-Truppe mit tätig gewesen. Die Köchin heiße Anastasia Gromper, der Knabe mit Vornamen Joseph. –

Abermals ließ Bechert nun Otto Lottmöller, den Mörder Wilcwords, vorführen. Lottmöller antwortete auch jetzt auf keine Frage. Als er dann nach seiner Zelle zurückgebracht wurde, unternahm er einen Fluchtversuch und stürzte sich schließlich vom Dach des Seitenflügels in den Hof hinab, lebte nur noch zehn Minuten und starb in unserer Gegenwart ohne ein Zeichen von Reue bei vollem Bewußtsein. Seine letzten Worte waren:

„Sie werden an uns denken!“ – Dabei schaute er Harst mit einem so haßerfüllten Blick an, daß Bechert nachher zu Harald sagte:

„Ich würde Ihnen doch raten, lieber Harst, recht vorsichtig zu sein. So lange Eva Wilcword und die anderen Mitglieder der Bande noch in Freiheit sich befinden, dürften Sie auf jede mögliche Weise versuchen, sich zu rächen!“

„Das weiß ich, Bechert. Ich werde mich danach richten,“ meinte Harald.

Dann fuhren wir nach unserem Hotel am Alexanderplatz, holten unsere Koffer ab und begaben uns nach Hause, nach dem Harstschen Familiensitz, der Blücherstraße Nr. 10 in Schmargendorf.

Und – dann begann das Geheimnis der großen, plumpen Porzellantasse.

 

2. Kapitel.

Advokat Drywater.

Gegen halb sieben Uhr morgens langten wir daheim an – nach achtmonatiger Abwesenheit, nach acht Monaten, die wir in Indien zugebracht hatten.

Frau Auguste Harst war bereits aufgestanden. Auch Mathilde, das alte Faktotum des Hauses, wirtschaftete bereits in der Küche herum.

Die freudige Überraschung der Mutter Haralds, die Herzlichkeit, mit der sie auch mich begrüßte, standen in so wohltuendem Gegensatz zu all dem Häßlichen, das wir eben mit erlebt und mit angehört hatten.

Wir saßen dann in der nach dem Obstgarten hinausgehenden Veranda und frühstückten. Die Maisonne schien warm und freundlich. Wir waren daheim, und wir vergaßen Eva Wilcword und ihren Anhang über dem heiteren Geplauder der alten Dame, die uns ja so viel Neues zu berichten hatte nach diesen acht Monaten in der Fremde.

Wir hüteten uns, Frau Harst etwas von den Geschehnissen dieser Nacht zu erzählen. Wir taten, als hätte uns Heimweh nach Berlin zurückgeführt. Denn wozu sollten wir das treue Mutterherz mit den Sorgen unserer Sicherheit wegen belasten! Wir würden ja die Gefahren, die uns vielleicht von Eva Wilcword drohten, schon rechtzeitig erkennen.

Gegen halb neun betrat dann die alte Mathilde die Veranda mit einem Brief in der Hand.

„Der Postbote hat ihn soeben in den Briefspalt geworfen,“ erklärte sie.

Harald prüfte den Umschlag. „Aus Neuyork!“ sagte er dann und streifte mich mit einem besonderen Blick. „Ja – das dürfte Zeit haben!“ Und er schob den Brief in die Tasche.

Eine halbe Stunde drauf schlenderten wir beide durch den Garten.

Da stand unter einem alten Apfelbaum eine weiße Holzbank. Wir setzten uns. Ich wußte, daß jetzt der Brief aus Neuyork herankommen würde.

Harald reichte ihn mir denn auch.

„Bitte – sieh ihn Dir an!“

Als Absender war auf dem Umschlag vermerkt:

Dr. Abraham Drywater, Rechtsanwalt,

Neuyork, 112. Straße Nr. 68.

Die beiden amerikanischen Briefmarken waren so schlecht abgestempelt, daß sich aus dem Stempel der Tag der Absendung nicht entziffern ließ.

„Öffne ihn und lies vor,“ meinte Harst, indem er sich eine Mirakulum anzündete.

Ich schnitt den Umschlag sorgfältig auf und zog den mehrfach gefalteten Briefbogen überseeischen Briefpapiers heraus.

Oben links stand Drywaters Name, Titel und Wohnung, Telephonnummer und Sprechzeit gedruckt.

Ich las:

„Neuyork, den 21. März 1922. – Herrn Harald Harst, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10. – Sie gestatten, daß ich mich in einer Angelegenheit an Sie um Rat wende, die meinen langjährigen Freund und Klient John Wilcword betrifft. Wilcword ist am 19. Februar in Berlin unter recht eigentümlichen Umständen ermordet worden. Ich nehme an, daß diese Umstände Ihnen aus den Zeitungsmeldungen noch gegenwärtig sind. Sie als Liebhaberdetektiv dürften sich vielleicht längst für den Fall interessiert haben. – Ich wurde nun von Wilcword im Herbst des Vorjahres beauftragt, die Ehescheidungsklage gegen seine Frau einzureichen. Wilcword erklärte mir dann ein paar Wochen später, daß er in aller Stille seine Fabriken verkauft und sein gesamtes Vermögen oder doch den weitaus größten Teil flüssig gemacht und der hiesigen Edelsteinhandlung van Haalen Ordre gegeben habe, für ihn die kostbarsten Edelsteine aufzukaufen, die nur irgend zu haben seien. Von mir befragt, weshalb er so ungeheure Summen in Brillanten anlegen wolle, erwiderte er ausweichend, er habe dabei einen ganz bestimmten Zweck im Auge. Mehr war von ihm nicht zu erfahren.

Es vergingen sodann drei Monate. Da erhielt ich die Nachricht von Wilcwords Ermordung. Ich besaß nun von ihm eine Generalvollmacht, die er vor seiner Abreise nach Europa ausgefertigt hatte. Diese Vollmacht genügte auch, mich als Verwalter seines Nachlasses zu legitimieren. Die Schlüssel zu dem Tresor im Keller seines palastartigen Hauses in der Lincolnstraße hatte er bei mir ebenfalls deponiert. In dem Tresor fand ich, als dieser in Gegenwart von drei richterlichen Beamten geöffnet wurde, eine Art Testament, das folgenden Wortlaut hatte:

„Ich, John Gabriel Adam Wilcword, bestimme für den Fall meines Todes, daß mein Freund, der Advokat Abraham Drywater, Vormund meines einzigen Kindes Inge werden soll. Ich lasse Drywater völlig freie Hand, den Rest meines Vermögens im Betrage von 52 Millionen Dollar irgendwie nutzbringend anzulegen. Ihm selbst vermache ich den Betrag von zehn Millionen, die in einem besonderen Umschlag in meinem Tresor liegen, außerdem die alte Wilcwordsche Familientasse, die mein Großvater eigenhändig als Kunsttöpfer hergestellt hat. Sie steht im Tresor in einem mit Samt ausgeschlagenen Ebenholzkästchen. Drywater soll diese Tasse hoch in Ehren halten und den eingebrannten Spruch beherzigen. – John Wilcword.“

Es fanden sich denn auch wirklich in dem Tresor sowohl die zehn Millionen für mich, als auch Wertpapiere im Betrage von 52 Millionen und die erwähnte Familientasse vor.

