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Das Geheimnis des Wannsees

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 88:

 

Das Geheimnis des Wannsees

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Sportfreunde werden sich noch der großen Erregung in Segler- und Ruderkreisen erinnern, die vor einem Jahr durch die rätselhaften Diebstähle auf und am Wannsee bei Berlin hervorgerufen wurde.

Damals gab es kaum ein Klubhaus, kaum eine Jacht, kaum ein Wohnschiff, die nicht in den Frühjahrswochen ausgeplündert wurden und dies mit einer Frechheit, Rücksichtslosigkeit und einem Geschick, von denen die Behörden ebenso verblüfft waren, wie sich ihre Machtmittel zur Unterbindung dieses Treibens einer offenbar tadellos geleiteten Einbrecherbande als unzulänglich erwiesen.

Wir, Harst und ich, waren damals mit einer anderen geheimnisvollen Sache derart beschäftigt, daß wir kaum Zeit fanden, einen Blick in die Zeitungen zu werfen. Diese uns so stark in Anspruch nehmende mysteriöse Angelegenheit, die ich in dieser Zusammenstellung von Harald Harsts Abenteuern leider nicht aufnehmen kann, da politische Dinge dabei mitspielten, war am 15. Mai glücklich erledigt. Die Schuldigen saßen in Untersuchungshaft, und wir beide konnten nach dieser Hetzjagd wieder etwas Luft schöpfen.

Harald hatte der alten Köchin seiner Mutter am 15. abends strenge Anweisung gegeben, jeden Besucher in den nächsten drei Tagen erbarmungslos abzuweisen und zu erklären, wir seien noch in Petersburg.

Am 16. morgens acht Uhr kam ich in den großen Gemüsegarten, der sich hinter dem Harstschen Familienhause bis an ein Laubengelände hinzieht.

Ich hatte mit Frau Auguste Harst, Haralds Mutter, auf der Veranda Kaffee getrunken und meine mütterliche Freundin hatte mir erklärt, Harald sei bereits im Garten mit Kalken der Obstbäume beschäftigt. Er hatte mit dieser Arbeit bereits gestern begonnen, gleich nach unserer Rückkehr aus Rußland.

Ich schlenderte den Hauptweg entlang. Nachdem ich die großen Fliederbüsche umgangen hatte, sah ich Harald vor dem ältesten und dicksten unserer Kirschbäume stehen, den Kalkpinsel in der Rechten, im Mundwinkel die leicht qualmende Mirakulum.

Er stand und starrte regungslos auf den prächtigen, glatten Stamm, den er schon gestern abend geweißt hatte.

Sein feines energisches Profil hob sich scharf gegen den hellen Hintergrund des Baumes ab.

Wie so oft dachte ich jetzt, welch prächtige imponierende Erscheinung mein Freund selbst in dem befleckten Arbeitsanzug doch war.

Er hatte meine Schritte gehört und sagte, ohne sich zu regen:

„Lieber Alter, es gibt immer noch Leute, die den Weg zu mir zu finden wissen, selbst wenn ich der alten Mathilde befehle, sogar den König von Siam abzuweisen.“

Ich wurde aufmerksam. Wie kam Harald ausgerechnet auf den König von Siam?! Und – wer hatte den Weg zu ihm gefunden?

Unwillkürlich folgte ich der Richtung seiner starren Blicke.

Da – die zweite Überraschung: in die Kalkschicht der Baumrinde war offenbar mit einer glatten Nadel etwas eingeritzt – eine Skizze einer Landschaft.

„Ja,“ meinte Harald, „das hat jemand in der verflossenen Nacht getan. Ich hatte den Kalkeimer und den Pinsel hier am Kirschbaum stehen lassen, und da hat der Zeichner dieser Skizze wohl gehofft, ich würde die Skizze heute morgen bemerken. Hieraus geht wieder hervor, daß ich gestern abend bei der Kalkarbeit beobachtet worden bin. Du verstehst: hätte ein Gärtner die Bäume hier gekalkt, würde der „Zeichner“ kaum damit haben rechnen können, daß sein Werk beachtet würde. Aber er sah mich mit dem Pinsel hantieren, sah, daß ich Eimer und Pinsel hier zurückließ, und wartete, bis es dunkel und der Kalk getrocknet war. Dann ging er an die Arbeit.“

Ich trat näher und besichtigte die Zeichnung.

„Hm, was mag das darstellen sollen, Harald?“

„Den Wannsee, mein Alter. Dies hier ist die Bahnlinie Berlin–Wannsee, dies die Autorennbahn, dies der Vorort Nikolassee[1], hier die Brücke, die den Großen und Kleinen Wannsee trennt, und die –“ – er machte eine Pause.

Ich bückte mich.

„Ah – dies ist ein Kreuz am Westende des Kleinen Wannsees, ein Kreuz mitten im Wasser, und drei punktierte Linien führen aus Nord, Süd und West von den Ufern zu dem Kreuz. Neben den punktierten Linien stehen Zahlen.“

„Stimmt – Zahlen! Also stellen die Linien Entfernungen dar. Das Kreuz liegt nach der Skizze 80 Meter vom Westufer, 17 Meter vom Nordufer und 200 Meter vom Südufer entfernt. Dort, wo die Linien das Ufer treffen, sind einzelne Bäume angedeutet, wahrscheinlich sehr hohe Bäume, die man leicht findet. Das wäre alles. Das heißt: nicht alles, denn der „Zeichner“, um auch dies zu erwähnen, ist ein Weib mit sehr kleinen zierlichen Füßen gewesen, ein aschblondes Weib mit tadellos gepflegten Händen und einem silbernen Handtäschchen von feinem Geflecht.“

Ich war über diese Angaben keineswegs überrascht. Wer Haralds Freund und steter Begleiter ist, gewöhnt sich das Staunen bald ab. Und ich hatte nun bereits fünf Jahre Zeit gehabt, das Staunen zu verlernen und anderes hinzuzulernen, so etwas von Haralds feiner Kunst.

Ich besichtigte also den Boden um den Baum herum. Sehr bald fand ich auch die Fußspuren der Zeichnerin. Allerdings, das war ein winziger, schmaler Stiefel, ein Stiefel mit Gummiabsätzen, die ohne Frage ganz frisch untergeschlagen waren, denn an einer Stelle hatte sich dieser Absatz so scharf in einer Kalklache abgedrückt wie ein Stempel. Ich konnte sogar entziffern, daß die Gummiabsätze den Namen „Ideal“ trugen.

Neben dem Baume in einer anderen Kalklache aber sah ich ein feines Gittermuster eingepreßt. Hier hatte die Frau ihr Handtäschchen niedergelegt gehabt.

Harald sagte jetzt: „Zwei aschblonde Härchen hängen da in der rissigen Rinde, lieber Schraut. Es war windig in der Nacht, und da hat der mutwillige Wind sie dort festgeklemmt. Hier aber in der Kalkschicht des Baumes hat die Frau den Abdruck ihrer linken Hand zurückgelassen, als sie sich an den Stamm stützte. Du siehst, daß die Fingernägel sehr lang und spitz geschnitten waren. Die Nägel haben nur winzige Punkte hervorgerufen. Die Hände der Frau entsprechen den Füßen: klein, schmal, wohlgeformt. Diese Frau ist noch jung und sportgeübt. Sie hat dort links den Zaun überklettert und ist von oben herabgesprungen. Die Spuren ihrer Kletterpartie zeigen, daß ihr dies keine Mühe gemacht hat.“

„Das wären also die Tatsachen,“ meinte ich. „Nun kommt die Theorie.“

„Noch nicht alle Tatsachen, mein Alter. Gestern abend im Bett las ich noch die angesammelten Zeitungen. Auf dem Wannsee haust seit vierzehn Tagen eine Diebesbande. Du kannst die Artikel nachher durchsehen. Diese Diebstähle könnten mit dieser Skizze in Zusammenhang stehen.“

„So?! Inwiefern?“

„Das wirst Du in der kommenden Nacht schon merken. Wir werden unsere Erholungstage in Wannsee zubringen.“

„Nette Erholungstage werden das sein!“

„Fraglos, mein Alter. Und interessante. Die Artikel über die Diebstähle verraten mir so manches. Man muß nur zu kombinieren wissen. – Komm’, rüsten wir uns für Wannsee. Diese Skizze habe ich bereits abgezeichnet. Das Blatt liegt in meiner Brieftasche. Wir werden als schwedische Vergnügungsreisende in Wannsee uns einmieten, als Maler. Schwedische Gäste sind in Deutschland stets beliebt gewesen.“ –

Um zehn Uhr verließen zwei blondbärtige Herren mit würdigen Hornbrillen das Harstsche Haus durch den Garten, bogen, ihre Koffer tragend, in den Weg am Laubengelände entlang ein und nahmen am Ende der Blücher Straße ein Auto, das sie zum Bahnhof Charlottenburg brachte.

Die beiden Herren waren Harst und meine Wenigkeit, Max Schraut, ehemals Schmierenkomödiant, jetzt Freund und Privatsekretär einer Weltberühmtheit.

 

2. Kapitel.

Die schwedischen Maler Hörgar und Schlottgör mieteten am Nordufer des Kleinen Wannsees bei der verwitweten Frau Oberwachtmeister Müllbrodt zwei Zimmer im Erdgeschoß des bescheidenen Häuschens, zahlten[2] für acht Tage voraus und mieteten nachher ebenfalls für acht Tage von einem Bootsverleiher eine hübsche Jolle, hinterlegten als Sicherheit eine stattliche Summe und durften die Jolle daher an dem zum Garten der Frau Müllbrodt gehörigen Bootssteg vertäuen. Sie sprachen das Deutsche etwas fehlerhaft, machten aber einen so vertrauenerweckenden Eindruck, daß selbst der mürrische Verwalter des Klubhauses des Seglervereins Poseidon, den sie von ihrer Jolle aus nachmittags ansprachen, mit ihnen eine halbstündige Unterhaltung führte, bei der Hörgar-Harst den braven Mann gehörig über die näheren Umstände des vorgestern im Klubhause begangenen Einbruchs aushorchte.

Dann segelten wir weiter.

„Der überaus scharfe Wachhund der Poseidon-Leute ist also ebenfalls erwürgt worden, ohne vorher großen Lärm verübt zu haben,“ meinte Harald nachdenklich. „Es ist der vierte Hund, der so von den Dieben beseitigt wurde. Und auch diesmal haben die Diebe die Hälfte der Ehrenpreise des Klubs stehen lassen, obwohl es alles wertvolle Silbersachen waren. Sehr merkwürdig.“

„Gewiß. Weshalb nahmen sie nicht alles mit? War ihnen die Beute zu schwer, zu schlecht wegzuschleppen?“

Harald antwortete nicht.

Wir fuhren unter der Brücke hindurch in den Großen Wannsee.

Jacht an Jacht lag hier verankert. Ein Dampfer der Stern-Gesellschaft rauschte vorüber – mit einem Verein an Bord, mit fröhlichen Menschen, alle den Maitaumel in den Augen.

Und über dem wald- und villenumkränzten See die strahlende Sonne; das Freibad Wannsee bereits überfüllt. Männlein und Weiblein im Badetrikot drängten sich dort am hellen Ufer zusammen – eine Symphonie der Lebenslust, des Lebenstriebes.

Da sagte Harst vom Steuer her in seiner träumerischen Ruhe:

„Du wirst drüben in Nikolassee aussteigen und eine Wäscheleine von dreißig Meter Länge kaufen, ebenso ein Dutzend starke Hechtangelhaken und Draht.“

Das war wie ein eisiger Guß für meine Stimmung.

Meine Gedanken kehrten zu der Skizze und unserem Vorhaben zurück. Wie durch einen Blitzstrahl war mir jetzt die Erkenntnis gekommen, daß wir in der Nacht an der durch das Kreuz bezeichneten Stelle im Kleinen Wannsee mit der Leine und den Hechthaken nach irgend etwas angeln würden, das auf dem Grunde des Sees ruhte.

Harald hatte mein Gesicht beobachtet und sprach vor sich hin – gleichsam als Ergänzung meiner Gedanken:

„Nach der Beute!“

Ich schaute ihn an – verwirrt, fast beklommen. Bisweilen war’s mir fast unheimlich, wie gut er meine Gedanken erriet.

„Also nach der Beute!“ wiederholte ich unwillkürlich.

„Ja, mein Alter, nach der Diebesbeute. Nach den gestohlenen Klubpreisen, nach den Bechern und Pokalen, den silbernen Sektkühlern und –“

Er schwieg plötzlich, scheinbar ohne Grund.

Aber meine Augen folgten nun der Richtung der seinen.

Da kam eine Motorjacht daher, ein blitzsauberes, elegantes Fahrzeug.

Am Steuer eine Dame im Seglerdreß – aschblond, jung, totenblaß.

Oh – wie vergrämt sie aussah! Und doch wie maßlos stolz. Kein Blick streifte uns. Wir waren Luft für sie.

Die Jacht fuhr sehr schnell. Der Wasserschwalch hinter ihr ließ unsere Jolle tanzen.

„Ein seltsamer Name,“ meinte Harald nun.

Da wurde mir erst klar, daß ich ja ebenfalls den Namen der schlanken Jacht gelesen hatte:

Hagen von Tronje!

Schulerinnerungen tauchten auf – Nibelungensage – der finstere Hagen von Tronje, der erbarmungslose, Werkzeug der Rache eines blutlüsternen Weibes!

„Allerdings – ein merkwürdiger Name für eine Jacht,“ nickte ich.

„Und das Gesicht der Frau!“ murmelte Harald.

Dann legte er plötzlich das Steuer herum. Unsere Jolle neigte sich unter dem Winddruck, schoß dann hinter der Motorjacht drein, die freilich den Brückenkanal bereits passiert hatte.

Als wir wieder in den Kleinen Wannsee gelangt waren, mußten wir lange nach ihr Ausschau halten, bevor wir sie entdeckten. Sie lag am Südufer unweit einer neuen kleinen, blendend weiß gestrichenen Anlegebrücke vor Anker. Von der blassen Frau war nichts mehr zu sehen.

Die Brücke gehörte offenbar zu einer ebenfalls neuen Villa, die oben auf der Uferhöhe zwischen Buchengrün hervorlugte. Eine Holztreppe schlängelte sich von da oben zur Ufermauer hinab. In der Mauer war eine Pforte, durch die man auf die Anlegebrücke kam. Die Pforte war geschlossen. Auf der Jacht Hagen von Tronje regte sich nichts.

Wir kreuzten zum Nordufer hinüber, vertäuten unsere Jolle am Bootssteg unserer Wirtin und fanden diese im Garten bei ihren Spargelbeeten beschäftigt.

Die Frau Oberwachtmeister Müllbrodt war einer Unterhaltung nicht abgeneigt. Harald kam sehr bald auf die neue Villa drüben am Südufer zu sprechen.

„Ach – die!“ sagte die alte hagere Frau wegwerfend. „Die gefällt Ihnen, Herr Hörgar? – Kriegsschieber!“

Wie verächtlich das klang.

„Ripplow heißt der Besitzer, Fritz Ripplow! Eine Schande ist’s, daß der hier in Wannsee sich hingeprotzt hat.“

Hingeprotzt – nicht schlecht gesagt! Ein Protz, der sich irgendwo protzig ankauft, protzt sich hin! – Ich lächelte.

Harst blieb ernst.

„Der Ruf des Herrn ist also nicht gut?“ meinte er.

