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Die Kugel aus dem Nichts

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 49

 

Die Kugel aus dem Nichts.

 

1. Kapitel.

Die gelbbraunen Fluten der Dschamna bespülten die hölzernen Pfähle des Landungssteges, den Detektivinspektor Plomber sich an dem zu seinem Garten gehörigen Teile des Flußufers hatte errichten lassen.

Es war mehr als ein Landungssteg. Es war eine in das Wasser hinausgebaute hölzerne Terrasse, weiß gestrichen, mit zierlichem Geländer und einem kleinen offenen Pavillon an einer Ecke.

Drei uralte Bäume mit tiefem, breitem Astwerk spendeten hier Schatten, mochte die Sonne auch scheinen, von wo sie wollte.

An der zum Wasser hinabführenden Treppe lagen zwei Ruderboote und ein kleines Motorboot angekettet, die ebenfalls dem Inspektor Plomber gehörten.

Nein – nicht gehörten! Gehört hatten.

Denn Inspektor Plomber, der liebenswürdige Vorstand der Detektivpolizei in der an der Dschamna gelegenen altbekannten indischen Stadt Agra, war tot, war ermordet worden.

Wir wohnten in Agra wieder im Hotel Royal. Wir waren hier infolge des Juwelenraubes mit der Familie des amerikanischen Multimillionärs Hamborn bekannt geworden und hatten gegen sechs Uhr nachmittags gerade im Speisesaale gesessen, als der Hoteldirektor Harald an das Telephon rief.

So erhielten wir die Nachricht von dem Tode Plombers.

Wir entschuldigten uns bei Hamborns und fuhren in dem Auto, das Polizeidirektor Thimal uns nach dem Hotel geschickt hatte, am Flußufer entlang nach Plombers schöner Besitzung.

An der Gartenpforte erwartete uns schon ein indischer Geheimpolizist, der uns nach dem Landungsstege führte. Dort fanden wir den Polizeidirektor, den Polizeiarzt und zwei Detektive vor.

Thimal berichtete kurz folgendes. – Plomber war einer jener Engländer gewesen, die genau nach der Uhr lebten. Soweit es sein Dienst zuließ, hatte er sich täglich um ½6 Uhr nachmittags nach der Wasserterrasse begeben und im Pavillon die Zeitungen gelesen. Er saß dabei in einem Liegestuhl, das Gesicht nach dem Flusse zu. Der Pavillon war nach dem Flusse hin offen. So konnte Plomber lesen und gleichzeitig das belebte Bild des von Fahrzeugen aller Art bedeckten Flusses genießen.

Genau um ¾6 mußte Plombers Diener Eislimonade und einen kleinen Imbiß nach dem Pavillon bringen.

Dies hatte er auch heute getan.

Zu dem Pavillon führten acht Stufen empor. Als der Diener seinen Herrn heute zu Gesicht bekam, sah er sofort, daß hier ein Verbrechen verübt war. Mitten in der Stirn des weit zurückgelehnt dasitzenden Inspektors war eine kleine blutige Stelle sichtbar, von der ein feiner Blutfaden über Nase und Kinn herabgelaufen war.

Der Diener, ein Hindu namens Sramotta, war früher Polizeibeamter gewesen und hatte einen Blick für solche Wunden und für jene Veränderungen, die der Tod auf dem menschlichen Antlitz hervorruft.

Er eilte sofort nach dem etwa achtzig Meter entfernten Wohnhause zurück, telephonierte an die Polizeidirektion das Vorgefallene und ließ niemand von den übrigen Dienern an den Pavillon heran. –

Dann waren die Herren von der Polizei eingetroffen und hatten festgestellt, daß Plomber durch zwei Schüsse ermordet worden war.

Der eine war durch die Stirn gegangen, ohne den Kopf zu durchschlagen. Es war also nur eine Einschußöffnung vorhanden.

Der zweite Schuß saß unterhalb des Herzens in der Brust. Die Kugel war durch einen Knopf abgelenkt worden, hatte die letzte Rippe getroffen und war, nur eine Fleischwunde erzeugend, durch Hemd, Weste, Jacke und den Stoff des Liegestuhles unten gegen die Pavillonbrüstung geprallt, hatte sich hier jedoch nur platt gedrückt und war nicht in das Holz eingedrungen.

Dieses Bleigeschoß zeigte Thimal uns, bevor wir noch den Toten gesehen hatten.

Harald betrachtete es flüchtig, steckte es in die Tasche und sagte:

„Wir dürfen wohl allein in den Pavillon gehen, Mr. Thimal. Schraut und ich sind gewöhnt, allein zu arbeiten, und die Anwesenheit anderer würde nur stören.“

Wir gingen über die leicht dröhnenden Bodenbretter der Wasserterrasse dem Pavillon zu.

„Ein merkwürdiges Bleigeschoß,“ meinte Harald. „Es ist eine Büchsenkugel. Merkwürdig insofern, als ein Mörder doch am hellen Tage nicht mit einem ihn auffällig machenden Gewehr sich herumschleppen wird.“

Auf der obersten Stufe blieben wir stehen.

Die Treppe lief von der Wasserseite empor. Wir hatten den Ermordeten in seinem Liegestuhl nun dicht vor uns.

Der Liegestuhl war verstellbar und ziemlich tief eingestellt, so daß Plomber darin halb gelegen hatte.

Die Arme des Toten hingen schlaff herab. Der Kopf lag auf einem Kissen. Die Beine waren bequem ausgestreckt und übereinander gelegt.

Neben der linken Hand des Ermordeten lag auf dem weiß lackierten Fußboden des Pavillons eine Zeitung.

Das Gesicht war leichenfahl, aber nicht verzerrt. Im Schoße Plombers ruhte eine halb aufgerauchte Zigarre, die in das weiße Leinenbeinkleid ein Loch gesengt hatte, bevor die Glut der Spitze erloschen war.

„Ein Schulfall. Man kann viel daran lernen,“ sagte Harald leise. „Jedenfalls kein alltägliches Verbrechen, so weit ich dies bis jetzt beurteilen kann.“

Er ließ seine grauen Augen immer wieder hierhin und dorthin schweifen. Dann fragte er:

„Würdest Du als Mörder einem Menschen, den Du bereits in die Stirn getroffen hast, noch eine zweite Kugel beibringen?“

„Du hast ganz recht,“ erwiderte ich. „Die Lage der Leiche, der Zeitung und der Zigarre beweist, daß Plomber blitzartig starb – eben durch den Kopfschuß, der sofort die Bewegungsnerven des Gehirns lähmte. Ihm entsanken Zeitung und Zigarre. Er war tot – wie durch Blitzschlag. – Weshalb also der zweite Schuß?“

Harald blieb stumm.