Ich ging sodann, um den Verbleib der fehlenden Riesensummen (Wilcword mußte mindestens eine volle Milliarde besessen haben!) festzustellen, zu der Firma van Haalen, die mir an Hand ihrer Geschäftsbücher nachwies, daß sie für John Wilcword im ganzen für 978 Millionen Dollar in Indien und China hatte Edelsteine aufkaufen lassen und die Steine, im ganzen 682, ihm auch übergeben hatte.

Ich beauftragte nun sofort durch Kabeldepesche die Berliner Anwälte Albin und Gneist, sich mit der Polizei in Berlin in Verbindung zu setzen, damit nachgeforscht würde, ob Wilcword die Edelsteine etwa mit nach dort genommen und in Berlin bei einer Bank in Verwahrung gegeben habe.“

Als ich so weit gelesen hatte, meinte Harald lebhaft:

„Von diesen Edelsteinen hat Bechert nichts erwähnt. Es muß ihm wohl unwichtig erschienen sein. – Bitte weiter –“

Und ich las jetzt bedeutend hastiger, denn diese 682 Steine begannen mich zu interessieren:

„Über den Verbleib der Diamanten konnte jedoch bis auf den heutigen Tag nichts festgestellt werden. Sie sind verschwunden. – Würden Sie nun, Herr Harst, vielleicht die Freundlichkeit haben, diese Angelegenheit zu untersuchen? Ich glaube fast, daß die Familientasse der Wilcwords zu dem Verschwinden der Steine irgendwie in Beziehung steht, denn der Spruch auf der Tasse, den ich beherzigen soll, ist seltsamerweise nur eine fortlaufende Reihe, oder besser zwei Reihen, von willkürlich aneinandergefügten Buchstaben ohne jeden Sinn, aus denen ich nur an einer Stelle „Diam“ als Anfang des Wortes Diamant vermutlich herausfand. Ich schreibe den merkwürdigen „Spruch“ hier ab:

Utchssueddidiamnntae, oslsaeedsi
Aestsanlfl, nudnditrwsleükgsneri!

Die vier Buchstaben „diam“ habe ich unterstrichen.

Meine Bemühungen, diese Geheimschrift (es muß sich um eine solche handeln!) zu entziffern, waren ergebnislos.

Ich kann mir nun anderseits nicht recht denken, daß die Familientasse, die doch von dem Großvater John Wilcwords stammen soll, eine Aufschrift enthalten kann, die auf so viel Jahrzehnte später eingetretene Ereignisse, eben auf den Diamantenankauf und auf das Verschwinden der Steine, Bezug haben sollte. Kurz: all diese Fragen gehen über mein Spürtalent hinaus. Deshalb bitte ich Sie nochmals, diesen Auftrag zu übernehmen, geehrter Herr Harst.

Den Zeitungsnachrichten zufolge sollen Sie sich jetzt in Indien befinden. Ich hoffe, daß Ihnen dieser Brief nachgesandt wird. – Ich bin – Ihr ergebener Abraham Drywater.“

Harald warf seinen Zigarettenrest weg und nahm mir diesen inhaltsreichen Brief ab, las ihn nochmals ganz langsam, ließ seinen Blick minutenlang auf der Geheimschrift ruhen und sagte dann:

„Die meisten Advokaten werden mit der Zeit zu nüchternen, phantasielosen Aktenmenschen! – Du gibst doch zu, mein Alter, daß Drywater bei einiger geistiger Regsamkeit John Wilcwords Absichten hätte durchschauen müssen!“

„Ich gebe nichts zu,“ meinte ich kleinlaut. „Diese geistige Regsamkeit fehlt auch mir offenbar – leider!“

Die alte Mathilde kam da eilends den Weg vom Hause und schwenkte eine Visitenkarte, rief:

„Besuch – Besuch! Ein Amerikaner! Na – der spricht sich ein Deutsch zusammen! Und aussehn tut er wie ein Affe.“ –

Die Karte hatte den Aufdruck: „Dr. Abraham Drywater, Neuyork“.

So lernten wir nun denn auch den „Affen“ kennen, wie die brave Mathilde den kleinen, hageren, bärtigen Drywater sehr respektlos bezeichnet hatte, was ihr insofern nicht zu verargen war, als Abraham Drywater entschieden seiner Gesichtsbildung nach unseren Urahnen, den Menschenaffen, einige Stufen näher stand als wir.

Harst bat ihn, nachdem wir ihn in Haralds Arbeitszimmer begrüßt hatten, wieder Platz zu nehmen.

„Ich beherrsche Ihre Sprache etwas mangelhaft, meine Herren,“ sagte der kleine Advokat nun. „Aber wir werden schon miteinander fertig werden. – Sie haben doch meinen Brief erhalten, Herr Harst? – So, heute erst?! Merkwürdig! – Nun, jedenfalls hatte ich ihn kaum abgeschickt, als ich mir überlegte, daß es doch wohl richtiger sei, mit Ihnen persönlich zu sprechen. Ich reiste also mit dem nächsten Steamer nach Europa. Hätte ich Sie hier nicht angetroffen, wäre ich Ihnen bis Indien gefolgt, denn – für eine Milliarde Edelsteine ist doch keine Kleinigkeit.“

„Allerdings nicht. – Haben Sie die Familientasse mitgebracht?“

„Ja, natürlich! – Was sagen Sie zu der Aufschrift?! Haben Sie sie entziffern können? „

„Nein, bisher nicht.“

„Wird es Ihnen gelingen?“

„Ich hoffe. – Wo befindet sich die Tasse?“

„In meinem Koffer im Hotel Atlantic.“

Harald schwieg eine Weile. Dann ging er an seinen Schreibtisch und – holte seine Clementpistole aus der rechten Schublade, setzte sich wieder zu uns an den Sofatisch, legte die Pistole vor sich auf den Tisch und sagte:

„Herr Drywater, es haben sich hier in der vergangenen Nacht Ereignisse abgespielt, die uns zur Vorsicht mahnen. Noch mehr mahnt mich hierzu die Tatsache, daß die Stempel auf den Briefmarken Ihres Briefes offenbar absichtlich durch Stempelfarbe unleserlich gemacht worden sind, so daß dies im Verein mit einer anderen Beobachtung von mir, nämlich der, daß der Brief ohne Zweifel geöffnet und wieder zugeklebt worden ist, den Verdacht rechtfertigt, Sie könnten nicht Abraham Drywater, sondern ein Helfershelfer Evelyn Wilcwords sein, die an der Ermordung ihres Mannes mit beteiligt ist und alle Ursache hat, uns nicht gerade zu lieben. Vielleicht hat sie unter den Angestellten Drywaters einen bezahlten Spion, der den Brief –“

Abraham Drywater lachte schallend und zwang Harald so zum Schweigen, holte seine Brieftasche hervor und breitete vor Harald einen Paß mit abgestempelter Photographie und genauer Personalbeschreibung sowie andere Papiere aus.