„Gut – gut?! Miserablicht is er!“ ereiferte die Frau Gendarmerieoberwachtmeister sich. „Drei Monate hat er in Untersuchungshaft gesessen. Aber der is schlauer als alle Staatsanwälte. Den haben sie wieder laufen lassen müssen. Kanonen soll er nach der Polackei verschoben haben, und so mit Landesverrat war auch was dabei.“

Harst blickte durch die Bäume über den im Sonnenlicht gleißenden See zu der Villa hinüber.

„Da sehe ich eine Dame im Garten,“ sagte er lebhafter. „Wohl Ripplows Frau?“

Er log. Von einer Dame war keine Spur zu bemerken. Aber er erreichte seinen Zweck.

„Ne, der olle Schieber is Witwer und hat nur eine Tochter,“ erklärte die Witwe sofort. „Das arme Ding kann einem leidtun, Herr Hörgar. Mit dem Ripplow is nicht zu spaßen.“

„Inwiefern denn, Frau Müllbrodt?“

„Na, da darf keiner mucksen, auch die Irene nicht. Sie ist übrigens da in Asien wo geboren, in so ’nem Negerstaat. – Saim oder so ähnlich heißt das Land.“

„Sie meinen wohl Siam, liebe Frau Müllbrodt!“

Ah – Siam – Siam! – Ich horchte auf. Harald hatte ja heute morgen den König von Siam in eine Bemerkung mit eingeflochten. War das ein Zufall gewesen? Oder hatte er bereits gewußt, daß die „Zeichnerin“ diese Irene Ripplow gewesen und daß sie in Siam das Licht der Welt erblickt hatte? –

„Ja – ja! Siam – Siam! Das ist’s!“ rief unsere Wirtin hastig. „Der Ripplow war dort in jungen Jahren als Kaufmann tätig. Seine Villa drüben soll ganz vollgepropft mit allerlei ausländischem Kram sein. Und Viehzeug hält er sich, sag’ ich Ihnen, Herr Hörgar, – Schlangen, Affen, zwei Panther und all so ’ne gruseligen Biester.“

Harald rauchte gedankenvoll ein paar Züge aus seiner Mirakulum.

„Er hat hier wohl gar keinen Verkehr?“ meinte er nun, indem er sich bückte und einen Spargelkopf freilegte.

„Der?! Nein! Wer würde mit dem verkehren! All seine Bekannten haben sich von ihm zurückgezogen.“

Harald nahm das Spargelmesser und schnitt den Spargel kunstgerecht ab.

Dann gab er Frau Müllbrodt allerlei gute Ratschläge, wie man die gestochenen Spargel am besten frisch erhielte. Das Thema Ripplow war für ihn erledigt. Er wußte eben wahrscheinlich genug.

Als wir dann unser Wohnzimmer betraten, als Harst sich in einen der alten hohen Rohrsessel warf und behaglich die Beine weit von sich streckte, fragte ich, indem ich mich dicht vor ihm aufpflanzte:

„Ist Irene Ripplow die Zeichnerin?“

Er lächelte mich an.

„Hast Du’s also gemerkt?“

„Ja. Der König von Siam machte mich stutzig.“

Da faßte er in die Tasche, holte seine elegante Juchtenbrieftasche hervor und reichte mir ein Elfenbeinstäbchen, das an einem Ende spitz zulief, während das andere sich verbreiterte und entzückende Schnitzereien zeigte.

„Dies Stäbchen fand ich neben dem Kirschbaum, mein Alter.“

„Ja – ein siamesisches Eßstäbchen!“ nickte ich. Und nun wußte ich, wie er auf den König von Siam gekommen war.

„Man hat es zum Einritzen der Zeichnung benutzt,“ meinte er versonnen. „Und dann verlor man es. So kam es mir in die Hände. Ich glaube, wir gehen nicht fehl, wenn wir nach alledem annehmen, daß Irene Ripplow gestern nacht bei uns im Gemüsegarten war.“

Ich setzte mich in den andern Rohrsessel.

Harald sprach weiter: „Ich weiß, Du willst jetzt mit Fragen über mich herfallen. Du willst mich darauf aufmerksam machen, daß ein Mann von dem Reichtum dieses Ripplow es nicht nötig hat, Einbrecher zu spielen. Spare Dir das alles und hole uns die Leine, die Hechthaken und den Draht. Ich habe anderes zu tun. Ich werde die ausgeplünderten Klubhäuser besuchen, werde als Schwede Interesse für deren Einrichtung heucheln und dabei alles erfahren, was ich zu wissen wünsche. Der Fall der Baumrindenzeichnung liegt für mich ziemlich klar. Ich möchte mir meine Theorie nur noch von anderer Seite bestätigen lassen.“

Er erhob sich. Ich fragte nichts mehr. Es wäre zwecklos gewesen. Harst spricht nur, wenn er will.

Ich trennte mich von ihm, nachdem wir noch ein Stück die Straße entlanggegangen waren.

An der Chaussee fand ich ein Geschäft, wo ich meine Einkäufe erledigen konnte.

Der Inhaber war eine geschwätzige Seele. Vom Angelsport kamen wir auf den Fischreichtum des Wannsees zu sprechen, vom Kleinen Wannsee auf die Villen, von den Villen auf die Neubauten und auf Fritz Ripplow.

Aber – seltsam! – hier bei dem Inhaber des Kramladens fand ich eine etwas andere Beurteilung der Person Ripplows, eine mildere, gerechtere vielleicht.

Hier hieß es nicht so verächtlich „Schieber“! sondern „großzügiger Geschäftsmann“, den Konkurrenzneid in Ungelegenheiten gebracht hätte.

Hier hörte ich, daß man Ripplows Vermögen auf etwa eine Milliarde Papiermark schätzte.

Als ich wieder im Häuschen Mutter Müllbrodts eintraf, war Harald noch nicht da. Er hatte mich noch gebeten, von der Post aus seiner Mutter telephonisch unsere hiesige Wohnung anzugeben. Ich begab mich also zum Postamt. Kaum hatte ich mich durch „Max“ als Max Schraut der alten Köchin zu erkennen gegeben, als sie schon rief:

„Eine junge Dame war nachmittags um drei Uhr hier. Ich wollte sie abweisen. Aber sie flehte so lange, bis ich sie der gnädigen Frau meldete. Ich sah noch, wie sie sich ihr zu Füßen warf und hörte, wie sie rief: „Frau Harst, ich muß Ihren Sohn sprechen! Mein Leben hängt davon ab!“ – Die gnädige Frau hat ihr jedoch, eingedenk der Warnung Herrn Haralds, nicht verraten, wohin Sie beide gereist sind und sagte „ins Ausland“. Wohin, wüßte sie selbst nicht. Da schlich die Blonde ganz gebrochen davon.“

Ich dachte sofort am Irene Ripplow.

„Trug die Dame eine weiße Wollmütze und ein blaues Sportkostüm?“ fragte ich rasch.

„Ja – ja! Und aschblond war sie, und so blaß – so recht wie eine, die großen Herzenskummer hat.“

Ah – also wirklich Irene Ripplow! –

Als ich Harald dies alles mitteilte – er saß schon im Garten beim Abendbrot –, legte sich seine Stirn in tiefe Falten.

„Hoffentlich ereignen sich keine weiteren Zwischenfälle,“ meinte er. „Irene Ripplow ist offenbar mit der Jacht bis Berlin gefahren. Als wir sie trafen, muß sie sich auf dem Rückweg befunden haben. Wenn ich sie nur sprechen könnte!“

Von Westen her kam jetzt abermals ein dumpfes Grollen herüber.

Ein Gewitter zog auf. Zehn Minuten später war der Himmel pechschwarz. Ein Windstoß fuhr heulend durch die Bäume als Vorzeichen des kommenden Regens.

Frau Müllbrodt stürzte herbei.

„Was – die Herren sitzen noch hier unter der Eiche?!“ rief sie entsetzt und stellte flink das Geschirr auf ein Riesentablett. „Ich werde in Ihrem Wohnzimmer decken. Sie sollen sich in Ruhe satt essen –“

„Wir sind satt, liebe Frau Müllbrodt. Wir werden mit der Jolle ein wenig spazieren[3] fahren,“ sagte Harald und blinzelte mir zu.

Frau Müllbrodt starrte uns entgeistert nach. Wir holten unsere Gummimäntel und Ölhüte.

Als wir die Jolle losmachten, zerriß ein Bündel von Blitzen den schwarzen Horizont, und in geisterhafter Beleuchtung tauchte für einen Moment drüben das andere Ufer auf – die Jacht Hagen von Tronje und ein Teil der neuen Villa Fritz Ripplows.

Es goß in Strömen jetzt. Harald ruderte. Sehr bald legten wir am Ripplowschen Bootsstege an.

 

3. Kapitel.

Und wir stiegen aus, vertäuten die Jolle.

Wie die Einbrecher benahmen wir uns, kletterten auf die Mauer, sprangen auf den Kiesweg hinab.

„Es werden Hunde vorhanden sein,“ flüsterte Harst. „Jetzt halten sich alle Villenbesitzer Hunde.“

Wir standen und starrten in die regendurchpeitschte Finsternis hinein.

Dann ging Harald voran die gewundene Holztreppe empor.

Der Uferberg hatte drei Terrassen, deren Böschungen mit großen Steinen belegt waren, zwischen denen man exotische Riesenfarne angepflanzt hatte.

Nun befanden wir uns auf der zweiten Terrasse. Nun legte sich Haralds Hand mit eisernem Druck um meinen Arm.

Da kam etwas Dunkles dicht am Boden entlanggekrochen – etwas wie ein Schatten, der über den hellen Kies glitt.

Da hörte ich Harsts gehauchte Warnung:

„Ein Panther!“

Die grünen Lichter der Katzenbestie verharrten jetzt regungslos.

„Lupa tao!“ sagte Harald plötzlich halblaut, aber die Worte energisch redend.

Und – wie so oft eine Kleinigkeit in uns längst versunkene Erinnerungsbilder hervorzaubert, taten’s bei mir diese beiden siamesischen Worte.

In Bangkok, der Hauptstadt Siams, hatten wir vor zwei Jahren eine gefährliche Abenteurerin bekämpft. In Bangkok auf dem gelben Menam-Flusse hatten wir im Wohnboot seltsame Dinge erlebt. In Bangkok hatten wir den Künsten einheimischer Raubtierdresseure zugeschaut, hatten dabei oft den Zuruf „Lupa tao!“ gehört – „leg’ Dich!“

Und hier nun – hier versuchte Harald, ob der Panther auf den Befehl achten würde.

Ich sah, wie das grünliche Schillern der Pantheraugen in raschem Farbenspiel in ein leuchtendes Rot überging.

Und abermals Harsts Befehl:

„Lupa tao!“

Der Panther lag auf dem Bauch, pendelte mit dem Schweife hin und her. Das Rot in seinen Augen blieb. Seine Angriffslust war durch den Befehl in der Sprache seiner fernen asiatischen Heimat verflogen.

Zum dritten Male Haralds Stimme:

„Paschwa tao!“ („Scher’ Dich!“)

Der Panther kroch davon, verschwand.

Harald atmete tief auf.

„Weiter!“ flüsterte er. „Fritz Ripplows vierbeinige Wächter sind uns ungefährlich.“

Wir kamen auf die oberste Terrasse.

Wieder ein Blitz.

Wieder für den Bruchteil einer Sekunde geisterhaftes Licht.

Und – wieder Haralds Finger um meinen Arm.

„Links!“

Ich blickte hin. Die Helle erlosch schon.

Ich sah eine Kulisse von Tannen, dahinter in der Steinböschung eine Grotte, mit breiten Glastüren, Gitterstäbe vor den matten Scheiben.

Dann wieder die drückende Finsternis, die Regenfluten, die uns umrauschten, und der keuchende Donner der elektrischen Entladung.

Aber – hinter den matten Scheiben dort schimmerte Licht – ganz schwach.

Dort brannte eine Lampe, dort befanden sich vielleicht Menschen.

Harst glitt auf die hohe, breite Gartentür zu. Ich blieb dicht hinter ihm.

Nun standen wir im Trocknen, über uns die Steinwölbung, vor uns die matten Scheiben.

Haralds Dietrich suchte das Schlüsselloch. Aber der Schlüssel steckte von innen.

Er schob den Dietrich in die Tasche zurück, holte die kleine Zange mit den Löffelwangen hervor, stellte sie auf die Weite des Schlüsselloches ein und drehte den Schlüssel langsam zweimal herum.

Seine Hand legte sich auf den Messingdrücker der Tür. Er öffnete sie nur gerade so weit, daß er den Kopf hindurchstecken konnte.

Dann zog er sie vollends auf.

„Schnell – hinein!“

Ich drückte mich an ihm vorbei. Ich stand – staunte. Meine Augen weiteten sich.

Ein Palmenhaus war diese Grotte, ein Traum von Eigenart und Schönheit.

Tropische Pflanzen überall. Die Luft feuchtwarm, erfüllt von betäubenden Blütendüften. Über schlanken Palmen ein künstlicher Sternhimmel – unzählige Glühbirnen. Verschlafene Papageien auf den Zweigen der Bäume. In der Ferne das Schluchzen einer Bul-Bul, der indischen Nachtigall. Geradeaus ein breiter Weg, ein Springbrunnen mit uralten Marmorfiguren, Götzenbildern.

Harst neben mir – ganz andächtig:

„Der Mann hat Geschmack. Der Mann ist kein „Raffke“ oder „Neureich“ der Witzblätter!“

In diese Zauberwelt drang kein störender Laut des Tobens der Elemente da draußen herein. Hier war Frieden, Stille, Stimmung.

Harald zog mich nach links in einen schmalen Seitenweg. Weißer Seesand knirschte kaum vernehmlich unter unseren schleichenden Schritten.

Nun lag der Springbrunnen rechts von uns. Nun sahen wir auf der weißen Bank die Gestalt eines Weibes.

Irene Ripplow!

Sie saß ganz vornübergebeugt, die Arme auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben.

Sie saß wie eine Statue. Und neben ihr – lag in einem Kinderwagen mit herabgeklapptem Verdeck ein winziges Menschlein, ein Säugling, den Daumen im Munde, selig schlummernd. –

Harsts Atem ging hörbar. Irgend etwas mußte seine Seele bis auf den Grund erregen.

Dann:

„Armes Weib!“

Und das gab mir Klarheit.

„Ripplows Frau – nicht seine Tochter?“ flüsterte ich zurück.

Die Bul-Bul schluchzte ihr wehes Lied dort drüben in den Büschen. Wie oft hatte ich dem Gesang des kleinen Nachtvögleins in indischen Gärten gelauscht – wie oft!

Hier war das wehe Lied wie eine erhabene Begleitmusik zu dem tiefen Schmerz der jungen Mutter, die da in namenloser Verzweiflung wie versteinert verharrte. –

Harald winkte. Wieder bogen wir links ab, kamen endlich an die zweite Tür des Grottenhauses. Wieder eine vergitterte Glastür. Und Harst drehte den Schlüssel herum, schloß ab. Nun waren wir mit Irene Ripplow allein.

Harst kehrte zu dem Springbrunnen zurück.

Unsere Schritte, nicht mehr gedämpft durch die Absicht, unbemerkt zu bleiben, ließen Irene aufblicken.

In ihren Augen war ein müdes Staunen – nichts weiter.

Harald blieb vor ihr stehen, zog den nassen Ölhut.

„Sie waren heute nachmittag bei mir,“ sagte er schlicht. „Nun bin ich hier.“

Auch ich verbeugte mich.

