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Die Hand aus Holz

 

 

Walther Kabel

 

Die Hand aus Holz

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Die Gründe die mich seinerzeit dazu bewogen haben, die Geschichte von der Hand aus Holz der Öffentlichkeit vorzuenthalten, sind jetzt infolge besonderer Ereignis hinfällig geworden.

Diese Geschichte ist ein Kriminalroman, den das Leben gedichtet hat. Ich bin in diesem Falle nur der, dem es obliegt, die einzelnen Geschehnisse in einer für Leser übersichtlichen Weise niederzuschreiben. –

Ich beginne …:

 

1. Kapitel.

Die Schreckenskunde.

Am Morgen des 25. Mai 1924 Punkt acht läutete an der Gartenpforte der Villa des Direktors Sachewski ein jüngerer Herr, der offenbar von der nahen Bahnstation aus den ganzen Weg bis hierher gelaufen war, denn er keuchte derart, daß er der jungen Dame, die ihm nun die Pforte öffnete, nur stockend und in abgerissenen Sätzen Auskunft geben konnte.

Margot Sachewski hatte im Vorgarten soeben Rosen geschnitten und hielt in der Linken einen Strauß dieser köstlichen Blüten, deren Duftwellen den ebenso erschöpften wie verstörten Gast wie der Odem der frischen holden Weiblichkeit Margots umfluteten.

„Papa ist in seinem Zimmer, Herr Vandersloh,“ sagte das junge Mädchen nun mit leichtem Kopfschütteln. „Im übrigen: ich begreife Sie nicht recht … Sie tun so geheimnisvoll … Was ist denn eigentlich geschehen? Sie waren in Papas Auftrag verreist? Auch das ist mir neu …“

Der blonde große Vandersloh lächelte gequält.

„Gnädiges Fräulein, – selbst das hätte ich Ihnen nicht sagen dürfen! – Verzeihen Sie … Ich muß zu Ihrem Herrn Vater … Jede Sekunde kann hier –“

Und er schloß den Satz mit einer verzweifelten Handbewegung, verbeugte sich und rannte der Villa zu.

Er … rannte …

Und war doch sonst ein so ruhiger gesetzter junger Herr, der Viktor Vandersloh, ein Gentleman von fast zu stark englischem Zuschnitt. – –

Generaldirektor Albert Sachewski, der allmächtige Beherrscher der Gigantic-Werke, hatte am offenen Fenster seine Morgenzigarre geraucht.

Als er nun den jungen Vandersloh die Hauptallee hinabhasten sah, als er in dem Gesicht des mit so überaus wichtiger Mission Betrauten einen Ausdruck von Hilflosigkeit, Angst und grenzenloser Verstörtheit bemerkte, wurde er leichenblaß.

Die Zigarre entfiel seiner Hand. Das hagere bartlose Antlitz ward zu einer Maske ungeheuren Entsetzens. Der Unterkiefer sank herab, und so mit offenem Munde, mit fahlen Wangen und glasigen Augen stierte Sachewski in das Grün der Fliederbüsche hinab, bis Vandersloh jetzt um diese Büsche bog und sein Chef ihm zurufen konnte:

„Um Gottes willen, was ist geschehen …?“

Vandersloh stand wie angewurzelt.

„Das Kästchen ist mir –“

Er lallte fast …

Und die heisere Stimme Sachewskis riß ihm das Wort vom Munde weg.

„… etwa gestohlen worden? – – So reden Sie doch Vandersloh …!!“

Der nickte nur.

Und oben im Hochparterrefenster, das von wildem Wein völlig eingerahmt war, ächzte der Generaldirektor wie ein Schwerkranker …

„Kommen Sie … kommen Sie in mein Zimmer – rasch …!!“

Die Fensterflügel wurden klirrend geschlossen. Der Chemiker Viktor Vandersloh eilte die breite Steintreppe empor, verschwand in der Villa.

Hinter den Fliederbüschen aber lehnte Margot Sachewski an einem Gartentischchen …

Vor ihr lagen die köstlichen Rosen …

Unbeachtet … Im gelben Zierkies des Weges …

Das Mädchen hatte seltsam leere Augen. Die vollen Lippen zuckten, murmelten lautlos:

„Wieder etwas, das ich nie aufklären werde …! Wieder wird er Ausflüchte gebrauchen – – lügen … lügen …!“ – –

Und in des Generaldirektors elegantem Herrenzimmer standen sich zwei Männer ratlos gegenüber …

Ratlos, blaß, – Menschen, die sich selbst fremd waren in diesen Minuten peinvollsten Suchens nach Hilfe, nach … einem Hoffnungsschimmer …

„Die Polizei muß aus dem Spiele bleiben …“ flüsterte Sachewski.

„Ja …“

„Also … ein Detektiv!“ – Der Generaldirektor faßte sich allmählich wieder.

„Ja …“ lallte Vandersloh stumpfsinnig.

„Ein Detektiv, der verschwiegen ist und etwas leistet!“ fügte Sachewski grübelnd hinzu.

„Ja …“

Plötzlich flog’s wie ein heller Schimmer über des Allgewaltigen Gesicht …

Er nannte einen Namen.

Und auch Vanderslohs Augen bekamen da wieder Leben.

„Natürlich müssen Sie die Geschichte ummodeln, Vandersloh,“ meinte der Generaldirektor hastig. „Die Wahrheit darf niemand erfahren …“

Sie berieten. Entwarfen einen Tatbestand, der den Umständen angepaßt schien.

Bis Vandersloh dann kleinlaut äußerte:

„Fräulein Margot öffnete mir die Gartentür … Ich habe leider in meiner Verwirrung die Reise erwähnt …“

Sachewskis schmaler Mund verzog sich.

„Das bringe ich schon in Ordnung, Vandersloh. – Sie nehmen mein Auto. In zwanzig Minuten sind Sie in Berlin, steigen vor dem Ziel aus und tun, als kämen Sie geradeswegs vom Stettiner Bahnhof.“ –

Viktor Vandersloh saß in dem dahinjagenden Kraftwagen.

Sein Gesicht war noch genau so verstört wie vorhin …

Auf seiner Seele lastete die Angst wie schwere, schwere Gewichte …

Nicht auszudenken war es ja, wenn das Furchtbare wirklich geschehen sollte …!!

Er krampfte die Hände zusammen … zu Fäusten – mit schmerzhaftem Druck.

Dachte weiter: „Und jetzt noch – lügen, lügen!! Ich – ich!! Ein Mensch, der so sehr für reinliche Verhältnisse ist!“ –

Zur selben Minute war die blonde Margot Sachewski bei ihrem Vater, stand etwa an derselben Stelle, wo vorhin Vandersloh gestanden hatte …

„In dem Kästchen befanden sich Konstruktionspläne,“ sagte der Generaldirektor, der an seinem Schreibtisch saß und sich halb umgewandt hatte.

Margot lächelte bitter. „Er wagt es nicht, mich anzusehen,“ fuhr es ihr durch den Kopf …

„Wir haben daher eine Notlüge ersonnen. Du bist nun eingeweiht, Kind. Wahrscheinlich wird der Herr hier bei uns überhaupt nicht auftauchen und Dich daher auch nicht in die Verlegenheit bringen, Dein Gewissen durch eine – kleine Verdrehung zu belasten.“

Margot lächelte noch bitterer …

All das, was seit einem Jahr sich in ihr allmählich aufgespeichert hatte an Zweifeln, Ängsten und stummen Fragen, brach jetzt hervor.

Mit zwei raschen Schritten war sie vor dem Manne, der ihrem Leben eine andere Richtung aufgezwungen hatte.

Ihre großen grauen Augen, die stets so kühl zu blicken pflegten und deren stiller Ernst doch nicht diesem zarten schönen Antlitz den Eindruck holdester Weiblichkeit nehmen konnte, schauten Sachewski fest an.

„Verzeih, Papa.“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Ich habe noch nie über diese Dinge mit Dir gesprochen. Wir beide hausen hier allein in der großen Villa mit den drei Dienstboten, dem Gärtner und dem Chauffeur. Angeblich nur wir beide. – Verzeih – ich glaube das nicht mehr!“

Sachewski hatte sich mit einem etwas gezwungen klingenden Lachen erhoben …

„Kind – Kind, was … faselst Du da zusammen?! Wie – – meinst Du das? Wir …“

Und jäh brach er ab …

Margot war langsam zur Tür geschritten. Dort erst wandte sie sich um.

„Ich werde nie mehr fragen, Papa! Nie mehr! Deine Angelegenheiten gehen mich nichts an – gar nichts!“

Und die Tür klappte hinter ihr zu.

Der Generaldirektor sank in den Schreibtischsessel zurück.

Sein Blick irrte umher. Blieb auf einem Bilde haften.

„Sie ahnt die Wahrheit!“ Er wußte selbst nicht, daß er – laut gedacht hatte.

Wußte nicht, daß der Diener Georg durch die andere Tür geräuschlos eingetreten war.

Der dicke, behäbige Mann, der mit schmerzlichem Kopfnicken seinen Herrn beobachtete, flüsterte jetzt:

„Es konnte nicht verborgen bleiben, Herr Generaldirektor! Fräulein Margot ist kein Mädchen, das blind an so merkwürdigen Geschehnissen vorübergeht.“

Sachewski seufzte qualvoll.

„Sie haben recht, Georg. Wenn ich nur auf Sie gehört hätte!“

„Noch ist es nicht zu spät.“

Sachewski drehte sich um.

„Sie meinen – in dieser Sache?“

„Ja … Es muß sein!“

Die beiden Männer sahen sich an. Und ihre Augen wichen zur Seite. Zur Wand rechts von dem großen Diplomatenschreibtisch. Zu – dem einen Bilde.

Als ob ein innerer Zwang ihre Blicke dorthin richtete.

 

2. Kapitel.

Der Detektiv.

Viktor Vandersloh saß in Harald Harsts Arbeitszimmer dem Detektiv und dessen Freunde gegenüber.

„Bitte, erzählen Sie nur, Herr Vandersloh,“ sagt Harst. „Wenn der Fall mich interessiert, will ich ihn gern übernehmen.“

Der junge Chemiker begann:

„Ich bin seit drei Jahren im chemischen Laboratorium der Gigantic-Werke beschäftigt. Gestern früh übergab mir der Generaldirektor Sachewski ein Stahlkästchen, in dem sich – Konstruktionspläne für einen neuen Sender befanden. Sie wissen wohl, Herr Harst, daß die Gigantic-Werke auch die Radioindustrie –“

„Ich weiß,“ unterbrach der Detektiv ihn. „Die Größe des Kästchens, das Aussehen?“

„Fünfzehn Zentimeter Länge, acht Zentimeter Höhe und Breite. Die Wandungen und der Deckel mit Geheimverschluß sieben Millimeter stark, bester Stahl!“

„Ein merkwürdiger Behälter für Konstruktionspläne!“

„Oh – ein sicherer Behälter, Herr Harst!“

„Und das Aussehen? Glatt? Verzierungen? Ein Griff?“

„Ganz glatt. Auf dem Deckel lediglich ein kleiner Knopf aus Silber, gerade in der Mitte.“

„Und der Geheimverschluß?“

„Bedauere, Herr Harst. Darüber weiß ich nichts. Ich sollte das Kästchen in Stettin einem Herrn übergeben, der mich auf dem Bahnhof erwarten würde und am Hut unter dem Hutband links eine Bahnsteigkarte tragen würde. Das sollte für mich das Erkennungszeichen sein.“

„Name?“

„Bedauere! Herr Generaldirektor Sachewski, der mir großes Vertrauen entgegenbringt, hat mir über den Empfänger der Konstruktionspläne nichts weiter mitgeteilt, und ich wieder habe nichts gefragt.“

„Danke! – Das Kästchen wurde Ihnen im Zuge gestohlen?“

„Ja. – Ich sollte die erste Wagenklasse benutzen. Gestern elf Uhr vormittags fuhr ich vom Stettiner Bahnhof ab. Der Zug war sehr besetzt, nur in den Abteilen erster Klasse befanden sich kaum ein Dutzend Reisende. Ich hatte einen Fensterplatz in einem Nichtraucherabteil. Zunächst war ich allein. Erst ganz kurz vor der Abfahrt erschien noch eine ältere schlanke Dame und nahm den anderen Fensterplatz ein. Hinter Eberswalde ließ ich mir vom Speisewagenkellner eine Tasse Kaffee bringen. Als ich sie ausgetrunken hatte, wurde mir so übel, daß ich die Toilette aufsuchen mußte. Leider ließ ich meine Reisetasche, in der sich das in Papier gehüllte Stahlkästchen befand, im Gepäcknetz stehen. Das Unwohlsein ging bald vorüber, und das erste, was ich nach der Rückkehr in das Abteil tat, war ein Blick in meine Reisetasche. Ich atmete auf: das Kästchen war noch da!“

„Das heißt: Sie glaubten, in der Umhüllung befinde sich noch das Kästchen …“

„Ja. Und erst auf dem Bahnhof in Stettin kam das Entsetzliche an den Tag. In der Papierumhüllung lag nur – ein Holzkästchen gleicher Größe, ein leeres Zigarettenkästchen!“

„Der Herr erwartete Sie?“

„Gewiß!“

„Und was geschah, als Sie beide den Diebstahl gewahr wurden?“

„Der Herr entfernte sich wortlos vom Bahnsteig, ließ mich einfach stehen …“

„Bitte – sein Äußeres?“

„Ärmlich angezogen, blonder Vollbart, blaue Brille, etwas starke rote Nase, lang und dürr.“

„Und Sie, Herr Vandersloh?“

„Ich … ich – – schäme mich, die Wahrheit zu gestehen. Ich habe mich aus Verzweiflung betrunken!“

„Und sind untätig geblieben?“

„Ja – bis heute, wo ich nun vom Stettiner Bahnhof zu Ihnen gefahren bin, Herr Harst. Ich darf ja Herrn Sachewski nicht mehr vor die Augen treten!“

Harald Harst lächelte unmerklich.

„Wenn ich Ihnen helfen soll, Herr Vandersloh, muß ich Herrn Sachewski Verschiedenes fragen. Mithin muß er auch erfahren, was geschehen ist!“

„Allerdings.“

„Nun, Sie sind einsichtsvoll, Herr Vandersloh. Wir werden das Kästchen schon zurückerobern. – Hatte Ihre Reisebegleiterin ein besonderes Kennzeichen? Beschreiben Sie mir die Dame ganz genau, denn es ist wohl klar, daß nur sie die Diebin sein kann. Stand sie nicht an der Tür des Abteils, als der Kellner Ihnen die Tasse Kaffee brachte?“

„Ja …“

„Nun, da hat sie eben sehr geschickt irgendein Präparat, ein Körnchen, in die Tasse fallen lassen, als der Kellner sich an ihr vorbeidrängte. Nach dem Genuß des Kaffees wurde Ihnen dann eben übel. Also – ein sorgfältig vorbereiteter Diebstahl, worauf ja auch das Zigarettenkistchen hindeutet, das die Dame zwecks Austausch gegen das Stahlkästchen bei sich hatte …“

Vandersloh nickte.

„So muß es gewesen sein, Herr Harst!“

„Wo kann ich Herrn Sachewski sprechen?“

„Um diese Zeit ist er zumeist in den Werken in Johannisthal.“

„Und er wohnt?“

„In Neubabelsberg, Seestraße 18.“

„Dann würde ich Ihnen den guten Rat geben, Herr Vandersloh, von hier aus den Generaldirektor telephonisch anzurufen und ihm Ihr Mißgeschick zu melden. Wenn Sie gleichzeitig erklären, daß Sie mich bereits beauftragt haben, die Angelegenheit zu ordnen, so wird er Ihnen wohl das etwas unbesonnene Verhalten in Stettin – denn ein anderer Vorwurf trifft Sie kaum – nicht allzu sehr verübeln. – Bitte, dort steht der Apparat …“

Vandersloh rief die Fabrik an und erhielt den Bescheid, der Generaldirektor sei noch nicht dort.

„Dann die Privatwohnung,“ meinte Harst.

Und jetzt konnte Viktor Vandersloh hier in Harald Harsts Zimmer die Komödie beenden.