Nach einer Weile rief er den Herren unten auf der Wasserterrasse zu:

„Ich bitte um eine lange, dünne Eisenstange, die sich leicht biegen läßt.“

Es dauerte ein paar Minuten, bis der Diener Sramotta damit angekeucht kam.

„Du kannst hier bleiben, Sramotta,“ sagte Harald freundlich zu dem alten Hindu, den wir von unseren Besuchen bei Plomber her schon kannten.

Die Eisenstange war dünn und etwa zwei Meter lang. Harald bog sie ein wenig. Dann drückte er das eine Ende in die kleine Aushöhlung unten an der Brüstung, die dort von der Bleikugel eingedrückt worden war. Er stützte nun die Stange gegen die linke Körperseite des Erschossenen, nachdem er den Stoff des Liegestuhles nach unten umgebogen hatte. Der ganz schwach, kaum merklich gebogene Eisenstab bildete so eine Verbindung zwischen der Einschlagstelle der Bleikugel und der Wunde, die sie an der letzten linken Rippe Plombers erzeugt hatte.

Sramotta und ich schauten Harst völlig verständnislos zu.

„Was bezweckt Sahib Harst damit?“ fragte der Diener leise.

„Ich weiß es nicht, Sramotta,“ erwiderte ich kurz.

Ich paßte genau auf, was Harald tat.

Der Eisenstab ragte noch ein ganzes Stück über den Körper des Toten hinaus. Harald kniete jetzt hinter dem Liegestuhl und bückte sich so tief, daß er an dem Stabe entlangsehen konnte.

Wozu das alles?! – Auf einen Menschen, der Harst nicht so gut kannte wie ich, konnte dies Verhalten Haralds leicht den Eindruck von Effekthascherei machen.

Polizeidirektor Thimal und der Arzt, ebenso auch die beiden Detektive standen im Fuße der Treppe und beobachteten Harst mit demselben Interesse wie ich.

Ein anderes Ereignis sollte jedoch unsere Aufmerksamkeit völlig ablenken.

An der Wasserterrasse hatte ein Boot angelegt, in dem drei Inder und [ein][1] Chinese saßen. Die Inder hielten den Chinesen fest und schleppten ihn jetzt nach dem Pavillon.

Thimal erkannte die Leute erst, als sie ganz nahe waren.

„Ah – es sind Leute von der Strompolizei!“ rief er. „He – was ist denn mit dem Gelben?“

Der Chinese war ein hagerer Mensch mit dünnem grauen Vollbart. Er sah sehr abgerissen aus. Das eine Auge war mit einem schwarzen Pflaster verklebt.

Harald hatte den Eisenstab schnell weggelegt und eilte die Treppe hinab.

Einer der Strompolizisten meldete dem Polizeidirektor folgendes:

Das Boot hatte im Strome unweit der Wasserterrasse Plombers verankert gelegen. Die verkleideten Beamten darin taten, als ob sie harmlose Angler wären. Sie wollten in Wahrheit ein Lastschiff beobachten, das mehr nach der Mitte des Flusses zu auf einer Sandbank festlag. Dieses gestrandete Getreideschiff war in der Nacht zum Teil ausgeplündert worden. Die Strompolizisten hofften, die Diebe würden bei Anbruch der Abenddämmerung eine neue Beraubung des großen Frachtkahnes versuchen.

So hatten sie denn auch mit angesehen, wie ein in einem Nachen sitzender Chinese am Ufer entlanggerudert war und unweit der Wasserterrasse seinen Nachen dann an Land getrieben hatte.

Er war ausgestiegen und auf den Pavillon zugeschlichen, in dem die drei Inder ihren Vorgesetzten Plomber mit der Zeitung in den Händen im Liegestuhle erkennen konnten.

Der Chinese hatte die Treppe zum Pavillon halb erstiegen. Da hatte Plomber mit einem Male (auch dies konnten die Beamten genau sehen) die Zeitung fallen lassen. Der Chinese war wie gehetzt wieder nach seinem Nachen gestürzt und wollte quer über den Dschamna-Fluß entfliehen.

Man verfolgte ihn. Doch er verstand es, zwischen den ankernden Schiffen zu verschwinden. Die Polizisten hatten lange suchen müssen, bis sie ihn fanden. –

So lautete der Bericht der drei Beamten.

Thimal fixierte den zerlumpten Chinesen durchdringend.

„Du hast Inspektor Plomber erschossen!“ brüllte er ihn an. „Willst Du gestehen? – Durchsucht ihn. Vielleicht hat er die Waffe noch bei sich.“

Die drei Strompolizisten, die bisher von Plombers Ermordung nichts ahnten, warfen einen schnellen Blick zum Pavillon hinauf. Man konnte von hier unten das starre Totenantlitz gut erkennen.

Plomber war bei seinen Untergebenen sehr beliebt gewesen. Dem Chinesen ging es daher nicht gut. Die Beamten faßten ihn nicht gerade zart an. Eine Waffe fanden sie bei ihm nicht.

„Natürlich – er hat sie ins Wasser geworfen,“ meinte Thimal. „Gelber Schuft, willst Du nun gestehen?“

Der Chinese stand mit der stoischen Ruhe des Orientalen vor dem wütenden Polizeidirektor. Kein Laut kam über seine Lippen.

Harald trat näher.

„Gestatten Sie, daß ich mich einmische?“ fragte er Thimal.

„Bitte sehr, Mr. Harst –“

Harald hob die rechte Hand und – riß dem Chinesen mit kurzem Ruck den grauen Bart ab.

„Master Thimal,“ sagte er gelassen, „es ist Doktor Daniel Blooce, der entflohene Juwelendieb, einer der besten Verkleidungskünstler, die ich kenne.“

Die Umstehenden drängten näher heran.

Doktor Blooce entfernte jetzt ganz von selbst das Pechpflaster von seinem linken Auge. Dann erklärte er, indem er sich an Thimal wendete:

„Ich weiß, hier geht es um mein Leben. Sie glauben, ich hätte den Inspektor erschossen. Ich tat es nicht. Ich will angeben, was ich weiß. Und ich werde nicht lügen. Nach meiner Flucht aus dem Gefängnis habe ich mich drüben im Dschungeldickicht am anderen Ufer versteckt gehalten. Ich wollte mir Geld verschaffen. Ich kannte Plombers Gewohnheiten, eben daß er hier um sechs Uhr stets Zeitung las. Ich hatte die Absicht, ihn zu überfallen und mit einem nassen Sandsack niederzuschlagen. Plomber trug stets einen größeren Geldbetrag bei sich. – Als ich die mittelste Stufe der Treppe erreicht hatte, hörte ich ein klatschendes Geräusch. Der Inspektor ließ die Arme herabgleiten, und ich gewahrte auf seiner Stirn einen blutigen Fleck, den ich als Arzt sofort als Einschußstelle erkannte. Entsetzt machte ich kehrt und lief davon. Den Sandsack, den ich mir als Waffe hergerichtet, warf ich in den Fluß.“

Der Polizeidirektor lachte laut auf.