„Da – prüfen Sie, Herr Harst,“ meinte er schmunzelnd. „Ich nehme Ihnen Ihr Mißtrauen nicht übel.“

Der Paß und die Papiere waren zweifellos echt. Dieser Mann war Drywater.

„So, nun wäre die Sache ja geordnet,“ lächelte auch Harald. „Stecken Sie Ihre Papiere nur wieder ein. Und jetzt will ich Ihnen auch gleich folgendes erklären: die angebliche alte Familientasse hat John Wilcword sehr wahrscheinlich in seiner Fabrik herstellen lassen. Die Chiffreschrift auf der Tasse ist seine Erfindung. Ich bitte Sie, die Tasse uns recht bald zu bringen. Dann will ich Ihnen beweisen, was ich hier soeben behauptete.“

Drywater sprang wie elektrisiert auf.

„Gut – ich hole sie, Herr Harst! In einer Stunde bin ich wieder hier.“

„Nun, so eilig ist dies gerade nicht. Schraut und ich möchten erst noch ein paar Stunden schlafen. Wir haben etwa vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan. Wenn Sie um drei Uhr nachmittags uns also besuchen wollten –“

„Gern. – Da will ich auch nicht länger stören, meine Herren. – Hm – noch eine Frage: Sie glauben also wirklich, Herr Harst, daß der Brief unbefugt geöffnet worden ist?“

„Ja. Dies kann nur in Neuyork geschehen sein. – Vielleicht wissen Sie noch, wie der Brief zur Post gegeben wurde?“

„Ich schickte meinen Bürodiener mit dem Brief gleich zum Hafenpostamt.“

„Dann kann nur dieser Diener ein Helfershelfer Evelyn Wilcwords sein, Herr Drywater. Der Diener hat auch wahrscheinlich einen Postbeamten, nachdem er den Brief kopiert hatte, bestochen, damit der Beamte die Briefstempel recht undeutlich machte. Die Verzögerung der Abstempelung sollte verheimlicht werden.“

Drywater rieb sich nachdenklich seine breite Nase.

„Hm – der Bürodiener! Ja, ja, der Mensch hat schon manches berissen – harmlose Dummheiten! Da kann man ihm auch eine größere Schurkerei zutrauen,“ brummte der kleine Advokat.

Dann verabschiedete er sich und bestieg sein Mietauto, das er draußen vor dem Hause hatte warten lassen.

Harald aber sagte mir sofort gute Nacht und verschwand in seinem Schlafzimmer.

Meine beiden Räume jenseits des Flurs hatte Mathilde inzwischen ebenfalls in Ordnung gebracht. Ich legte mich auf den Diwan und schlief auch sehr bald ein.

 

3. Kapitel.

Ein Beinbruch.

Als ich erwachte und nach der Uhr sah, war es halb drei.

Ich stand auf, wusch mich gründlich, zog mich an und ging leise in Haralds Arbeitszimmer hinüber.

Ich hätte mir diese Rücksicht, ihn nicht stören zu wollen, schenken können, denn – er saß bereits am Schreibtisch und – verbrannte jetzt gerade einen Zettel über dem Zigarrenlämpchen.

„Auch schon munter?“ meinte er. „Drywater wird pünktlich sein, ich bin auf die Tasse sehr neugierig. Wenn er sie nur nicht fallen läßt und sie zerschlägt. Es wäre schade darum. Die Tasse ist in ihrer Art fraglos eine Rarität.“

„Was hast Du da eben verbrannt?“ fragte ich mißtrauisch. „Etwa die Lösung der Chiffreschrift?“

„Geraten!“

„Und die Lösung lautet?“

„Du machst Dir Deine Sache zu bequem, mein Alter. Zergrüble Dir nur selbst etwas den Kopf! – Hier ist Drywaters Brief.“

Zum Glück rief Mathilde uns jetzt zum Mittagessen. So entging ich der ohne Zweifel zwecklosen Arbeit.

Als wir um halb vier mit dem Mittagessen fertig waren, hatte sich Drywater immer noch nicht eingefunden.

Dann jedoch schrillte das Telephon.

Harald meldete sich, lauschte.

„Gut, Herr Sanitätsrat, wir kommen,“ sagte er nach einer Weile und legte den Hörer auf die Stützen zurück.

Darauf wandte er sich mir zu. „Drywater ist in der Birkenstraße ausgeglitten, hat sich ein Bein gebrochen und ist in die Wohnung des Sanitätsrats Holler, Birkenstr. 12, geschafft worden. Der Sanitätsrat bat mich, wir sollten Drywater dort besuchen. Er möchte mir die Tasse übergeben. Sie sei zum Glück bei dem Sturz ganz geblieben.“

Er blätterte jetzt im Berliner Adreßbuch.

„Ah – hier steht’s: Holler, Friedrich, prakt. Arzt, Sanitätsrat, Birkenstraße 12 Hochparterre[3]. – Es stimmt also. Es ist keine Falle unserer Gegnerin Eva! Denn – es hätte ja eine Falle sein können. Eva-Evelyn weiß sicher, was in dem Briefe stand, und weiß auch ohne Zweifel, daß Abraham Drywater jetzt in Berlin ist, vielleicht auch, daß er schon bei uns war. – Immerhin: wir wollen auch so vorsichtig sein! Die Maske als Telephonarbeiter haben wir lange nicht getragen. Also – vorwärts: umziehen!“

Um halb fünf verließen zwei Telephonarbeiter mit Postmützen und Werkzeugtaschen das Harstsche Haus durch den Obstgarten und gingen an dem Laubengelände entlang, das sich hier am Rande der Großstadt mit schmucken Gärtchen und wunderlichen Holzbuden hinzieht.

Der größere, schlankere der beiden blieb dann plötzlich stehen und klopfte seine Holzpfeife an einem Zaunpfosten aus.

„Der Junge – hinter uns als Spion!“ flüsterte er. „Nicht umschaun! Wir fangen ihn.“

Und Harst bog nun in einen der Querwege des Laubengeländes ein, bis wir am Schnittpunkt mit dem nächsten Längswege uns hinter einem unkrautumwucherten Komposthaufen zusammenducken konnten.