Irene lehnte sich zurück. Ihr feines Gesicht blieb starr.

„Ich verstehe Sie nicht, mein Herr,“ erwiderte sie, und ihr Mund war Hochmut, ihr Ton abweisende Kälte. „Wer sind Sie? Ich begreife nicht, wie Sie hier haben eindringen können.“

Harst nahm eine zwanglose Haltung an.

„Sie scheinen Ihren Weg zu mir zu bereuen,“ meinte er bedächtig. „Ihr Leugnen ist zwecklos. Sie waren es, die die Skizze in die Kalkschicht des Baumes mit der Spitze eines siamesischen Eßstäbchens einritzte. Sie waren es, die heute meine Mutter anflehte, Ihnen mitzuteilen, wo ich weilte. Sie brauchten mich also, um irgend ein Unheil zu verhüten, nehme ich an.“

Sie zuckte kaum merklich die Achseln.

„Wollen Sie mir nicht endlich erklären, wer Sie sind!“ sagte sie hart und fast drohend.

„Vielleicht werden Sie diese Szene einst noch mehr bereuen als die Tatsache, mich aufgesucht zu haben,“ meinte Harald mit warmer Freundlichkeit. „Sie sollten lieber Vertrauen zu mir haben. Meine Brust birgt Geheimnisse, die wohl noch tragischer als das Ihre sind, und mein Freund Schraut versteht das Schweigen ebenso gut wie ich.“

Ein Papagei kreischte im Schlafe auf. Andere wurden munter, meldeten sich.

Der weite Raum war plötzlich erfüllt von dem häßlichen Krächzen der bunten Vögel.

In diesen Lärm mischten sich dumpfe Schläge.

Da fuhr Irene Ripplow empor.

Sie zitterte, ihre Augen glitten dorthin, wo die zweite Tür sich befand, die Harst von innen abgeschlossen hatte.

„Entfernen Sie sich!“ keuchte sie – „Entfernen Sie sich!“

Ihre Blicke verrieten irre Angst.

„Nicht eher, bis Sie die Wahrheit sagen,“ entgegnete Harst und griff nach ihrer Hand. „Seien Sie doch verständig! Ich will Ihnen doch nur helfen!“

Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Es – es ist zu spät!“ stöhnte sie auf.

Das war eine Bestätigung, das war ein Geständnis.

Harst verneigte sich. Wir eilten den Seitenweg entlang zur anderen Tür – dorthin, woher wir gekommen. Irene flog wie gehetzt geradeaus, um den von Harst versperrten Eingang zu öffnen.

Harald blieb sehr bald stehen.

„Zurück – hinter die Bank!“

Und – es glückte.

Die Papageien vollführten einen Höllenlärm. Die Schläge gegen die Tür hatten sie erregt. So gelangten wir trotz der rauschenden Büsche in das Dunkel scharf duftender Zimtbäumchen.

Nun sahen wir Fritz Ripplow zum ersten Male. Neben Irene kam er den Hauptweg daher. Noch verstanden wir seine erregten Worte nicht. Nur seine jähen Handbewegungen verrieten eine namenlose Wut und der Ausdruck seines sonngebräunten, bartlosen, schmalen Gesichts mit der hohen, eckigen Stirn und der etwas vorgebauten Kinnpartie.

Unter dicken dunklen Brauen lagen da ein Paar Augen, in denen der Wahnwitz flammte.

Er packte Irenes Handgelenk.

„Gestehe – Du tatst es!“ rief er.

Sie waren vor dem Kinderwagen angelangt.

Klar und erfüllt von ungeheurer Bitterkeit erwiderte die Frau, auf das schlafende Kind mit der freien Rechten deutend:

„Ich tat es um unseres Kindes willen! Ich mußte es tun!“

Dann schluchzte sie auf, glitt in die Knie, umklammerte den Mann:

„Fritz – Fritz, – kehre dorthin zurück, wo Du Ruhe vor Dir selber hattest!“

Ein schneidendes Auflachen.

„Damit der Schurke weiter triumphiert – nicht wahr?! Damit Du mich los wirst!“

Das Kind erwachte, begann zu weinen.

Seltsam – mit einem Schlage veränderte sich da Ripplows Gesicht.

Er hob Irene empor, nahm das Kind aus dem Wagen.

Zärtliche Weichheit strahlte aus seinen Zügen.

Und weich war seine Stimme, als er sagte:

„Irene, um unseres Kindes willen werde ich siegen! Das Wie überlasse mir! Der Mann hat tausendfach den Tod verdient! Er wird sterben, wenn er nicht gehorcht.“

Sie war auf die Bank gesunken.

Ripplow schaute starr auf das Kind herab. Dann sprach er weiter:

„Irene, Du wirst mich nie verstehen, nie! Ich habe fünfzehn Jahre dort in Siam auf einsamer Plantage wie in der Wildnis gehaust, wie ein Herr – über Leben und Tod! Einen Mann wie mich schrecken papierne Gesetze nicht. Ein Mann wie ich trägt das Gesetz in sich. – Beruhige Dich, Irene! Wenn Du meine Liebe nicht verlieren willst, laß mir freie Hand, mit jenem Elenden abzurechnen.“

Das Kind war still geworden. Mit unendlicher Behutsamkeit legte er es in den Wagen zurück.

Dann zog er Irene an sich, küßte sie, nahm sie und den Wagen mit sich – den Hauptweg hinab.

Die künstlichen Sterne über uns erloschen. Wir standen in tiefster Finsternis.

Und ich – ich begriff nichts von alledem, was ich hier soeben erlauscht hatte – nichts!

Rätsel über Rätsel schienen mir dieses seltsame Liebespaar in dichte Schleier zu hüllen. Wenn ich mir vergegenwärtigte was wir bisher von Irene wußten, wurden die Rätsel noch dunkler, noch undurchdringlicher.

Harald sagte leise:

„Nun weiß ich alles. Nun können wir gehen.“

Er – er wußte alles – alles! – Was wußte er?!

Wir erreichten die Tür, die auf die Terrasse führte.

Das Gewitter hatte ausgetobt. Ein lauer dünner Regen rieselte gleichmäßig herab.

Es war halb zehn abends.

Wir fanden unsere Jolle halb mit Regenwasser gefüllt, schöpften sie leer und fuhren durch die tiefe Dämmerung des Regenabends dieses ereignisreichen Maitages dem Nordufer zu.

Wie ein Traum lag das soeben Erlebte hinter mir. Schon jetzt nahm es in der Erinnerung etwas Unwirkliches an. Ich sagte mir: „Morgen wirst Du alles anzweifeln, als wärest Du nie in der Palmengrotte gewesen!“

Harald sorgte dafür, daß es anders kam.

Er blieb in der Jolle zurück. Ich mußte die Leine und die Haken, den Draht und zwei Reservebatterien für unsere Taschenlampen holen.

Dann saßen wir im Boot, schnitten die Leine in zwei gleich lange Stücke, befestigten an einem Ende der beiden Leinen die starken Hechthaken und ein Stück Ziegelstein mit Draht und ruderten wieder auf den See hinaus.

 

4. Kapitel.

Während wir die Angeln vorbereiteten, hatte Harald mir erklärt:

„Ich habe die drei hohen Bäume der Skizze bereits nachmittags bemerkt und auf die Entfernungen abgeschätzt. So fand ich, daß die Stelle, die das Kreuz der Skizze andeutet, etwa da zu suchen ist, wo eine Stange über das Wasser hinausragt, die vielleicht ein Fischer dort zum Befestigen seiner Netze in den Seegrund getrieben hat.“ –

Wir suchten also die Stange.

Haralds vorzüglicher Ortssinn bewährte sich wieder. Wir fanden sie trotz der Nebelschleier, trotz der rasch zunehmenden Dunkelheit.

Wir warfen unsere Grundangeln aus, fuhren hin und her. Wir fischten Äste und Zweige heraus, schwer, voll Wasser gezogen. Wir erwischten das Skelett eines Hundes. Wir wurden nicht ungeduldig, beschrieben einen immer größeren Kreis um die Stange.

Dann hatten die Haken der einen Leine sich abermals in der Tiefe irgendworan festgebissen.

Ich zog die Leine ein.

Ein Sack kam zum Vorschein. Kantige und runde Gegenstände waren darin.

Ich schnitt ihn auf: Silbersachen der Inhalt – die Beute der geheimnisvollen Wannsee-Diebe!

„Weiter!“ sagte Harald.

Wir angelten an derselben Stelle noch zwei Säcke heraus. Wir hatten den letzten gerade von den Haken gelöst, als das Knattern eines Bootsmotors, rasch sich nähernd, uns warnte.

Harald trieb die Jolle mit langen, ruhigen Schlägen dem Ufer zu, legte die Ruder beiseite, warf Mantel, Rock, Weste und Schuhe ab und ließ sich ins Wasser gleiten.

Das Geräusch des arbeitenden Motors war etwa dort verstummt, wo wir die Säcke vielleicht zehn Meter südlich der Stange herausgefischt hatten.

„Warte hier,“ sagte Harst nur.

Er schwamm davon, verschwand in den Regenschleiern.

Warten?! Sollte ich mich ausschalten lassen?!

Ich ließ den kleinen Anker fallen, band das Ankertau ganz kurz fest, zog Mantel, Jacke, Weste, Schuhe aus und – schwamm in das Dunkel hinein.

Ich hatte noch keine zwanzig Meter zurückgelegt, als ich weit vor mir das Aufplatschen des Wassers hörte, dann Motorgeknatter.

Ich machte kehrt. Das Motorboot dort war fraglos die Jacht Hagen von Tronje. Ich konnte sie nicht einholen.

Bald hatte ich die Jolle erreicht, schwang mich hinein, holte den Anker ein und ruderte langsam in Richtung der Stange weiter.

Bis ein schwacher Ruf an mein Ohr drang:

„Schraut – Schraut – hierher!“

Noch fünf kräftige Ruderschläge.

Dann dicht vor mir derselbe Ruf, – dann half ich Harst, der einen besinnungslosen Mann im linken Arm festhielt, diesen Mann in die Jolle heben.

Harald kletterte nun gleichfalls über den Bootsrand und kniete neben dem Fremden, leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.

Der Mann war klein, hager, hatte ein abschreckend mageres Gesicht und eine dicke, fleischige Nase, Negerlippen und eine vollkommene Glatze.

Harst faßte ihm in die Innentasche der Jacke, brachte ein dickes Portefeuille zum Vorschein und ließ mich die einzelnen durchnäßten Papiere beleuchten, damit er den Inhalt prüfen könne.

„Kommerzienrat Machtaler – Julius Machtaler!“ sagte er leise.

„Wer ist denn das nun wieder?“ entfuhr es mir.

„Ein Mann, den Fritz Ripplow ersäufen wollte, den er in einen großen Sack eingebunden über Bord warf. Ich konnte gerade noch tauchen, konnte gerade noch das Messer aus der Beinkleidtasche hervorziehen und den Sack auftrennen. Mir sauste bereits das Blut in den Ohren. Ich war einer Ohnmacht nahe. Endlich schoß ich mit dem Geretteten an die Oberfläche.“

„Unmöglich!“ stammelte ich. „Ripplow – wollte ihn ersäufen?!“

„Was sonst?! – Nun wollen wir die Geschichte leidlich Irene zur Liebe in Ordnung bringen.“

Er begann Machtalers Arme taktmäßig zu heben und zu senken, um die Lunge zum Arbeiten zu zwingen.

Machtaler kam zu sich. Harst setzte ihn aufrecht, lehnte ihn an die Ruderbank.

Minuten vergingen. Dann flüsterte der Kommerzienrat, und in dieser erloschenen Stimme vibrierte noch das Todesgrauen!

„Ich – ich will alles – alles schriftlich geben!“

Er wurde immer kräftiger, frischer. Er schaute sich um, merkte, daß er sich nicht mehr an Bord der Motorjacht befand, und fragte plötzlich in ganz anderem Tone:

„Wer sind Sie beide?“

„Ripplows Freunde,“ brummte Harald undeutlich. „Er hat uns beauftragt, mit Ihnen weiter zu verhandeln. Er erwartete, daß das nasse Bad Sie zur Vernunft bringen würde.“

Machtaler schwieg. Der kleine Lichtkegel von Harsts Taschenlampe lag dauernd auf seinem widerlichen Gesicht.

„Das – das war ein Mordversuch!“ stieß Machtaler dann hervor. „Das – soll Ripplow bereuen!“

Harald hatte mit einem Male seine Clementpistole in der Hand und hielt sie dem Kommerzienrat vor die Stirn.

„Wenn Sie etwa um Hilfe rufen, drücke ich ab!“ sagte er wieder mit verstellter Stimme. „Wollen Sie jetzt gehorchen? Wenn nicht – nun, dann schlucken Sie wieder Wasser. – Von Mordversuch kann hier keine Rede sein. An dem Sack war ja ein Tau befestigt.“

Machtalers Gesicht verzerrte sich.

„Gut – ich gehorche!“ meinte er, und ohnmächtige Wut leuchtete aus seinen kleinen tückischen Augen.

„Rudere an Land!“ befahl Harald mir da. „An unsere Brücke.“

Wir führten Machtaler dann in die Glaslaube des Gartens unserer Wirtin. Harst flüsterte mir zu, ich solle Papier und eine Schreibunterlage aus unserem Zimmer holen.

Ich beeilte mich, zog nur den Mantel über. Der Klebstoff unserer falschen Bärte hatte gut gehalten. Mein Bart war noch unversehrt. Machtaler würde uns später kaum erkennen.

Dann war ich mit Papier und einer Zeitung als Unterlage wieder zur Stelle.

Harald saß in der Laube Machtaler gegenüber an dem kleinen Holztisch und hatte die Hand mit der Clement auf die Tischplatte gestützt.

„Los denn!“ forderte er Machtaler nun zum Schreiben auf. „Nehmen Sie Ihren Füllfederhalter aus der Brieftasche!“

Der kleine Kommerzienrat zögerte.

„Hören Sie mal,“ flüsterte er hastig, „ich will jedem von Ihnen eine halbe Million geben, wenn Sie –“

„Maul halten!“ knurrte Harst. – „Los – schreiben! Wenn Sie sich weigern, dann!“ Und er tippte Machtaler mit der Pistolenmündung auf die Stirn.

Ich verhielt mich schweigsam. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich aus dieser unglaublichen Geschichte klug geworden wäre.

Machtaler nahm den Füllfederhalter. Ein Blick traf Harst – ein Blick!

Dann schrieb er.

„Vergessen Sie nichts!“ sagte Harald wieder. „Auch was Ripplow verlangt. Wir auch. Nur ein Wort zu wenig, und – Na – Sie kennen uns ja!“

Machtaler schrieb.

Harald leuchtete ihm. Ich lehnte an der Tür. Die Glaslaube hatte Fensterläden. Sie waren geschlossen. So, wie ich stand, verhinderte ich, daß ein Lichtschein in den Garten fiel.

„Vergessen Sie nichts!“ sagte Harald wieder. „Auch die Zeugen!“

„Zeugen?“ fragte der Kommerzienrat giftig.

„Na – die Mitwisser, – das ist dasselbe!“ meinte Harst gleichmütig.

Machtaler schrieb.

Er zitterte jetzt vor Kälte in seinen nassen Kleidern.

Er füllte zwei Bogen mit seiner kritzlichen Schrift.

Dann legte er den Halter hin. Er hatte seinen Namen mit Schwung unter das merkwürdige Dokument gesetzt.