Gab sich die redlichste Mühe, am Fernsprecher recht zerknirscht zu tun.

„Nun möchte ich mit Herrn Sachewski noch reden,“ sagte der Detektiv, als Vandersloh den Hörer weglegen wollte.

Das Gespräch nahm folgenden Verlauf.

Harst: „Hier Harald Harst. Gestatten Sie einige Fragen, Herr Generaldirektor. – Das Kästchen enthielt Zeichnungen. Wer sollte es in Stettin in Empfang nehmen? Name, Wohnort und so weiter.“

Sachewski: „Ein schwedischer Ingenieur, ein Bekannter von mir, Holger Larsen aus Göteborg.“

Harst: „Weshalb diese geheimnisvolle Art der Aushändigung?“

Sachewski: „Larsen ist der Erfinder des neuen Röhrensenders, Herr Harst. Von seiner Erfindung haben Leute Kenntnis erhalten, die ihn um die Frucht seiner Arbeit betrügen möchten. Er wird beobachtet und verfolgt.“

Harst: „Danke. Das genügt mir. – Auf Wiedersehen, Herr Generaldirektor.“

Und – damit war das Gespräch beendet.

Der Detektiv wandte sich an Vandersloh.

„Sie sehen, Herr Sachewski ist nicht halb so ärgerlich wie Sie verstört und verzweifelt sind. – Besinnen Sie sich jetzt nochmals recht genau: hatte Ihre Reisegefährtin gar kein besonderes Kennzeichen?“

Vandersloh sprang plötzlich auf.

„Herr Harst, – daß mir die künstliche Hand erst jetzt einfällt!! Ja – die Dame hatte eine Hand aus Holz, trug einen Handschuh darüber … Aber ich sah doch, daß der Arm über dem Handgelenk aus Holz war und daß –“

„Danke! – Welche Hand?“

„Die linke.“

„Und die Dame trug einen Mantel?“

„Ja – einen hellen weiten Ulster, grüngrau … Sehr schlicht.“

„Dann weiß ich vorläufig genug.“

Vandersloh verstand den Wink und verabschiedete sich. –

* * *

Ich, Max Schraut, Freund und Gehilfe Harald Harsts, habe hier in den ersten Seiten dieses unseres Abenteuers mit der Hand aus Holz mich absichtlich ganz kurz gefaßt.

Diese ersten Seiten bilden ja nur die Einleitung zu all den mannigfachen Geschehnissen seltsamster Art, die ich nunmehr eingehender und mit dem Versuch einer recht scharfen Charakterisierung der handelnden Personen schildern will.

 

3. Kapitel.

Ein Pfund Silizit.

Harst saß im Klubsessel.

Die Vorgartentür schlug hinter Vandersloh zu. Die Fenster standen offen.

„Da geht einer, der gelogen hat,“ sagte Harald und nahm aus seinem goldenen Zigarettenetui eine Mirakulum. „Einer, der sich einbildet, mich beschwindeln zu können.“

Er rauchte, fächelte mit der schmalen Hand die dünnen Wölkchen auseinander, fragte:

„Glaubst Du an die Konstruktionspläne, mein Alter?“

„Nein.“ Und das war meine ehrliche Überzeugung: das Stahlkästchen mit dem Geheimverschluß hatte andere Dinge von Wert oder Wichtigkeit enthalten!

„Dieser Vandersloh,“ meinte Harst nun sinnend, „war viel zu verstört und verzweifelt. Außerdem muß man beachten, daß der Diebstahl von Konstruktionsplänen schließlich kein so großes Unglück ist. Die Diebe könnten die Erfindung weder veräußern noch patentieren lassen, wenn der Ingenieur Holger Larsen die Angelegenheit durch die Zeitungen bekannt macht. Mithin dürfte –“

Und er blickte mich an. Eine Aufforderung war’s, daß ich weitersprechen solle.

„– dürfte dieser Ingenieur gar nicht existieren,“ vollendete ich den Satz.

Harald verzog das schmale Gesicht.

„Hm – ich bin anderer Ansicht. Es gibt bestimmt einen Holger Larsen, und fraglos ist er auch Sachewskis Freund. Nur –“

Wieder brach er ab.

Wartete … –

Ich zuckte die Achseln. „Rede nur! Ich bin heute vielleicht nicht ganz geistig auf der Höhe.“

„Hübsch gesagt: geistig nicht ganz auf der Höhe! – Alterchen, Alterchen, und dabei ist die Sache doch so durchsichtig!“

„Für Dich!“

„Für jeden, der wie wir den Fahrplan nach auswärts leidlich im Kopfe haben müssen. Der Morgenzug von Stettin trifft hier um halb acht ein. Jetzt ist es genau halb elf. Vandersloh war eine halbe Stunde bei uns. Also hat er von halb acht bis etwa zehn Uhr, zweiundeinehalbe Stunde, dazu gebraucht, vom Stettiner Bahnhof hierher zu uns zu kommen. Und er behauptete, uns unverzüglich aufgesucht zu haben.“

„Du folgerst daraus?“

„Daß er vorher noch anderswo gewesen ist.“

„Wo?“

„Bei Sachewski in Neubabelsberg.“

„Ah – Du glaubst …?“

„An ein abgekartetes Spiel! – Doch halten wir uns nicht mit theoretischen Erörterungen auf. Wir werden nach Neubabelsberg hinausfahren. Am besten in unserer bewährten Maske als Holländer van Hoorten und Schrooten …“ – –

* * *

Viktor Vandersloh wohnte möbliert in der Kufsteiner Straße, Berlin W, bei einer Witwe, die einst in glänzenden Verhältnissen gelebt hatte und nun mit ihrer Tochter wie so viele andere den Kampf ums Dasein in seinen kläglichsten Formen kennen lernte. Ihr Vermögen war dahin. Und doch konnte Frau Vilma Rippa sich noch glücklich schätzen, daß sie eine hochelegant eingerichtete Sechszimmerwohnung besaß, dazu – und das war die Hauptsache – in ihrem einzigen Kinde eine Stütze gefunden hatte, die der über den Verlust des Vermögens zunächst völlig kopflosen Mutter den Übergang in die neuen Lebensbedingungen einzig und allein ermöglicht hatte.

Diese Hildegard Rippa, zweiundzwanzig Jahre alt, war in allem völlig das Ebenbild des verstorbenen Geheimen Regierungsrats Wilhelm Rippa, der im besten Sinne den Typ des altpreußischen höheren Beamten dargestellt hatte. Zwei Brüder Hildes, beide aktive Offiziere, waren im Weltkriege geblieben. Der Geheimrat selbst starb 1918 aus stillem Gram über diese grausame Schicksalsfügung. Und doch war nie auch nur ein einziges Wort der Klage über seine Lippen gekommen.

„Es gibt Fälle, in denen das Sterben einfach Pflicht ist,“ hatte er wiederholt geäußert.

Und genau so innerlich stark und verschlossen war Hilde. –

Als Vandersloh nach dem Besuch bei dem bekannten Detektiv gegen elf Uhr heimkehrte, fand er Hilde in seinem Zimmer oben auf der Trittleiter vor. Sie brachte neue Fenstervorhänge an, trug eine große Wirtschaftsschürze und an den schmalen Füßen Goldkäferschuhchen, die einst auf Bällen sich munter bewegt hatten und nun degradiert worden waren.

Vandersloh begrüßte Hilde zwanglos und kameradschaftlich. Er wohnte bereits vier Monate hier bei Rippas, und von den fünf Mietern war gerade er den beiden Damen am angenehmsten, weil er mit größtem Takt nie vergaß, daß Mutter und Tochter ihm gesellschaftlich zum mindesten gleichgestellt waren.

Hilde nickte ihm oben von der Leiter zu.

„Ich bin hier sofort fertig, Herr Vandersloh.“

Dann aber sah sie sein Gesicht. Sah erst jetzt, daß dieses frische, ruhige Antlitz des Mannes, der ihr in vielem so wesensverwandt war, völlig verändert schien.

Sie erschrak …

Und rasch stieg sie, den fußfreien Rock zusammenraffend, von der Leiter herab, trat dicht vor Vandersloh hin.

„Ihnen ist irgend etwas zugestoßen!“ flüsterte sie zaghaft, und in ihrer Stimme bebte mehr als nur bloße Teilnahme.

Vandersloh schaute Hilde traurig an.

„Welch jämmerlicher Komödiant bin ich doch! Nicht einmal Ihnen gegenüber kann ich verheimlichen, daß –“

Um seinen Mund erschienen tiefe Falten.

Er schwieg … Seufzte leicht auf.

Hilde hatte ihm die Hand hingestreckt.

„Mein Gott, – Ihre Finger … eiskalt … – Was … was ist denn geschehen?“

Und die braunen Augen dieses jungen Weibes, das ihr Herz bisher so gut in der Gewalt gehabt, verrieten mehr als Vandersloh je zu hoffen gewagt hatte.

All seine Sorgen fielen da plötzlich von ihm ab …

Was kümmerte ihn jetzt in diesem Augenblick noch das Kästchen, das unselige, gefährliche Stahlkästchen!

Hier stand ja das blühende Leben mit all seinen Verheißungen vor ihm: Hilde!

Hier war ihm ja soeben die beglückende Erkenntnis aufgegangen daß seine heimlichen Herzenswünsche nun doch erfüllt werden würden!

Und ohne langes Besinnen ergriff er nun auch Hildes andere Hand.

Seine Blicke strahlten Liebe … Alles Trostlose war wie weggewischt … Und auch all das Steife, Förmliche, das ihm bei den lieben Kollegen und Bekannten den ironischen Namen „Gentleman Vandersloh“ eintragen hatte, zerflatterte im Aufbrausen dieser starken tiefen Herzensneigung.

„Hilde, Sie sorgen sich um mich?“ fragte er innig. „Bin ich Ihnen denn wirklich mehr als nur –“

Vor ihrem Lächeln verstummte er. Ein Lächeln war’s, voller Hingebung, vollen freudigen Bejahens.

Und nicht eines einzigen Wortes bedurfte es mehr.

Vandersloh hielt Hilde umschlungen, küßte sie.

Und – fühlte an dem Beben des schlanken Mädchenleibes, daß Hildegard Rippas Weibstum unter diesen ersten Zärtlichkeiten jäh erwachte … Fühlte mit der seligen Gewißheit des Mannes, der das Leben kannte, daß in diesem stolzen kühlen, scheinbar so kühlen und vornehmen Mädchen das heiße Blut eines natürlich empfindenden, triebhaften Menschen kreiste … –

Selige, beseligende Minuten bräutlicher Zärtlichkeiten …

Und beide mit heißen Gesichtern, jagenden Herzen endlich der Vernunft gehorchend …

Eng aneinander geschmiegt auf dem Klubsofa sitzend …

Vandersloh erzählend … Vor Hilde durfte er nun keinerlei Geheimnis mehr haben.

Alles berichtete er. Bis das Mädchen dann die eine bange Frage tat:

„Und – was enthielt die Stahlkassette in Wirklichkeit?“

Vanderslohs Augen wurden starr. Die Mundwinkel zogen sich herab … Die Seligkeit erlosch vollends …

Das drohende Gespenst eines ungeheuren Unheils reckte sich wieder empor …

Er stammelte – stammelte heiser:

„Einen – neuen Sprengstoff … Ein Pfund Silizit. Und dieses Silizit ist – meine Erfindung. Nur Generaldirektor Sachewski hatte ich eingeweiht. Der wollte das Silizit in der schwedischen Sprengstoffabrik in Göteborg, wo Dynamit nach dem Nobelschen Verfahren hergestellt wird, durch den Fachingenieur Larsen vervollkommnen lassen, denn bisher hat es den einen Nachteil, daß es schon durch längeres Lagern an frischer Luft sich selbst entzündet … – Begreifst Du nun, Hilde, weshalb ich mich in Stettin vor Verzweiflung durch Alkohol betäubte?! Stelle Dir vor: die Sprengwirkung dieses einen Pfundes Silizit würde genügen, einen ganzen Häuserblock in Trümmer zu legen!“

Er trocknete den kalten Schweiß von der Stirn … Er atmete keuchend.

Fügte hinzu: „Unbegreiflich ist, daß das Geheimnis meiner Erfindung jemandem bekannt geworden sein sollte …! Und doch läßt die Art des Diebstahls im Zuge nach Stettin nur die eine Erklärung zu, daß dieser Diebstahl, wie auch Harst betonte, vorbereitet worden ist! Mithin wußte irgend jemand, daß ich mit Larsen in Stettin mich treffen wollte … – Und nun male Dir aus, daß jemand das Kästchen, dessen Geheimverschluß für jeden Uneingeweihten unmöglich zu öffnen ist, gewaltsam aufzubrechen sucht …! Dann – – explodiert das Silizit …! Dann –“

Und mit einem trockenen nervösen Aufschluchzen deckte er beide Hände vor das fahle Gesicht …

Zitterte … –

Weiche Arme umschlangen ihn …

Weiche Lippen trösteten …

Und in Hildes starker Seele reifte gleichzeitig ein geheimer Entschluß … –

Zehn Minuten später verließ sie angeblich zu Einkäufen das Haus. Und sie, die Sparsame, bestieg am Bayrischen Platz ein Auto und fuhr nach Schmargendorf hinaus, nach Blücherstraße 10 – zu Harald Harst.

 

4. Kapitel.

Und doch nicht Silizit …!

Als die alte Harstsche Köchin Mathilde uns Fräulein Hildegard Rippa meldete, waren wir nicht mehr Harst und Schraut, sondern bereits zwei blondbärtige würdige Holländer gesetzten Alters, so daß wir es der jungen Dame wahrlich nicht verdenken konnten, wenn sie uns nun in Haralds Arbeitszimmer zunächst sehr erstaunt musterte. Sie hatte sich zum mindesten von Harst eine andere Vorstellung gemacht.

Die Sache wurde dann sehr bald aufgeklärt.

Ich kann wohl sagen, daß ich selten eine so sympathische Bekanntschaft gemacht habe wie dieses Fräulein Rippa.

Auch Harst gefiel sie offenbar sehr, denn er behandelte sie mit einer Zuvorkommenheit, wie er’s nur selten tut. Zumeist bleibt er ja kühl und zugeknöpft.

So erfuhren wir denn nun die – Wahrheit! –

Die .... Wahrheit …!

Mit vier Punkten vor der .... Wahrheit.

Und zuweilen sind Punkte sehr vielsagend. –

Harald reichte Hildegard zum Abschied die Hand.

„Gnädiges Fräulein, was in meinen Kräften steht, werde ich tun, um diese Unglückskassette schleunigst wieder herbeizuschaffen. Herr Vandersloh hätte nur sofort mir gegenüber ehrlich sein sollen, ebenso der Generaldirektor. Besonders letzterer ist mir unverständlich. – Im übrigen ist die Angst, daß der Dieb das Kästchen aufsprengen könnte, wohl überflüssig. Der Dieb weiß ja fraglos, welch überaus gefährlichen Inhalt der kleine Stahlbehälter hat. Er wird sich hüten, mit Gewalt an der Kassette herumzuarbeiten!“ –

Hildegard verließ uns bedeutend beruhigter und zuversichtlicher, als sie es wohl je gehofft hatte.

* * *

Um ein Uhr mittags betraten zwei Herren das Postamt in dem Villenvorort Neubabelsberg und fragten, ob sie den Vorsteher sprechen könnten.

Die beiden Herren waren wir, und der Herr Vorsteher war ein überaus liebenswürdiger Mann, der manch einem anderen Stephansjünger als Vorbild zu empfehlen wäre.

Was Harald hier wollte, wußte ich nicht. Ich war deshalb auch recht überrascht, als er den Vorsteher unter Hinweis auf seine Legitimation fragte, ob Herr Generaldirektor Sachewski heute eine Depesche aufgegeben habe.

Der Vorsteher erklärte, er müsse leider jede Auskunft verweigern: Dienstgeheimnis! – Nur die Polizei könnte einen Brief- oder Depeschenwechsel überwachen.

Harst war darauf vorbereitet. Er rief unseren Freund Kriminalkommissar Bechert telephonisch an, und Bechert brachte die Angelegenheit sofort in Ordnung.