Nun sah auch ich sehr bald den Jungen – den kleinen Bengel, dessen sich Eva Wilcword schon in Bombay bedient hatte.

Nun stand der kleine Halunke an der anderen Seite des Kompostberges und blickte sich verdutzt um, da er uns nirgends mehr erspähen konnte.

Unschlüssig, mißtrauisch tat er ein paar Schritt vorwärts.

Da hatte Harald ihn schon beim Wickel.

Der Bengel schlug um sich.

„Was wollen Sie von mir!“ kreischte er.

Harst drückte ihm die Hand auf den Mund.

„Verhalte Dich ruhig, Joseph Gromper,“ drohte er. „Du wirst sonst sofort zur Polizei gebracht!“

Das half. Der Junge ließ sich ruhig mitnehmen. Wir führten ihn in das Harstsche Haus zurück und sperrten ihn in einen sicheren Kellerraum ein. –

Dann fuhren wir mit der Elektrischen nach dem Tiergartenviertel, waren gegen halb sechs in der stillen Birkenstraße und sahen uns Nr. 12 erst mal von draußen an.

Es war ein sehr altes Haus ohne die verunzierenden Vogelkäfige von Balkons, so ein recht behagliches Haus mit blanken Spiegelscheiben und einer reichgeschnitzten Haustür.

Diese Haustür stand offen. Wir stiegen die Treppe hinauf. Im Hochparterre links an der Flurtür ein Porzellanschild:

Holler,
Sanitätsrat.
9–11, 3–5, nicht Sonntags.

Harst läutete und sehr bald öffnete ein Stubenmädchen mit weißer Schürze und Häubchen.

„Wir müssen mal die Leitung nachsehen, Fräulein,“ erklärte Harst. „Das Telephonamt schickt uns.“

„Warten Sie. Ich muß erst fragen, ob Sie den Herrn auch nicht stören.“

Sie schlug die Tür wieder zu.

„Harmlos!“ meinte Harald ganz leise.

Dann kam das Mädchen und sagte kurz:

„Gehn Sie leise! Wir haben einen Patienten da. Er schläft gerade.“

Sie öffnete die zweite Tür linker Hand.

„Da steht das Telephon!“

Sie ließ uns eintreten. Es war das Sprechzimmer eines Arztes – man roch es!

„Ist der Herr Sanitätsrat zu Hause?“ fragte Harald.

Das Mädchen nickte. „Ich werde ihn rufen.“

Harsts Blicke ruhten starr auf dem am linken Fenster stehenden Schreibtisch.

„Die Tasse – der Kasten dazu?“ flüsterte er und ging rasch vorwärts, nahm die plumpe, übergroße vergoldete Obertasse und schaute sich die in schwarz eingebrannten Buchstabenreihen an.

Ich war neben ihn getreten.

Hinter uns ein Geräusch – eine Stimme:

„Was fällt Ihnen ein! Stellen Sie die Tasse wieder hin!“

Ein hagerer graubärtiger Herr mit goldener Brille hatte uns dies empört zugerufen.

Harald setzte die Tasse behutsam auf die Untertasse zurück.

„Herr Sanitätsrat,“ meinte er, „wir sind Harst und Schraut!“

Seltsam: der alte Herr lächelte jetzt geradezu scheußlich.

„Das wissen wir,“ erklärte er höhnisch. „Verkleidungen zu durchschauen, fällt gerade mir nicht schwer. Ich bin nämlich Verwandlungskünstler von Beruf!“

Das war das letzte, was ich hörte.

Da mußten hinter den Fensterportieren zwei Leute gestanden haben, die uns jetzt blitzschnell niederschlugen – mit Sandsäcken – wie gestern abend.

Der letzte Eindruck, den ich empfing, bevor ich in tiefe Bewußtlosigkeit fiel, war der, daß kräftige Arme mich umschlangen und mich langsam auf den Teppich niedergleiten ließen.

Ob dann nur eine oder viele Stunden vergangen waren, als ich wieder zu mir kam, darüber konnte ich mir nicht klar werden. Erst später stellte sich heraus, daß ich etwa anderthalb Stunden besinnungslos gewesen.

Ich kam also zu mir, – hilflos, wehrlos, gefesselt, geknebelt, festgebunden auf einem alten hochlehnigen Rohrsessel, der bei jeder Bewegung leise knarrte.

Da mußte sich hinter mir eine Lampe befinden, hoch an der Wand. Ein mildes Licht fiel durch den Raum, durch ein Zimmer mit vielen Stühlen an den Wänden.

„Ein Wartezimmer!“ blitzte in meinem trägen, schmerzenden Hirn ein Gedanke auf. „Das Wartezimmer Sanitätsrat Hollers!“

Holler –! Mit einem Schlage wurden die jüngsten Ereignisse in meiner Erinnerung lebendig, – blitzartig – so, als ob man ein grell beschienenes Panorama sieht.

Holler! – Ja – wir beide, Harald und ich, waren als Telephonarbeiter zu Holler gegangen, weil Abraham Drywater uns hatte sprechen wollen – angeblich! –, weil er sich das Bein gebrochen haben sollte! So – so waren wir in diese Falle geraten. Wir waren nicht blindlings hineingetappt, nein, – wir hatten es an Vorsicht wahrlich nicht fehlen lassen! Aber – die Gegner waren noch schlauer gewesen. Da hatte das Mädchen uns geöffnet – da hatte die Tasse auf dem Schreibtisch gestanden! Ja – diese Schurken hatten uns bewiesen, daß sie derartige Fallen gut zu inszenieren wußten!

Das schoß mir so durch den Kopf, während meine Augen jetzt starr auf etwas da vor mir gerichtet waren – etwas, das an der dunklen Tapete hing, oben mit einem hellen Fleck.

Plötzlich riß mein Gedankenfaden jäh entzwei.

Ich hielt den Atem an. Ich hatte das Etwas erkannt: ein Mensch hing da an der Wand in einer Schlinge, den Mund halb geöffnet, – ein verzerrtes fahles Totengesicht, die Augen geschlossen. –

Träumte ich nur?! War ich noch gar nicht erwacht?! War das da wirklich Drywaters breite Nase, sein rötlicher, struppiger Bart und das borstige Haupthaar?!

Ich blickte zur Seite, schloß die Lider.

Öffnete sie –: das Bild blieb dasselbe. Dort hing der tote Drywater – ein entsetzlicher Anblick, eine furchtbare Drohung für uns beide, die wir uns in der Gewalt Eva Wilcwords befanden!

Dann knarrte rechts von mir ein zweiter Sessel.

Mühsam drehte ich den Kopf: Harald saß da – hilflos, wehrlos wie ich!

Unsere Blicke trafen sich. Unsere Gesichter lagen im Schatten der hohen Rohrsessellehnen und der Kopfpolster.