„Doktor Blooce, Sie lügen sehr mäßig. Sie sind der Mörder. Kein Mensch wird dies bezweifeln. Sie haben Plomber aus Rache erschossen. Er war es, der mithalf, Ihnen die Juwelenbeute abzunehmen.“

Daniel Blooce blickte Harald an.

„Master Thimal, – einer zweifelt an meiner Schuld. Das ist Master Harst. Ich sehe es ihm an.“

Thimal drehte sich nach Harald um.

„Wirklich? Sie zweifeln?“

„Nein, Master Thimal. Ich zweifle an Daniel Blooces Schuld aus dem einfachen Grunde nicht, weil ich mir über dieses Verbrechen überhaupt noch keine Ansicht gebildet habe. Belastet ist Blooce fraglos. Ob er der Mörder ist, werden wir schon feststellen.“

 

2. Kapitel.

Thimal schüttelte den Kopf.

„Wie – der Fall soll noch nicht geklärt sein?! Ich bitte Sie, bester Harst! Sie sind als Detektiv etwas – etwas zu sorgfältig.“

„Das bin ich allerdings. Und bin es um so mehr, als es hier um Doktor Blooces Leben geht.“ Dann fragte er die drei Strompolizisten:

„Habt Ihr einen Schuß gehört, als Blooce auf der Treppe des Pavillons stand?“

Sie verneinten.

„Hättet Ihr in Eurem verankerten Boot einen Schuß hören müssen, den Blooce hier abfeuerte?“

Sie bejahten.

Harald schaute Thimal an.

„Sie sehen, Mr. Thimal, so ganz geklärt ist die Sache doch nicht.“

Der Polizeidirektor lächelte ein wenig ironisch.

„Und eine Luftpistole, Master Harst? Eine solche Waffe knallt nicht. Es gibt Luftpistolen mit sehr großer Durchschlagskraft.“

„Allerdings, Master Thimal. Aber solche Waffen sind selten. Wo sollte Blooce sich so rasch eine derartige Pistole beschafft haben? – Und dann noch eins, was Sie ganz übersehen, Master Thimal: Plomber hat zwei Schüsse erhalten – zwei! Die erste Kugel war die tödliche – der Kopfschuß; die zweite war nur ein Streifschuß. Wenn Blooce der Mörder wäre, müßte er ja zwei Luftpistolen bei sich gehabt und beide Schüsse kurz hintereinander abgegeben haben. Denn zweiläufige Luftpistolen gibt es ebenso wenig wie solche mit Mehrladeeinrichtung.“

Thimal zuckte die Achseln.

„Warum soll er nicht zwei Pistolen mitgebracht haben?!“ sagte er kurz.

„Hm,“ meinte Harald sehr gedehnt und legte das abgeplattete Bleigeschoß auf die flache Hand. „Hm – ist dieses lange Geschoß Ihrer Ansicht nach aus einer Luftpistole gekommen?“

Der Polizeiarzt sagte jetzt schnell:

„Ich für meine Person halte es für eine Gewehrkugel. Für eine Luftpistole ist die Kugel viel zu schwer.“

Thimal machte eine ungeduldige Handbewegung.

„Aber meine Herren – die tödlichen Geschosse müßten ja geradezu aus dem Nichts gekommen sein! Es gibt nur die eine Erklärung: Luftpistole! Und ich bleibe dabei, daß Doktor Blooce der Mörder ist.“

Daniel Blooce rief jetzt:

„Ich bin kein Mörder! Gewiß, ich habe aus krankhafter Neigung zum Verbrechen seit einem Jahr den Hoteldieb gespielt. Aber – gemordet habe ich noch keinen Menschen. Master Harst, glauben Sie mir! Ich lüge nicht. Die tödliche Kugel kam wirklich aus dem Nichts, – vielleicht von weither! Vielleicht war es ein verirrtes Geschoß.“

Der Polizeidirektor gebot Blooce Schweigen.

„Mann, reden Sie nicht solchen Unsinn,“ fügte er hinzu. „Eine Kugel aus dem Nichts – eine verirrte Kugel?! Wie unlogisch von Ihnen, dies zu Ihrer Entlastung anzuführen. Ja, wenn es nur eine Kugel gewesen wäre! Dann könnte man vielleicht an ein verirrtes Geschoß denken. Aber zwei Kugeln gleich, die einen Menschen treffen – zwei?!“

In diesem Moment betrat noch ein Europäer die Terrasse.

Es war des ermordeten Inspektors Bruder, der in der Nähe von Agra eine Plantage besaß und den der Diener Sramotta telephonisch von dem Vorgefallenen verständigt hatte.

Thimal stellte uns diesem Mr. Edward Plomber vor. Der Plantagenbesitzer war ein langer, hagerer Mann mit stechendem Blick und dem gelben Teint der Gallensteinleidenden.

Er machte einen wenig sympathischen Eindruck. Als Thimal ihm die gegen Blooce vorliegenden Verdachtsgründe nannte, sagte er sofort in einer recht zynischen Art:

„Na, das genügt ja wohl, um diesen Kerl zu hängen.“

Harald hatte mir einen Wink gegeben. Wir lehnten uns an die Brüstung des Steges und rauchten uns jeder eine Zigarette an.

Thimal ließ jetzt Blooce abführen.

Blooce rief Harald zu:

„Retten Sie einen Unschuldigen, Master Harst! Ich habe dieses Verbrechen nicht begangen. Ich –“

Da hatten ihn die Beamten schon zum Schweigen gebracht.

Thimal und Edward Plomber traten zu uns.

„Ich will auch die Leiche jetzt wegschaffen lassen, Master Harst,“ sagte Thimal. „Haben Sie noch einen Wunsch? Wollen Sie sich hier noch etwas ansehen?“

„Nein. Ich möchte aber bei der Sektion des Toten dabei sein. Mich interessiert der Kopfschuß.“

„Weshalb?! Kopfschuß ist Kopfschuß.“

„Oh – nicht ganz, Master Thimal. Man kann die Durchschlagskraft der Kugel nach der Tiefe ihres Eindringens in den Schädel beurteilen. Sie bauen Ihre Theorie auf Luft auf – auf eine Luftpistole. Meine Theorie ist auf Nichts aufgebaut – auf eine Kugel aus dem Nichts.“

„Ich verstehe Sie nicht, Master Harst. Drücken Sie sich bitte deutlicher aus.“

Harald verneigte sich leicht.

„Bedauere. Ich spreche stets erst dann, wenn ich alles weiß.“

Thimal machte ärgerlich kehrt und rief seine Detektive herbei.