„Lies Du es erst mal durch, Emil!“ sagte Harst zu mir.

Ich beugte mich über den Tisch. Mit Gier las ich, verschlang die Zeilen.

Wannsee, den 16. Mai 1922.

Aus eigenem Antrieb erkläre ich hier folgendes:

Im Jahre 1920 habe ich aus Konkurrenzneid, da die von Herrn Fritz Ripplow mit Holland eingeleiteten Handelsbeziehungen mir die Anbahnung ähnlicher Geschäftsabschlüsse erschwerten und da meine Firma infolgedessen zurückging, mit Vorbedacht durch Bestechung der Beamten einiger Kriegsgesellschaften und durch Fälschung von Frachtbriefen und anderen Schriftstücken, schließlich durch Denunziationen die Verhaftung Herrn Ripplows wegen Verschiebung von Heeresgut herbeigeführt.

Mit beteiligt waren als meine Helfer hierbei: der Prokurist Ernst Daum, Berlin-Steglitz, Friedrichsruher Platz 3, der Korrespondent Jakob Bnitzki, Berlin, Alte Jakobstr. 14, der Eisenbahnassistent Felix Tourbier, Berlin, Wilsnackerstraße 69, und die Telephonistin Anna Erkner, Hardenbergstraße 21.

Eingeweiht waren ferner meine Frau und mein Schwager Justus Rode.

Es folgte nun eine genaue Schilderung, wie diese dunklen Ehrenmänner es angestellt hatten, Ripplow selbst noch während der Untersuchungshaft zu schädigen.

Dann hieß es weiter:

Ich gebe ferner zu, daß auf mein Betreiben Herr Ripplow aus den Wassersportvereinen, denen er als Mitglied angehörte oder bei denen er verkehrte, ausgeschlossen wurde und daß die wie ich hier in Wannsee ansässigen Familien sich von Herrn Ripplow durch meine Ausstreuungen zurückzogen, so daß er nach seiner Enthaftung von allen früheren Bekannten gemieden wurde und gesellschaftlich erledigt war.

Ich verpflichte mich, Herrn Ripplows Ehre dadurch wieder herzustellen, daß ich meine Schuld offen bekenne und mich selbst den Gerichten stelle.

Julius Machtaler,
Wannsee, Seestraße 58.

 

5. Kapitel.

Schweigend reichte ich jetzt Harald das Dokument.

Also dieser Machtaler war der Mann, von dem Ripplow in der Palmengrotte mit so wildem Haß gesprochen hatte.

Vieles war durch dieses Bekenntnis des Kommerzienrats jetzt aufgeklärt. Aber – gerade die Hauptsache blieb dunkel: weshalb hatte Ripplow hier auf dem Wannsee den Dieb gespielt, weshalb hatte er all die Silberpreise gestohlen, und – weshalb gab er Irene hier für seine Tochter aus?! –

Harald hatte das Schuldbekenntnis dieses widerwärtigen Schurken sehr langsam gelesen.

Machtaler saß zähneklappernd da und fauchte jetzt:

„Soll ich mir vielleicht den Tod holen?! Wie lange gedenken Sie mich hier noch festzuhalten?!“

„Oh – wir werden Sie sofort in der Nähe der Seestraße an Land setzen, Herr Kommerzienrat,“ brummte Harst, indem er das Dokument zusammenfaltete. „Emil, ich bin gleich wieder da!“ – Das galt mir.

Er verließ die Laube. Ich hatte jetzt meine eigene Clement in der Hand.

Machtaler trommelte mit den Fingerspitzen einen Marsch auf dem Tisch. Ich beobachtete ihn genau. Ich traute ihm jede Heimtücke zu.

Aber – es geschah nichts! Harst kehrte zurück. Er hatte ein sauberes Taschentuch in der Hand. Die Ecke mit dem Monogramm war herausgerissen.

„Ich muß Ihnen die Augen verbinden,“ sagte er zu Machtaler. „Stehen Sie auf! – So – nun lassen Sie sich auch die Hände auf dem Rücken etwas zusammenknoten. Vorsicht ist besser als Nachsicht. – Los, Emil, zum Boot! Der Herr Kommerzienrat friert!“

Gleich darauf stieß die Jolle von der kleinen Brücke ab. Harald steuerte. Machtaler verhielt sich ganz ruhig.

Harst hatte, als wir aus der Laube heraustraten, ein Bündel aufgehoben, das er dort dicht an der Laubenwand niedergelegt hatte. Dieses Bündel lag jetzt vorn im Boot. –

Es regnete noch immer. Wir legten an der Dampferbrücke unterhalb des Schultheiß-Restaurants an.

Harald führte Machtaler die Treppen empor bis auf die Straße. Dann nahm er ihm die Augenbinde und die Handfesseln ab und lief eiligst zu mir in die Jolle zurück. Ein paar leise Ruderschläge brachten uns in den Verbindungskanal der beiden Seen.

Hier, wo es stockdunkel war, machte Harst unser Boot mit Hilfe des Ankers fest und flüsterte:

„Schnell – umziehen! Das Bündel her. Es enthält alles Nötige.“

Die Jolle hatte achtern ein Klappverdeck aus Ölleinwand. Unter diesem Verdeck wurden wir beim Schein einer Taschenlampe wieder Harst und Schraut – ohne falsche Bärte – in trockenen Anzügen, mit blendend zarter Wäsche.

Selbst unsere Ulster hatte Harst in dem Bündel verstaut gehabt.

So ließen wir die Jolle unter der Brücke, gingen die kurze Strecke zum Bahnhof Wannsee, bestiegen hier ein Auto.

„Seestraße 58!“ hatte Harald dem Chauffeur zugerufen.

Ein Vorortzug aus Berlin, der letzte, war gerade eingelaufen.

Fünf Minuten später hielten wir vor der Gartenpforte der Villa Machtaler. Im Hochparterre der Villa waren vier Fenster erleuchtet, Schatten glitten über die Vorhänge hin.

Wir läuteten, nachdem das Auto wieder davongefahren war. Ein Diener kam und fragte durch die Gitterstäbe, wer wir seien und was wir wünschten.

Harst nannte unsere Namen. „Sagen Sie dem Herrn Kommerzienrat, daß wir ihn unbedingt sofort in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen müssen.“

Der Diener hastete davon, kam wieder – es waren nur wenige Minuten vergangen – zurückgelaufen und öffnete die Pforte.

„Der Herr Kommerzienrat läßt bitten.“

In einer Vorhalle von kinohafter Aufmachung empfing Machtaler uns.

„Oh – Sie sendet mir der Himmel, Herr Harst!“ krähte er. Sein Gesicht zuckte vor ungeheurer Aufregung. „Kommen Sie in mein Arbeitszimmer – kommen Sie!“

Keine Spur von Verdacht stieg in ihm auf, daß wir beide es gewesen, die soeben das Geständnis von ihm erpreßt hatten.

Wir saßen in weichen Klubsesseln. Machtaler lehnte zappelig am Tisch.

„Wir kommen soeben mit dem letzten Zuge aus Berlin,“ erklärte Harald mit seiner vornehmen Ruhe. „Wir sind von jemand, dessen Namen ich nicht nennen darf, beauftragt, hier über einen gewissen Fritz Ripplow Erkundigungen einzuziehen. Ich hörte, daß Sie mit dazu beigetragen haben, die dunkeln Machenschaften dieses Mannes aufzudecken, Herr Kommerzienrat. Würden Sie mir vielleicht –“

Machtaler tat einen wahren Freudensprung. „Ah – dacht’ ich’s doch! Dacht’ ich’s doch!“ jubelte er. „Also Sie sind dem Halunken jetzt auf der Fährte! Das trifft sich gut – ausgezeichnet! – Hören Sie, was mir in dieser Nacht passiert ist! Ich kam gegen halb zehn von einer Gemeinderatssitzung. Ich bin seit Jahren ehrenamtlich Gemeindeschöffe. Da fiel mich im strömenden Regen in der einsamen Bergstraße dieser Ripplow an –“

„Nicht möglich!“ meinte Harald, den Erstaunten spielend.

„Ja, ja – es war so! Der Kerl hatte einen Revolver in der Hand und verlangte von mir, ich solle sofort auf der Polizeiwache ein Geständnis ablegen, daß ich es gewesen, der seinen guten Ruf vernichtet hätte. – Ripplow ist nun bereits einmal in einer Nervenheilanstalt gewesen.“

„Ah – wirklich?!“

„Tatsache, Herr Harst!“ –

Da fielen mir Irenes seltsame Worte ein – ihre Bitte, daß ihr Gatte sich dorthin wieder begeben solle, wo er Ruhe und Frieden finden würde. – So ähnlich hatte sie in der Palmengrotte gesprochen. Nun wußte ich: sie hatte eine Nervenheilanstalt gemeint! –

„Tatsache!“ wiederholte Machtaler. „Dieser Ripplow ist zuweilen nicht ganz zurechnungsfähig. Die Untersuchungshaft hat seine Nerven zerrüttet. Jedenfalls: ich sagte mir bei diesem unglaublichen Verlangen Ripplows gleich, daß er nicht ganz bei Sinnen sei. Ich suchte ihn zu beruhigen. Da geriet er immer mehr in Wut und – drückte auf mich ab! Aber nur die Zündhütchen dreier Patronen knallten! – Er war so verblüfft, daß er mich entfliehen ließ. Ich rannte blindlings davon –“

„Zur Polizeiwache natürlich?“ fragte Harald kühl.

Machtaler wurde verlegen. „Hm – nein, an die Polizei dachte ich in meiner Aufregung gar nicht!“ Er sprach immer hastiger. „Dann merkte ich, daß mir zwei Leute auf den Fersen waren. Ripplow hat zwei Diener, zwei Siamesen, die für ihn einen Mord begehen würden. Diese Banditen erwischten mich, würgten mich, hielten mir ein mit Chloroform getränktes Tuch an die Nase und schleppten mich auf Ripplows Motorjacht. Als ich wieder zu mir kam, befand sich auch Ripplow in der Kajüte. Er drohte mir, mich in einem Sack zu ersäufen, wenn ich nicht schriftlich ein sogenanntes Geständnis ablegte –“ – Was er dann weiter erzählte, war uns bekannt. Er berichtete, wie er von zwei Männern in die Laube eines Gartens gebracht worden sei und fügte hinzu: „Was sollte ich unter diesen Umständen tun?! Ich schrieb wirklich eine Art Geständnis nieder, nannte auch Helfershelfer – natürlich alles Unsinn, wenn die Namen auch stimmen! – Wie ich dann vor einer Viertelstunde heimkehrte, schickte ich sofort meinen Gärtner zur Polizei. Ripplow muß unbedingt in eine Irrenanstalt geschafft werden. Er ist gemeingefährlich.“

„Merkwürdig!“ sagte Harald kopfschüttelnd. „Auf dem Bahnhof drängte sich vorhin ein Mann an mich heran und drückte mir ein paar beschriebene Blätter in die Hand. Ich habe im Auto auf der Herfahrt dann nur die ersten Zeilen gelesen.“ Er faßte in die Brusttasche und holte das Dokument hervor.

Wie ein Habicht, der auf eine Beute stößt, sprang Machtaler zu, riß Harst die zusammengefalteten Bogen aus der Hand und hielt sie über das brennende Zigarrenlämpchen.

Sie lohten auf.

Ich war sprachlos: Harald ließ das Dokument ruhig vernichten! Wie konnte er nur?! –

Machtaler lachte – lachte wie ein Verrückter, zerrieb die Asche, – krähte triumphierend: „So – nun ist der Unsinn vernichtet!“

„Schade!“ meinte Harst eisig. „Ich an Ihrer Stelle hätte dies Dokument doch lieber als Beweis gegen Ripplow benutzt!“ – Er stand langsam auf. „Herr Kommerzienrat, Ihr frecher Griff nach diesen Papieren, ferner die Eile, mit der Sie dieselben vernichteten, sprechen gegen Sie! Hätte das Dokument lediglich erfundene Dinge enthalten, würden Sie es nie verbrannt haben.“

Und – er holte jetzt aus der anderen Brusttasche abermals zusammengefaltete Bogen heraus.

„Dies sind die, auf denen Ihr Schuldbekenntnis steht!“ sagte er noch eisiger. „Mag die Art und Weise, wie Ripplow sich dies Geständnis von Ihnen verschaffte, strafwürdig sein: noch strafwürdiger sind die Ränke, durch die Sie Ripplow moralisch töteten!“

Er steckte die Papiere wieder ein. „Sie sehen, daß ich Sie überlistet habe. Mein Zeugnis wird gegen Sie sprechen!“

Machtaler war wie in einem Anfall von Schwäche in einen Sessel gesunken.

Wir verließen die Villa. An der Pforte begegneten wir einem Polizeiwachtmeister. – Harald nannte seinen Namen. „Der Kommerzienrat wird Sie nicht mehr brauchen,“ meinte er.

Wie richtig er den Seelenzustand Machtalers eingeschätzt hatte, bewies ein Knall, der von der Villa herüberschallte. – Wir eilten wieder in des Kommerzienrats Arbeitszimmer zurück; wir fanden einen Toten –! –

Halb zwei Uhr morgens war’s, als die Jolle uns, jetzt bei bleichem Mondenschein, über den stillen See zu Ripplows Landungsbrücke führte.

Und zum zweiten Mal in dieser Nacht betraten wir die Palmengrotte.

Der künstliche Sternenhimmel strahlte.

Am Springbrunnen auf der weißen Bank lag ein Brief – an Harst adressiert.

„Ich weiß, was er enthält,“ meinte Harald leise. „Sie sind entflohen, – er und Irene und das Kind. Du sahst nicht, was ich sah: daß draußen im Regen Irene eine Weile vor der Glastür der Laube stand! Irene, die aus Angst ihren Gatten beobachtet und von einem Boote aus beobachtet hatte, was sich auf dem See abspielte. Da hat sie denn ihren Mann nachher gewarnt, da – sind sie entflohen! Den Brief können wir daheim lesen.“

Noch in derselben Nacht fuhren wir im Auto nach Berlin zurück. Und als der Kraftwagen durch die Villenstraße von Wannsee heimwärts glitt, fragte ich Harald nach dem Motiv der doch so widersinnig erscheinenden Diebstähle Ripplows.

„Widersinnig?!“ entgegnete Harald. „Bedenke: Ripplow wurde aus allen Sportvereinen ausgeschlossen, denen er so und so viele Preise gewinnen half! Nur diese Silberpreise hat er sich zurückgeholt – nur die! Seine Siamesen halfen ihm, erwürgten die Wachhunde. Und diese Beute versenkte er im See – er, der Geächtete, der Kranke, nicht voll Zurechnungsfähige, krank geworden durch schuldlos durchlittene Untersuchungshaft! – Wer will den ersten Stein auf ihn werfen?“ –

Mit Irene Ripplows Brief will ich den zweiten Teil dieses Abenteuers beginnen.

Der Leser mag sich auf Überraschungen gefaßt machen.

Auch ein Harst kann sich zuweilen irren.

 

 

Der Zauberkünstler Ballatini.

 

1. Kapitel.

Morgens um fünf Uhr waren wir wieder daheim – in der Blücherstraße Nr. 10 in Schmargendorf, dem westlichen Berliner Vorort.

Daheim in Harsts altem Familienhause, in Harsts vornehmem Arbeitszimmer.