Nun zeigte uns der Vorsteher nicht eine, sondern zwei Depeschen. Sachewski hatte sie durch den Diener Georg Jürgen aufgeben lassen.

1)

Holger Larsen,

Stettin, Neue Straße 110

bei Wechsler.

Habe Fachmann zugezogen. Inhalt Silizit. Erwarte Dich abends mit geschlossenem Auto, das Du selbst steuerst, Seestraße Ecke Bahnstraße zwölf Uhr mit aller nötigen Vorsicht.

Albert.

Das zweite Telegramm war zehn Minuten später aufgegeben worden.

2)

Holger Larsen,

Stettin, Neue Straße 110

bei Wechsler.

Erwarte Dich nicht mit Auto. Angelegenheit bedarf anderer Lösung, da die Ware verschwunden ist. Würde Dir dankbar sein, wenn wir uns abends Berlin Stettiner Bahnhof treffen könnten, halb elf etwa, mit nötiger Vorsicht.

Albert.

Dringend!

Harald überlas die Depeschen zweimal. Dann reichte er sie dem Vorsteher zurück.

„Wir danken Ihnen, Herr Postmeister. Es ist wohl selbstverständlich, daß Sie über diesen unseren Besuch bei Ihnen schweigen werden.“

„Allerdings selbstverständlich, Herr Harst,“ nickte der liebenswürdige Herr.

„Wie lange sind Sie hier bereits in Neubabelsberg?“ fragte Harald dann, einen gemütlichen Plauderton anschlagend.

„Fünfzehn Jahre.“

„Und Sie kennen Generaldirektor Sachewski genauer?“

„Von Vereinen her.“

„Sind Sie in der Lage, mir über ihn und seine Familie Näheres anzugeben?“

„Näheres kaum. Er ist seit zwei Jahren Witwer, besitzt hier eine der elegantesten Villen, tut insgeheim viel Gutes und ist ein Ehrenmann mit goldenem Herzen. Da seine Ehe kinderlos war, hat er ein Mädchen adoptiert, das Kind eines Arbeiters, bei dem der Storch sich alljährlich einfand. Fräulein Margot Sachewski ist heute zwanzig Jahre alt. Ob sie ihre Herkunft kennt, weiß ich nicht. Auch ich habe nur zufällig erfahren, daß die junge Dame nicht das leibliche Kind des Generaldirektors ist.“

„Sie scheinen denn doch über Sachewski recht gut informiert zu sein, Herr Postmeister,“ lächelte Harald. „Da darf ich Sie denn auch wohl fragen, ob Sie eine Dame kennen, die einen künstlichen linken Arm hat?“

Der Postmeister schüttelte den Kopf.

„Nein. – Sie meinen eine Dame aus Sachewskis Bekanntenkreis, nicht wahr?“

„Ja. Wenn auch der Ausdruck Bekanntenkreis in diesem Falle recht weitgreifend zu verstehen ist.“

Nochmals verneinte der freundliche alte Herr.

„Wenn hier in Babelsberg eine solche Dame wohnen würde, müßte ich sie bestimmt kennen,“ fügte er noch hinzu.

Wir verabschiedeten uns.

Und draußen auf der Straße sagte Harald dann:

„Mein lieber Alter, wir sind nun abermals fünfundzwanzig Prozent klüger geworden. Die Stahlkassette enthielt weder Zeichnungen noch Silizit. Das geht aus der ersten Depesche hervor, denn die Worte „Inhalt Silizit“ sind doch nur als ein Wink für Larsen aufzufassen, was er dem „zugezogenen Fachmann“ gegenüber aussagen soll – also mir gegenüber. – Die ganze Sache ist hierdurch in ein völlig neues Licht gerückt worden. Die Hauptperson für uns ist jetzt Albert Sachewski, der den jungen Chemiker Vandersloh glatt belogen und ihn dazu benutzen wollte, Larsen etwas zu überbringen, was vielleicht noch gefährlicher als das Silizit war, wenn auch „gefährlich“ in anderem Sinne. Die zweite Hauptperson ist die Diebin. Sie muß Sachewski irgendwie nahestehen. Ich bin sogar überzeugt, daß er genau weiß, wer den Diebstahl verübt hat. – Du siehst: es liegt hier ein ziemlich wirrer Knäuel vor, von dem wir vorläufig nur die oberen Schichten der Fäden geordnet haben. Was sich in der Tiefe verbirgt, – ich ahne es auch nicht im entferntesten. Also ein Kriminalfall, der all meine Kräfte gerade durch seine Verworrenheit anfeuert.“

„Und Dein Feldzugsplan, Harald?“ fragte ich gespannt.

„Ist verblüffend einfach, ist eigentlich selbstverständlich.“

„Und beginnt heute abend im Wartesaal des Stettiner Bahnhofs?“

„Nein. Er beginnt sofort, wenn wir wieder in Berlin sind. Ich werde einige Nachfragen halten, und Du, mein Alter, wirst dasselbe tun, und zwar mit Becherts Hilfe. Du sollst feststellen, woher Sachewskis Adoptivtochter stammt, sollst die Verhältnisse der leiblichen Eltern genau erforschen und alles schriftlich aufzeichnen. Wir müssen unsere Ermittlungen recht weit ausdehnen, müssen eben alle Leute, die zu Sachewski in engerer Beziehung stehen, bis ins einzelne kennenlernen, sonst werden wir niemals eine Handhabe finden, die Dinge an irgendeinem Punkte anzupacken.“

„Und Du selbst?“

„Werde mal vom Bahnhofsrestaurant aus nach Hause telefonieren. Ich glaube, wir werden Neues erfahren.“ Er lächelte fein. „Nichts Gutes – von Herrn Generaldirektor Sachewski.“

Der Bahnhof Neubabelsberg war bereits in Sicht.

Und – – vier Minuten später wußten wir, daß Sachewski Harald hatte anrufen wollen und daß Haralds Mutter von ihm dann die Mitteilung entgegengenommen hatte, daß das Stahlkästchen dem Ingenieur Larsen in Stettin unberührt und anonym zugeschickt worden sei und daß die Angelegenheit auf diese Weise eine ebenso einfache wie befriedigende Lösung gefunden habe. Sachewski lasse noch vielmals danken, daß wir so bereitwillig ihm hätten beistehen wollen. –

Harald hängte den Hörer an und wandte sein Gesicht mir zu. In der engen Telephonzelle brannte eine trübe elektrische Birne.

Wir schauten uns an.

„Schwindel!“ sagte ich leise.

„Natürlich! Und – jetzt arbeiten wir auf eigene Hand. Jetzt – – erst recht! Der Fall reizt mich. Da steckt etwas ganz Großes dahinter.“ –

Wir fuhren nach Berlin zurück.

Harald verschwieg mir, in welcher Richtung sich seine Nachforschungen bewegen würden. Ich kenne seine Eigenart. Ich ärgere mich regelmäßig darüber, daß er stets mit halb verdeckten Karten spielt. Andererseits erreicht er dadurch, daß ich meine eigenen Anstrengungen verdoppele, um aus mir selbst heraus den Dingen auf den Grund zu kommen.

 

5. Kapitel.

Die Spur – die Hand aus Holz.

Viktor Vandersloh hatte sich daheim noch umgekleidet und war dann nach Adlershof hinausgefahren, um sich in den Gigantic-Werken zum Dienst zurückzumelden.

Er traf hier den Generaldirektor auf dem Hofe vor dem Verwaltungsgebäude. Sachewski war soeben erst im Auto angelangt und sprach mit einem der Oberingenieure.

Als er Vandersloh bemerkte, verabschiedete er sich sofort von dem Oberingenieur und kam auf den Chemiker zu.

Vandersloh war geradezu entsetzt über Sachewskis Aussehen. Der Generaldirektor glich einem Schwerkranken. Desto widerspruchsvoller war die Szene, die nun folgte.

Er streckte Vandersloh mit einem verzerrten, unnatürlichen Lächeln die Hand hin.

„Na, Sie Pechvogel, wie geht’s denn nun?!“ versuchte er zu scherzen. „Mann, machen Sie nur ein anderes Gesicht. Jede weitere Angst ist überflüssig. Larsen hat mich vorhin angerufen. Das Kästchen ist ihm in sein Pensionat geschickt worden. Das Silizit ist in Sicherheit. Die Diebin hat sich die Sache überlegt. Gratulieren wir uns gegenseitig, lieber Vandersloh!“

Viktor Vandersloh stierte den Generaldirektor fassungslos an.

Und halb gegen seinen Willen entschlüpfte ihm die Frage, die ja angesichts des geradezu jämmerlichen Aussehens Sachewskis nur zu berechtigt war:

„Tatsächlich, Herr Generaldirektor …? Zurückgeschickt?! Ich – ich kann das kaum glauben …“

Sachewski schoß das Blut in die Wangen. Sein Lächeln wurde noch unnatürlicher. Sein Gesicht glich einer Fratze.

„Welchen Grund hätte ich wohl, mit Ihnen hier ein – ein häßliches Spiel zu treiben, Vandersloh?! Ich habe auch Harald Harst bereits Gegenorder gegeben: Die Sache ist eben in Ordnung. Freilich – mir steckt der Schreck noch tüchtig in den Nerven!“

Seine fahrige Art, seine unruhig flackernden Augen, die denen des Chemikers immer wieder scheu auswichen, weckten das Mißtrauen Vanderslohs. Er verheimlichte jedoch seine wahren Gefühle, tat nun sehr erfreut und meinte zum Schluß einiger phrasenhafter Sätze, die ihm recht schwer über die Zunge kamen:

„Übrigens hatte ich Ihnen heute morgen mit das Wichtigste über die Diebin zu erzählen vergessen, Herr Generaldirektor. Harst fragte mich nach besonderen Kennzeichen der Diebin. Und da besann ich mich, daß die Dame eine künstliche Hand hatte …“

Die Wirkung dieser Worte war so seltsam, so erschreckend, daß Vandersloh jetzt gleichfalls die Farbe wechselte.

Sachewski war zurückgetaumelt …

Getaumelt …

Lehnte nun, noch fahler, noch kraftloser, mit blöder Miene an einem der hier stehenden Lastautos …

Nur Sekunden …

Raffte sich offenbar mit übermenschlicher Gewalt zusammen …

Lallte: „Mir – mir geht es heute gesundheitlich gar nicht gut … Ich werde doch lieber wieder nach Hause fahren. Ich muß ein paar Wochen ausspannen!“

Seine Stimme wurde fester.

Seine Augen verloren diesen halb irren Ausdruck.

Er gab Vandersloh die Hand.

„Wiedersehen … – Sie sind bis morgen beurlaubt. Auch Ihnen wird es gut tun, wenn Sie nicht sofort wieder in die Tretmühle hineinmüssen … – Wiedersehen …“

Er ging davon … Hoch aufgerichtet … Und doch wie einer, der Zentner auf den Schultern trägt.

„Komödiant!!“ schoß es Vandersloh durch den Kopf. „Er hat mich – belogen. Das Kästchen ist nicht wieder zurückgegeben worden! Und wenn er tatsächlich den Detektiv abbestellt hat, so – so muß das andere Gründe haben.“

Und langsam schritt Vandersloh nun auf eins der Gebäude zu, betrat hier sein Laboratorium, begrüßte die beiden Damen, seine Assistentinnen und setzte sich nebenan in sein kleines Privatbureau an den Schreibtisch …

Sann vor sich hin …

Fand keine Klarheit …

Dachte da an Hildegard … Und für Minuten verlor sich all das Bedrückende.

„Ich muß mit Hilde die Sache durchsprechen,“ sagte er sich und erhob sich wieder. „Ich habe jetzt doch wenigstens einen Menschen, dem ich mein Innerstes offenbaren kann …“ – –

Hilde hatte derweil ihrer Mutter von ihrer Verlobung mit Vandersloh in recht kühler, selbstverständlicher Weise Mitteilung gemacht.

Frau Vilma Rippa, verwöhnt, ganz auf Äußerlichkeiten eingestellt und noch immer in mancherlei überlebten Vorurteilen befangen, hätte nur zu gern ihrer Enttäuschung über diese Wahl Hildes Ausdruck gegeben. Sie wagte es nicht, meinte nur:

„Du mußt ja wissen, Kind, was Du tust. Jedenfalls – meinen herzlichen Glückwunsch …“

Und sie küßte Hilde, – eine Zärtlichkeit, die genau so oberflächlich und seelenlos war wie diese noch immer schöne Frau, deren ganzes Sinnen und Trachten nur der Erhaltung ihrer äußeren Erscheinung galt. –

Als Viktor Vandersloh dann gegen ein Uhr mittags heimkehrte – mit einem prächtigen Strauß roter Rosen für Hilde, als die Geheimrätin ihn nun als Schwiegersohn mit derselben erkältenden Förmlichkeit willkommen hieß, mit der sie ihrem Kinde Glück gewünscht hatte, fand Viktor sehr bald Gelegenheit, mit Hildegard in der Küche über die Vorgänge auf dem Hofe des Verwaltungsgebäudes zu sprechen.

Frau Vilma kümmerte sich auch um die Küchenangelegenheiten niemals. Noch weniger darum, wie Hilde die Mittel zum Lebensunterhalt herbeischaffte. Nie fand sie ein Wort der Anerkennung dafür, daß ihre Tochter allein mit Hilfe einer Aufwärterin den Haushalt besorgte und sogar noch drei der Untermieter völlig verpflegte. Arbeit, die andere leisteten, erschien ihr selbstverständlich. Sie selbst begnügte sich damit, die Garderobe und die Wäsche in Ordnung zu halten. Auch das auf ihre oberflächliche Art.

Und hier nun in der Küche, in Hildes blitzsauberem Reich, erzählte Vandersloh ganz eingehend, wie Sachewski ihn doch offenbar – belogen hatte und wie der Generaldirektor über die Frau mit der hölzernen Hand in einer Weise entsetzt gewesen sei, daß man wohl kaum in der Vermutung fehlginge, der Generaldirektor müsse diese Frau persönlich kennen.

Hilde stimmte dem Geliebten voll zu. Sie war nicht im mindesten verlegen, weil sie ohne sein Wissen bei Harst gewesen, hielt es unter diesen Umständen aber für geboten, Viktor zu beichten.

Er war überrascht, doch nicht unangenehm. Er erkannte ohne weiteres an, daß Hilde nur in seinem Interesse gehandelt habe und daß ihr Besuch bei dem berühmten Detektiv so, wie die Dinge jetzt lagen, sich als vorteilhaft und nützlich erwiesen.

„Da die Stahlkassette offenbar noch nicht in Larsens Besitze sich befindet,“ erklärte Hildegard dann in ihrer sachlichen Art, „wirst Du am besten Harst auch diese Neuigkeiten mitteilen. Mag Sachewski Dich nur haben beruhigen wollen, mögen andere Gründe für ihn vorliegen, Dich zu täuschen: Du bist Dir selbst der nächste, Viktor! Das Silizit ist Deine Erfindung. Wenn ein Unglück geschieht, wird man Dich in erster Linie verantwortlich machen.“

„Allerdings! Das Sprengstoffgesetz bietet genügend Handhabe, mir einen Strick zu drehen …“ – Er war wieder sehr ernst und niedergeschlagen.

Hilde stand vor ihm, umschlang ihn …

„Liebster, Harst wird helfen! Fahre zu ihm … Vielleicht ist er bereits wieder zu Hause. Er und sein Freund wollten gerade ausgehen – maskiert! Zum ersten Male habe ich da zwei Detektive in Verkleidung gesehen …“

Und Hilde küßte ihn … Die Wolken von Viktors Stirn schwanden …

Der Liebe junge Seligkeit bereitete ihr köstliches Selbstvergessen über zwei starke, aufrechte Menschen. –

Und – – die Glocke im Flur war die schrille Mahnerin, daß das Leben mit all seinen Nichtigkeiten keine Rücksicht nimmt auf Glück und Zärtlichkeit.

Das Paar prallte auseinander …

Mit versonnenem Lächeln meinte Hilde:

„Öffne, bitte … Mama schneidert … Und ich – ich sehe wohl etwas sehr zerzaust aus.“ –

Viktor stand an der Flurtür einem schlanken blondbärtigen Herrn gegenüber.