Edward Plomber blieb bei uns stehen.

„Hm – Sie sind der berühmte Harst,“ meinte er langsam. „Habe von Ihnen viel in den Zeitungen gelesen. Ich hatte bei der Vorstellung Ihren Namen nicht recht verstanden. Entschuldigen Sie schon. Auf Ihr Urteil gebe ich doch mehr als auf das des Polizeidirektors, der vom Billardspiel und von der Jagd mehr Ahnung als von seinem Beruf hat. Sie halten diesen Gauner Blooce also für unschuldig?“

„Nein, Master Plomber. Vielleicht ist er’s wirklich gewesen – vielleicht. Es kann aber ebenso gut ein anderer gewesen sein.“

Plomber zog die Schultern hoch. „Das sind Redensarten. Vielleicht war ich’s gar?! Ich bin ja meines toten Bruders einziger Erbe. Und – meine Plantage ist mit Schulden bepflastert. Es soll ja vorkommen, das erbberechtigte Verwandte zu Mördern werden! Nehmen Sie mich nur auf’s Korn, Master Harst –“

Das war wirklich ein scheußlicher Patron, dieser Plomber. Seine sogenannten Witze reizten mich derart, daß ich ärgerlich sagte:

„Bei solchen Anlässen sind Scherze schlecht angebracht, Master Plomber!“

Der Plantagenbesitzer wurde verlegen.

„Sie leben wohl ganz für sich,“ meinte Harst freundlich. „Sie scheinen etwas verbittert zu sein!“

„Kein Wunder!“ brummte Plomber. „Ich bin Gallenstein- und Leberkranker. Außerdem habe ich mein Leben lang geschuftet und es doch zu nichts gebracht. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich soeben so – so tölpelhaft mich benahm. Ich meide die Menschen. Es sind alles Betrüger und Schwindler.“

„Ich hätte eine Bitte,“ sagte Harald nach kurzer Pause. „Ihnen liegt ja wohl etwas daran, daß Ihres Bruders Mörder entdeckt wird. Bleiben Sie ein paar Tage hier und laden Sie uns ein, dort im Bungalow Ihres Bruders Ihre Gäste zu sein. Tun Sie es recht dringend. Und verschweigen Sie, daß ich Sie darum bat. Ich will von hier aus den Fall aufrollen, der ganz fraglos seine sehr interessanten Momente hat.“

Edward Plomber nickte.

Thimal trat wieder zu uns.

„Die Sektion soll morgen vormittag stattfinden,“ sagte er. „Sie kommen dann wohl nach der Leichenhalle der Polizeidirektion, Master Harst.“

Edward Plomber brachte nun seine Einladung ganz geschickt vor.

Thimal lachte. „Die Herren wohnen im Hotel Royal sehr vornehm, lieber Plomber. Ihr Bruder liebte die Einfachheit –“

„Oh – mir kommt die Einladung sehr recht,“ meinte Harald. „Ich will in den nächsten Tagen meine Briefschulden erledigen. Im Hotel finde ich keine Ruhe dazu.“

„Na also!“ sagte Plomber in seiner derben Art. „Dann klappt das ja, Master Harst. Bitte, leisten Sie mir hier schon heute Gesellschaft.“

Harald versprach, daß wir uns um neun Uhr abends einstellen würden.

Wir gingen dann mit dem Polizeidirektor zu Fuß zur Stadt zurück.

„Haben Sie diesen Fall ganz aufgegeben?“ fragte er Harst. „Das würde ich sehr bedauern! Wenn Sie sich weiter damit beschäftigen, finden Sie vielleicht doch noch Beweise gegen Blooce. Ich werde mir alle Mühe geben, herauszubringen, ob hier in Agra jemand Luftpistolen mit starker Durchschlagskraft besaß. Sind[2] dann diese Pistolen dem Betreffenden abhanden gekommen, so ist das ein neues Belastungsmoment gegen diesen Blooce.“

Harald erwiderte, er werde Thimal gern den Gefallen tun, den Mord noch näher nachzuprüfen. – „Ich fürchte nur, wir werden zu ganz verschiedenen Resultaten gelangen,“ fügte er hinzu. „Meine Theorie von der Kugel aus dem Nichts hat viel für sich.“

„Also eine verirrte Kugel, – nein, zwei verirrte Kugeln!“ meinte Thimal kopfschüttelnd. „Dann wäre es kein Mord, bester Harst, sondern ein Unglücksfall.“

Harald schwieg und nahm eine[3] neue Zigarette.

Gleich darauf verabschiedeten wir uns von dem Polizeidirektor.

Ich wollte Harst nun gern zum Sprechen bringen.

„Wie denkst Du über die Sache?“ begann ich, indem ich mich in seinen Arm einhängte.

„Genau wie Du, lieber Alter. Wir haben ja beide im Pavillon genau dasselbe gesehen. Also müssen wir auch dasselbe denken. Der Befund läßt nur eine Erklärung zu. Das „Wie?“ ist erledigt. Es fragt sich nur noch: Wer war’s?“

Das war mal wieder so ganz eine Antwort nach Haralds Manier. Wir hatten dasselbe gesehen. Also sollte ich auch dieselben logischen Schlußfolgerungen aus dem „Befund“ gezogen haben. Leider war das nicht geschehen. Ich hatte alles gesehen, aber nichts gefolgert. Oder – hatte ich nicht alles gesehen?

„Stimmt,“ sagte ich sehr diplomatisch. „Das „Wie?“ ist erledigt. Es ist eben ein Unfall. Es sind zwei verirrte Kugeln, Zufallstreffer.“

Harald lächelte mich von der Seite an.

„Das nennt man auf den Busch klopfen, mein Alter. Klopfe nur. Der Busch bleibt stumm.“

Da gab ich es auf.

Im Hotel zahlten wir, packten, verabschiedeten uns von den Multimillionären und waren genau um neun Uhr abends bei Edward Plomber in seines ermordeten Bruders Heim.

Ja – des ermordeten Bruders! Denn inzwischen hatte mir Harald beim Kofferpacken wenigstens das eine gesagt: daß es doch ein Mord sei.

Aber dadurch war ich um nichts klüger geworden.

 

3. Kapitel.

Ich gebe zu, daß ich eigentlich so einen ganz geringen Verdacht gegen Edward Plomber geschöpft hatte. Eine raffinierte Natur konnte aus Berechnung jene Redensarten gerade vor Harst gebraucht haben – von den Erben, die zu Mördern werden –, um sich selbst als rein und harmlos hinzustellen.

Dieser Verdacht schwand jetzt sehr schnell.