Saßen in der Fensterecke an dem japanischen Tischchen, unter der bunten japanischen Seidenampel. Nur die Teemaschine summte ihr trauliches Lied, während draußen im Vorgarten in der Helle des neuen Tages die Spatzen lärmten. –

Harst schnitt den Briefumschlag auf.

Vor ihm auf der Aschenschale, der Schädeldecke eines von ihm in Indien erlegten Tigers, lag die qualmende Mirakulum und sandte einen Rauchfaden in blaugrauen Spiralen zur Ampel empor.

Harald las:

„Herr Harst,

Wenn Sie diese Zeilen erhalten, bin ich dem großen Rätsel des Jenseits nähergekommen –“

Er hielt inne, ließ die Hand mit dem Briefbogen sinken.

„Mein Gott!“ entfuhr es ihm. „Sollte – sollte ich die Dinge doch falsch beurteilt haben!“

Auch ich hatte mich vorgebeugt.

„Weiter!“ bat ich tonlos.

Und er las wieder – scheu, angstvoll fast:

„Sie sollen die Geschichte meiner Liebe kennenlernen, Sie sollen begreifen, weshalb ich das Leben von mir warf und mein Kind mit in den Tod nahm.

Ich war seit meinem achten Lebensjahr Waise. Meine Jugend wurde durch zwei uralte, weltfremde Damen verbittert, bei denen ich aufwuchs. Ich bin nie richtig jung gewesen, durfte es nicht sein. – Mit achtzehn Jahren trat ich als Korrespondentin in das soeben erst von Fritz Ripplow gegründete Geschäft ein. Er war auf abenteuerliche Art aus einem Gefangenenlager in Bangkok entflohen und 1919 im Januar nach endlosen Mühsalen nach Berlin gelangt. Der Weltkrieg war aus. Ripplow, der ein sehr großes Guthaben bei der Bank von England und in London und Amsterdam viele Geschäftsfreunde von früher besaß, richtete seine Firma in großzügigster Weise ein. Sehr bald wurde ich seine Privatsekretärin. Er brauchte einen Menschen, dem er rückhaltlos vertrauen konnte. Meine stille Art, meine Zurückhaltung und eine mir eigene rasche Auffassungsgabe ließen seine Wahl auf mich fallen. Ich war in alles eingeweiht. Wir wurden die besten Kameraden. Unser häufiges Alleinsein und die ganze Art unserer Beziehungen zueinander förderten das Aufkeimen einer tiefen gegenseitigen Neigung.

Ich lernte Fritz Ripplow lieben trotz all seiner Schwächen und trotz der Geheimnisse, die ihn umgaben. Er war jähzornig, war ein Herrenmensch, war brutal. Seine Persönlichkeit war wie mit undurchsichtigen Schleiern zum Teil verhüllt. Da gab es Dinge, über die er nie sprach – nie! Fragte ich ihn nach Einzelheiten seiner Flucht, so sagte er nur: „Alles war abenteuerlich, gefährlich, eine Reihe körperlicher und seelischer Strapazen!“ – Fragte ich ihn nach seinem Leben in Siam, so antwortete er ähnlich. Jedenfalls: ich fühlte, da waren irgendwelche Geschehnisse, die er verschweigen wollte.

Dann verlobten wir uns – heimlich zuerst, denn schon damals begann sich das Gewitter über seinem Haupte zusammenzuziehen, dessen schwarze Wolken der Schuft Machtaler lenkte. Ich mußte nun auf Fritz’ Wunsch meine Stellung in seinem Geschäft aufgeben. Ich zog nach der Kolonie Grunewald hinaus. Ich blühte auf im Sonnenschein dieser Liebe.

Nur zu schnell kamen dann die harten Schläge des Schicksals: Fritz wurde verhaftet. Er konnte mir gerade noch heimlich einen Brief senden: ich solle mich sofort nach Hamburg begeben zu einem Freunde von ihm und dort das weitere abwarten.

Ich hatte in dem Pensionat der Villenkolonie Grunewald als Fritz’ Schwester gewohnt. Er hatte es so gewollt. Ich packte also meine Koffer und fuhr nach Hamburg zu Edgar Stern.

Noch nie hatte er diesen Freund bisher vor mir erwähnt. Ich hatte geglaubt, Fritz besäße weder Verwandte noch Freunde in Deutschland.

Stern holte mich vom Bahnhof ab.

Denken Sie mein Erstaunen, als ein altes Männchen, bartlos, faltig, weißhaarig und gebückt von der Last der Jahre, auf mich zutrat und sich als Edgar Stern vorstellte.

Er brachte mich im Auto nach seinem nördlich von Hamburg am Elbufer gelegenen Häuschen.

Das heißt: zunächst brachte er mich in ein kleines Restaurant, wo wir bis zur Dunkelheit blieben. Dann erst fuhren wir nach seinem Heim.

„Ihre Spur muß verwischt werden,“ erklärte er mir.

Und als ich ihn fragte, wie er mich denn auf dem Bahnsteig sofort erkannt hätte, erwiderte er: „Fritz hat mir Ihre Photographie geschickt.“

Abends um halb elf langten wir bei seinem einsamen Grundstück an. Er hauste dort ganz allein. Ich erhielt das beste Zimmer zugewiesen. Er behandelte mich mit rührender Fürsorge. Und doch: auch hier etwas Geheimnisvolles, auch hier gewisse Fragen, auf die Edgar Stern nur mit Redensarten antwortete.

Von ihm erfuhr ich erst, daß Fritz tatsächlich eine Schwester gehabt hätte, die jedoch während der Flucht von Siam verstorben sei. Sie hätte ebenfalls – ein Zufall! – Irene geheißen.

Fünf Monate blieb ich bei Edgar Stern – fünf Monate, und doch weiß ich noch heute nicht, welchen Beruf er einst ausgeübt hatte.

Dann traf Fritz eines Tages ein. Seine Unschuld war zwar nicht erwiesen, aber aus Mangel an Beweisen hatte man ihn aus der Untersuchungshaft entlassen müssen.

Als ein völlig Veränderter trat er mir gegenüber. Seine Liebe war die gleiche geblieben. Er selbst war seelisch gebrochen.

Mir gelang es, ihn wieder aufzurichten. Wir heirateten in Hamburg, wohnten bei Edgar Stern weiter. Fritz fuhr sehr häufig nach Berlin, wo er seine möblierte Wohnung beibehalten hatte. Sein Geschäft hatte er aufgelöst. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging jetzt dahin, den heimlichen Feind zu finden, der ihn denunziert hatte.

Unser Kind wurde geboren. Und vierzehn Tage später brachte Fritz mich in die neue Wannsee-Villa, die er inzwischen hatte erbauen lassen.

Ich galt weiter als seine Schwester. Unser Kind aber als das unserer Köchin. Da wir mit niemandem verkehrten, blieb die Wahrheit verborgen.

Fritz ermittelte schließlich, daß Machtaler aus Konkurrenzneid ihn an den Pranger gestellt hatte. Aber an Machtaler war nicht heranzukommen. Sein Einfluß reichte bis zu den höchsten Regierungsstellen hinauf.

Fritz hegte gegen diese widerliche Kreatur einen krankhaften Haß. Er haßte in Machtaler alle die, die sich von ihm abgewandt hatten, als er in Haft saß. Er haßte mit einer verbissenen Energie. Dieser Haß war furchtbar. Sein Nervensystem litt darunter. Ich bewog ihn, ein Sanatorium aufzusuchen. Zwei Monate blieb er dort, kehrte frischer, ruhiger zurück.

Dann aber begann er sein unheimliches Treiben als – Dieb!

Banabu und Chitawoa, unsere siamesischen Diener, die er aus London sich geholt hatte, halfen ihm. Als ich dahinter kam, daß er die Preise stahl, die er gewinnen geholfen hatte, flehte ich ihn kniefällig an, sich nicht in Gefahr zu begeben um ein Nichts.

Er war hart und lieblos damals zu mir. Ich fühlte ja: er hatte sich in eine wahnwitzige Idee verrannt, und nur seine Nervosität machte ihn meinen Bitten unzugänglich. Aber – er wurde mir doch entfremdet.

Noch mehr geschah dies, als ich merkte, daß er Machtaler in seine Gewalt bringen wollte und ihm nach dem Leben trachtete.

An diesem Abend, der soeben vergangen, habe ich aus seinem Revolver die Kugeln und das Pulver der Patronen entfernt. So rettete ich Machtaler das Leben. In dieser Nacht jedoch, nach einer heftigen Szene in der Palmengrotte, nach einer Aussöhnung, die nur oberflächlich blieb, kam Banabu und holte Fritz weg.

Ich schlich ihnen nach. Ich kettete das kleine Boot los, ich wurde Zeugin, wie Machtaler über Bord in den See geworfen wurde.

Ohnmächtig brach ich in meinem Boot zusammen.

Dann, als ich wieder erwachte, sah ich Ihre Jolle und – sah Machtaler ebenfalls darin!

Sah weiter, wie Sie Machtaler zu der Niederschrift in der Laube zwangen.

Ich ruderte über den See zurück – wie im Traum! Ich wiederholte mir im Geiste stets dasselbe:

„Fritz hat Machtaler ertränken wollen. Aber Machtaler lebt, und Fritz wird ins Zuchthaus wandern!“

Ich kam heim, fand meinen Gatten am Bett unseres Kindes, hielt ihm sein Verbrechen vor, gestand ihm, daß ich am vorigen Abend heimlich die Villa verlassen und die Zeichnung in die Rinde des Kirschbaumes von Harald Harsts Garten eingeritzt hätte, damit Harst die Diebesbeute fände und sie den Eigentümern wieder zustelle, – daß ich nachmittags nochmals bei Harst gewesen, um ihn anzuflehen, meinen Gatten zu schonen, falls er den Dieben auf die Spur käme.

Er stierte mich bei diesen Eröffnungen so wild an, daß ich vor ihm zurückwich.

Ich will nicht wiedergeben, was dann geschah.

Ich trage Fritz dies alles nicht nach. Er ist ein Kranker. Ich habe tausend Entschuldigungsgründe für ihn.

Aber – ich kann jetzt nicht mehr weiterleben. Ich will sterben. Fritz ist entflohen. Ich versprach ihm zum Schein, ihm zu folgen. –

Ich bin allein mit meinem Kinde. Wir beide werden bald Ruhe und Frieden haben. Ich habe nicht mehr die Kraft, Ihnen meinen Seelenzustand zu schildern, Herr Harst. Eine Bitte noch: Sorgen Sie dafür, daß Machtaler seiner Strafe nicht entgeht! Er hat unser Glück zertrümmert, er weckte meines Gatten Mordgedanken, er mordet mich und mein Kind! –

Wenn die Sonne aufgeht, wird man mein kleines Ruderboot irgendwo auf dem See treibend finden.

Sollten unsere Leichen aus dem Wasser geborgen werden, so wünsche ich mit meinem Kinde in der Palmengrotte beerdigt zu werden.

Fritz ist unterwegs ins Ausland. Ein Mann wie er weiß jede Spur hinter sich auszulöschen.

Ich verzeihe ihm, denn – ich liebe ihn!

Irene Ripplow, geb. Albyn.“

 

2. Kapitel.

Harald legte den Brief mit seltsam müder Bewegung auf den Tisch zurück.

„Armes – armes Weib!“ sagte er, und in seiner Stimme war ein Schmerz, als wäre ihm selbst in diesem jungen Weibe etwas Liebes gestorben.

Ich selbst –?! Ich schwieg. Ich war zu erschüttert, um durch irgend eine Bemerkung der Stimmung in meinem Innern Ausdruck verleihen zu können.

Ich füllte die hauchdünnen chinesischen Teetassen und hörte draußen den Lärm der frechen, liebestollen Sperlinge.

Es war ja Mai – es war Wonnemond.

Und dort im Wannsee ruhten jetzt auf schlammigem Grunde Mutter und Kind.

Ein schwacher Trost: Machtaler war tot! – Er hätte anders sterben sollen – langsamer, qualvoller. Er hatte es reichlich verdient! –

Dann Harsts Stimme: „Fahren wir nach Wannsee zurück!“

Wir fuhren – durch Sonnenschein und frisches Grün. Wir waren dabei, als das kleine, leere Boot gefunden wurde. Nur ein – Kindermützchen lag darin.

Waren dabei, als der kleine Wannsee abgefischt wurde.

Bis zum Abend blieben wir. Man fand die Leichen nicht. – Die Polizei hatte von Harald den Brief verlangt. Harald hatte ihn jedoch bereits verbrannt, und das, was er über den Inhalt angab, war sehr – sehr wenig – nur das Nötigste.

Abends um zehn kehrten wir heim.

Harst saß im Auto mit geschlossenen Augen, rauchte eine Mirakulum nach der andern.

Als wir kam durch die Villenkolonie Grunewald kamen, als wir die Königsallee entlangsausten und drunten auf dem stillen See zur Linken weiße Schwäne im Maiabenddämmer dahinzogen wie leuchtende Punkte, sprach Harst den ersten Satz während der Fahrt:

„Der Fall Ripplow beginnt erst!“

Welche Aussichten eröffneten diese fünf Worte!

Beginnt erst!

Das hieß: die Geheimnisse, die Ripplows Person umweben, sollen geklärt werden! –

Und wieder versank er in Schweigen. Erst als das Auto vor dem Hause hielt, der zweite Satz:

„Es wird ein Fall Ripplow-Stern werden!“

Hamburg –! Ich ahnte, wir würden Hamburg wiedersehen! –

Frau Auguste Harst kam uns im Flur entgegen.

Tausend Fragen stellte sie. Sie war so seltsam nervös. Sie fragte, wartete keine Antwort ab, rückte ihr Seidenhäubchen auf dem grauen Scheitel bald hierhin, bald dorthin.

„Was fehlt Dir, Mutter?“ meinte Harald am Abendbrottisch.

„Nichts – nichts! Ich – ich sorge mich um Eure Gesundheit. Seit vierundzwanzig Stunden seid Ihr nicht ins Bett gekommen.“

Er blickte sie prüfen an.

„Dafür werden wir uns jetzt auch im Gebirge acht Tage erholen,“ lächelte er. „Schraut und ich haben Sehnsucht nach Meister Rübezahl – nach dem Riesengebirge –“ –

Weshalb log er?! – Unbegreiflich! –

Dann waren wir wieder am Japantischchen in der Fensterecke zu zweien.

Haralds versonnener Blick lag auf meinem abgespannten Gesicht.

„Es roch so schön im Küchenflur,“ sagte er.

Was sollte das?!

„Ja – nach – nach Geflügelsuppe,“ nickte ich.

„Und was bekamen wir vorgesetzt?“

„Rührei, Schinken, kalten Braten.“

Ich lag geradezu auf der Lauer. Ich wußte: diese Erwähnung unserer Abendmahlzeit mußte einen besonderen Grund haben.

Aber – Harald gähnte jetzt.

„Gehen wir schlafen, mein Alter. Morgen früh reisen wir zu Rübezahl – vom Lehrter Bahnhof!“

Vom Lehrter fährt man nach Hamburg.

Ich dachte an Edgar Stern, den zweiten Geheimnisvollen. –

Um neun Uhr vormittags entführte uns der D-Zug nach Hamburg. Um drei Uhr nachmittags mieteten sich zwei bärtige Maler als Sommergäste bei Klaus Störten im Dorfwirtshaus von Rappreese ein, denn – dort in der Nähe hatten wir Edgar Stern aufgestöbert, dort lag sein Grundstück. –

Der alte Kneipwirt Klaus Störten trug den Nachmittagskaffee auf. Wir saßen in der Veranda. Hundert Meter nach Osten blinkte der Elbstrom im Sonnenschein.