Und doch – täuschte ich mich?! – lächelte Harst nicht ganz wenig?

Eine plötzliche Übelkeit als Folge der Gehirnerschütterung, eine Art Ohnmachtsanfall zauberte feurige Sternchen anstelle des Antlitzes meines Freundes.

Der Anfall ging vorüber. Ich kämpfte noch gegen das Bestreben meines Magens, sich zu entleeren, als ein Schatten vor mir auf die hellen Dielen fiel.

Eva Wilcword mußte hinter unseren Sesseln gewartet haben, bis wir erwacht waren. Nun zeigte sie sich, setzte sich rechts auf einen der Stühle.

Es war Eva Wilcword. Sie trug jetzt freilich Männerkleider und eine weiche Mütze, die ihr Haar verbarg. Aber dieses schmale Gesicht mit den großen Augen vergaß man nicht, wenn man es auch nur einmal gesehen hatte. Und ich – ich sah Eva jetzt zum dritten Male: Bombay, Westend-Villa, – jetzt hier in der Wohnung des Arztes!

Die kalten großen Augen waren auf Harst gerichtet. Das Gesicht zeigte denselben hochmütigen Zug wie in der verflossenen Nacht.

Die Augen wanderten dann nach rechts hin, wo der arme Drywater hing.

Und kehrten zu uns zurück – ebenso langsam, wie Eva jetzt sagte:

„Nun werden wir abrechnen, Herr Harst. Sie haben uns schwer geschädigt, besonders mich. Die Feigheit meiner Freunde schützte Sie gestern. Wäre es nach mir gegangen, so hätte man Harald Harst und Max Schraut tot aus der Spree gezogen, dann würde der Geisterspiegel noch jetzt ihrem Bekannten Bechert ein Rätsel sein, dann wären Luzie Wargenheim und die andern noch frei! Jetzt bin ich eine Verfolgte, jetzt sind mir die Wilcwordschen Millionen entglitten – durch Ihre Schuld, Herr Harst! Und auch – durch die Schuld dieses da!“ Sie zeigte mit geringschätziger Handbewegung auf Drywaters Leiche.

Sie schwieg eine Weile.

Draußen auf der Birkenstraße knatterte ein Motorrad vorüber, und der müde Hufschlag eines Droschkengaules klapperte auf dem harten Asphalt.

Dann winkte Eva Wilcword.

Und hinter unseren Sesseln kam der falsche Sanitätsrat Holler hervor.

Er ließ sich neben Eva nieder.

„Herr Harst, dies ist Xaver Holdstein,“ sagte das Weib in Ihrer monotonen Art. „Derselbe Holdstein, den die Polizeibehörden aller Länder seit Jahren suchen und natürlich nie finden. Wie sollten sie auch?! Holdstein hat tausend Gesichter.“

Holdstein kehrte da den Kopf von uns ab, griff mit den Händen nach dem Gesicht, drehte den Kopf zu uns hin.

Ich war verblüfft: er glich jetzt völlig einem ältlichen Stutzer mit kurzem Schnurrbart, hatte einen dünnen Scheitel und ein Monokel im schläfrigen Auge.

Und abermals wandte er den Kopf, hob die Hände zum Gesicht. Ein paar blitzschnelle Bewegungen.

Und nun saß da ein Herr mit blondem Spitzbart und tiefer Glatze, eine Brille vor den kleinen Schweinsäuglein.

„Xaver,“ befahl Eva Wilcword jetzt, „bringe die Drähte an.“ Dann zu uns, während Holdstein hinter unseren Sesseln verschwand:

„Ich will Ihnen beiden die Knebel abnehmen, nachdem wir einige Vorsichtsmaßregeln getroffen haben. Sollten Sie um Hilfe zu rufen wagen, so wird bei dem ersten lauteren Ton Ihr Lebensflämmchen erlöschen.“

Hinter uns begann ein tiefes Summen, steigerte sich, verstummte wieder: irgend ein elektrischer Apparat!

Dann kam Holdstein und wickelte uns um die rechten, auf der Brust festgeknoteten Hände starken blanken Kupferdraht, dessen besponnener Teil sich unter den Sesseln nach hinten schlängelte. Andere Drähte wickelte er uns um die Stirn.

„Fertig!“ sagte er nun und trat wieder hinter die Sessel.

Eva erhob sich und nahm uns die durch Bindfäden festgehaltenen Knebel ab.

Sie setzte sich wieder.

„Vielleicht werden wir handelseinig, Herr Harst,“ meinte sie und entnahm einem silbernen Etui eine Zigarette, zündete sie an und fügte hinzu: „Wenn nicht, wird Xaver den Stromkreis schließen, und Sie enden hier, wie in Amerika drüben die zum Tode Verurteilten enden.“

Ein paar Rauchringe stiegen hoch.

Da sagte Harst:

„Ich weiß, was Sie verlangen werden: ich soll die Chiffreschrift auf der Familientasse für Sie lösen! – Habe ich recht?“

„Ja –!“

 

4. Kapitel.

Der Vertrag.

Dann Pause.

Eine Pause wie bei einem erbitterten Kampf zwischen zwei Gegnern, eine Atempause, der das Ringen bis zur Entscheidung folgen soll.

Eva Wilcword schien eine Antwort Harsts erwartet zu haben. Harst schwieg. Ich schaute ihn von der Seite an. Seine Blicke waren auf den armen Drywater gerichtet. Diese Blicke, starr und wie durch die Leiche hindurch in weite Fernen dringend, behielten auch dieselbe Richtung bei, als Eva nun sich wieder meldete.

„Wir haben keine Veranlassung, hier vor Ihnen mit verdecken Karten zu spielen, Herr Harst.“ Sie sprach etwas schneller, etwas nervös. Haralds kühle Gleichgültigkeit schien ihr unangenehm zu sein. „Wir hatten unter Drywaters Angestellten einen Spion, der –“

„– der den Brief an mich öffnete. Der Spion war der Bürodiener,“ beendete Harald diese Erklärung.

Sein Blick ruhte jetzt auf Eva Wilcwords Antlitz. Und dieses Antlitz verriet Verwirrung, Staunen.