„Harst,“ flüsterte der Besucher.

Vandersloh machte eine einladende Handbewegung.

„Ich wollte gerade zu Ihnen nach der Blücherstraße fahren, Herr Harst. – Bitte, dort mein Zimmer.“

Nun saßen sie sich gegenüber. Nun hörte Harald Harst das, was nur seine Vermutung voll bestätigte: Sachewski kannte die Diebin!

Und fragte dann:

„Herr Vandersloh, kennen Sie den Ingenieur Larsen persönlich?“

„Nein, Herr Harst!“

„War Larsen Ihrer Ansicht nach in Stettin auf dem Bahnhof verkleidet?“

„Ja … Er sah aus wie ein Fünfziger. Und doch muß er jung sein. Bewegungen, Körperhaltung und die Frische des durch den falschen Bart und durch die Brille entstellten Gesichts verrieten das …“

Harst nickte. „Sprach er denn gar nichts mit Ihnen?“ meinte er nachdenklich.

„Nur ein paar leise Worte. Dann ging er rasch davon. Er war offensichtlich recht verstört über den Diebstahl des Sprengstoffes.“

Der Detektiv schüttelte leicht den Kopf.

„Sie irren, Herr Vandersloh, die Kassette enthielt nicht Silizit.“ Und er berichtete kurz von den beiden Depeschen. „Hiermit sind Sie eigentlich aus der dunklen Angelegenheit ausgeschieden, Herr Vandersloh. Sie brauchen sich nicht mehr die allergeringsten Sorgen zu machen, daß Ihr Silizit Unheil stiften könnte. Es liegt bestimmt noch in einem sicheren Gelaß bei Sachewski.“

Vandersloh atmete erleichtert auf, war aber auch andererseits so bestürzt über Sachewskis unbegreifliche Unaufrichtigkeit, daß er unsicher fragte:

„Aber – was in aller Welt kann dann die Kassette enthalten haben, Herr Harst? Und weshalb hat Sachewski gerade mich als Boten nach …“

„Oh – gerade Sie, – das ist doch leicht zu verstehen,“ unterbrach ihn der Detektiv. „Gerade Sie, weil Sie in der Annahme, Ihr Silizit in Ihrer Reisetasche zu befördern, am zuverlässigsten darauf achten würden. – Den Inhalt der Kassette kenne ich nicht – noch nicht. Aber ich bin dem Geheimnis bereits auf der Spur …“

„Ah – – und?!“

„Diese Spur ist – – die Hand aus Holz, der künstliche Arm …“

„Wie das?“

„Darüber möchte ich noch nicht sprechen, Herr Vandersloh. – Verkehren Sie bei Sachewski im Hause?“

„Ja.“

„Ist der Diener Georg Sachewskis Vertrauter?“

„Ich glaube …“

„Hält der Generaldirektor Hunde auf seinem Villengrundstück?“

„Nein … Er ist sogar Hundehasser.“

„Kennen Sie Fräulein Margot Sachewski genauer?“

„Hm – es wird wohl niemand so recht warm mit ihr … Ein sehr ernstes, verschlossenes Mädchen …“

„Und ist Ihnen bekannt, daß Fräulein Margot nur Sachewskis Adoptivtochter ist?“

„Gewiß … Sie soll aus Arbeiterkreisen stammen.“

„Kennt sie selbst ihre Herkunft?“

„Ja. Sie macht auch anderen gegenüber kein Geheimnis daraus. Die Eltern wohnen in dem Obststädtchen Werder, wo sie ein eigenes Grundstück besitzen. Der Generaldirektor hat viel für die Leute getan. Sie heißen Markner. Nur …“

„Nur …?“

„Nur soll Sachewski, als er Margot an Kindesstatt annahm, sich ausbedungen haben, daß jeder persönliche Verkehr unterbleibt …“

„Margot besucht ihre leiblichen Eltern also nie?“

„Nein. Sie hat mit mir darüber noch letztens gesprochen. Mir gegenüber ist sie etwas zutraulicher. Sie sagte sehr ehrlich, daß sie den Kreisen ihrer Eltern Markner doch völlig entwachsen sei und daß ein Wiedersehen beiden Teilen nur Enttäuschungen bringen könnte.“

„Ganz recht … Nur rührselige Dichter könnten diese Dinge anders beurteilen.“

Harst erhob sich …

„Sie tun kein Unrecht, Herr Vandersloh, wenn Sie Sachewski gegenüber unser Bündnis verschweigen. Er hat Sie grob getäuscht und Sie … ausgenutzt, hat Ihnen qualvolle Stunden bereitet und darf sich nicht wundern, daß Sie nun diese Dinge geklärt haben möchten. – Auf Wiedersehen. Sie hören noch von mir …“ –

Als Harst gegangen, eilte Vandersloh zu Hilde in die Küche.

Alle anderen Gedanken waren jetzt bei ihm vor dem beglückenden Bewußtsein zurückgetreten, daß seine Erfindung kein Menschenleben gefährdete …

Fast fröhlich schloß er Hilde in seine Arme …

Auch sie war erfreut, meinte nur:

„Der Inhalt der Kassette …!! Was kann sie enthalten haben? Wenn man das nur erst wüßte!“

 

6. Kapitel.

Die Frau neben den Palmen

Als ich, Max Schraut, gegen halb fünf nachmittags nach der Blücherstraße 10 zurückkehrte, fand ich Harald und seine Mutter gerade bei der Mahlzeit. Das Mittagessen hatte seit drei Uhr bereitgestanden, und Mathilde zeterte nicht wenig, daß das schöne Fischgericht nun völlig verdorben sei, eine Übertreibung, die man der dicken braven Köchin gern nachsah.

Frau Auguste Harst war von ihrem Sohne wie zumeist so auch in diesen neuesten Fall eingeweiht worden.

Kaum hatte ich die Suppe verspeist, als Harald mir lächelnd zuzwinkerte und sagte:

„So, mein Alter, da nun Dein erster Hunger gestillt ist, sollst Du erfahren, wo ich war, was ich erkundet habe. Das Wichtigste zuerst: Sachewski kennt die Diebin der Kassette! In diesem Punkte habe ich recht behalten. Er hat sich Vandersloh gegenüber verraten.“

Und nachdem ich von seinem Besuch bei Vandersloh gehört hatte, fügte er hinzu:

„Hiermit hängt ganz eng die Auskunft der Firma Gladbach in der Friedrichstraße zusammen …“

„Gladbach?“

Er schmunzelte … „Ja, Gladbach, medizinische Großhandlung, Spezialfabrik für künstliche Gliedmaßen …“

„Ah – der künstliche Arm …?“

„Ja, den hat Sachewski im Juni 1923, also vor einem Jahr, durch seinen Diener Georg Jürgen bei der Firma Gladbach bestellen lassen, wobei der Diener erklärte, der Generaldirektor wolle den künstlichen Unterarm einer armen Frau auf dem Lande schenken, die an der Dreschmaschine verunglückt war. In den Notizen der Firma war auch noch vermerkt, daß zwei Gipsabgüsse des Unterarmstumpfes mit von dem Besteller übergeben worden seien. Da nun bei Gladbach eine mustergültige Ordnung herrscht, konnten mir diese Abgüsse noch vorgelegt werden, wodurch ich wieder festzustellen in der Lage war, daß der Arm der angeblichen Bäuerin recht wohlgeformt gewesen sein muß. Natürlich ist die „Bäuerin“ die Diebin der Kassette …! Iß doch weiter, mein Alter … Grund genug, guter Laune zu sein, haben wir ja …“

Ich aß. Mathildes von ihr selbst so arg bemängeltes Fischgericht war noch delikat. Und zwischenein kramte ich selbst meine Erfolge aus.

Nun, mit meinen Angaben über Margots leibliche Eltern kam ich einen Posttag zu spät. Harald war ja bereits durch Vandersloh genügend eingeweiht worden.

Und nach Tisch, als wir beide wie immer den Kaffee in Harsts Arbeitszimmer tranken, besprachen wir den ganzen Fall nochmals von Anfang bis zum jetzigen so aussichtsvollen Stadium.

Wir trugen noch immer unsere Holländermasken. Wir rieten hin und her, was die Stahlkassette enthalten haben könnte. Wir stellten allerlei geistvolle Vermutungen auf, denen leider nur etwas fehlte: ein festes Fundament! Sie schwebten in der Luft. Sie waren wie wesenlose Gespenster. Bis Harald ärgerlich meinte:

„Das ist Unsinn! Das ist zwecklos. Der Abend wird unsere Arbeit mehr fördern als diese Gedankenakrobatik.“ –

Wenn ich ehrlich sein soll: Das jetzige Stadium des Falles „Hand aus Holz“ war zwar aussichtsvoll, die Sache als Ganzes erschien mir jedoch reichlich alltäglich und ohne jene nervenpeitschenden Begleitumstände, die für uns sonst stets das scharfe Gewürz unserer beruflichen Tätigkeit bildeten.

Als ich gegen halb neun abends während der Fahrt zum Stettiner Bahnhof in der Straßenbahn mich in diesem Sinne Harald gegenüber äußerte, sagte er leise, indem er sich auf der schmalen Bank dicht zu mir hinüberlehnte:

„Wenn Dir wirklich Sachewskis Entsetzen über den Diebstahl nicht genügt, wenn Dir auch sein Zurücktaumeln bei der Erwähnung der künstlichen Hand durch Vandersloh nichts ausmacht, dann gestatte, daß ich Dir mitteile, daß wir seit heute nachmittag beobachtet werden. Zwei Verfolger, mein Alter, zwei, die was davon verstehen, die ihre Masken im Moment wechseln und die so gewiß hier wieder mit uns in der Straßenbahn sind, wie wir selbst hier sitzen …!“

Ich war zunächst sprachlos. Dann aber machte ich Harald Vorwürfe. Er solle mir doch gefälligst derart Wichtiges nicht gerade im ungeeignetsten Moment und so spät mitteilen …

„Wann hast Du die beiden denn bemerkt?“ fügte ich hinzu.

„Kurz nach Tisch vom Fenster aus in der Blücherstraße … Sie pendelten einzeln hin und her. Und zwar so, daß einer immer in der Nähe unseres Hauses war. Dreimal hatten sie sich in einer halben Stunde, und zwar stets im Handumdrehen derart umkostümiert, daß ich schon sehr scharf hinsehen mußte, um sie wiederzuerkennen. Und als wir jetzt das Haus verließen, waren sie abermals da … – ein Mann und ein Weib, natürlich ein verkleidetes Weib …“

„Sachewskis Organe!“ flüsterte ich.

„Sehr wahrscheinlich. Und wenn er es für richtig hält, uns dergestalt durch tüchtige Kollegen beobachten zu lassen, so muß er doch wohl allen Grund haben, uns zu fürchten, das heißt – die Aufdeckung der Wahrheit.“

„Allerdings …“

„Und unsere Aufgabe wird es nun sein, die beiden Spürhunde loszuwerden. Wir werden daher schon am Brandenburger Tor aussteigen und ein Auto nehmen.“

„Was versprichst Du Dir davon …?“

„Warte ab!“ –

Wir stiegen aus, wanderten den rechten Promenadenweg an der Charlottenburger Chaussee entlang – durch den im Maiengrün prangenden Tiergarten.

Es war noch hell. Der Abend war klar und windstill …

Als uns von Charlottenburg her ein Auto entgegenkam, winkte Harald dem Chauffeur zu, drückte ihm zehn Mark in die Hand …

„Kreuz und quer durch den Tiergarten, damit wir verschwinden können,“ flüsterte er …

Wir sprangen hinein und – fuhren an zwei Herren vorüber, deren Aufmachung durchaus unauffällig war.

„Das sind sie, mein Alter!“

Wir sahen, daß die beiden ein anderes Taxameterauto bestiegen …

Waren jedoch schon in der Hofjäger-Allee, paßten den günstigen Moment ab, als zwei Möbelwagen uns deckten …

Schlüpften hinaus – in einen der Parkwege, standen im Baumschatten und sahen das Auto der Verfolger hinter dem leeren dreinjagen …

Harald lachte … –

Wir gingen zu Fuß weiter …

Und im Wartesaal zweiter Klasse des Stettiner Bahnhofs saß Herr Generaldirektor Albert Sachewski in einer dunklen Ecke hinter einer Tasse Kaffee.

Mit – leichenhaftem Gesicht … Ein gebrochener Mann …

„Findest Du, daß der Fall „hölzerne Hand“ wirklich so ohne Reiz ist?“ fragte Harald drei Tische weiter.

„Nein …“ Und verstohlen musterte ich abermals das aus dem Dämmerlicht dort drüben hervorleuchtende fahle Gesicht.

Ein Gesicht, gramvoll bis zur Entstellung … Eine Gestalt, in sich zusammengesunken wie die eines Schwerkranken. –

So wurde es zehn Uhr …

Und dann kam der Erwartete, Holger Larsen …

Jetzt nicht maskiert. Jetzt ein blonder schlanker Herr, sehr elegant gekleidet. Eine Reisetasche trug er, und über dem Arm einen Ulster.

Begrüßte Sachewski mit respektvoller Vertraulichkeit …

Wir sahen sein Gesicht. Ein kluges, frisches Gesicht, das einen Mann von Charakter verriet.

Die beiden setzten sich dicht nebeneinander, flüsterten. Sachewski in wilder Erregung … Oft die Hände wie verzweifelt hebend, oft die Schweißperlen von der Stirn trocknend.

Dann, gegen halb elf, brachen sie auf und gingen der Friedrichstraße zu, bis zum Bahnhof Friedrichstraße, betraten hier das Terminus-Hotel.

„Hm – viel war das nicht!“ meinte Harald. „Nun, dafür haben wir’s von hier recht bequem bis Neubabelsberg. Wir benutzen den Vorortzug nach Potsdam.“

„Und – in Neubabelsberg?“

„Möchte ich versuchen, Sachewski bei seiner Rückkehr zu belauschen. Der Diener Georg wird ihn sicherlich erwarten. Vielleicht ernten wir dort etwas.“

„Also einbrechen?“

„Ein…steigen, einschleichen! – Ist das nicht nach deinem Geschmack?“

„Hm – wenn hier der Verdacht eines Verbrechens vorläge – gegen Sachewski, dann ja! So aber …!“

Wir standen mitten im Abendgewühl der Friedrichstraße am Bürgersteigrande. Wir hatten den breiten Eingang des Hotels Terminus schräg vor uns …

Auch dort flutete ein dichter Strom Passanten vorüber – zwei Ströme, die sich aneinander vorbeischoben in entgegengesetzter Richtung.

Und außerhalb der beiden Menschenkolonnen, die in steter Regelmäßigkeit dahinfluteten wie Brandungswellen der Lebensgier, der Sünde und des heimlichen Verbrechens, – außerhalb all dieser wechselnden Gestalten und Gesichter neben den Palmenkübeln, die dem Hoteleingang einen Hauch des Exotischen verleihen sollten, lehnte an der Messingschutzstange eines Schaufensters eine Dame, dicht verschleiert, hager, umflossen von den Falten eines weiten grauen Ulsters.

Eine Dame, die, so wenig man auch von dem Gesicht und der Figur erkennen konnte, sofort den Eindruck echter Vornehmheit machte. Es war jenes unnennbare Etwas an dieser Frau, das sofort die Dame von Welt verrät, jenes nie näher zu bezeichnende Merkmal, das sich aus vielfachen Kleinigkeiten zusammensetzt … –

Als mein Blick ein paar Sekunden auf ihr verweilt hatte, als er dann wieder hinüberglitt zu der Verschleierten, weil der stets wache Spürsinn unseres Berufs sofort die Frage geformt hatte, weshalb wohl die Frau dort – gerade dort stehen mochte, wo sie zwischen den Palmen hindurch die Vorhalle des Hotels zum Teil übersehen konnte, da raunte neben mir Harald Harst einen kurzen Satz:

„Der Schirm über dem Arm …“

Das war alles …

Und doch ein Signal für mich wie eine Alarmfanfare …

Meine Augen prüften – fanden …

Über dem linken, leicht an den Körper gedrückten Arm der Frau hing ein dünner Schirm mit Schildpattkrücke. Und die Hand, die zu diesem Arm gehörte, war mit einem Lederhandschuh bekleidet, der in der Farbe nicht recht zu dem der anderen paßte. Außerdem hatte die linke Hand in der Fingerhaltung etwas Gezwungenes, Unnatürliches.