Harst verstand es wie stets, die Unterhaltung dorthin zu lenken, wohin er sie haben wollte.

Störten als früherer Seemann war redselig und ohne Arg.

„Dja, das gelbe Häuschen!“ meinte er. „Da wohnt ein Herr Stern drin, Herr Holmer.“ (So hatte Harald sich hier genannt, während ich mich in Schülke umgetauft hatte.) „Ein interessanter alter Herr, der Edgar Stern. Kennt wie ich die ganze Welt. Sie werden sich wundern, wenn ich Ihnen sage, was er war. Sie raten’s nie!“ Er lächelte und sog an seiner Pfeife „Dja – raten Sie doch mal!“ Er nickte Harald zu.

Der lehnte sich in seinem Rohrsessel behaglich zurück. „Ich verstehe mich schlecht aufs Raten, Herr Störten. Also schießen Sie los!“

„Zauberkünstler war er!“ platzte der gemütliche Gastwirt heraus.

„Nicht möglich!“ rief Harst. „Zauberkünstler! Wohl ein sehr berühmter?“

„Und ob! Er trat unter dem Namen Ballatini auf und war seiner Zeit Bellachinis schärfster Konkurrent.“

„Er verkehrt hier wohl bei Ihnen? – Da könnte er uns mal Kartenkunststücke zeigen,“ meinte Harald lebhaft. „Ich kann selbst ein Dutzend Kartenkunststücke machen. Ich möchte was dazulernen.“

Klaus Störten erklärte mit überlegener Miene:

„Ne, Herr Holmer, so was – das ist nichts für Herrn Stern! Der hält’s so mit der höheren Magie, so mit Spiritismus, Okkultismus und wie der unheimliche Kram sonst noch heißt. Jede Woche zweimal kommen abends zu ihm die feinsten Leute aus Hamburg heraus, alles so ’ne Geisterbeschwörer. In Autos kommen sie, und reich müssen sie alle sein. Was die dann bei Stern treiben, weiß niemand. Unser Lehrer hier meint, es ist ein Spiritistenzirkel.“

„So – so! – Na – für Spiritismus habe ich nichts übrig. – Jetzt werden wir noch ein Stück spazieren laufen. Auf Wiedersehen, Herr Störten.“

Wir schlenderten die Dorfstraße hinab. Ich schleppte mich mit einem Malkasten. Harald trug die Klappstaffelei.

Zweihundert Meter von den letzten Häusern des Dorfes ab lag an einem Feldwege näher nach der Elbe hin das gelbgestrichene Häuschen inmitten eines großen Obstgartens.

Wir gingen vorüber und bauten die Staffelei hart am Ufer auf. Während Harald das Häuschen zu malen begann, lag ich im Grase und schaute ihm zu. Er hoffte, auf diese Weise mit Edgar Stern bekannt zu werden.

Eine halbe Stunde verging. Dann sah ich drüben im Garten einen Mann mit schwarzem Seidenkäppchen auf dem Haupte, gehüllt in einen gelben Leinenmantel, auftauchen. Er hatte einen Spaten in der Rechten und in der Linken – ja – in der Linken eine tote Katze, die er am Schwanz gepackt hatte. Er trat in eine Lücke der Weidenbüsche dicht am Zaun und warf die Katze auf den Boden, grub ein Loch und stieß das tote Tier hinein, schüttete das Loch wieder zu und stampfte die Erde fest. Um uns beide kümmerte er sich nicht, obwohl er uns gesehen haben mußte. Dann ging er dem Häuschen wieder zu und verschwand hinter den Büschen.

„Arme Katze!“ sagte Harald.

Ich horchte auf. In dem Ton seiner Stimme war ein besonderer Klang gewesen.

„Ich denke, Du kannst Katzen nicht leiden,“ meinte ich tastend.

„Doch – ausgestopfte ja!“

Man muß Harst kennen, um seine feinen Andeutungen sofort zu begreifen.

„Stern vergrub also eine ausgestopfte Katze,“ sagte ich. „Es war zweifellos Edgar Stern alias Ballatini. Woran erkanntest Du, daß sie ausgestopft war?“

„Weil sie nur noch ein Glasauge hatte und weil eine tote Katze die Beine nicht so steif vom Leibe abgestreckt hätte.“

„Der Kadaver kann sich noch in der Todesstarre befunden haben.“

„Möglich wäre das vielleicht, wenn man uns nicht hinter den Gardinen des Giebelfensters hervor mit einem Fernglas zehn Minuten lang beobachtet hätte. Das Sonnenlicht blinkte in den Linsen des Fernglases. Sonst wäre ich kaum darauf aufmerksam geworden.“

Ich überlegte mir diese Sätze, die eine Fülle neuer Andeutungen enthielten, und erklärte dann:

„Du nimmst an, daß Ballatini Verdacht gegen uns geschöpft hat und in dem Katzenbalg etwas mit vergraben hat, das er gern beiseite schaffen wollte.“

„Ja. Er kalkuliert so: wir werden das Katzenbegräbnis für harmlos ansehen, und daher in dem Erdloche nicht suchen.“

„Suchen?! Wie kämen wir denn überhaupt dazu, in dem Häuschen etwas zu suchen?! Gewiß: wir vermuten Fritz Ripplow hier. Du willst, wie Du mir erklärtest, ihn sprechen, willst ihn gleichsam über den Tod seiner Frau und seines Kindes trösten und ihm auch mitteilen, daß wir seine ganze Silberbeute vorgestern nacht im Garten des Poseidon-Klubhauses niedergelegt haben, wo sie auch bereits gefunden ist.“

Harald malte ruhig weiter. „Ich will noch weit mehr,“ meinte er. „Ich will Dir beweisen, daß unsereiner auf alles achten muß, selbst auf Küchendüfte –“

Da dachte ich an seine Bemerkung: „Es roch so schön im Küchenflur!“

„– und nervöse Unruhe der Mitbewohner –“

Ah – er meinte seine Mutter!

„– und auf unsere alte Köchin, die drei Liter Milch vom Bollewagen holte –“

Ich nahm meine Zigarre aus dem Munde.

„Milch?!“ – Ich war so verdutzt, daß ich nochmals wiederholte: „– Milch?!“

„Um aber auf Deine andere Zwischenfrage zurückzukommen, mein Alter,“ fuhr er schnell fort, „auf die Frage, was wir hier suchen sollten – zu suchen hätten, so möchte ich Dich daran erinnern, daß die Polizei die Villa Ripplow in Wannsee gänzlich verlassen vorfand. Die beiden siamesischen Diener, die Köchin, der Gärtner, das Stubenmädchen – alle waren auf und davon. Und in Fritz Ripplows in die Wand eingemauertem Geheimschrank lagen lediglich acht leere Etuis von Schmucksachen, Etuis von so kostbarer, eigenartiger Ausstattung, daß der Blick des Kenners sofort sah, daß es sich um Kästchen handelte, die in Singapore, der Zentrale der asiatischen Perlenausfuhr hergestellt waren.“

„Allerdings. Das war sogar feinste chinesische Arbeit, aus dem Chinesenviertel Singapores stammend.“

„Ja – und auf der Unterseite dieser Etuis waren zerkratzte Stellen. Dort hatten die Geschäftszeichen der Hersteller gestanden, die Fabrikmarken sozusagen. Man hatte sie entfernt. Weshalb wohl?“

„Gestohlen etwa?!“

„Das weiß ich nicht. Jedenfalls nehme ich aber an, daß diese Etuis irgendwie mit dem Geheimnis dieser beiden Männer zusammenhängen. Denke an Irenes Worte von dem teilweisen Dunkel, das Ripplow und auch den alten Stern umgab und umgibt. Denke ferner daran, daß Irene ihrem Gatten mitteilte, sie sei bei mir gewesen – zweimal! Er weiß also, daß ich mich mit seiner Person beschäftige. Er mag jetzt dort im gelben Häuschen verborgen sein, mag uns bemerkt haben, mag an Harst und Schraut gedacht haben, beobachtete uns mit dem Fernglas, um festzustellen, ob wir wirklich Maler oder ob wir etwa Spione seien. Er wollte sicher gehen, und so ließ er Stern mit dem Katzenbalg zugleich das vergraben, was er hierher mitgebracht hatte: vielleicht den Inhalt der leeren Singapore-Etuis! – Ist Dir im übrigen an des alten Zauberkünstlers Gesicht nichts aufgefallen?“

„Nein –“ – Ich sprach es sehr nachdenklich hin. Ich bemühte mich, hinter Harsts stille Gedanken zu kommen.

Er trat jetzt wieder ein paar Schritt von der Staffelei zurück und musterte prüfend sein Bild.

Dann fügte er hinzu: „Wir werden auch noch von anderer Seite beobachtet, mein Alter. Tu’ mir aber einen Gefallen und dreh’ Dich nicht um. Rechts von uns liegt unter den Weidenbüschen am Rande eines Wassergrabens ein zerlumpter Strolch im Grase, der jedoch ein merkwürdig kostbares Spiegelfernglas bei sich hat.“

„Noch ein Fernglas?!“

„Ja – noch eins! – Der Mann war schon da, als wir hier erschienen. Ich fürchte, um Ripplows Haupt ballen sich dunklere Wolken zusammen, als er auch nur im entferntesten ahnt.“ – Er begann einzupacken.

Ich erhob mich, legte die Staffelei zusammen und schaute dabei vorsichtig nach dem Strolch aus, bemerkte jedoch nichts.

Harald verschloß den Malkasten. „Auch die Elbe ist interessant,“ sagte er mit besonderer Betonung. „Da liegt ein kleiner gedeckter Kutter, ein Fischereifahrzeug, anscheinend durch den flauen Wind zum Ankern gezwungen. Die drei Fischer auf dem Kutter kommen mir jedoch stark a la Maskenball vor, genau wie der Strolch mit dem Triederbinokel. Das reine Massenaufgebot von Spionen! Und doch, glaube ich, haben Edgar Stern und Fritz Ripplow nur gegen uns Argwohn geschöpft. Sie täten besser, den Strolch und den Kutter im Auge zu behalten. Wir beide sind die ungefährlicheren in diesem Falle.“

Auch den Kutter sah ich mir jetzt etwas schärfer an. Er lag etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Auf dem Kajütaufbau saßen zwei ältere Männer. Der eine flickte ein Netz, der andere schälte Kartoffeln. Ein jüngerer Bursche aber lehnte am Mast und las eine Zeitung. Das sah alles sehr, sehr harmlos aus.

„Komm’,“ meinte Harald. Wir gingen langsam dem Dorfe zu.

Das Wirtshaus zum goldenen Anker hatte nur vier Fremdenzimmer. Zwei davon hatten wir belegt. Klaus Störten hatte uns schon vorhin mitgeteilt, daß nun drei besetzt seien. Neben uns wohne ein Herr Kühn aus Hamburg, ein Kaufmann, der sich hier erholen wolle. Kühn sei bereits eine Woche hier und ein sehr zugänglicher Mensch.

Wir setzten uns in die Veranda. Es gab Aal zum Abendbrot. Als wir gerade aßen, trat ein gutgekleideter bartloser Herr mit einem Rucksack auf dem Rücken ein und wurde von Klaus Störten mit den Worten begrüßt:

„Na, Sie haben heute aber wieder eine lange Wanderung gemacht, Herr Kühn!“

Also das war unser Zimmernachbar!

Er nahm zwei Tische weiter Platz, nachdem er seinen Rucksack auf sein Zimmer gebracht hatte.

„Findest Du, mein Alter, daß Herr Kühns Schuhe nach einer langen Wanderung aussahen?“ meinte Harald, als der Hamburger Kaufmann sich jetzt eifrig mit Klaus Störten unterhielt.

Ich schaute Harst prüfend an. „Was denkst Du?“

„Daß es zweckmäßig wäre, mal nach oben zu gehen.“ Er stand auf und sagte ganz laut: „Ich hole nur mein Zigarettenetui.“

Er kehrte nach vielleicht fünf Minuten zurück, setzte sich wieder und meinte leise:

„Es stimmt. Kühn hatte den Rucksack in seinem Koffer eingeschlossen. In dem Rucksack befinden sich alle die Requisiten, die zur Maskierung als Strolch nötig sind, ebenso das tadellose Fernglas. Kühn war also Pennbruder, der Sterns Häuschen beobachtete.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir.

Harald lächelte ein wenig.

„Der Kollege Kühn wird wahrscheinlich nachts dasselbe planen wie wir, mein Alter. Er ist ja fraglos Berufsdetektiv, vielleicht gar ein Kriminalbeamter. Und da dürfte er genau wie wir für die tote Katze Interesse haben.“

„Er wird sie ausgraben?“

„Ja. Er wird jedoch nur noch die Katze finden. Wir werden ihm zuvorkommen und das andere – beschlagnahmen.“

Das konnte ja eine interessante Nacht werden!

„Es wäre mir lieb, wenn Du mir über folgendes Aufschluß geben wolltest,“ bat ich nun. „Kühn wohnt doch bereits eine Woche lang hier. Vor einer Woche hatte die Polizei noch keinerlei Veranlassung, sich mit Fritz Ripplow zu beschäftigen. Auch Privatpersonen hatten hierzu keinen Grund. Ripplow war ja damals noch in Wannsee. Kühn hat also lediglich Edgar Stern alias Ballatini beobachtet. Weshalb tut er dies? Was liegt gegen Stern vor? – Mir scheint, du weißt es.“

„Nein, ich weiß es nicht. Ich vermute es nur, und zwar auf Grund des geheimnisvollen Dunkels, das Stern und Ripplow umgibt. Wenn Du Ripplows eigenartiges Verhalten, was seine Eheschließung mit Irene betrifft, in deren Brief sehr sorgfältig geprüft hättest, wärest Du wahrscheinlich zu demselben Ergebnis wie ich gekommen. Besonders auffallend ist doch der Umstand, daß er Irene für seine Schwester ausgab.“

„Dies alles macht mich um nichts klüger, Harald. Bitte, sage ganz offen, was Du vermutest.“

„Nun – es sei. Stern und Ripplow haben genau denselben Gesichtsschnitt, dieselbe Nasenform, dieselbe Größe. Ich halte sie für Vater und Sohn.“

„Ah – Du magst recht haben!“

„Für diese nahen verwandtschaftlichen Beziehungen spricht auch die Tatsache, daß Ripplow Irene zu Stern schickte als er verhaftet werden sollte. Wenn Ripplow nun Sterns Sohn ist, dann kann zweierlei vorliegen. Erstens: Edgar Stern alias Ballatini heißt in Wahrheit Ripplow, oder aber Fritz Ripplow, in Wahrheit Stern heißend, hat sich aus besonderen Gründen den Namen Ripplow zugelegt. Wenn Du hierbei noch das als belastendes Moment berücksichtigst, daß Fritz Ripplow vor seiner Flucht nicht nur die Etuis in dem geheimen Wandschrank leerte, die aus Singapore stammen, und daß die Polizei in der Villa Ripplow in Wannsee auch nicht ein Stückchen Papier fand, das auf Ripplows Vergangenheit sich bezog, wenn Du schließlich bedenkst, daß er Irene gegenüber von seinem Aufenthalt in Siam und von seiner abenteuerlichen Flucht aus dem Internierungslager stets nur in allgemeinen Redensarten sprach, – dann – dann gelangst Du wohl wie auch ich zu dem Ergebnis: Ripplow hat existiert! Es gab einen Fritz Ripplow, der auf einer Plantage in Siam viele Jahre gelebt hat. Aber dieser Fritz Ripplow ist nicht – unser Ripplow! Kurz: Irenes Gatte spielt hier nur jenen Ripplow, dürfte sich dessen Papiere, Kostbarkeiten und Vermögen vielleicht – vielleicht! – angeeignet haben und ist in Wirklichkeit Sterns Sohn.“

 

3. Kapitel.

Diesen Ausführungen hatte ich mit atemloser Spannung gelauscht.