Hinter dem unsympathischen Wesen verbarg sich bei Plomber ein nur allzu weiches, aber durch das rauhe Leben arg enttäuschtes Gemüt. Er freute sich sehr, als wir mit unseren Koffern eintrafen, und er erwartete uns mit einem reichhaltigen Abendessen, dem wir dann auch alle Ehre antaten.

Die meisten Wohnhäuser der Europäer in Indien gleichen sich wie ein Ei dem andern. Es sind jene Bungalows, die ich hier schon so oft erwähnt habe, einstöckige Gebäude, hoch unterkellert, mit um das Haus herumlaufender offener Veranda.

Wir speisten auf der Veranda nach dem Flusse hin. Sramotta bediente bei Tisch. Er war bei dem ermordeten Inspektor so etwas wie Hausmeister gewesen.

Nach dem Essen gingen wir nach der Wasserterrasse. Sramotta mußte uns begleiten. Es war inzwischen dunkel geworden.

Wir stellten uns ganz vorn auf die Anlegebrücke. Dort schaukelten des toten Plombers Boote an den leise klirrenden Ketten.

„Ich möchte Dich einiges fragen, Sramotta,“ begann Harald. „Du hast Deinem Herrn viele Jahre treu gedient. Er hat mir gegenüber einmal sowohl Deine Treue als auch Deine Klugheit und Verschwiegenheit lobenswert erwähnt. Das, was wir jetzt besprechen, muß geheim bleiben.“

Sramotta verneigte sich.

„Sahib, ich hatte nur einen Freund. Das war mein Herr. Mit anderen Leuten rede ich kaum.“

„Gut. Du willst doch genau wie wir alles tun, um diesen Mord aufzuklären –“

Da mischte sich Edward Plomber ein. Bisher hatten wir über dieses Thema nicht gesprochen.

„Master Harst, also wirklich ein Mord?! Ich habe inzwischen über alles nachgedacht. Es können doch verirrte Kugeln gewesen sein. Nehmen Sie an, ein Jäger hat drüben am andern Ufer der Dschamna zweimal auf dasselbe Wild kurz hintereinander geschossen. Das Wild behielt dieselbe Stellung bei. Da können beide Kugeln recht gut so dicht nebeneinander hier eingeschlagen sein, wenn es eben ein weittragendes Gewehr war. Die Dschamna ist 500 Meter breit. Wenn der Schütze etwa 200 Meter ab im Dschungel stand, hat niemand die Schüsse hören können.“

„Dies ist ausgeschlossen. Es waren zwar Kugeln aus dem Nichts, aber sie sollten den treffen, den sie dann auch trafen. Ich habe die Beweise dafür, Master Plomber.“

„Beweise?! Da bin ich wirklich gespannt.“

„Ich werde sie Ihnen morgen früh zeigen, sobald es hell genug geworden ist. Wir werden um ½6 aufstehen. Es soll uns niemand beobachten. Und die Hauptsache: auch Sie müssen jedem gegenüber schweigen.“

Plomber nickte. „War mein Lebtag kein Schwätzer, Master Harst.“

Harald wandte sich an Sramotta.

„Nun meine Fragen, Sramotta. Überlege Dir die Antworten sehr sorgfältig. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. – Hatte Dein Herr Feinde, denen Du zutraust, daß sie ihm auch nach dem Leben getrachtet haben könnten?“

„Nein, Sahib. Er hatte bestimmt keine Feinde. Er tat als Detektivinspektor seine Pflicht. Er war streng, aber gerecht und freundlich. Im Eingeborenenviertel hieß er nur der gute Sahib Plomber.“

„Hat er in letzter Zeit Dir gegenüber irgendwie auffällige Bemerkungen gemacht, die vielleicht so auszulegen sind, daß er Nachstellungen befürchtete?“

Sramotta schwieg eine ganze Weile.

„Nein, Sahib, Nachstellungen hat er nicht befürchtet,“ erwiderte er dann. „Nur seit einer Woche sagte er zuweilen dies und das über die Unzuverlässigkeit der Menschen.“

„Früher tat er das nicht?“

„Nein, erst seit acht Tagen. Ich hatte dabei den Eindruck, daß diese Worte sich stets auf dieselbe Person bezogen und daß es ihm schmerzlich war, durch diesen Menschen enttäuscht worden zu sein. Heute mittag erklärte er noch, als ich mit ihm über das Geld für die verflossene Woche abrechnete: „Sramotta, ich wünschte, alle Menschen wären so ehrlich wie Du. Aber sie sind es nicht. Es gibt viele, die stehlen, und niemand traut es ihnen zu. Ich werde bald großen Ärger haben.““

„Ah! Das ist überaus wichtig, Sramotta.“

Harald holte sein Zigarettenetui hervor und hielt es uns hin, auch dem alten Inder, der erst bescheiden ablehnte.

Wir standen am Geländer und rauchten.

„Sramotta, Dein Herr saß jeden Nachmittag dort im Pavillon, nicht wahr?“ begann Harst wieder.

„Jeden Nachmittag, Sahib.“

„Er war sehr sorgfältig in allem?“

„Ja. In allem. Auch sparsam. Aber nicht geizig!“

„Nein,“ warf Edward Plomber ein, „geizig war er nicht. Er hat mir so und so oft mit Geld ausgeholfen. Ich schulde ihm Tausende.“

„Daß er sorgfältig war, sah ich an dem Fußboden im Pavillon,“ meinte Harst. „Er hat, um den Fußboden zu schonen, die Beine des Liegestuhls stets genau auf denselben Fleck gesetzt. Der Fußboden ist gar nicht zerschrammt.“

„Ganz recht, Sahib, das tat er,“ sagte Sramotta mit einem Seufzer. „Und doch – er war nicht geizig. Er war ein guter Mensch.“

„Erzähle mir jetzt nochmals, wie Du Deinen Herrn heute tot auffandest und was Du dann tatest.“

Sramotta berichtete. Aber Neues erfuhren wir nicht. Er hatte sofort mit der Polizeidirektion telephoniert. Erst war nur der Hauswart am Telephon gewesen. Dann kam Polizeidirektor Thimal an den Apparat. Thimal war ganz entsetzt gewesen. Er hatte viel mit Plomber verkehrt. Nachher hatte auch noch der Polizeiarzt Breele mit Sramotta gesprochen. Auch Breele war völlig verwirrt infolge der Unglücksnachricht. Thimal hatte dann Sramotta durch den Apparat zugerufen, er werde sofort Master Harst aus dem Hotel Royal herbeibitten. –

Harald erklärte jetzt, er wolle einmal den Schreibtisch des Toten durchsuchen. Vielleicht würden sich irgendwo Notizen von Wichtigkeit finden.

„Es ist ein wohlüberlegter Mord,“ fügte er hinzu. „Inspektor Plomber sollte stumm gemacht werden.“

Wir schritten dem Bungalow zu. Gerade als wir des Toten[4] Arbeitszimmer betraten, schlug die Glocke des Tischtelephons an.