„Die Hand aus Holz …“ hörte ich Harald wieder neben mir flüstern. „Es ist dieselbe Frau, die schon im Wartesaal in der anderen Ecke saß. Dort beachtete ich sie nicht. Jetzt erst weiß ich, wie wichtig sie für uns werden wird …“

Ich schaute ihn an …

„Du glaubst wirklich, daß sie …“

„… die Diebin ist – ja! – Wir werden das Geheimnis nun in kurzem vollends aufklären …“

Und – hastiger, seltsam erregt:

„Ihre Handtasche aus Autolackleder, die sie in der Rechten trägt, wird sie zwingen, alle Schleier zu lüften, nicht nur den ihres Gesichts …“

Weiter flüsterte er …

Entwarf den einfachen Plan …

Und dieses Planes Merkwort war: Taschendiebe!! –

Keine vier Minuten später schritt die Dame über die Straße dem Eingang des Bahnhofs Friedrichstraße zu.

 

7. Kapitel.

Inhalt: Juwelen – –?!

Als sie an einem der Fahrkartenschalter mitten in der Reihe der ungeduldigen Menschen stand, hatten sich zwei blondbärtige Herren hinter sie gedrängt, und der eine, der größere, suchte nun den Verschluß der Lackledertasche zu öffnen, während der andere ihn deckte.

Der Langfinger war ungeschickt. Gerade als er die diebische Hand wieder mit einem Päckchen hervorzog, merkte die Dame, daß ein Taschendieb an ihr seine Fertigkeit beweisen wollte …

Wandte sich jäh um …

Und schaute in ein frech grinsendes Gesicht …

„Sofort stecken Sie das Päckchen wieder zurück,“ sagte sie sehr leise. „Sofort …! Oder –!!“

Der Gauner gehorchte …

Grinste weiter … Drückte das Schloß der Ledertasche zu und flüsterte:

„Rufen Sie doch einen Beamten …! Schlagen Sie doch Lärm …! Das Päckchen, das ich wieder in die Tasche tat, ist ein anderes …“

Da packte die Frau den Blonden, trat aus der Reihe heraus – wortlos –, zog den Dieb mit sich …

Der Vorfall wurde von den Umstehenden falsch gedeutet. Ein paar rüdige Bemerkungen fielen …

Und weiter zerrte die Dame den Blonden – hinaus auf die Straße – in die Dämmerung schwachen Laternenlichtes hinein …

Blieb hier stehen …

Drohend hastete sie hervor:

„Geben Sie mir das Päckchen zurück …!“

Der Gauner feixte …

„War ja nur ein Scherz … Sie haben es noch …“

Die Frau starrte ihn an …

„Sind Sie verrückt …?! Was soll das alles?!“

Und preßte nun mit dem linken Arm die Tasche an die Brust, öffnete das Schloß mit der rechten Hand, holte das in Seidenpapier gehüllte Päckchen hervor …

Im Nu hatte sie die Hülle zerfetzt …

Und hervor aus dem durchlöcherten Papier rieselte es wie eine Feuerschlange …

„Ah – Sie haben eine künstliche Hand, meine Dame …“ meinte der Taschendieb da in ganz anderen Tone. „Verzeihen Sie …! Ich bin Kavalier … Ich hätte Sie nicht erschrecken sollen … Sie sehen aber: Ihre Brillanten sind noch vorhanden.“

Das Schloß der Tasche schnappte zu …

Die Frau stierte den Blonden abermals unsicher an.

„Wer sind Sie?“ flüsterte sie scheu.

„Ein ungeschickter Gauner … Rufen Sie nur den Polizisten dort …! Ich habe es verdient …“

Die Verschleierte lachte schrill …

„Polizei …?! – Nein, mein Lieber … Das niemals! – Leiden Sie Not?“

„Nein … Ich leide an unbezähmbarer Genußsucht …“

„Dann – – seien Sie das nächste Mal geschickter! Verschwinden Sie …!“

Der Taschendieb zog den eleganten Filzhut …

„Oh – ich danke Ihnen, gnädige Frau … Ich wäre ins Zuchthaus gekommen …“ Und er eilte davon, durch die aufgereihten Taxameterdroschken hindurch …

Hinter ihm her klang ein schrilles Lachen … –

Und als Harald, der Taschendieb, sich mir nun wieder zugesellte, als wir vorsichtig der Dame wieder folgten, die nun eine Fahrkarte nach Neubabelsberg am Schalter löste, raunte er mir zu:

„Eine ältere Frau … Sehr scharfe, faltige Züge. Das Päckchen enthält Juwelen. Ich sah ein Halsgeschmeide von unschätzbarem Wert …“

Dann nahmen auch wir Karten bis Neubabelsberg … –

Als der Vorortzug nach Potsdam einlief, drängten wir uns in das Abteil neben dem der Verschleierten.

Wir standen in drangvoll fürchterlichster Enge, wie das so zu den Sondergenüssen der Berliner Stadtbahn gehört. Erst in Charlottenburg wurde unser Abteil völlig leer. Und da hatte Harald auch schon den blonden Vollbart blitzschnell entfernt, trug jetzt nur noch Schnurrbart, legte den Hut neben sich und fuhr mit einem Taschenkämmchen durch den Scheitel der blonden Perücke, ordnete das Haar anders, hatte so sein Aussehen genügend verändert.

Station Grunewald erhielten wir wieder Mitreisende. Inzwischen hatte Harst schon mit gedämpfter Stimme folgendes erklärt:

„Ich behaupte, die Stahlkassette war mit denselben Juwelen gefüllt, die sich jetzt in der Lackledertasche befinden. Die Dame hütete sich deshalb, die Polizei herbeizurufen, weil sie eben selbst … eine Diebin ist.“

Mir leuchtete dies durchaus ein.

Ich erwiderte nur:

„Sind wir nun wirklich dem Kern des Geheimnisses näher gekommen?“

„Leider nein …“ Und Harald – – Harald Harst seufzte ein wenig – – seufzte!! „Leider muß ich gestehen, daß ich dieses Mal gänzlich versage. Ich ahne nichts von den wahren Zusammenhängen all dieser Dinge …! – Juwelen – Juwelen?! Woher stammen sie? Weshalb hat Sachewski sie auf diese eigentümliche Art dem schwedischen Ingenieur übergeben wollen? Und – wer ist diese Frau, für die er den künstlichen Unterarm anfertigen ließ?“

Dann schwieg er …

Ich auch …

Und unsere Gedanken irrten in weiten Kreisen um das Rätsel dieser Hand aus Holz. –

Neubabelsberg …

Zwanzig Schritt Vorsprung ließen wir der Frau …

Trennten uns …

Folgten ihr so … Brauchten uns nicht sonderlich in acht zu nehmen. Sie drehte sich auch nicht ein einziges Mal um …

Sie ging durch die stillen Villenstraßen mit festen energischen Schritten, ohne Eile, fast stolz …

Und bog schließlich auf ein unbebautes Gelände ab, wo noch die märkischen Kiefern unangetastet im Nachtwinde schwangen und mit feinen Stimmchen von dem Zauber der Mainacht flüsterten … –

Soll ich im einzelnen schildern, wie schwer es nun war, der Frau auf den Fersen zu bleiben …? Soll ich hier genau berichten, wie wir hinter ihr her über den Zaun eines Gemüsegartens kletterten, wie wir aus dem Grün der Obstbäume und dem würdigen Blätterdach uralter riesiger Linden die Umrisse einer großen Villa hervorlugen sahen …?

… Wie wir schließlich zu unserer Überraschung noch beobachten mußten, daß die Verschleierte … in die Villa einstieg – auf dem seltsamsten Wege, den je eine Diebin gewählt …?

Man denke: diese Dame, diese unfehlbar echte Dame, die mindestens Mitte der Vierziger sich befand, erkletterte eine der Linden dicht am Hause mit staunenswerter Gewandtheit …

Eine Linde, von deren oberen Ästen sich nach der Villa hin wie Girlanden die Ranken des Efeus hinüberzogen …

Girlanden, von denen einige lose herabhingen und leicht hin und her pendelten, wenn ein Windstoß sie traf.

Eine dieser langen dicken grünen Ranken benutzte die Frau als Schwebeseil …

Ward selbst zum lebenden Pendel, bis die gesunde Hand oben in der Mansarde der Villa an einer Zierzacke des Dachreiters sich festkrallte …

Und – – die Frau dann auf dem Sims des Fensters stand, dieses kleine Fenster irgendwie geräuschlos öffnete … und in dem zugehörigen Raume verschwand.

Worauf das Fenster wieder geschlossen wurde … –

Und wir beide standen im Schatten eines anderen Lindenstammes …

Standen und glichen Leuten, die soeben ein Wunder miterlebt haben …

Standen und starrten empor zum Mansardenfenster, wo nun hinter dunklem Vorhang ein schwacher Lichtschein aufglomm …

Bis unser Staunen und alles andere, was unser Hirn an jagenden Gedanken gebar, mit einem Schlage beendet wurde.

Nein – mit zwei Schlägen …

Zwei Schlägen, die uns wie Blitze trafen …

Wir knickten zusammen …

Ein letzter Gedanke erstarb in meinem dröhnenden Schädel: Die beiden Verfolger – – die beiden Verfolger!! –

Dann nichts mehr …

Bis wieder das Hirn zu arbeiten begann, bis wieder die ersten äußeren Eindrücke mein Denken anregten.

Ich – – roch etwas …

Tabakrauch … Süßlichen Tabakrauch …

Ich kannte diesen Duft. Das war englischer Pfeifentabak, leicht mit Opium getränkt … –

Und das Nächste: ich lehnte fraglos irgendwo in einer Polsterecke … –

Und wieder etwas: es war ein Wagen – ein geschlossenes Auto, und mir waren die Hände vorn im Schoße zusammengebunden …

Durch die Fenster fiel der bleiche Schimmer der Mainacht herein …

Drei Gestalten außer mir …

Zwei mir gegenüber – rauchend …

Neben mir einer, der mein Leidensgefährte war: Harald! –

Das Auto hielt irgendwo auf einem Wege. Zu beiden Seiten Wald …

Und ringsum Stille …

Nur die kurze Tabakpfeife des einen Gegners mir gegenüber schmorgelte leise … –

Mein Kopf wurde klarer …

Ich strengte mich an, etwas von den Gesichtern der Gegner zu erkennen. Doch die matte Beleuchtung genügte nicht.

Ich wartete …

Ich wollte nicht als erster mit diesen beiden da sprechen, wollte das Harald überlassen …

Wartete …

Bis etwas geschah, das schon oft geschehen: eine Depesche erreichte mich! Eine jener Nachrichten von Harald, nur zugeleitet durch den längeren und kürzeren Druck seiner Fußspitze auf meinen Stiefel …

Erst ein langer Druck – das hieß: Bist Du bereits wach?

Und ich hob nun meinen Fuß, erwiderte so das Zeichen.

Dann folgte von Harald her in Morsezeichen:

− · −, − − −, · − · ·, · − · ·, ·, − − ·, ·, − ·, – also: Kollegen![1]

Kollegen …!! – Ich verstand. Er wiederholte nur das, was er schon in der Straßenbahn angedeutet hatte: die Verfolger waren Kollegen, Detektive …!

Und es folgte nun:

·, − ·, − − ·, · − · ·, · ·, · · ·, − − − −, ·, – also: englische!

Englische Kollegen …!

Schon möglich: der Tabak sprach dafür!

Und weiter:

− ·, − − −, − − − −, − · ·, · · −, − ·, − · −, · − · ·, ·, · − ·, – also: noch dunkler!

Auch das verstand ich: der Fall „Holzhand“ war nur noch dunkler geworden!

Damit endete die Depesche …

Minuten schlichen …

Dann pochte von draußen ein dritter leise an die Scheibe …

Einer der Kollegen verließ das Auto. Die Tür wurde nur angelehnt …

Und das war hier das Entscheidende …

Das war für einen Harald Harst geradezu ein Wink, die gute Gelegenheit auszunutzen.

Er tat’s …

Tat’s auf seine Weise …

War wie ein Blitz hoch – stieß wie ein Blitz mit den gefesselten Händen zu …

Dem Kollegen – gegen die Magengrube …

Vielleicht brutal. Und doch kaum brutaler, als wir behandelt worden waren …

Sprang zum Auto hinaus – über den Straßengraben – in den Wald hinein …

Und ich – – ihm nach …

Ich natürlich, geborener Pechvogel, mußte über den Prellstein am Wegrande stolpern …

Flog – – in den Graben – in zähen Schlamm – mit dem Gesicht, der Brust …

Prustete – spuckte …

Hörte das Auto knattern …

Hörte es davonjagen … Rappelte mich auf …

Die Augen waren mir dick verklebt. Ich fluchte leise …

Und dann – ein vergnügtes Lachen dicht vor mir. Eine Stimme:

„Du wirst ein Bad nehmen müssen, mein Alter … Zunächst knote mir aber mal die Stricke auf … – Hier … Du fühlst die Knoten wohl … Nachher erweise ich Dir den gleichen Liebesdienst und bereinige Dich etwas …“ –

Mein schöner blonder Bart ging zum Teufel. Er war nicht mehr zu verwenden. Und mein schöner Frühjahrsanzug war auch zum Teufel …

Immerhin: ich konnte wieder sehen, und neben mir stand Harald und wischte mir die Lehmkruste von der Krawatte …

Sagte lächelnd: „Mein lieber Alter, die Herren Kollegen aus Oldengland sind froh, daß wir ihnen dergestalt auskniffen. Die beiden Hiebe mit Sandsäcken waren ihnen sicherlich sehr unangenehm, als sie erst merkten, wen sie derart erledigt hatten. Im übrigen befinden wir uns hier nicht allzu weit von Neubabelsberg entfernt und werden das Spiel sofort von neuem beginnen, das heißt, denselben Weg nehmen, den die merkwürdige Dame wählte. Die Efeuranke war natürlich ein fester mit Efeu umwundener Strick … Gehen wir …“

 

8. Kapitel.

Margot.

Margot Sachewski war in dieser Nacht nicht zu Bett gegangen.

Sie saß in ihrem Zimmer im Dunkeln am Fenster.

Wartete …

Ihre Gedanken waren schwer und bang wie die Flügelschläge düsterer Vögel, die dem aufziehenden Gewitter enteilen.

Ihre Gedanken suchten in den Vorgängen des verflossenen Jahres nach irgendeinem Anhaltspunkt für die Lösung all des Rätselhaften, das in diesem prunkvollen Hause sich abspielte.

An den heutigen Vormittag dachte sie, an die kurze Unterredung mit ihrem Vater, ihrem Adoptivvater Albert Sachewski …

Wie war das alles doch so anders geworden, seit Frau Helga Sachewski dort in dem kostbaren Erbbegräbnis auf dem kleinen Friedhof der Villenkolonie beigesetzt worden war …!

Frau Helga … ihre Mutter, ihre wahre Mutter.

Denn auf die andere Frau, ihre leibliche Mutter, besann sie sich kaum mehr … –

Frau Helga war der Sonnenschein gewesen, der stündlich, täglich das Leben des heranreifenden Mädchens vergoldet hatte …

Die Güte selbst war diese Frau gewesen. Wie … Sonnenschein …

Und Margot hatte diese Frau geliebt mit all ihrer starken Dankbarkeit für dieses Dasein auf den lichten Höhen verständnisvoll angewandten Reichtums.

Hatte sie geliebt mit einer Eifersucht gegen den Vater, die in vielem übertrieben war …

Und wurde doch von diesem Manne, der sein schönes strahlendes Weib vergötterte, nicht minder verhätschelt, verwöhnt – ehrlich geliebt …

Bis – Frau Helga starb. Binnen drei Tagen …. Grippe …!!