Ich nickte jetzt eifrig. All das leuchtete mir vollkommen ein. Ich hätte dieses Thema zu gern noch weiter erörtert. Aber Harald gähnte jetzt mehrfach, hatte sich in seinem Stuhl weit zurückgelehnt und die Augen wie vor Müdigkeit halb geschlossen.

Sehr bald begaben wir uns dann in unsere Zimmer hinauf.

Wir legten uns nicht zu Bett, sondern setzten uns im Dunkeln im Wohnzimmer auf das alte Glanzledersofa und warteten bei offenen Fenstern auf das, was kommen würde.

Das Sofa stand vor der Verbindungstür nach Kühns Zimmer hin. Die Tür war noch durch einen Vorhang verdeckt.

Um elf Uhr hörten wir, wie Kühn sein Zimmer betrat.

Sehr leise wurde die Tür zugedrückt. Dann hörten wir nichts mehr, so scharf wir auch horchten.

Draußen im Wirtshausgarten (die Zimmer lagen nach der Seite hinaus) rauschten die Linden. Von der Elbe her kam immer wieder das dumpfe Geheul von Dampfersirenen herüber. Der Himmel hatte sich bewölkt.

Harst wurde unruhig.

Er erhob sich leise und lehnte sich zum Fenster hinaus, bog sich aber sofort wieder zurück.

Ich trat neben ihn.

„Er kletterte gerade hinaus,“ hauchte Harald. „Hole unsere Strickleiter.“

Ich schloß rasch den einen Koffer auf. Dann kam Harald und flüsterte: „Schnell – ihm nach!“

Wir befestigten die Strickleiter am Fensterkreuz und banden auch die feste Schnur an, damit wir die Strickleiter nachher wieder hochziehen könnten.

Als wir dann über den Zaun stiegen und auf die Dorfstraße gelangten, war Kühn längst verschwunden.

Zehn Minuten drauf krochen wir auf allen Vieren an den Staketenzaun des gelben Häuschens heran.

Da war etwas Dunkles, das sich jenseits des Zaunes bewegte – eine Gestalt – Kühn!

Leise Geräusche.

Kühn grub – grub die Katze aus.

Wir schoben uns noch näher heran. Das Gras stand hier recht hoch. Ein paar Distelstauden und Brombeersträucher verbargen uns.

Nun sahen wir Kühn deutlicher. Er hatte wieder das Strolchkostüm angelegt. Er kniete und – ließ jetzt den schmalen Lichtstreif einer halb von der Hand verhüllten Taschenlampe auf den ausgegrabenen Kadaver fallen.

„Verdammt – wirklich ein totes Vieh!“ brummte er.

Dann wühlte er mit den Händen in dem Erdloche.

Und – sank plötzlich vornüber, zuckte noch wie im Krampf mit Armen und Beinen und lag still.

Harald hatte meinen Arm gedrückt.

„Eine Falle,“ flüsterte er.

Mit einem Satz war er jetzt über den Zaun hinweg. Ich kletterte hinterdrein.

Harst hatte den Bewußtlosen emporgehoben, legte ihn weiter von dem Erdloche ab auf den Boden.

Dann tastete er in dem Loche umher, hielt dabei den Atem an, brachte – einen Zinkblechzylinder von Unterarmlänge zum Vorschein. Der Zylinder hatte oben einen Hebelverschluß. Offenbar hatte Kühn den Hebel herabgedrückt und dadurch irgend ein geruchloses Gas ausströmen lassen. Der Zylinder war also mit einem chemischen Gemenge gefüllt. Seit dem Weltkriege war ja die Chemie in der Herstellung derartiger Präparate sehr weit vorgeschritten.

Dann warf Harald den Zylinder ein Stück entfernt in die Büsche und begann sich mit der Katze zu beschäftigen.

Er zog sein Taschenmesser und schien eine Naht am Bauche des Kadavers aufzutrennen.

Ich beugte mich tief herab.

Watte – Watte, – und dann ein längliches Päckchen holte er aus dem Katzenbauch hervor.

„Leuchte vorsichtig!“ flüsterte er.

Aber – wir sollten das, was das Päckchen enthielt, nicht mehr besichtigen können.

Wir hatten uns doch zu sehr darauf verlassen, daß man uns nicht überfallen würde.

Irgend jemand sprang mir von hinten plötzlich auf den Rücken. Ich fiel mit dem Gesicht in die weiche, aus dem Loche herausgeschaufelte Erde. Ich fühlte kräftige Hände um die Kehle, hörte Harald keuchen. Auch er rang mit einem Gegner.

Dann lief mir etwas eisig Kaltes über das Gesicht.

Äthergeruch benahm mir den Atem. Die würgenden Hände lockerten sich.

Ich atmete tief ein – atmete die mir so widerlichen Ätherdünste.

Und versank in den unendlichen Abgrund tiefster Bewußtlosigkeit. –

Da war irgendwo[4] eine Riesenglocke, deren dröhnende Töne mein Trommelfell vibrieren machten.

Und das war die erste Wahrnehmung, als mein Hirn sich aus den Fesseln des Ätherrausches zu befreien begann: Glockenklang!

Und die zweite eine menschliche Stimme:

„Ich gebe Ihnen zwei Stunden Bedenkzeit. Soeben hat die Uhr vier geschlagen. Um sechs frage ich Sie zum letzten Mal.“

Also keine Glocken – eine Uhr mit diesem Gongton war’s gewesen! – Als dieser Gedanke durch mein erwachendes Hirn huschte, gelang es mir auch, die Augen zu öffnen.

Da sah ich denn zuerst in das mattgelbe Licht einer elektrischen Hängelampe mit seidenem Schirm hinein. Da glitt mein Blick weiter und fand die Gestalt des alten Zauberkünstlers, der in einem altmodischen hohen Lehnsessel saß. Da sah ich Harald neben mir in der anderen Sofaecke.

Ich hörte neben mir das schwere, träge Ticken einer Standuhr, hörte Harst erwidern:

„Diese zwei Stunden werden nichts ändern, Herr Stern.“

„Doch vielleicht! In zwei Stunden kann man manches in Erfahrung bringen.“

Dann mischte sich eine dritte Stimme ein. Und da erst bemerkte ich auch Herrn Kollegen Kühn, der im Gegensatz zu uns gefesselt in einem zweiten Lehnsessel vor einem vierteiligen, reich mit silbernen Vögeln verzierten japanischen Wandschirm saß und zwar uns schräg gegenüber an der anderen Zimmerseite.

„Wenn das richtig ist, was Herr Holmer behauptet,“ (er meinte also Harald) sagte Kühn mit recht matter Stimme, „dann hätte ich keine Veranlassung mehr, mich in Schweigen zu hüllen.“

„Es ist Tatsache,“ erklärte Harst gleichmütig. „Machtaler hat sich erschossen. Eigentlich müßte es bereits in den Zeitungen stehen. Vielleicht sehen Sie einmal nach, Herr Stern. Dort liegen ja anscheinend neue Zeitungen.“

Stern stand auf und nahm die Zeitungen vom Mitteltisch.

Harald hatte gesehen, daß ich wieder zu mir gekommen war und wandte sich nun an mich.

„Herr Stern hat uns vorläufig die Fesseln erspart,“ meinte er. Dann deutete er auf eine Art Blechbüchse, die vor uns auf dem Rauchtischchen stand. Von dieser Büchse liefen zwei besponnene Drähte zum Fußboden hinab und schienen weiter unter dem Teppich entlangzugehen. „Herr Stern hat sich jedoch gesichert,“ fuhr Harst fort. „Die Büchse würde explodieren, wenn wir hier Gewalt anwenden wollten.“

Stern-Ballatini schaute von der Zeitung auf und warf mir einen ernsten Blick zu.

Dann war es still im Zimmer. Die Standuhr tickte, die Zeitung raschelte leise.

Das Zimmer war sehr eigenartig eingerichtet. Beinahe ein Museum. Da waren Andenken aus aller Herren Ländern vertreten. Da hingen an den Wänden kostbare Gebetteppiche mit seidigem Glanz, Waffen, Tanzmasken von Negerstämmen, Tigerfelle, ein präparierter Elefantenkopf mit den Stoßzähnen und anderes.

Stern ließ plötzlich ein überraschtes „In der Tat!“ hören.

„Hier steht’s!“ Und er las vor:

„Kommerzienrat Julius Machtaler, einer der bekanntesten deutschen Großkaufleute, hat sich gestern nacht in seiner Villa in Wannsee aus unbekannten Gründen erschossen. Mit ihm verliert eine große Anzahl wohltätiger Vereine ihren stets gebefreudigen Vorsitzenden. Selten hat ein Mann so viel Gutes getan wie er.“

Stern lachte schneidend auf.

„Gutes getan! So ein Schuft! Wie der allen Leuten Sand in die Augen gestreut hat!“

Da meldete sich Kühn wieder.

„Machtaler war mein Auftraggeber. Ich bin Privatdetektiv. Nun er tot ist, habe ich an der ganzen Geschichte kein Interesse mehr.“

„Und welchen Auftrag hatte Machtaler Ihnen erteilt?“ fragte Edgar Stern kurz.

„Ich sollte Fritz Ripplows Vorleben erforschen. Seit drei Wochen war ich hinter Ripplow her. Einmal vor zehn Tagen fuhr er hier nach Hamburg. So ward ich auf Sie aufmerksam, Herr Stern.“

„Und – was haben Sie bisher erforscht?“

„So gut wie nichts. Lediglich das eine, daß Ripplows angebliche Schwester in Wahrheit seine Gattin und daß der Ehe ein Kind entsprossen ist.“

„Ist das alles?“

„Ja. Sie können von mir jeden Eid verlangen. Es ist alles. Machtaler haßte Ripplow geradezu wie die Sünde – oder besser wie das Gute, denn Sie haben ganz recht, Herr Stern: er war ein heuchlerischer Lump! Mich hat er mehr als schäbig bezahlt. Aber man ist ja froh, wenn man etwas zu tun bekommt. Ich habe Weib und Kind daheim. Mein wahrer Name ist Hugo Dreßler. Mein Ruf ist tadellos. Faule Geschichten übernehme ich nicht. Machtaler hatte mich dadurch geködert, daß er mir sagte, wenn ich vollen Erfolg hätte, würde er eine Million springen lassen. Ripplow müßte sehr viel auf dem Kerbholz haben, sei aber schwer zu fassen.“

Stern überlegte. „Würden Sie mir ehrenwörtlich versprechen, über die Geschehnisse hier zu schweigen, wenn ich Ihnen eine Viertel Million gebe?“ fragte er dann.

„Nein. Sie müßten denn gerade auch die beiden anderen Herren dort freilassen, die Sie ja genau wie ich auch für Detektive halten.“

Uns war der Name Dreßler nicht fremd. Dreßlers Ruf war tatsächlich makellos.

„Herr Dreßler,“ sagte Harald da, „unseretwegen machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden mit Herrn Stern schon im guten auseinanderkommen. Nehmen Sie sein Angebot getrost an.“

„Nun – dann ja!“ meinte der Kollege. „Mein Wort also, Herr Stern: ich werde schweigen!“

Stern nahm ihm die Fesseln (es war gelbe Gardinenschnur) ab und holte aus dem Nebenzimmer eine Blechkassette, zahlte Dreßler das Geld aus und sagte: „Bitte – klettern Sie durch das Fenster!“

Dreßler verneigte sich vor uns. „Auf Wiedersehen, meine Herren. Ich bin fünfzehn Jahre Berufsdetektiv, habe jedoch nie etwas so Aufregendes erlebt wie in dieser Nacht.“

Harald reichte ihm die Hand. „Dann stellen Sie recht geringe Ansprüche an aufregende Geschehnisse,“ lächelte er. „Gute Nacht. Sollte Klaus Störten unseretwegen besorgt werden, Herr Dreßler, so beruhigen Sie ihn. Wir haben nur einen Morgenspaziergang gemacht.“

Stern hatte die Innenläden des einen Fensters losgeschraubt und geöffnet. Draußen war heller Tag, Sonnenschein.

Dreßler stieg zum Fenster hinaus und verschwand.

Stern-Ballatini schloß die Läden wieder.

 

4. Kapitel.

Nun waren wir allein mit ihm. Nun mußte sich irgend etwas ereignen. Ich ahnte es.

Der alte Zauberkünstler, eine würdige, sympathische Erscheinung, nahm in seinem Sessel wieder Platz. Er blickte Harald lange prüfend an und sagte dann: „Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Herr Holmer.“

„Oh – das haben von Harald Harst schon viele behauptet, Herr Stern.“

Stern fuhr hoch, saß sekundenlang kerzengerade aufgerichtet und schnappte nach Luft.

„Sie – Sie wären Harald Harst?“ fragte er dann zögernd.

„Erscheint Ihnen das so unmöglich? Hat Ihnen Ihr – Sohn nicht erzählt, daß Frau Irene bei mir war und daß sie uns beobachtete, wie wir Machtaler in der Laube als Gefangenen behandelten? Liegt es da nicht sehr nahe, daß wir Ihren – Sohn hier bei Ihnen suchten?!“

Edgar Stern lehnte sich wieder zurück und ließ wie mutlos den Kopf sinken.

Dann meinte er nach einer Weile mit einer Stimme, die ganz verändert schien:

„Wie kommen Sie darauf, daß Ripplow mein Sohn sei, Herr Harst?“

„Durch die Ähnlichkeit mit Ihnen.“

Der alte Herr hatte sich jetzt wieder gefaßt.

„Diese Ähnlichkeit bilden Sie sich ein,“ erklärte er schroff. „Mein Sohn ist tot. Ripplow war sein Freund.“

Harald schwieg. Da wurde Stern verlegen. „Sie glauben mir nicht?“ meinte er.

„Nein. – Etwas anderes, Herr Stern. Sie scheinen in den letzten anderthalb Tagen keine Zeitungen gelesen zu haben. Wissen Sie, daß Irene Ripplow sich und ihr Kind im Wannsee ertränkt hat?“

Stille.

Edgar Stern starrte Harst blöde an.

Und – und hinter dem japanischen Wandschirm kam jetzt etwas wie ein dumpfer Schrei hervor.

„Herr Ripplow, zeigen Sie sich nur!“ sagte Harald da.

Ripplow erhob sich.

Selten sah ich ein so verstörtes, schmerzverzerrtes Männerantlitz wie das seine. Fast taumelnd kam er auf uns zu.

„Herr Harst – ist das wahr?“ stammelte er.

„Ihre Gattin hinterließ mir einen Brief. Darin hieß es zum Schluß, daß sie den Tod suchen würde. Wir haben den Wannsee mit Netzen abgefischt. Wir haben nichts gefunden.“

Ripplow sank in den nächsten Stuhl.

„Und – und Sie meinen wirklich, daß Irene tot ist?“ fragte er wieder.

Ich sah mir jetzt die blassen Gesichter der beiden Männer an, die Harald für Vater und Sohn hielt.