Und Harst sprach weiter – mit spöttischer Überlegenheit:

„Sie müssen mich nicht zu betrügen suchen, Frau Wilcword. Weshalb Sie uns in der verflossenen Nacht entkommen ließen, wurde mir klar, als ich Drywaters Brief gelesen hatte. Ihr Spion in Neuyork hat Ihnen eine Abschrift dieses Briefes gesandt, und dieses Schreiben erhielten Sie gestern abend. Da überlegten Sie sich die Sache anders, da wollten Sie erst Drywaters Ankunft abwarten, dessen Abreise Ihr Spion Ihnen gleichfalls mitgeteilt hatte. Sie wollten auch die Tasse in Ihren Besitz bringen – der Diamanten wegen. Wenn Sie die Tasse hätten, sollten auch wir wieder Ihnen nützlich sein. So erleichterten Sie uns die Flucht, entflohen selbst, denn – ich sollte doch daheim Drywaters Brief in Empfang nehmen können und mir in Ruhe diese recht merkwürdige Diamantengeschichte überlegen, sollte – vielleicht! – gar den Spruch auf der Tasse schon entziffert haben, wenn Sie mich wieder – einfingen! – Ihr Spiel, Frau Wilcword, entbehrt nicht der Feinheiten. Leider aber haben Sie mich überschätzt. Die Chiffreschrift ist mir bisher noch genau so wie Ihnen ein Rätsel.“

Ah – er log! Er kannte die Lösung bereits. Er wollte diese Schurken einwickeln!

„Vielleicht, Frau Wilcword, – vielleicht hat die Aufschrift auf der Obertasse überhaupt keinen Sinn. Daß es keine „alte Familientasse“ ist, wird Ihnen wohl selbst schon klar geworden sein. Ich nehme an, daß John Wilcword sie hat herstellen lassen, nachdem er sein Vermögen in Edelsteinen angelegt hatte, die er dann irgendwo vergraben oder versenkt haben mag, um – Ihnen, die er haßte und verachtete, diese Werte für alle Fälle zu entziehen. Er rechnete vielleicht mit einem Anschlag auf sein Leben. Er wußte, daß, falls er stürbe, Sie als Mutter der Erbin, der kleinen Inge, gesetzlich Verwalterin des Riesenvermögens werden würden, es sei denn, daß die Scheidung bereits vollzogen war. Haß und Verachtung gaben ihm den Gedanken ein, Sie, deren Habgier und Sucht nach Edelsteinen er kannte, besonders zu strafen, indem er scheinbar der Tasse das Geheimnis des Verbleibs der Diamanten anvertraute in Form einer Chiffreschrift, die nur zwei lesbare Silben aufwies. „Di–am“ als Anfang des Wortes Diamanten! So wollte er Ihr Verlangen nach den verschwundenen Edelsteinen noch steigern, wollte in Ihr Dasein die stete Unrast fruchtlosen Nachgrübelns über die Lösung des Spruches hineinpflanzen! – Sehen Sie, so stelle ich mir den Zusammenhang vor! Ich kann mich täuschen – gewiß! Alles kann anders sein, aber ich glaube es nicht! Es ist so: der Spruch ist eine sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben, ist eine Strafe für Sie!“

Eva Wilcword hatte sich vorgebeugt. Der eisige Hochmut aus ihrem Gesicht war wie weggewischt. Enttäuschung, Ärger, Wut verrieten ihre Züge.

„Sie meinen also, die Diamanten lassen sich nicht auffinden?“ stieß sie jetzt atemlos hervor. „Haben Sie denn bereits genügend versucht, den Spruch zu dechiffrieren? Haben Sie die Überzeugung gewonnen, daß eine Lösung nicht möglich ist?!“

„Ich habe es versucht, gewiß!“

„Dann versuchen Sie’s nochmals.“

Harst lachte auf. „Und wenn es gelänge?! Dann – dann würden Sie uns beide stumm machen, wie Drywater dort, würden die Diamanten holen und – Ihr Spiel gewonnen haben!“ –

Jetzt begriff ich Haralds Taktik: er hatte Eva Wilcword vorerst nur die Überzeugung beibringen wollen, daß er bisher die Lösung nicht gefunden, sich aber auch in der Annahme, es handele sich bei dem Spruch lediglich um eine Art Racheakt Wilcwords, keine besondere Mühe gegeben habe.

Eva lehnte sich wieder mehr auf ihrem Stuhl zurück.

„Ich sagte ja bereits, Herr Harst: wir werden handelseinig werden!“ meinte sie bedächtig. „Was geht es Sie schließlich an, ob wir in Besitz der Edelsteine gelangen! Ihr und ihres Freundes Leben dürfte Ihnen wertvoller sein als der Gedanke, uns die Diamanten vorenthalten zu haben.“

„Vielleicht! – Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Frau Wilcword. Sie verlassen mit Ihren Freunden diese Wohnung, die Sie wahrscheinlich in ähnlicher Weise für Ihre Zwecke beschlagnahmt haben wie gestern Becherts Wohnung.“

„Nein. Der Sanitätsrat hat sie heute an Holdstein für drei Wochen vermietet. Er ist ins Bad gereist.“

„Nun – jedenfalls: Sie geben uns hier Gelegenheit, in Ruhe die Dechiffrierung nochmals zu versuchen. Wir versprechen, nicht etwa die Kriminalpolizei anzuläuten und Sie zu verraten. Gelingt uns die Dechiffrierung, so werfe ich Ihnen einen Zettel mit dem Wortlaut der Lösung auf die Straße hinab. Dann sind wir beide frei, dann haben Sie jedoch noch 2 Stunden Zeit, bevor ich Ihre Verfolgung aufnehme. – Finde ich die Lösung nicht, und das wird sich in spätestens einer Stunde entscheiden, wenn Schraut und ich gemeinsam daran arbeiten, so gebe ich Ihnen nach einer Stunde hier vom Fenster aus ein Zeichen – winke mit dem Taschentuch. Auch dann sind wir frei. Auch dann sollen Sie noch zwei Stunden Ruhe vor mir haben. – Sie sehen, meine Vorschläge sind für beide Teile gleich günstig. Auf andere lasse ich mich nicht ein. Überlegen Sie sich’s!“

Eva Wilcword stand auf und trat hinter die Sessel. Sie flüsterte dort mit Holdstein. Dann kam sie wieder nach vorn und fragte Harst:

„Gesetzt den Fall, Sie finden die Lösung und in dieser das Versteck der Diamanten angegeben. Werden Sie dann nach Ablauf der zwei Stunden sofort Schritte tun, die Edelsteine in Sicherheit bringen zu lassen?“

„Das ist wohl selbstverständlich.“

„Dann ist die Frist zu kurz. Verlängern Sie sie auf sechs Stunden, und wir sind einig. Wir wissen ja, daß Sie Ihr Versprechen halten werden. Und – wenn Ihnen die Dechiffrierung nicht glückt, sind die Diamanten ohnedies für uns wie für jeden andern verloren. Wir haben dann also kein Interesse mehr an ihrem Tode.“

„Sechs Stunden?!“ meinte Harald zögernd. „Sie verlangen sehr viel!“ Er wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. „Sagen wir vier Stunden, Frau Wilcword!“ entschied er dann.

„Nun gut – vier! Und – Sie verraten uns nicht, unternehmen jetzt nichts gegen uns, wenn wir Sie losbinden?“

„Nein – nichts! Nur – ich verlange, daß Drywaters Leiche bleibt, wo sie ist!“

Da wurde das Weib verlegen.