Und Margot selbst mit dem Tode rang, gleichfalls ergriffen von dieser Seuche, die niemand früher so recht ernst genommen hatte und die erst in den letzten Jahren zum Würgengel geworden … –

Da hatte der Generaldirektor die Nächte an Margots Krankenlager zugebracht, hatte selbst gekämpft gegen den grausamen Würger, hatte in diesem Kampfe eine Art Trost gefunden für sein unendliches Leid …

Margot wurde gesund. Margot wußte, daß ihr Adoptivvater geholfen hatte mit zärtlichster Kraft, den Tod von ihrem Krankenbett zu verscheuchen. Und in ihm liebte sie jetzt mit kindlicher Weichheit die Entschlafene, den Sonnenschein ihres Lebens … –

Margot und ihr Vater trösteten sich gegenseitig, erwachten zu neuer Lebensfreude in ihrer innigen Liebe zueinander.

Bis – – die Schatten heraufzogen …

Ganz allmählich …

Wie Wölkchen am Horizont, die über den lichten Himmel segeln und denen andere folgen, immer düsterer, schwärzer … –

So hatte es begonnen:

Sechs Wochen nach Frau Helgas Tod hatte Margot eines Nachmittags oben auf dem Boden der Villa in einer Kammer, in der auch ihre früheren Spielsachen aufbewahrt wurden, einiges davon für die Kinder armer Familien heraussuchen wollen.

Da hatte sie denn vor der Bodentreppe eine neue feste Tür gefunden, die bisher nicht vorhanden gewesen.

Die Tür war verschlossen.

Margot rief den Diener Georg, verlangte den Schlüssel.

Georg Jürgen hatte verlegen erklärt, daß der Herr Direktor den Schlüssel in Verwahrung, außerdem verboten habe, daß jemand den Boden beträte, weil dort Ratten hausten, die durch nichts zu vertreiben seien und die bekanntlich als Verbreiter von Ansteckungsstoffen gefährlicher Krankheiten jetzt sogar durch die Behörden vertilgt würden. –

Abends hatte Sachewski dieses sein Verbot bestätigt – auch etwas verlegen …

Und schon da hatte Margot geahnt, daß andere Gründe dieses Verbot herbeigeführt haben müßten …

So hatte es begonnen …

Und Monate später hatte das junge Mädchen, ein Weib wie alle übrigen und daher begabt für heimliches Spüren, die Überzeugung gewonnen, daß Sachewski in einem der Mansardenzimmer – jemand gefangen halte!

Da war ebenso allmählich zwischen Vater und Kind die Entfremdung gekommen …

Da wurden beide – einsam, scheu, wortkarg …

Das Geheimnis trennte sie – stand zwischen ihnen.

Welches Geheimnis – welches? – Margot wußte es bis zum heutigen Tage nicht.

Wußte nur, daß Georg Jürgen eingeweiht war, ebenso die Köchin und das Stubenmädchen, die drei Hausgenossen. Und diese drei waren bereits über ein Dutzend Jahre bei Sachewski in Diensten, waren treu und – – stumm. –

Margot saß im Dunkeln …

Um sie her waren Gespenster …

Und in ihrer Hand hielt sie den Schlüssel zu der verbotenen Tür …

Hatte ihn abends aus ihres Vaters Schreibtisch geholt, wo er stets in einer Buchattrappe verborgen lag. Nur ein Zufall hatte Margot dieses Versteck offenbart.

Jetzt – wartete sie …

Sie wollte endlich Gewißheit haben, wer dort oben hauste …

Sie litt unter diesem Geheimnis, das ihr nun auch die Vaterliebe geraubt hatte. Sie wollte Klarheit schaffen, damit nicht zwei Menschen auch weiterhin sich scheu auswichen, die durch die starken Bande gemeinsamen Gedenkens an eine teure Tote so eng vereinigt gewesen … –

Margot erhob sich. Auf weichen Morgenschuhen glitt sie die Treppen empor. In der Tasche ihres Hauskleides lastete das Gewicht einer elektrischen Laterne.

Dunkel war’s im Hause.

Auch hier im zweiten Stock, wo Georg Jürgen sein Zimmer dicht neben der Treppentür hatte …

Seit Monaten erst …! Früher wohnte er in der Mansarde. Nun hier – als Wächter der Treppe, hatte Margot sich diese Änderung gedeutet. –

Sie war ruhig, in keiner Weise erregt. Sie wußte, daß Sachewski in Berlin war. Sie hatte zudem nichts zu fürchten. Wenn Georg sie etwa überraschte – was tat das?!

So schaltete sie denn die kleine Laterne, die sie heute nachmittag hier im Orte gekauft hatte, ein und schob den Schlüssel ins Schloß.

Drehte den Schlüssel langsam um …

Die Tür ging auf.

Margot sah, daß diese dicke Holztür noch von innen gepolstert war.

Sie schloß hinter sich ab. Stieg die Stufen empor, die auch hier mit Läufern belegt waren.

Der Boden mit seinen Räumlichkeiten war ihr gut bekannt. Sie stand nun inmitten des Vorbodens, inmitten der senkrechten Dachstützen, ließ den Lichtschein über die weißgestrichenen Türen der Kammern und der beiden Mansardenzimmer gleiten.

Wie ein eisiger Lufthauch strich es da über sie hin.

Glaubte sie …

Und es waren doch nur die Nerven, die sich meldeten …

Die Angst vor dem Geheimnisvollen erwachte …

Die Phantasie arbeitete, malte allerlei Grauenhaftes …

Margot zitterte …

Und – tat den ersten Schritt rückwärts …

Rückwärts … zur Treppe …

Hörte – etwas …

Ein leises – leises Kreischen …

Von links …

Von der Tür der Mansardenstube, deren Fenster nach dem Garten hinausging.

Und sah, daß der Türdrücker sich abwärts bewegte.

Da – – schaltete sie die kleine Laterne aus, drückte sich hinter den einen Balken …

Ein Weib wie die meisten: versagend im entscheidenden Augenblick!

Nur ein Weib … –

Stille … Totenstille jetzt …

Minutenlang …

Und dann – wieder ein Geräusch … Ein Knarren – rasch ersterbend …

Stille …

Und Margot umklammerte den Pfeiler …

Sonst wäre sie umgesunken …

Ein Weib – nur ein Weib …

Bereuend, daß eine Stunde vorschneller Entschlossenheit ihr den Gedanken eingegeben hatte, das Geheimnis dieses prunkvollen Hauses zu enthüllen …

Enthüllte nur ihre eigene Unzulänglichkeit, zu vollbringen, was ihr ein leichtes Unterfangen geschienen. –

Stierte vorwärts – in die Finsternis hinein – nach der Tür hin …

Glaubte schleichende Schritte zu hören …

Hörte das Singen und Klingen des in den Adern jagenden Blutes, das die Ohren mit dämonischen Geräuschen füllte …

Und – prallte zurück vor dem grellen Blitz, der aus der Finsternis hervorschoß …

Erkannte undeutlich eine Frauengestalt, die lautlos nach links hinüberschritt – auf die Tür einer der Kammern zu …

Und in dieser Kammer verschwand die Frau – lautlos – spukhaft– so unwirklich, daß Margot, nun wieder in Dunkelheit gehüllt, fast zweifeln wollte, ob nicht vielleicht ihre überreizten Nerven ihr dieses schemenhafte Bild vorgegaukelt hätten …

Ihre Angst wuchs jäh zu besinnungslosem Entsetzen.

Sie wankte der Treppe zu …

Bis abermals hinter ihr der grelle Lichtkegel aufflammte …

Und mit heiserem, gräßlichem Lachen ihr jemand in den Rücken sprang …

Polternd fiel etwas zu Boden …

Das Licht erlosch …

Und harte Finger krallten sich um des jungen Mädchens Hals …

Eine unnatürlich schrille Stimme gellte ihr ins Ohr …:

„Spionin – – Spionin …!!“

Und ein Schrei kam da über Margots Lippen, ein endlos langgezogener Schrei … Erstickte in … tiefem Röcheln …

 

9. Kapitel.

Familie Markner.

Gerade da war’s, daß Harald und ich wieder unten unter den alten Linden angelangt waren.

Wir hörten diesen Schrei …

Sahen hinter zwei Fenstern im zweiten Stock Licht aufglühen …

Sahen einen Schatten …

Sahen gleich darauf die Bodenfenster des schrägen Schieferdaches hell werden …

Vernahmen etwas wie ein tierisches Gebrüll, das rasch verstummte … –

Und all das, was wir hier als Zuschauer und Zuhörer erlebten, hatte etwas so dämonisch Grauenhaftes an sich, daß selbst Harald mir zuraunte:

„Was mag da oben geschehen sein …?! Wer ist diese Frau, die sich in die Villa …“

Und – schwieg …

Ein Auto kam die Straße entlang, hielt …

Wir sahen es nicht … Und wußten doch: es war Sachewski!

Rasch drückten wir uns seitwärts in die Sträucher hinein …

Warteten … –

Das Auto bog um die Villa herum, machte vor der Garage halt. Der Chauffeur stieg ab, öffnete die Garagentür …

„Nach vorn!“ flüsterte Harald … „Ich bleibe hier. Sei vorsichtig … Denke auch an die Kollegen …“

Ich huschte davon – durch die Büsche, bewachte den Vorderausgang …

Beobachtete, daß ein dicker kleiner Mann, offenbar der Diener Georg, eilends auf die Straße lief – davonhastete, nur notdürftig angezogen – in Morgenschuhen.

Beobachtete, daß alle Zimmer hell wurden …

Gestalten glitten hin und her …

Dann wurden die Zimmer wieder dunkel. Nur eins blieb erleuchtet … –

Harald kam …

„Sachewski spricht mit dem Chauffeur, hat ihm Geld gegeben … Er ist sehr erregt. Der Chauffeur schien ihm irgend etwas zu beteuern. Ich glaube, der Generaldirektor hat ihn bestochen, hat ihn zum Schweigen verpflichtet. Sie werden die Frau fortschaffen … Ich laufe zum Bahnhof … Möglich, daß ich dort ein Taxameterauto finde …“

Und er kletterte über den Zaun in den Nachbargarten – verschwand.

Gleich darauf kehrte der Diener mit einem älteren Herrn zurück. Ich vermutete sofort, daß er einen Arzt geholt habe. Später stellte sich heraus, daß dies tatsächlich stimmte. –

Endlos lang wurde mir die Zeit …

Nichts geschah …

Im Osten lichtete sich der Himmel bereits.

Der Morgen nahte …

Dann verließ der Herr, den der Diener geholt hatte, die Villa. Sachewski begleitete ihn bis zur Gartenpforte. Ich verstand einiges von dem, was der Generaldirektor mit dem Herrn sprach. Er redete ihn mit Sanitätsrat an. Das Wort „Nervenfieber“ vernahm ich mehrmals, und dazu Sachewskis Bemerkung:

„Doch nur ein Fiebertraum …! Weshalb sollte sie wohl nachts den Hausboden aufgesucht haben?!“

Der Arzt verabschiedete sich. Mir schien’s, als ob er überaus kühl dem Generaldirektor gegenüber war. Vielleicht deshalb, weil er ihm nicht – glaubte! …

Ich aber reimte mir nun das Geschehene so ungefähr zusammen …

Ich blieb nur noch so lange, bis das Auto um die Villa bog und dicht am Vordereingang hielt. –

Harald hatte Glück gehabt …

Und als Sachewskis Kraftwagen nun den Weg nach Potsdam zu einschlug, folgten wir in vorsichtiger Entfernung …

Saßen beide vorn neben dem Chauffeur, dem Harst bereits mitgeteilt hatte, wer wir seien und daß es sich hier um eine ganz – harmlose Feststellung handele.

Es war ein älterer Mann, dieser Chauffeur. Einer, der eine zahlreiche Familie hatte und froh war, durch diese Fahrt Geld zu verdienen.

Die Morgendämmerung begann …

Wir mußten noch weiter zurückbleiben um nicht aufzufallen. Aber wir wußten bereits: die Fahrt ging gen Werder, ging nach dem Obststädtchen, wo die Baumblüte jedes Jahr festlich gefeiert wird.

Harst befahl dem Chauffeur, das Tempo noch mehr zu mäßigen …

Kurz vor dem Städtchen lohnten wir den Mann ab. Er bedankte sich wortreich, versprach zu schweigen, kehrte um …

Wir gingen am Bahnhof vorüber. Es war inzwischen heller Tag geworden.

„Sachewski hat die Frau mit dem künstlichen Arm zu Margots leiblichen Eltern, zu den Markners gebracht,“ sagte Harald plötzlich. „Und diese Frau ist vielleicht – seine Gattin …“

„Bitte, die verstarb vor einem Jahr …“

„Vielleicht auch nicht, mein Alter …“

„Beweise?“

„Die habe ich bisher nicht …“

„Und – die Juwelen, der Diebstahl, den diese Frau im Zuge so raffiniert beging?“

Er schwieg …

Und rief dann ärgerlich:

„Wir tappen noch völlig im Dunkeln. Ich werde der Geschichte jetzt aber ein Ende machen – so oder so!“

Wir trafen einen Mann, der ein Fischnetz über dem Rücken hatte.

„Kennen Sie vielleicht hier einen Herrn Markner?“ fragte Harald ihn höflich.

Der Mann musterte uns. All diese Bewohner der Umgegend Berlins sind überaus mißtrauisch. Man kann dies immer wieder beobachten.

Hier nun war’s kein Wunder, daß wir dem Fischer verdächtig erschienen. Obwohl ich mich nach Möglichkeit gesäubert hatte, glich ich doch so ziemlich einem Strolch, der die Nacht in einem Straßengraben verschlafen hat. Und Harald wieder paßte seiner ganzen Aufmachung nach so wenig zu mir, daß der Fischer mit Recht über ein so ungleiches Gespann erstaunt sein mußte.

Maulfaul sagte er schließlich:

„Es gibt hier drei Markners … Welchen meinen Sie …?“

„Den – Bekannten des Generaldirektors Sachewski …“

„Ah so – den …!! Der wohnt unten am See … Kommen Sie nur mit …“

Er schlurfte voraus in seinen schweren Transtiefeln.

Und Harald flüsterte:

„Wer weiß, wofür der uns hält!“

In der engen Straße am See, wo die wunderlichen uralten Häuschen vor Sauberkeit blitzen und das Behagen früherer Zeiten ahnen lassen, deutete der Fischer auf eine dunkelgrün gestrichene Haustür:

„Da wohnt der Markner …“

Und schlurfte weiter, hatte mir noch einen ganz merkwürdigen Blick zugeworfen.

„Ob wir wohl hier mehr Glück haben werden?“ meinte Harald zweifelnd. „Da – die Vorhänge sind noch zugezogen. Die Bewohner schlafen … Das Haus hat sicherlich einen Ausgang nach dem See hin. Zählen wir die Grundstücke bis zur nächsten Querstraße ab. Dann müssen wir auch am See das richtige finden.“

Und wir fanden es … Fanden den Nachbar der Markners bereits bei der Arbeit. Der Mann flickte hinter dem Zaun einen Bretterkahn aus.

Wir blieben stehen, und Harst begann eine Unterhaltung – mit jenem Geschick, das ihn so leicht aus den Leuten herausholen läßt, was er wissen will.

Nun, dieser Nachbar war den Markners entweder nicht gewogen, oder die Familie war tatsächlich nichts wert …

„Der Alte säuft … Ist jeden Tag betrunken … Die Frau treibt’s ähnlich … Die beiden Söhne spielen dafür die feinen Herren …“

„Wovon leben die Leute denn?“ fragte Harald wie ungläubig.

„Wovon?! – Dja, lieber Herr, man muß eben reiche Bekannte haben! Die kann man eben ausquetschen …“

„Wenn sich jemand ausquetschen läßt …!“

„Oh – in diesem Falle schon, lieber Herr …“

Auch hier spürten wir das Mißtrauen. Der Mann war sehr vorsichtig – sehr!