Ja – wenn jemals, dann trat die Ähnlichkeit nunmehr mit aller Deutlichkeit zu Tage!

„Ich weiß es nicht, Herr Stern,“ erklärte Harald freundlich. Er redete Ripplow jetzt mit Stern an.

Und – Ripplow achtete gar nicht darauf.

„Ich weiß es nicht,“ wiederholte Harst. „Ich hoffe, daß die Liebe zu Ihnen sie noch im letzten Moment von diesem Schritt zurückgehalten hat. Jedenfalls ist sie verschwunden. Die Villa ist leer. Wo Ihre Dienerschaft sich befindet, wissen Sie ja: auf dem Fischkutter draußen! Ihre Siamesen sind nur mäßig als Fischer herausgeputzt.“

Ripplow starrte vor sich hin.

Dann stand er auf und zog den alten Herrn in eine Ecke. Sie sprachen flüsternd miteinander.

Inzwischen nahm Harald die seltsam geformte Blechbüchse vom Tisch, hob den Deckel ab und sagte leise zu mir:

„Es war Ceylon-Tee darin. Man riecht es.“

Ich sah, daß die beiden Drähte, die scheinbar durch den Boden der Büchse in diese hineingeführt hatten, mit einem Nägelchen auf der Tischplatte befestigt waren.

Das also war die gefährliche Bombe gewesen –!

Harald stellte die Büchse wieder – ohne Deckel – auf die Drähte und legte den Deckel nebenbei.

Stern und Ripplow berieten noch immer.

„Sie möchten sich uns anvertrauen,“ flüsterte Harald. „Wir wollen ihnen den Entschluß erleichtern.“

„Herr Edgar Stern!“ rief er dann. „Einen Augenblick! Nehmen Sie beide wieder Platz. Wir können die Sache vereinfachen.“

Die beiden kamen denn auch und setzten sich.

Harald deckte jetzt die große Teebüchse mit einer gewissen ironischen Bedächtigkeit wieder zu und sagte: „Ich will Ihnen all die Beweise aufzählen, die ich dafür habe, daß Sie, Herr Stern junior, nur die Rolle des Fritz Ripplow hier spielen.“ – Er entwickelte diese Beweise dann weit eingehender, als er es mir gegenüber getan hatte. Er war in diesem Moment ein genialer Staatsanwalt, der mit der ganzen Überlegenheit des kühl-kritischen, logischen Verstandesmenschen einem Angeklagten vorhält, daß gegenüber einem so erdrückenden Beweismaterial ein Geständnis das einzig Vernünftige sei. – „Ich zweifle nicht daran, daß Sie Herr Stern, ein Freund Ripplows waren und daß Sie beide dann aus dem Internierungslager entflohen,“ sagte er zum Schluß. „Ripplow kam dann während der Flucht ums Leben und setzte Sie gleichsam zu seinem Erben ein.“

Bisher hatte Stern junior sich völlig teilnahmlos verhalten. Jetzt hob er den Kopf und fragte rasch:

„Ich bin also Ihrer Überzeugung nach kein Betrüger, Herr Harst?“

„Nein. Dem Buchstaben des Gesetzes nach sind Sie es, da Sie in Berlin unter falschem Namen auftraten. Vor mir sind Sie es nicht. Sie werden Ihre Gründe gehabt haben, sich Ripplow zu nennen.“

„Und – weshalb denken Sie nicht schlecht von mir? Sie kennen mich ja kaum.“

„Ich kenne Sie – aus dem, was Sie im stillen Gutes taten, Herr Stern. Ich habe in Wannsee manches erfahren, was „den Schieber“ in ein ganz anderes Licht rückte. Ich habe erfahren, daß dort mancher, der in dieser schweren Zeit zum Hungertode verurteilt war, Geld von Ihnen erhielt, aber versprechen mußte, darüber zu schweigen. Ich sah Sie außerdem mit Ihrem Kinde und Ihrer Gattin in der Palmengrotte. Wer trotz seiner zerrütteten Nerven –“

„Genug – genug!“ rief Stern da. „Herr Harst, Sie sollen jetzt auch noch das letzte hören. Ihre Kombinationen sind richtig. Fritz Ripplow war mein bester Freund. Er wurde auf der Flucht von persischen Banditen erschossen. Er starb in meinen Armen. Mit letzter Kraft setzte er ein Schriftstück auf, das mich zu seinem Erben machte. Als ich dann hier bei meinem Vater eintraf, berieten wir, ob ich mit dieser Urkunde an die Öffentlichkeit treten dürfte und Ripplows Erbschaft antreten könnte. Mein Vater fuhr mit dem mit Bleistift geschriebenen Testament zu einem befreundeten Notar, las es ihm unter Weglassung der Namen vor und fragte, ob das Schreiben als Testament gültig sei. Dies war nicht der Fall. Ripplow hatte einige Formfehler gemacht, die der Urkunde jede Eigenschaft einer letztwilligen Verfügung nahmen. – Mit diesem Bescheid kehrte mein Vater zurück. Ripplow hat nun hier in Deutschland überhaupt keine Verwandten. Seine Erbschaft wäre, da er geborener Elsässer ist, nach heutigem Recht dem französischen Staate zugefallen. – Sollte und durfte dies geschehen? Nein! entschied ich. Niemals! Frankreich sollte nicht einen Pfennig dessen erhalten, was ein Deutscher in rastloser Arbeit erworben! – Ich galt als tot. Ich durfte es wagen, in Berlin Fritz Ripplow zu spielen. Ich tat es. Alles weitere wissen Sie. – Hier ist auch Ripplows Testament.“ – Er reichte Harald ein paar Seiten eines Notizbuchs. Schwarze Blutflecken, blutige Fingerabdrücke waren außer der kritzlichen Bleistiftschrift darauf zu sehen.

Und weiter gab Stern uns ein Päckchen Briefe seines toten Freundes, die dieser an den alten Zauberkünstler geschrieben hatte.

„Vergleichen Sie die Handschrift,“ meinte er.

Harst prüfte kurz.

„Ich zweifle an Ihnen nicht, Herr Stern,“ sagte er herzlich.

Im selben Moment wurde sehr kräftig an die Fensterscheibe geklopft. Jemand rief draußen:

„Hier Dreßler! – Eine Depesche für Sie, Herr Harst.“

 

5. Kapitel.

Der alte Herr Stern ließ Dreßler ein.

Dreßler gab Harst das Telegramm. Wir hatten abends Haralds Mutter telephonisch benachrichtigt, wo wir weilten. Die Depesche war adressiert: „Holmer-Harst –“ – So hatte der Kollege Dreßler sehr leicht herausgefunden, wer wir beide waren.

Das Telegramm lautete:

„Sofort herkommen. Ohne jede Verzögerung. Ich rate dringend dazu. Deine Mutter.“

Harald erhob sich.

„Warten Sie hier das weitere ab,“ sagte er zu den beiden Sterns. Er gab ihnen die Hand.

Und um neun Uhr vormittags führte uns der D-Zug wieder gen Berlin.

Als wir um drei Uhr nachmittags in der Blücherstraße Nr. 10 in Schmargendorf eintrafen, kam uns Frau Harst in den Flur entgegengeeilt.

Sie hatte verweinte Augen. Sie umarmte Harald, schluchzte:

„Ach – hätte ich es Dir doch anvertraut!“

Harald küßte sie. „Mutter, ich wußte es ja, daß Irene mit Ihrem Kinde hier zu Dir geflüchtet war. Du hattest sie wohl am Tage vorher sehr lieb behandelt. Du kannst es, Mutter, Du gewinnst Dir die Herzen im Sturm! – Wenn es im Küchenflur nach Geflügelsuppe riecht, wenn unsere alte brave Mathilde plötzlich so viel Milch kauft wie nie bisher, dann war es für Deinen großen Jungen nicht schwer, auf den Besuch und die Gäste oben in Deinen Räumen zu kommen –“

Er lächelte seine Mutter zärtlich an. „Was ist denn nun geschehen?“ fragte er.

„Sie – sie ist entflohen – in der vergangenen Nacht! Das Kind hat sie hier gelassen. – Hier – diesen Zettel fand ich. Ich werde daraus nicht klug.“

Wir lasen den Zettel.

„Meine Wohltäterin! Mir ist plötzlich etwas eingefallen – etwas, das ich verhüten muß! Ich kehre zurück, bleibe nur ein paar Stunden weg. Es handelt sich um ein Wesen, das so nicht umkommen soll, – Irene.“

Frau Harst weinte wieder. „Harald, sie muß sich um Mitternacht entfernt haben. Sie müßte also längst wieder zurück sein. Ihr ist sicher etwas zugestoßen.“

Harald beruhigte seine Mutter. „Wir werden Irene schon finden. – Schraut – nach Wannsee!“

Ein Auto brachte uns dorthin. Die Villa war noch von der Polizei besetzt. Harst fragte die beiden Beamten, ob eine Dame hiergewesen sei. Die Antwort lautete verneinend.

Harald schritt dem Wirtschaftshofe zu. Neben dem Stalle lagen die Tierkäfige. Da waren die beiden Panther, da war noch anderes exotisches Getier. Ein großer Käfig war leer.

„Der Affe ist verschwunden,“ sagte einer der beiden Beamten. „Es war ein riesiger Schimpanse. Er soll sehr zahm gewesen sein und an der Schwester Ripplows mit großer Treue gehangen haben.“

Ja – Schwester Ripplows! Irene! Die suchten wir. Wo war sie?!

Harst sog mit gerunzelter Stirn an seiner Mirakulum.

Dann winkte er mir zu. Wir verließen die Villa.

„Man muß bei Irenes Zettel zwischen den Zeilen zu lesen wissen,“ sagte er. „Irene hat den Schimpansen mit dem „Wesen“ gemeint. Das steht jetzt fest. Und der Affe muß irgendwo eingeschlossen sein. Dort wollte Irene ihn befreien. Er sollte nicht verhungern.“

Er läutete an der Pforte der Nachbarvilla. Sie gehörte einer verwitweten Frau Konsul. Der Gärtner der Dame öffnete uns.

„Wissen Sie vielleicht, ob Ihr Nachbar, Herr Ripplow, noch irgendwo ein zweites Grundstück besaß?“ fragte Harst.

„Ja, Herr. Das weiß ich. Draußen bei Werder soll er ein Stück Wald gekauft haben, dicht am See. Er hat dort auch noch eine zweite, größere Motorjacht liegen.“

„Nahm er den Schimpansen zuweilen mit?“

„Ja, sehr oft, Herr. Ogwi heißt der Schimpanse. Der kann alles, sogar mit dem Revolver nach der Scheibe schießen.“

„Danke. – Hier – eine Kleinigkeit!“ Und ein Tausendmarkschein wechselte den Besitzer.

Unser Auto wartete noch. Wir stiegen ein, fuhren nach dem bekannten Obststädtchen Werder. Sechs Uhr war’s, als Harst endlich durch beharrliche Nachfragen dort erfahren hatte, wo wir Ripplows Grundstück zu suchen hätten. Wir liehen uns zwei Fahrräder, sausten einen Feldweg entlang, durch einen Wald, dann am einsamen Ufer des großen Sees dahin, kamen an die kleine, von Schilffeldern eingerahmte Bucht.

Und sahen die Jacht dort vor Anker liegen.

Sahen zwei Gestalten an Deck: Irene und den Affen!

„Runter von den Rädern!“ rief Harald leise. „Hinein ins Schilf! Die Bestie ist toll vor Hunger geworden!“

Ja – toll vor Hunger!

Das Bild dort auf der Jacht werde ich mein Lebtag nicht vergessen! Irene und der Affe – der Affe in einem Anzug steckend, einen Revolver in der rechten Pfote, mit dem er Irene vor dem Gesicht umherfuchtelte.

Wir schwammen von hinten an die Jacht heran, vermieden jedes Geräusch.

Hörten das wütende Schnattern der tollen Bestie, hörten Irenes beruhigende, schmeichelnde Worte:

„Ogwi, gib mir den Revolver zurück! Ogwi, sei brav!“

Da – ein Schrei.

Harst schnellte sich aus dem Wasser hoch, hatte die entsicherte Clement bereit.

Der Schimpanse hatte in einem neuen Wutanfall Irene gepackt, hatte ihr den Revolver auf die Stirn gedrückt.

Und dann – Harsts Schuß.

Ein Meisterschuß! – Der Revolver flog Ogwi aus der Hand.

Ein zweiter Schuß – und das Tier kollerte mit durchbohrtem Schädel über Bord ins Wasser – versank –

Das war der Ausklang dieses Abenteuers.

Was dann noch folgte, kann ich hier mit ein paar Sätzen nur streifen.

Wir nahmen Irene mit nach Berlin, brachten sie am anderen Tage mit ihrem Kinde nach Hamburg. Harald hatte ihr jetzt das Geheimnis ihres Gatten mitgeteilt. Nun begriff sie erst, weshalb er so häufig unter so schwerer Gemütsdepression gelitten hatte: das Bewußtsein, vor ihr, die er über alles liebte, so viel Heimlichkeiten zu haben, hatte seine Nerven mehr zerrüttet als Machtalers infame Intrigen! –

Das versöhnte Ehepaar begab sich vorläufig mit seinem Kinde nach Holland, wo Fritz Ripplow, in Wahrheit Herbert Stern, den Erfolg von Harsts Bemühungen abwartete, ihn vor einer abermaligen Verhaftung zu schützen.

Harald wandte sich an die zuständigen Behörden, wies nach, daß Ripplows Testament doch gültig sei, beseitigte alle anderen Schwierigkeiten und erreichte, daß Herbert Stern nachher lediglich in eine Geldstrafe wegen Führung eines falschen Namens genommen wurde. –

Von den Juwelen, die der Katzenbauch enthielt, machte unser Freund Herbert uns je eine kostbare Perle als Krawattennadel zum Geschenk. Aber – wir beide tragen diese Andenken nie! Wir sind vorsichtig: denn diese Perlen würde niemand für echt halten, niemand! Und doch sind sie echt, sind von wundervoll mildem Glanz – wie Frau Irenes in Mutterglück leuchtende Augen.

 

Nächster Band:

Giftkonfekt.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band


























108:
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127:
128:
129:
130:
131:
132:
133:
134:
135:

Die Motorjacht ohne Namen.
Der Kampf gegen Lionel Barring.
Das Geheimnis der Tokkara-Höhle.
Die große Null.
Das Geheimnis des Bosporus.
Anna Karstens Amulett.
Der Mann mit dem Glasauge.
Der Kopf des Maharadscha.
Die Treppe des Todes.
Dr. Groupys Verhängnis.
Das Geisterschiff.
Der Tennisschläger der Rani.
Der Mann am Kreuze.
Tawa Burru, der Verrückte.
Das Piratendorf.
Die Hexenküche.
Das Geheimnis von H. O. 3.
Die Gräfin mit den Kormoranen.
Der Bouillonkeller 113.
Der tote Tümmler.
Das Erbe der Verschollenen.
Das Geheimnis der Dabri-Fälle.
Die Faktorei auf der Toteninsel.
Das gestohlene Auto.
Das Rätsel der Spielkarten.
Die Diamanten des Bettlers.
Die Photographien d. Sennor Trimaldo.
Der Kokain-Klub.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Nicolassee“ – Zwei Vorkommen auf „Nikolassee“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „zahlte“.
  3. In der Vorlage steht: „spazieern“.
  4. In der Vorlage steht: „irgenwo“.