Harald nahm dem Hörer in die Hand.

„Hier Harst,“ meldete er sich. – „Ah – Doktor Breele,“ murmelte er. „So – so, – na, dann eben nicht, Master Breele. Es lag mir auch nichts daran, wenigstens nicht allzu viel. – Danke, Schluß –“

Er legte den Hörer weg.

„Breele teilte mir nur mit,“ sagte er zu Plomber und mir, „daß die Sektion der Leiche bereits stattgefunden hat. Direktor Thimal muß in dieser Nacht noch verreisen. Daher hat man die Sektion sofort vorgenommen. Die Kugel war bis an die hintere Schädelwand gedrungen, wie Breele festgestellt hat. Sie hat die Schädelwand sogar noch etwas eingedrückt, ohne sie zu durchbohren. – Thimals Theorie von den Luftpistolen wird dadurch noch unhaltbarer. Eine solche Kraft hat kein Geschoß einer Luftpistole.“

Plomber zuckte die Achseln. „Bei näherer Überlegung sieht man sehr bald ein, daß Thimals Theorie Unsinn ist. Aber die Herren von der Polizei, noch dazu ein so hoher Beamter wie der Polizeidirektor, geben eine einmal gefaßte Meinung so leicht nicht wieder auf.“

Plomber und ich setzten uns an den Seitentisch. Harald nahm am Schreibtisch Platz.

Nach einer Viertelstunde etwa drehte Harst sich um.

„Hier ist ein Kontobuch, Master Plomber. Ganz hinten hat Ihr Bruder in einer Art Geheimschrift Aufzeichnungen über ausstehende Forderungen gemacht.“

„Ah – dann werde wohl auch ich in dieser Rubrik mehrfach vertreten sein,“ meinte Plomber.

„Das läßt sich nicht feststellen. Auch die Namen der Schuldner sind offenbar durch Zahlen ausgedrückt. Ich werde das Buch mit auf unser Zimmer nehmen. Vielleicht finde ich den Schlüssel zu dieser Geheimschrift.“

Er gähnte zwanglos. „Gehen wir zu Bett. Es ist halb zwölf geworden. Wir wollen ja morgen um ½6 wieder munter sein.“

Plomber führte uns in unsere beiden Zimmer, ein gemeinsames Wohn- und Schlafzimmer, sagte uns gute Nacht und zog sich zurück.

Wir setzten uns an den Mitteltisch. Über uns brannte eine einfache elektrische Hängelampe.

Harald schlug das Buch auf und zeigte mir die Rubrik „Ausstehende Forderungen.“

Ich sah mir diese Eintragungen an. Nichts als Zahlen, aber sauber geordnet und niedergeschrieben.

„Natürlich eine Geheimschrift,“ meinte ich.

„Ja. Und sie wird sehr leicht zu entziffern sein, mein Alter. Versuch’ es nur.“

Ich schaute die Zahlenreihe zweifelnd an.

„Leicht?! – Ich werde den Schlüssel nie finden,“ sagte ich ehrlich.

„Ja – weil Du gedankenträge bist. Du hast doch einen so guten Angriffspunkt.“

„Du vielleicht. Ich nicht.“ – Ich war müde und abgespannt.

Harald deutete auf acht Ziffern, die sich auf den beiden Seiten der ausstehenden Forderungen elfmal wiederholten.

Diese Ziffern waren so angeordnet:

8 2 1 3 9 2, 5 6

„Du weißt,“ erklärte Harst weiter, „daß Edward Plomber seinen Bruder häufiger angeborgt hat. Vielleicht gerade elfmal. – So, nun schau Dir diese Ziffern nochmals mit Detektivaugen an.“

Jetzt schämte ich mich, weil ich nicht selbst darauf gekommen war. Die Sache war wirklich einfach.

Die ersten sechs Ziffern vor dem Komma waren eben der Vorname Edward.

8 2 1 3 9 2

E d w a r d

Daß dies stimmte, bewies die 2, die das d darstellte und sich am Schluß wiederholte.

Und die 5 und 6 hinter dem Komma konnten nur P und l bedeuten, also Pl. als Anfang des Namens Plomber.

Jetzt nahm Harald das Buch wieder zur Hand und sagte:

„Sehen wir die anderen Ziffern, die die Namen der Schuldner vorstellen, genau durch.“

Er verglich dabei immer wieder die uns nun bereits bekannten Ziffern aus dem Namen Edward Pl. mit den anderen.

Auf der zweiten Seite machte sein die Reihe entlangfahrender Finger halt.

„Aha – dacht’ ich’s doch!“ rief er leicht erregt. „Bitte – sieh’ Dir nun diesen Ziffernnamen an –“

Die Ziffern lauteten:

8 2 4 3 9, 7 0 1111 3 6

Das erste vor dem Komma war leicht zu erraten, da wir schon den Namen Edward als Schlüssel hatten. Die 8 2 4 3 9 konnte nur „Edgar“ bedeuten.

Aber mit 7 0 1111 3 6 wurde ich nicht fertig. Lediglich 3 6 am Schluß war als a und l zu entziffern.

„Ich will Dir helfen,“ meinte Harald. „Inspektor Plomber ist mit den Ziffern nicht ausgekommen. Er hat den Buchstaben i und ebenso m einfach durch vier „1“ dargestellt, denn i und m haben vier Grundstriche.“

Da ging mir ein Licht auf.

„Wenn die vier „1“ i und m darstellen, dann kann der Name der des Polizeidirektors Thimal sein,“ sagte ich schnell. „Dann sind 7 gleich T und 0 gleich h. – Heißt Thimal Edgar mit Vornamen?“

„Allerdings. Und er ist hier viermal als Schuldner des Inspektors verzeichnet.“

Harald lehnte sich zurück. Seine Augen waren halb zugekniffen. Auf seiner Stirn erschienen die drei charakteristischen Falten.

„Mein lieber Alter,“ flüsterte er, „dieser Thimal gab sich die erdenklichste Mühe, Doktor Blooce als Mörder hinzustellen.“

„Das ist richtig.“ Mir klopfte ordentlich das Herz. Hegte Harald etwa gegen Thimal Verdacht?

„Und er hatte es mit der Sektion sehr eilig, mein Alter. Ich sollte nicht dabei sein. Deshalb diese plötzliche Reise. Schließlich, kann er nicht der Mensch sein, über den der Inspektor zu Sramotta die Bemerkungen machte?! Kann er nicht vielleicht amtliche Gelder unterschlagen haben?! – Schulden hat er, wie wir hier sehen. Er hat seinen Untergebenen angeborgt.“

Ich war zunächst völlig sprachlos.