Harst versuchte es auf andere Weise …

„Ich habe gehört, daß die Markners ihr Grundstück verkaufen wollen … Stimmt das?“

Der Nachbar wurde jetzt lebhafter. All diese einfacheren Leute haben für Grundstückhandel Interesse …

„Verkaufen?! – Was Sie sagen …! Das ist mir neu … Aber möglich ist es schon, denn der … der Gönner der Markners will sie wohl gern weiter weg haben. Sie sitzen ihm hier zu dicht auf der Pelle, die faule Bande …“

„Gönner?! – Solche Leute haben Gönner?!“ Und Harald lachte …

„Stimmt schon, lieber Herr! Reiche Gönner …! Sehr reiche …! Brauchen eben nichts zu tun … Da schreibt eben nur der Strolch, der Gustav, was der jüngere Sohn ist, einen Brief, und … die Sache klappt stets.“

„Erpressung scheinbar …“

„Was Ähnliches … – Wollen Sie denn das Grundstück kaufen?“

„Vielleicht … – Deshalb erkundige ich mich ja zunächst bei Ihnen … – Ob man den alten Markner schon sprechen kann?“

„Den?! Jetzt morgens …!! Nee, die kriechen doch vor Uhre achte nicht aus dem Bett …“

„So?! Mir war’s doch so, als ob vorhin, so vor einer Viertelstunde, ein Auto vor dem Hause hielt …“

„Da müssen Sie sich getäuscht haben. Ich habe doch mit meiner Frau um die Zeit Kaffee getrunken …“

„Ich glaubte schon, daß ein anderer Käufer mir vielleicht zuvorgekommen sei …“

„Ausgeschlossen, lieber Herr … Wenn Sie wollen, gehe ich mal über den Hof bis zu Markners Hinterfenster. Dann sehe ich gleich, ob sie noch schlafen …“ –

Nun – Markners schliefen wirklich noch, und unsere Annahme, daß Sachewski die Frau mit dem künstlichen Arm hier nach Werder gebracht habe, stimmte also nicht.

Harst bedankte sich bei dem Nachbar …

„Wir werden dann später wiederkommen … – Haben Markners eigentlich auch Töchter?“

„Und ob …! Zwei sind verheiratet – nach außerhalb … Und die jüngste, die …“

Er hüstelte … Lachte dann …

„Na – ist weiter kein Geheimnis mit der Margot … Die ist eben von reichen Leuten adoptiert worden …“

„Ach was …! Adoptiert …! – Nun verstehe ich Sie auch: die Adoptiveltern unterstützen die Markners!“

Der Mann nickte nur, brummte etwas vor sich hin.

„Da kommt dies Fräulein Margot wohl zuweilen auch hierher?“ fragte Harald wieder.

„Nee – Gott sei Dank nicht, lieber Herr …! Was sollte die wohl hier? Die ist doch Dame geworden … Die Alten wollen sie auch gar nicht sehen … Zum Geldgeben ist sie gut.“

Wir verabschiedeten uns.

Und als wir jetzt am Seeufer entlangschlenderten, neben uns das Schilf rauschte und über den weiten sonnglänzenden See ein frischer reiner Lufthauch wehte, da sagte Harald versonnen:

„Ich habe selten einen Fall bearbeitet, der so aalglatt ist wie dieser …“

Er blieb stehen …

Sein schmales Gesicht wandte sich dem See zu …

Eine große Segeljacht hatte da soeben von einer entfernten Landungsbrücke losgemacht und trieb langsam über das friedliche Gewässer dahin …

„Sachewski …“

Schrill wie ein Pfiff war’s über Haralds Lippen gekommen …

Auch ich erkannte nun am Steuer der Jacht die magere Gestalt des Generaldirektors …

„Also dorthin!“ flüsterte Harst. „Auf die Jacht …! Freilich, das ist das sicherste Versteck …!“

Ich verstand: die Frau mit der Hand aus Holz war an Bord der Jacht!

„Sie wirft drüben Anker …“ flüsterte Harald wieder. „Sachewski steigt ins Beiboot, auch ein zweiter Mann …“

„… Der Diener Georg …“

„Der Diener kehrt auf die Jacht zurück … Als Wächter … – Rasch – wir müssen versuchen, Sachewski zu folgen … Er wird fraglos das Auto irgendwohin bestellt haben – vielleicht auf die Chaussee …“

Wir sahen, daß der Generaldirektor sehr eilig dem Walde zustrebte …

„Zwecklos!“ sagte Harald ärgerlich. „Es wäre zwecklos …! Dann eben – der andere Weg – zur Jacht! Leihen wir uns ein Boot. Vielleicht kann der Nachbar der Markners uns dazu verhelfen …“

 

10. Kapitel.

Das stille Gesicht.

Der Mann arbeitete noch an seinem Bretterkahn, dichtete jetzt die Fugen mit Teer ab und stand inmitten des beizenden Qualmes des von brennenden Scheiten geheizten Teerkessels.

„Ja – wenn die Herren rudern wollen – dort liegt mein Boot … – Aber – nichts für ungut … Ich kenne die Herren nicht … Sie werden mir schon eine kleine Sicherheit geben müssen …“

„Gern … – Genügen fünfzig Mark?“

„Gewiß … Ich hole die Ruder … Einen Augenblick …“ –

Ich fühlte: ich war mit einem Male nervös …

Die Entscheidung nahte …

Drüben halb im Schilf lag die Jacht. Und in der Jacht weilte die Frau, um die sich ein dunkles Geheimnis wob …

Ein Geheimnis …! Welches?! – War die Dame dort wirklich Sachewskis Gattin?! – Ich bezweifelte es … –

Der Nachbar kam mit den beiden Rudern. Wir gingen zum kleinen Bootssteg …

Und stießen ab … Schlichen mit dem leichten Boot hier am Ufer entlang, wollten erst weiter nördlich zur anderen Seite hinüber …

Harald ruderte … Ich saß auf der Steuerbank …

Ein wundervoller Maimorgen war’s. Zu allem anderen geeignet, nur nicht zu einem solchen Vorhaben.

Die Natur sprach zu uns mit all ihren Schönheiten. Der langgestreckte Berg jenseits des Städtchens leuchtete weiß in der Blütenpracht der Kirschbäume … Der ganze Zauber des märkischen Sees offenbarte seine vielfachen Wunder.

Und – drüben die große Jacht …

Das Geheimnis …

Welches – – welches?! –

Harald empfand ähnlich wie ich …

„Ich wünschte, wir hätten heute nichts – gar nichts zu tun, hätten einen gut gefüllten Proviantkorb hier und könnten all das Häßliche, was Menschenschwäche in die Welt bringt, für Stunden vergessen …“

So sprach er …

Und wir bogen in eine kleine Bucht ein, verloren die Jacht für eine Weile aus den Augen …

Bis wir dann quer über den Seearm ruderten, nun jenseits uns am Schilfrande dahinpirschten …

Jäger, die der Beute sich nähern …

Wir sahen den Mast der Jacht, den Kajütenaufbau.

Dann waren wir Bord an Bord …

Harald schwang sich als erster an Deck der Jacht, die am Bug den stolzen Namen Ozeana in Goldbuchstaben trug.

Ich folgte. – Ich kenne Privatjachten. Diese Ozeana war ein Schmuckkästchen. Der Niedergang zur Kajütentür Mahagoni. Die Treppe mit Gummi beläufert. Die Tür fast künstlerisch ausgeführt.

Harald pochte an diese Tür. Recht kräftig. Pochte nochmals …

Niemand meldete sich.

Da griff Harst nach dem Drücker …

Wandte sich um …: „Verschlossen!“

Bückte sich …: „Kein Schlüssel im Schloß …!“

Wandte sich wieder um …

„Lieber Alter, wir haben uns zu sehr der Naturschwärmerei hingegeben … Wir hätten sofort bemerken müssen, daß das kleine Beiboot fehlte …! – Kehrt – an Deck!“

Und oben von Deck sahen wir, daß das Beiboot jenseits des Schilfgürtels am Ufer lag, halb aufs Trockene gezogen war.

„Hm …!!“ machte Harst sehr gedehnt. „Gefällt mir nicht! Als der Diener den Generaldirektor an Land gerudert hatte, ging er wieder hier an Bord und vertäute das Beiboot am Heck. Das sah ich ganz genau. Und nun – – scheint die Ozeana leer zu sein …“

„Du fürchtest, Georg Jürgen hat die Frau wieder anderswohin gebracht? Jetzt am hellichten Tage?!“

„Hm … – Oder – hier an Bord eingesperrt – Suchen wir jedenfalls. Das Schloß der Tür wird uns keine Schwierigkeiten bereiten.“

Nein – das tat es nicht. Es war zuvorkommend und öffnete sich dem sanften Druck unseres Patentdietrichs.

In der kleinen Kajüte mit den beiden Wandsofas, den Wandschränken und dem reichen Bilderschmuck herrschte Dämmerung. Die Vorhänge der schmalen Oberlichtfenster waren zugezogen.

Und doch – wir sahen etwas: auf dem Klapptisch zwischen den Sofas lag der schlichte graue Filzhut der Dame mit dem künstlichen Arm. Auch der graue Schleier war noch um den Hut gewunden.

Harald nahm den Hut empor …

Stutzte – wie ich …

Denn nun lag auf der Tischplatte ein kleiner Damenrevolver mit elfenbeinverziertem Griff. Der Hut war darüber gedeckt worden. Nun war die Waffe zum Vorschein gekommen.

Harst legte den Hut auf das eine Sofa, nachdem er flüchtig das Seidenfutter besichtigt hatte …

Langte nach dem Revolver …

„Entsichert …!“ sagte er. „Und geladen … Noch fünf Patronen und eine leere Hülse …“

Dann hob er die Mündung bis zur Nase …

„Bitte – rieche …!“

Ich merkte sofort: aus diesem Revolver war vor ganz kurzer Zeit ein Schuß abgegeben worden.

„Wenn wir heute nicht halb blind wären,“ meinte Harald ernst, „würden wir mehr auf unsere Geruchsnerven gegeben haben. Auch hier in der Kajüte riecht es noch nach Pulverdampf – nach einem unlängst abgefeuerten Schuß … – Sehr merkwürdig …“

Sinnend ruhten seine grauen Augen auf der Waffe.

„Georg?!“ flüsterte ich …

Und dachte an – – ein Verbrechen …

Er schüttelte den Kopf …

„Nein – das nicht … Vielleicht – ein Selbstmord. – Ein Selbstmord der Frau würde auch Georgs Verschwinden hinlänglich erklären … Wenn Georg zum Beispiel jetzt nach Neubabelsberg geeilt wäre, um seinem Herrn das Geschehene zu melden?! Vielleicht ist es so.“

„Dann müßte die Leiche hier sein …“

Er nickte …

Reckte sich hoch, schob die Fenstervorhänge zur Seite.

Grelles Sonnenlicht flutete in breiten Streifen herein … So grell, daß es mich blendete, daß ich einen Moment die Augen schloß …

Und als ich sie wieder öffnete, kniete Harald am Boden – auf dem feinen bunten Bastteppich offenbar einem orientalischen Stück …

Blickte zu mir empor …

„Nur zwei Tropfen …“ – Ganz leise klang es. Wie voller Ehrfurcht vor dem kostbaren Lebenssaft, der hier nur mit zwei Tröpfchen neben dem Tische den Teppich gerötet hatte.

Er richtete sich wieder auf …

„Selbstmord – ohne Zweifel … – Die Tote muß sich hier befinden …“

Durch die zweite winzige Tür der Kajüte gelangten wir in eine kleine Kombüse, von da in einen mit Kacheln verzierten Waschraum, dann in das Vorschiff.

Hier mußten wir uns bereits bücken. So niedrig lag das Deck über uns. Dunkel war’s hier. Unsere Taschenlampen zerschnitten die schwarze Finsternis mit scharf abgegrenzten Lichtkegeln.

An den Wänden vier hochgeschlagene Klappbetten. Weiterhin[2] Ballen von Reservesegeln, Kisten, ein großes Wasserfaß …

Und – noch etwas …

Noch etwas war dort zu erkennen …

Ein stilles Menschenantlitz, über das von der Stirn ein rötlicher Streifen hinlief:

Der Diener Georg Jürgen …!

Mit – – Stirnschuß …! –

Wir standen stumm da …

Und Harald war’s, der dann mit gedämpfter Stimme sagte:

„Alles geht verkehrt … – alles! Wir glaubten so und so oft am Ziele zu sein, und stets trat etwas Neues ein. Dies hier ist das Traurigste … – Der arme Georg – ein Opfer dieses Weibes, von der wir bisher nur etwas mit Bestimmtheit wissen: daß sie eine künstliche Hand hat!“

Er kroch jetzt vorwärts. Machte neben dem Toten halt und erklärte lediglich:

„Jede Hilfe kommt hier zu spät.“ –

Dann waren wir wieder in der Kajüte.

Harald nahm den Revolver …

„Ganz neu …!“ – Und nahm den Hut, der ein Seidenfutter mit Firmenschild hatte:

Svendsen u. Co.,
Göteborg.

„Göteborg, mein Alter … Und Holger Larsen ist ebenfalls in Göteborg zu Hause. Ob etwa …“

Da schwieg er …

Über sein Gesicht glitt’s wie ein Aufleuchten hin.

„Ob etwa diese Frau dem Ingenieur Larsen näher stand als Sachewski? Ob es etwa …“

Und wieder eine kurze Pause …

Ausgefüllt mit Gedanken, die vorläufig auch nur Vermutungen bleiben konnten …

„… ob es etwa eine Verwandte Larsens ist und nicht Frau Sachewski?“

Er legte den Hut beiseite …

„Jedenfalls: sie ist entflohen, und wir haben die Pflicht, sie zu finden. Rudern wir an Land …“

Wir verschlossen die Kajüte wieder.

Am Ufer zogen wir unser Boot ebenfalls weit aufs Trockene.

Der feuchte Uferstreifen, mit frischem Gras bestanden, hatte die Spuren der hier zuletzt anwesenden Personen deutlich angenommen … – Deutlich für Harald Harsts Augen …

Da war die Fährte Sachewskis …

Da war eine zweite – schmalere Stiefel, höhere Absätze.

Der folgten wir – immer am Ufer entlang – bis in den Wald.

Wer den märkischen Kiefernwald mit seinem trockenen Tennenboden kennt, wer jemals versucht hat, auf solchem Boden eine Spur zu entdecken oder eine von weicherem Gelände in den Wald führende Fährte nicht zu verlieren, der wird begreifen, daß wir eine volle Stunde brauchten, bevor wir den Ostrand des Waldstreifens erreicht hatten.

Und hier sahen wir auf dem Felde zwei Frauen arbeiten.

Die fragten wir …

„Nein, eine Frau haben wir nicht gesehen,“ lautete die Antwort.

Harald verbesserte sich …

„Es kann auch ein Mann gewesen sein … Vielleicht im blauen Segleranzug und mit Seglermütze …“

Ja – den hätten sie bemerkt. Der hätte sie nach dem nächsten Wege nach Potsdam gefragt … –

Ich begriff: die Frau, die Mörderin, hatte ihren Hut nebst Schleier in der Kajüte zurückgelassen, weil sie sich als Mann verkleidet hatte. In den Wandschränken der Jacht mochte wohl ein Anzug gehangen haben … –

Wir schlugen nun dieselbe Richtung ein. Zunächst an einem Feldrain entlang, dann einen Fußsteig – bis zur Chaussee.

Wir schritten sehr rasch dahin. Harald hatte nur kurz erklärt:

„Sie trägt jetzt Männeranzug …“

Und bestätigte so, was ich mir schon selbst gedacht hatte. –

Die Chaussee Werder–Potsdam ist sehr belebt.

„Wir werden das erste Auto bitten, uns mitzunehmen,“ meinte Harald. „Die Frau andererseits wird es nicht wagen, ein Gefährt zu benutzen. Ihre Verkleidung kann nur sehr mäßig sein. Sie wird sich hüten, sich genauer betrachten zu lassen.“

Ein Auto kam …

Zwei Herren, eine Dame darin …

Harst winkte, stand mitten auf der Chaussee …

Rief laut: „Hier Detektiv Harst … Bitte, nehmen Sie uns mit …“

Der Kraftwagen hielt.

Es waren ein Ehepaar aus Nauen und ein Berliner Notar.

Wir fuhren …

Die drei Herrschaften hatten wohl gehofft, daß die Berühmtheit Harald Harst, der deutsche Sherlock Holmes, zum Dank berichten würde, weshalb er hier morgens halb sieben mit seinem wenig sauber ausschauenden Freunde auf der Chaussee weilte …

Die Herrschaften täuschten sich. Harald Harst sagte nur: „Wir haben einen Morgenspaziergang unternommen …“ Und dann schwärmte er von dem wunderbaren Sonnenaufgang.