Und Harald lachte wieder. „Denn – Drywater ist gar nicht tot, Frau Wilcword. Sie haben ihn nur betäubt, nur zurechtgeschminkt und mit einem Strick um die Brust, der unter seinem Rock liegt, an die Wand gehängt. Die Schlinge um den Hals liegt ja ganz lose. Der Hals müßte viel länger gereckt sein, wenn Drywater wirklich aufgeknüpft worden wäre. – Überlassen Sie es uns, ihn herabzuheben. Ich verspreche auch in seinem Namen das gleiche: kein Verrat und Einhalten der Frist! – Der Trick, Drywater dort an der Wand als ernste Mahnung für uns in Szene zu setzen, ist vorbeigeglückt. – So – sind wir einig?“

„Ja!“

„Dann befreien Sie uns, geben Sie uns noch die Familientasse, die ich vielleicht bei der Dechiffrierung nötig habe, und empfehlen Sie sich.“

Holdstein erschien neben Eva.

„Wir haben also Ihr Ehrenwort, Herr Harst?“ fragte er. „Auch für Schraut und Drywater?“

„Gewiß!“ –

Wenige Minuten später wurde die Flurtür leise zugedrückt.

Wir standen der Fesseln ledig und lauschten.

Jetzt wurde auch die Haustür unten geschlossen. Eva und Holdstein waren gegangen. Nach einer Stunde sollten sie sich wieder vor dem Hause einfinden. So war es abgemacht.

Harald knöpfte seinen Kittel auf und sah nach der Uhr.

Es war fünf Minuten nach halb zehn.

 

5. Kapitel.

Als die Tasse fiel.

„Durchsuche die Wohnung und schließe die Flurtür ab,“ sagte Harald dann. „Ich werde Drywater in Hollers Sprechzimmer auf den Diwan tragen.“

Drywater kam infolge Harsts Bemühungen nach zehn Minuten zu sich, stierte uns wild an und keuchte:

„Was – was ist geschehen? Wer – wer sind Sie?“

Er erkannte uns nicht.

„Wir sind Harst und Schraut, und Sie sind tot, Herr Drywater,“ entgegnete Harald gemütlich, nahm einen Spiegel von der Wand und hielt ihn dem Anwalt vor das leichenhaft geschminkte Gesicht.

„Verdammt – wie sehe ich aus!“ rief Abraham Drywater entsetzt.

„Schminke! – Bleiben Sie ruhig liegen und erholen Sie sich. Ich werde Ihnen erzählen, was hier passiert ist.“

Drywater richtete sich dann mit einem Ruck auf.

„Das dulde ich nicht!“ sagte er wütend. „Niemals dulde ich es, daß Sie, falls Sie die Lösung finden, diesen Schuften den Zettel zuwerfen! Wie konnten Sie eine solche Abmachung mit diesen Halunken treffen?! Wie dürfen Sie John Wilcwords Edelsteine diesen Schurken ausliefern! – Ob Sie auch für mich das Versprechen, diesen Pakt einzuhalten, abgegeben haben, ist mir sehr gleichgültig! Ich fühle mich dadurch nicht gebunden. Ich –“

Er schwieg. Haralds Lächeln brachte ihn aus dem Text.

„Was lachen Sie, Herr!“ fauchte er. „Ich heiße Abraham Drywater, bin Advokat und habe John Wilcwords Interessen hier wahrzunehmen!“

Harst legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

„Warten Sie doch erst mal ab, Herr Drywater! Ich habe zwei Trümpfe im Spiel, von denen Sie nichts ahnen. – Wie hat man Sie denn hierher gelockt?“

„Oh – man telephonierte mich um zwei Uhr nachmittags im Hotel an. Angeblich waren Sie’s, Herr Harst. Sie sagten mir, ich solle hier zu Sanitätsrat Holler mit der Tasse kommen – sofort! Sie hätten sich ein Bein gebrochen und lägen hier im Gipsverband. Ich fiel auch darauf rein, fuhr her und wurde schon im Wohnungsflur von zwei Kerlen überwältigt. Nachher haben sie mich chloroformiert, die Schufte. – So – wie steht’s nun mit Ihren Trümpfen?“

„Gut steht’s damit. Das werden Sie schon sehen.“

Drywater wurde wieder kratzbürstig.

„Raus mit der Sprache! Entweder weihen Sie mich ein, Herr Harst, oder ich läute die Polizei an!“

Harald blieb fest. „Wenn ich Ihnen sage, daß wir mit Hilfe dieser Trümpfe die Partie gewinnen werden, dann ist es so! Und wenn Sie nicht tun, was ich will, werden Sie John Wilcwords Edelsteine nie finden. Also seien Sie hübsch verständig, Herr Drywater.“

Er zog abermals seine Uhr.

„Wir haben noch 25 Minuten Zeit. Nach zwanzig Minuten werde ich Ihnen zeigen, wie man den Spruch auf der Tasse entziffert. – Sprechen wir von etwas anderem bis dahin.“ –

Die Zeit war um. Harald holte die Obertasse vom Schreibtisch und setzte sich neben Drywater auf den Diwan.

„Die Sache ist gar nicht so schwierig,“ begann er. „John Wilcword hat durch den Anfang des Wortes „Diamant“ oder „Diamanten“, jedenfalls durch die Silben „Di“ und „am“ einen Anhalt für die Dechiffrierung gegeben. – Betrachten wir mal die auf „diam“ folgenden fünf Buchstaben, auf die dann ein Komma folgt. – Ich schreibe auf diesen Zettel:

diamnntae,

also diam–n–n–t–a–e. – Ordnet man diese fünf Buchstaben anders, zum Beispiel:

a n t e n,

so ergibt das Ganze:

Diamanten!

Die fünf Buchstaben waren also anders geordnet, und zwar, wenn man die Buchstaben numeriert:

a n t e n
1 2 3 4 5

in der Reihenfolge 2 5 3 1 4 - n n t a e. – 2 5 3 1 4 ist also der Schlüssel, wie folgende Probe des Anfangs des Spruches zeigt:

U t ch s s - 2 5 3 1 4

ergibt in richtiger Reihenfolge: s u ch s t - suchst! – Nun immer weiter fünf Buchstaben in derselben Weise behandelt bringt die Lösung:

Suchst Du die Diamanten, so lasse die
Tasse falln, und Du wirst klüger sein!“

„Das hätte ich nie rausgekriegt!“ meinte Abraham Drywater ehrlich. „Offen gesagt: die Lösung ist eine böse Enttäuschung für mich. Was heißt das: „– so lasse die Tasse falln“ –?!“

Harald erwiderte nichts, ging zum Schreibtisch und schrieb die Lösung mit Tinte auf ein Blatt Papier, trocknete die Schrift mit dem Löscher und faltete den Zettel zusammen. Dann wandte er sich an Drywater:

„Ich konnte den Vertrag mit den beiden deshalb getrost schließen, weil ich wußte, daß die Lösung ihnen nichts nützt.“

Und wieder sah er nach der Uhr. „Fünf Minuten nach halb elf! – Schraut – Licht aus!“

Ich schaltete die Krone aus, und Drywater und ich traten neben Harst an das offene Fenster.