„Ich bitte Dich,“ meinte ich dann zweifelnd, „wie soll Thimal wohl den Inspektor erschossen haben, wo er doch im Polizeigebäude war, als Plomber ermordet wurde. Die Strompolizisten in ihrem verankerten Boot sahen zu der in Frage kommenden Zeit nur einen Menschen auf der Wasserterrasse: Blooce!“

„Ganz recht.“ – Er zündete sich die vierte Zigarette an. „Ganz recht, Max Schraut. Thimal war im Polizeigebäude. Auf ihn kann, so denkt er, kein Verdacht fallen. Er irrt sich. Er ist durchschaut.“

„Aber – wie soll er der Mörder sein, wenn er –“

Harst winkte ab. „Gehen wir auf die Suche,“ sagte er. „Vorwärts! Thimal ist mit dem Nachtzuge um zwölf nach Gwalior gereist. Sein Bungalow liegt näher der Stadt zu ebenfalls am Flusse. Ich habe mir vorhin von Sramotta zeigen lassen, wo die Ruder und die Schlüssel zu den Bootsschlössern zu finden sind. Wir werden als indische Spitzbuben Thimal eine Visite abstatten. Er ist eifriger Jäger. Ich möchte mir seinen Gewehrschrank etwas genauer betrachten.“

Die Sache war nicht ganz nach meinem Geschmack. Bei einem Polizeidirektor einbrechen, ist ein mißlich Ding. – Ich warnte Harald.

„Wir müssen,“ sagte er kurz. „Ich will diesen Schurken überführen.“ –

Gegen ¾1 Uhr ketteten wir das kleinere Boot von dem Landungsstege los und ruderten der Mitte des Stromes zu. Hier ließen wir uns treiben. Die Dschamna hat nur eine schwache Strömung. Wir kamen an der Felseninsel Talschi vorüber, auf der alte, verfallene Festungswerke sich erheben. – Talschi war jahrelang der Schlupfwinkel von Strompiraten gewesen, wie Inspektor Plomber uns gelegentlich erzählt hatte.

Der Mond stand hoch am Himmel. Es war recht hell auf dem Flusse.

„Wir müssen doch längst an Thimals Garten vorüber sein,“ sagte ich dann.

Harald erwiderte nichts. Er blickte starr nach links hinüber. Dort ratterte ein kleines Motorboot dahin. Am Steuer saß ein einzelner Mann mit weißem Turban, also ein Inder.

„Wir werden verfolgt,“ erklärte Harald jetzt und griff zu den Rudern. „Steuere auf die Insel Talschi zu.“

Er ruderte mit aller Kraft. Aber jetzt hatten wir die Strömung zu überwinden.

„Dreh’ Dich nicht nach dem Motorboot um,“ sagte Harst keuchend. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht.

Ich hörte das Rattern näher kommen. Das Boot verfolgte uns also wirklich.

Harald zog die Ruder ein.

„Es ist zwecklos. Wir erreichen die Insel nicht mehr. Sollte der kleine Benzinstänker uns zu rammen versuchen, so gib genau acht, das Du rechtzeitig an Bord des Gegners springst.“

Unser Boot trieb zurück. Der knatternde Feind beschrieb einen Bogen und kam hinter uns her.

Der Strom war hier wenig belebt. Es ankerten zwar in der Nähe Frachtkähne, aber die Leute darauf schliefen jetzt.

Das Motorboot schoß an uns vorüber. Der Inder am Steuer war deutlich zu erkennen. Er hatte einen langen schwarzen Bart.

Mit einem Male erhielt unser Boot einen starken Stoß. Der Stoß kam von unten. Die Planken zersplitterten. Im Nu füllte es sich mit Wasser.

„Ein feiner Trick,“ sagte Harald gelassen. „Schwimmen wir –“

Das Boot sackte unter uns weg. Aber das kleine Benzinfahrzeug hatte jetzt gewendet. Die Absicht des Mannes am Steuer war klar: er wollte uns rammen, wollte uns verwunden und ersäufen.

„Tauchen!“ rief Harald leise. „Tauchen, sobald er nahe ist!“

Er trennte sich von mir. Aber das Benzinboot fuhr zwischen uns hindurch. Wir wurden anders wehrlos gemacht.

Über der Bordwand erschienen zwei weitere Inder. Ich fühlte, wie mir eine Schlinge über den Kopf glitt. Dann ein furchtbarer Ruck. Die Schlinge zog sich zu. Ein glücklicher Zufall war’s, daß ich unwillkürlich die linke Hand schützend über die Kehle gelegt hatte. So preßte denn das Seil nur meine Hand gegen die Kehle.

Ich wurde mit fortgerissen. Ich sauste im Schlepptau des Bootes durch das Wasser. Ich konnte nicht atmen. Allmählich verlor ich die Besinnung.

 

4. Kapitel.

Ein feuchtes, muffiges Gewölbe. Eine Petroleumlaterne.

Zwischen den Fugen der Steinquadern rieselte hier und dort Wasser hervor. Das Wasser bildete in der Mitte einen Tümpel.

Man hatte uns beide auf Mauertrümmer gesetzt, nachdem wir das Bewußtsein wiedererlangt hatten.

Die drei Kerle, die mit Lappen vor den Gesichtern uns gegenüber auf dem Boden hockten, mußten uns für sehr gefährliche Leute halten. So etwas von Fesselung, wie diese drei Halunken sie bei uns angewandt hatten, hätte jeden Entfesselungskünstler stolz machen können.

Man hatte nicht nur mit Riemen uns die Hände und Füße umschnürt, sondern noch dazu dünne Ketten uns um Arme und Beine gewickelt und dann um die Mauertrümmer geschlungen, auf denen wir saßen.

Als Rückenlehne diente uns die kalte, feuchte Mauer. Ich kämpfte noch immer gegen eine starke Übelkeit an. Hin und wieder sprühten mir Funken vor den Augen auf. Die Schmerzen, die mir die brutal fest angezogenen Riemen verursachten, waren jedoch das beste Mittel, diese Schwächeerscheinung schnell zu überwinden.

Die drei Schufte[5] da vor uns rauchten langrohrige Pfeifen. Sie starrten vor sich hin mit halb gesenkten Köpfen. Selbst als Harald mich fragte: „Wie geht’s Dir, mein Alter?“ blickten sie nicht auf. Sie wußten eben, daß wir ihnen nicht entrinnen konnten.

Ich erwiderte ebenfalls auf deutsch:

„Es macht sich. Ein Schluck Kognak wäre mir aber ganz angenehm.“

„So bitte den hochwürdigen, sehr ehrenwerten Master Thimal darum,“ sagte Harald nun in englischer Sprache. „Er ist der mittelste der drei Galgenvögel, – der, dem der schwarze Bart unter der Maske vorschaut.“

Jetzt war ich ganz munter und frisch. – Thimal, wirklich Thimal?! – Gewiß – daß er hinter diesem Überfall steckte, hatte ich schon geargwöhnt.