Der Notar grinste …

„Netter Spaziergang, Herr Harst … Kann mir denken, welcher Art …“

„Vielleicht auch nicht …“

Und er faßte in die Tasche, nahm einen kleinen Spiegel hervor (wir saßen rückwärts) und beobachtete mit Hilfe dieses Spiegels die Chaussee in der Fahrtrichtung.

Unweit Wildpark wurde er lebendig.

„Bitte – lassen Sie halten … Wir möchten aussteigen … Verbindlichsten Dank …“ –

Das Auto glitt weiter …

Und – hundert Meter vor uns ging … die Mörderin …

 

11. Kapitel.

Der Efeustrick.

Langsam ging sie in ihrer Verkleidung, hatte die ihr zu großen Beinkleider mehrfach umgekrempelt, trug keinen Kragen und die Mütze tief im Genick …

Der Staub der Chaussee wirbelte unter ihren schleifenden Füßen auf. Wie mit Mehl bestreut war sie, völlig bestaubt …

Und wir hinter ihr, harmlos und laut uns unterhaltend …

Einmal schaute sie sich um. Da sahen wir flüchtig das schweißige, schmutzige Gesicht voller Falten.

Die Jacke schlotterte ihr um den hageren Leib …

Müde schien sie, todmüde …

Kein Wunder. Sie hatte ebenso wenig geschlafen wie wir …

„Schneller jetzt!“ meinte Harald.

Wir überholten sie …

Und Harst wandte sich um …

„Entschuldigen Sie, hier kommt man doch nach Potsdam …?“

Nur ein Nicken …

Und ich hatte ein Paar ganz merkwürdige blaugraue Augen gesehen – mit einem Ausdruck, der schwer zu enträtseln war.

Nun waren wir vor ihr … Nun bekam Haralds Hohlspiegel wieder Arbeit.

Im übrigen schwieg er … War tief in Gedanken, und ich störte ihn nicht. –

Die Frau hatte eine Arbeiterin angesprochen, wandte sich nun dem Bahnhof Wildpark zu.

Wir – auch – mit aller Vorsicht.

Im selben Zuge fuhren wir gen Neubabelsberg …

Sie vierter Klasse …

Wir dritter …

Noch immer schwieg Harald. Erst als die Frau in Neubabelsberg ausstieg, meinte Harald:

„Wenn ich geahnt hätte, daß wir es mit einer Geisteskranken zu tun hatten, wäre bereits am Bahnhof Friedrichstraße gestern abend die Entscheidung gefallen. Und – dann lebte Georg Jürgen noch …“

Wieder blieben wir hinter der Frau.

Sie ging jetzt die Seestraße entlang …

„Zu ihrem … Gefängnis zurück,“ sagte Harst trübe. Fügte seufzend hinzu: „Man jagt nun bereits weit über ein Jahrzehnt Verbrechern nach … Man bildet sich ein, klug zu sein und bessere Augen zu haben als andere …! Ich hätte schon gestern merken müssen, daß die Frau irrsinnig ist. Ihr Lachen – – ihr Lachen!“

„Und heute – die Augen …!“ nickte ich …

„Es ist eine Verwandte Larsens … Und da Sachewskis Frau mit Vornamen Helga hieß, ist diese Helga vielleicht auch von Geburt Schwedin gewesen und möglicherweise eine Verwandte der Geisteskranken …“

Er wollte nun offenbar mir alles mitteilen, was er jetzt über den Fall sich zurechtgelegt hatte …

Brach jedoch ab und ging quer über die Straße auf zwei Herren zu, die etwa wie Touristen aussahen …

Zwei, denen man die Ausländer sofort anmerkte.

Grüßte höflich …

„Nicht wahr, Sie sind doch die englischen Kollegen von der verflossenen Nacht … – Bitte, wir tragen Ihnen den Angriff dort im Garten nicht weiter nach … Kommen Sie nur mit. Der letzte Akt des Dramas hat schon begonnen …“ –

Shearc und Robbins hießen die Kollegen. Shearc machte den Sprecher …

„Ich will Sie beide, Herr Harst, nun einweihen …“

„Nicht nötig. Sie sind hinter einer Juwelendiebin her …“

„Ja. Vor etwa einem Jahr …“

„… wurden der Herzogin von Northumberland hier in Berlin im Savoy-Hotel Juwelen nachts gestohlen. Die Herzogin, eine sehr energische Dame, feuerte noch aus dem Bett auf die fliehende Gestalt … Der Dieb entkam. Und Sie beide haben mit vieler Mühe heraus gebracht, daß der Hoteldieb …“

„… eine Schwedin namens Olga Larsen gewesen.“

„… Mutter des Ingenieurs Holger Larsen …“

„… und beste Freundin der verstorbenen Gattin des Generaldirektors Sachewski, der die geisteskranke Diebin vor Ihnen in seiner Villa verbarg und der die Juwelen, nachdem er sie endlich irgendwo gefunden, wo die Kranke sie versteckt hatte, der Herzogin jetzt wieder durch Larsen zurücksenden lassen wollte …“

„Ah – das ist uns neu, Herr Harst …“

„Möglich … – Anderes wissen Sie auch noch nicht. – Doch, Frau Larsen biegt dort auf das unbebaute Gelände ab, will offenbar wieder auf demselben Wege in die Villa einsteigen wie gestern …“

Und wir blieben weiter hinter ihr …

Sie kletterte über den Zaun, eilte durch den Obstgarten …

Bis zu jener von Efeu eingesponnenen Linde …

Zu spät sprangen wir vier zu …

Zu spät …

Die unglückliche Frau hatte sich schon emporgeschwungen …

Ihr schrilles Lachen gellte von oben herab …

Und dieses Lachen war’s, das die Köchin ans Küchenfenster lockte …

Auch sie schrie auf – verschwand …

Wir standen unter dem Baume …

Wir waren zur Untätigkeit verurteilt …

„Verhalten wir uns ganz still,“ flüsterte Harst. „Sonst … stürzt sie vielleicht herab … Im Hause ist sie uns dann sicher, die Ärmste …“

Es kam anders … Nicht durch unsere Schuld …

Sachewski stürmte aus der Hintertür der Villa …

Blieb stehen, stierte nach oben …

Und dort oben hing die Frau bereits an dem von Efeuranken umwundenen Strick …

Wollte hinüber zum Mansardenfenster …

Pendelte hin und her …

Und gerade da ein neuer Zuschauer … Einer, der totenblaß war: Ingenieur Larsen …!

„Mutter – – – Mutter …!!“

Ein Schrei – ein Angstruf …

Da – – hatte die Unglückliche plötzlich den Strick losgelassen, stürzte kopfüber herab, fiel so schräg in den groben Kies des Weges, daß sie regungslos liegenblieb!

Tot – Genickbruch … –

Fünf Minuten später …

Im Arbeitszimmer Sachewskis …

Larsen in einem Sessel – mit schwimmenden Augen, zuweilen leise aufschluchzend …

Im anderen Sessel Harst …

Und Sachewski und die Kollegen aus London vor dem Tische … – wir alle gleich erschüttert, wir alle voller Mitleid mit Holger Larsen, der soeben die Leiche seiner Mutter drüben in Sachewskis Schlafzimmer auf dem Diwan gebettet hatte.

„Die Herren sind ja zum Teil bereits in diese traurigen Dinge eingeweiht,“ begann Sachewski. „Frau Olga Larsen hatte schon als Mädchen Edelsteine über alles geliebt. Als sie Witwe geworden und viel auf Reisen war, wurde sie aus unbezähmbarer Leidenschaft für Juwelen mehrfach … zur Diebin. Stets konnte Holger jedoch die Diebstähle vertuschen und den Bestohlenen ihr Eigentum wiedergeben. Wir brachten seine arme Mutter, die ganz offenbar geisteskrank war, hier in Neubabelsberg im Griebnitz-Sanatorium unter. Sie entfloh, stahl im Savoy-Hotel die Juwelen der Herzogin, erhielt eine Revolverkugel ins linke Handgelenk, erschien hier in meiner Villa, wo ihr Professor Golfstein die Hand amputieren mußte, da bereits der Brand hinzugetreten war …“

Er schwieg … Trocknete die dicken Schweißperlen von der Stirn …

„Ich verbarg Frau Larsen hier bei mir … Sie war eine geduldige Gefangene. Nur eins verriet sie nicht: das Versteck der Juwelen! – Sie gab zu, dieselben verborgen zu haben. Aber alles Bitten half nichts. Sie blieb fest, verhöhnte uns …! – Dann merkte ich, daß meine Villa beobachtet wurde …“

Er nickte den Engländern zu …

„Und eines Nachts – es war heute vor vier Tagen – beobachtete ich dann meinerseits ganz zufällig, daß Frau Larsen es verstanden hatte, sich einen Weg ins Freie zu schaffen – mit Hilfe des langen Strickes und der Efeuranken. Ich schlich ihr nach – bis in den nahen Wald. Und dort wühlte sie am Fuße einer Kiefer ein Loch, holte die Juwelen hervor … spielte mit ihnen, ließ sie im Mondenschein flimmern … – Nachdem sie die Juwelen wieder vergraben hatte und in die Villa zurückgekehrt war, nahm ich die Preziosen an mich …“

„Und – das merkte Frau Larsen,“ fiel Harald ein. „Merkte es, entfloh und – stahl sie Herrn Vandersloh im Zuge nach Stettin …“

„Sie muß Vandersloh und mich belauscht haben … Sie war ungeheuer schlau – wie so viele Geisteskranke.“

Und dann ging Sachewski zum Schreibtisch, zog die Mittelschieblade auf, – reichte Shearc aus London ein Päckchen …

„Bitte – die Juwelen … – Frau Larsen hatte sie jetzt in einer Bodenkammer versteckt. Meine Tochter Margot beobachtete die Kranke, wurde von ihr überfallen … Sie hat sich bereits wieder erholt. Wir durchsuchten die Kammer …“

Shearc verbeugte sich, sagte höflich:

„Wir werden die Einzelheiten geheimhalten, Herr Generaldirektor. Wir bedauern aufrichtig, daß Herr Larsen so viel Trauriges erleben mußte.“

Das war ein Gentleman, der so sprach. –

Und mit diesen seinen Worten könnte ich diese Niederschrift schließen, will aber doch noch bemerken, daß Harald auf dem Heimweg an jenem Vormittag mit schwachem Seufzer erklärte:

„Als Erfolg können wir den Fall nicht buchen, mein Alter … Wir waren diesmal nur Mitspieler, nicht Hauptspieler. Immerhin: ich habe manches zugelernt!“ –

Und im September kam ein Brief aus Göteborg – von Frau Margot Larsen, geborenen Sachewski – oder besser geborenen Markner …

Sie schrieb, daß gerade das junge Ehepaar Vandersloh bei ihnen als Gäste weilten und daß ihr Mann nichts mehr dagegen habe, wenn Herr Max Schraut den Fall der Hand aus Holz literarisch verwerten wolle – mit anderen Namen. –

Ohne mein Gewissen irgendwie zu belasten, durfte ich also diese unsere ernsten Erinnerungen an eine Unglückliche zu Papier bringen …

Womit ich mich von dem Leser für heute verabschiede – für heute …

 

Ende!

 

Als nächster Roman in dieser Sammlung erscheint:

Der Geistersucher,

ebenfalls ein Kriminalfall aus der Erinnerungsmappe Max Schrauts, – eine Begebenheit, die in den Kreisen einer besonderen Art von Hochstaplern spielt und von der ersten Zeile an den Leser in das unheimlich-geheimnisvolle Treiben einer internationalen Gaunerbande versetzt.

 

 

Verlagswerbung:

An unsere Leser

Die glänzende Erzählerkunst Walter Kabels, welcher doch nun schon seit Jahren tausende Leser an die Detektiv-Abenteuer unseres Harald Harst fesselt, schenkt uns in dem soeben erscheinenden großen Sensationsroman

Der Goldschatz der Azoren

ein neues Werk von so eigenartiger und packender Schönheit, daß auch dieser Roman zahlreiche Freunde finden und die Lesergemeinde der Kabelschen Arbeiten noch vergrößern wird.

Ein ganz eigenartiges Motiv hat sich der Autor für diese Arbeit gewählt: Die Macht des Goldes. Deutsche Männer und Frauen haben während des Krieges in unseren afrikanischen Kolonien einen großen Goldschatz gefunden, den sie dem Vaterlande schenken. Ein deutsches U-Boot nimmt das Gold an Bord, um es nach Deutschland zu schaffen. Im Atlantischen Ozean aber erleidet das U-Boot einen Maschinendefekt, es wird von einem englischen Kriegsschiff verfolgt und in der Nähe der Azoren-Inseln in den Grund gesenkt. Nur ein einziger der Besatzung, der Steuermann Hartwich, kann sich auf die Insel San Miguel retten, wo er drei Jahre lang als Robinson lebt. Als er dann nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückkehrt, findet er sein Vaterland am Boden liegend, das deutsche Volk unsäglich an den Folgen des Krieges leidend. Nun beschließt er den gewaltigen Goldschatz zu heben, um damit die Leiden seiner deutschen Volksgenossen zu lindern. Er trifft mit seinem Jugendfreunde Viktor v. Gaupenberg zusammen, der ein ganz neuartiges Luftschiff konstruiert hat, und mit Hilfe dieses Luftschiffes wollen die Freunde den Schatz bergen. Doch durch einen Zufall haben andere von dem Goldschatz erfahren, die nun mit allen Mitteln versuchen, für sich das Gold zu gewinnen. Und um diesen riesigen Goldschatz entbrennt nun einen Kampf, wie er gewaltiger und packender nicht geschildert werden kann.

Wir alle kennen Walther Kabel aus seinen Harald Harst-Erzählungen und wissen, wie er zu erzählen und zu fesseln versteht. Im „Goldschatz der Azoren“ aber hat er sich selbst übertroffen. Diese Erzählung ist von so eigenartiger und packender Schönheit, daß sich kein Leser ihr entziehen kann.

Gratis und franko

erhält jeder Leser der Harst-Erzählungen das 1. Heft des „Goldschatz der Azoren“. Wir bitten um Einsendung der Adresse, worauf wir sofort vollständig kostenlos das erste Heft senden.

 

Kabels

Kriminalbücher

Bisher sind folgende Bände erschienen:

1. Ming Tschuan. – 2. Thomas Bruck, der Sträfling. – 3. Die rote Rose. – 4. Das Atlantikgespenst. – 5. Die Schildkröte. – 6. Die grüne Schlange. – 7. Das Teekästchen. – 8. Die Todgeweihten. – 9. Der Krokodillederkoffer. – 10. Treff-Ass. – 11. Der Wilddieb. – 12. Die leere Villa. – 13. Der Klub der Toten. – 14. Der Mann mit der Narbe. – 15. Die silberne Scheibe. – 16. Die Billionenbeute. – 17. Die Tigerinsel. – 18. John Goodsteaks Hochzeitsreise. – 19. Die roten Briefe. – 20. Das Radiogespenst. – 21. Die Rattenfalle. – 22. Die eiserne Frau. – 23. Das Teufelsriff. – 24. Der Zauberblick. – 25. Die Ladygaunerin. – 26. Der Saal ohne Fenster. – 27. Als Harst verschwand. – 28. Die Hand aus Holz. – 29. Der Geistersucher. – 30. Schraut gegen Harst. – 31. Die Jacht mit den drei Mumien. – 32. Die Antenne im fünften Stock. – 33. Das Gespenst von Kap Tschi-Lao. – 34. Der weiße Tiger. – 35. Fünf Finger am Fenster. – 36. Das Rätsel der Heufuder-Baude. – 37. Das Haus auf Abbruch. – 38. Die Kiste des Kapitäns. – 39. Der Kirchhof von Lanken.

Preis pro Band 40 Pf.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage werden für die Darstellung der Morsezeichen die normalen Geviertstriche und Punkte verwendet, was wahrscheinlich den vorhandenen Drucktypen geschuldet ist.
  2. In der Vorlage steht: „Weiter hin“.