Harald hatte den Zettel in der Rechten, in der Linken die dicke, plumpe Obertasse.

Wir sahen unten vor dem Hause eine Dame und einen Herrn stehen. Sie blickten zu uns empor.

„Achtung!“ rief Harald leise.

Dann warf er den Zettel hinab, den die Dame sofort aufhob. Die beiden eilten dann nach rechts einem Auto zu, das sie zu erwarten schien.

Da – Harst rief nochmal etwas:

„Die Tasse müssen Sie mitnehmen!“

Die beiden stiegen schon ein, und das Auto setzte sich in Bewegung.

Und nun – nun geschah das Seltsame – Unglaubliche: Harst schleuderte die Tasse auf die Straße, wo sie in tausend Scherben zerschellte.

Lachend drehte er sich nach uns um:

„Meine Schuld ist es nicht, daß die beiden mit dem halben Geheimnis jetzt davonsausen! Ich wollte ihnen die Tasse mit auf den Weg geben! – Schraut – Licht! Dann hinab auf die Straße!“

Und auf dem Fahrdamm mitten zwischen den Scherben lag da ein – ein rundes Stück Silberblech.

Das hob Harald auf.

„Dies hier ist das Geheimnis der Tasse,“ meinte er schmunzelnd. „Als ich sie in der Hand hatte, bevor wir niedergeschlagen wurden, hielt ich sie gegen das Licht. Sie war dick, aber feinstes, durchsichtiges Porzellan. Nur der Boden, sah ich, war undurchsichtig. In den Boden war also etwas mit eingeschmolzen – dieses Stück Silberblech! Deshalb auch Wilcwords Weisung, man solle die Tasse fallen lassen.“ –

Oben in Hollers Sprechzimmer fanden wir in das Silberblech folgendes tief eingekratzt:

„Im Garten meines Hauses in der Lincolnstraße im hintersten Winkel der Tropfsteingrotte ein Meter in der Erde liegen meine Diamanten, die ich dem schenke, der sie findet. Hoffentlich findet sie niemand.“

„Ich habe sie gefunden – für Inge Wilcword,“ sagte Harald kurz. „Fahren wir jetzt zu mir nach Hause. Nun kommt nach vier Stunden Frist der zweite Trumpf heran!“

Nach vier Stunden, um fünf Minuten nach halb drei morgens, gingen wir zu unserem kleinen Gefangenen in den Keller hinab.

Alles war zwischen uns genau vereinbart worden. Joseph Gromper wurde nach oben in Haralds Arbeitszimmer gebracht. Er bekam zu essen und zu trinken. Harst ließ ihn dann eine Weile allein. Ich wartete schon mit Drywater draußen auf der Straße, jeder ein Fahrrad bereithaltend.

Der kleine Bengel sprang denn auch wirklich zum Fenster hinaus, entfloh.

Wir blieben unbemerkt hinter ihm. Wir hofften, daß er uns zu dem Unterschlupf Eva Wilcwords führen würde.

Der Junge machte nach halbstündiger Wanderung in der Krummen Gasse in Charlottenburg vor einem älteren Hause mit niedrigen Parterrefenstern halt und klopfte hier an den Rolladen des einen Fensters.

Der Rolladen wurde sofort etwas hochgezogen.

Wir sahen im offenen Fenster den Kopf eines kleinen blonden Mädchens.

„Inge!“ flüsterte Drywater. „Inge Wilcword!“

So – fanden wir John Wilcwords Tochter, fanden aber im übrigen das Nest leer. Eva, Holdstein und die übrigen noch auf freiem Fuße befindlichen Mitglieder der Bande hatten bereits das Weite gesucht und Inge in den beiden hier gemieteten Zimmern allein gelassen, da das Kind ihnen nur noch lästig gewesen wäre. –

Hiermit kann ich die Geschichte der Wilcwordschen Familientasse schließen. Daß die Diamanten in der Tropfsteinhöhle wirklich vergraben waren, dürfte der Leser aus den Zeitungsberichten wissen, ebenso, daß Harald keinerlei Anspruch auf die Edelsteine erhob.

Aber – nicht schließen kann ich die Geschichte des Rachefeldzuges Eva Wilcwords und Xaver Holdsteins gegen Harst und mich.

Doch – das ist ein neues Kapitel unserer Erlebnisse. Dieses Kapitel beginne ich in dem übernächsten Band, da wir, bevor Eva und Holdstein sich wieder meldeten, noch die dunklen Geschehnisse auf dem Wannsee bei Berlin aufzuklären hatten.

 

Nächster Band:

Das Geheimnis des Wannsees.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































1–6:
7:
8:
9:
10:
11:
12:
13:
14:
15:
16:
17:
18:
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27:
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30:
31:
32:
33:
34:
35:
36:
37:
38:
39:

vergriffen.
Zwei Taschentücher.
Die Jagd auf einen Namen.
Die Augen der Jolante.
Der Fluch eines Geschlechts.
Die verschwundene Million.
Die Festung des Ali Azzim.
Die tote Lady Rockwell.
Der Fakir von Nagpur.
Der blinde Brahmane.
Das Auge der Prinzessin Singawatha.
Das Löschblatt von Amritsar.
Die leuchtende Fratze.
Schattenbilder.
Der Löwe von Flandern.
Der ewige Jude.
Das Armband der Lady Mellville.
Die Rätselbrücke.
Der Einsiedler von Tristan da Cunha.
Das Siegellacktröpfchen.
Die Gesellschaft der roten Karten.
Die Uhrkette des Bill Hamilton.
Der Tempel der Kali.
Nur ein Tintenfleck.
Der Stern von Siam.
Eine leere Streichholzschachtel.
Der sprechende Kopf.
Das Geheimnis des Scheiterhaufens.
Die Gefangene von Trawalkor.
Die Eishöhle in Nepal.
Der Mord im Warenhause.
Der Spielklub W W.
Ein gefährlicher Auftrag.
Der sterbende Fechter.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Hans“. Nur in Heft 87, 89 und 90 heißt der Kriminalkommissar Bechert „Hans“ mit Vornamen. Dagegen in allen anderen Heften davor und danach „Fritz“. Bandübergreifend und einheitlich auf „Fritz“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „unr“.
  3. In der Vorlage steht: „hochparterre“.