Ich schaute den falschen Inder an. Jetzt hatte er den Kopf gehoben.

„Du irrst, Sahib,“ sagte er zu Harst in schlechtem Englisch. „Ich bin nicht Sahib Thimal.“

Er öffnete sein Gewand auf der Brust. Braune behaarte Haut war zu sehen. Auch die Hände waren unmöglich die des Polizeidirektors. Dieser Inder hatte geradezu winzige Hände und Füße. Ich besann mich, daß Thimal eine ziemlich breite, sehr gepflegte Hand hatte. – Sollte Harald dies nicht auch bemerkt haben?! Oder hatte er diesen Inder nur als Thimal bezeichnet, um die Kerle zum Reden zu bringen?

Der weitere Verlauf dieses Abenteuers zeigte, daß diese Vermutung zutraf. –

„Aber Du kennst Sahib Thimal?“ meinte Harald nun.

„Wer kennt ihn nicht?! Er ist der Polizeidirektor.“

„Weshalb habt Ihr uns gefangen genommen?“

„Wir sind arm, Sahib. Und im Hotel Royal erzählte man, Du seist Millionär.“

Harald lachte leise auf.

„Ich verstehe. Ihr wollt ein Lösegeld haben.“

„Ja, Sahib!“

„Ihr werdet nichts erhalten. Ihr werdet nur ins Gefängnis kommen.“

Der Inder blieb gleichmütig wie bisher.

„Niemand weiß, wo Ihr seid, Sahib,“ sagte er. „Ihr wißt es selbst nicht einmal. Ihr werdet hier verhungern.“

„Du täuschst Dich. Ich weiß, wo wir uns befinden. Ich weiß alles. Und das genügt, Euch für den Rest des Lebens einzusperren.“

„Du scherzest, Sahib. Du kannst nichts wissen.“

„Wir sind in den alten Gewölben der Festungswerke auf der Insel Talschi.“

Jetzt zuckte der Mann doch zusammen.

„Nein, Sahib, Du irrst,“ versuchte er zu lügen.

Ich merkte: hier spielte sich ein Kampf ab zwischen Haralds überragender Intelligenz und den plumpen Gewaltmitteln dieser Banditen.

„Gut,“ sagte Harst. „Wie Ihr wollt. Warten wir ab.“

Mindestens zehn Minuten lang Schweigen. Der Sprecher der drei Halunken wurde immer unruhiger. Mit einem Male fragte er:

„Du willst also nichts zahlen, Sahib?“

Harst antwortete nicht.

Wieder Schweigen. Der Sprecher stand auf und winkte seinen Genossen. Sie traten etwas bei Seite und flüsterten miteinander. Dann kam der Sprecher zu uns zurück.

„Wenn Ihr nicht zahlt, müssen wir Euch ersäufen,“ sagte er wenig überzeugungsvoll.

Harst lachte ihn aus. „Ihr werdet Euch hüten. Sahib Edward Plomber findet heute morgen einen Brief in unserem Zimmer vor. Daß Ihr mit dem Motorboot auf uns lauertet, sah ich schon, bevor wir unser Boot bestiegen.“

Diese Andeutungen, die man sich nach Belieben auslegen konnte, wirkten genau so, wie Harald es berechnet haben mochte.

Der Kerl kehrte zu seinen Genossen zurück. Sie flüsterten miteinander eine ganze Weile. Dann entfernten sie sich. Die große Petroleumlaterne, die vor uns auf einem Steine stand, ließen sie hier.

Wir warteten und warteten. Die Schufte schienen uns hier wirklich verhungern lassen zu wollen, nachdem sie eingesehen hatten, daß ihre Erpresserpläne nicht glückten.

„Was nun?“ fragte ich etwas kleinlaut.

Harald hatte sich halb nach mir umgedreht.

„Er wird wiederkommen, mein Alter,“ sagte er sehr zuversichtlich. „Es waren alles drei Gelegenheitsverbrecher. Der Sprecher gehört zu den gebildeten Indern. Seine Hände waren gepflegt und nur absichtlich beschmutzt. Die Kerle hatten mehr Angst vor uns als wir vor ihnen.“

„Und die beiden anderen?“

„Dürften Fischer sein. Sie hatten es gut im Griff, uns die Schlingen überzuwerfen.“

„Also hat Thimal mit den Leuten nichts zu tun?“

Harald schüttelte den Kopf.

„Hör’ mal, lieber Alter. Du bist heute begriffsstutziger denn je. Ahnst Du den Zusammenhang noch immer nicht?! – Nun, dann gedulde Dich, bis der Sprecher erscheint.“

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es ungefähr sein mochte. Meiner Schätzung nach verging eine Stunde, bis dann endlich der „Sprecher“ aus dem dunklen Hintergrunde des Gewölbes im Lichtschein der Laterne auftauchte.

Er schien es sehr eilig zu haben.

„Sahib,“ sagte er zu Harst, „ich werde Euch die Fesseln lösen, wenn Ihr mich unbelästigt wieder fortlaßt. Ihr dürft mich auch nicht fragen, wer ich bin. Ich war sehr dumm, als ich glaubte, mit Euch leichtes Spiel zu haben.“

„Das hatte Dir jemand anders vorgeredet, nicht wahr?“

„Nein, Sahib, nein –“

„Du lügst! Mach’ daß Du verschwindest. Ich werde Dich später finden, und dann wird alle Welt staunen, daß der –“ er tat, als verschluckte er den Namen – „ein gemeiner Räuber geworden ist.“

Der Inder stierte Harst lange an. Seine Angst war noch größer geworden.

„Sahib, ja – es hat mich jemand zu diesem Überfall verleitet.“

„Das wußte ich. Es war ein Mann, der vermuten konnte, daß wir in dieser Nacht auf den Strom hinausrudern würden. Er sagte Dir: „Wartet mit dem Motorboot vor Inspektor Plombers Garten. Der reiche Harst wird Euch gern ein Lösegeld zahlen. Befestigt an dem Motorboot unter Wasser eine lange Stange und rammt das Boot Harsts.“ – So etwa sprach er.“

Der Inder knetete vor Verlegenheit die Finger.

„Sahib, ich sehe, daß man Dich nicht täuschen kann. Frage mich nichts mehr. Ich darf nichts mehr verraten. Mein Leben –“ Er hüstelte und fuhr fort: „Willst Du mich laufen lassen, Sahib?“

„Ja. Wir werden Dir eine Viertelstunde Zeit geben. Dann erst folgen wir Dir. Ich will aber all unsere Sachen zurückhaben.“

„Sahib, das Geld aus Euren Brieftaschen –“

„Schon gut. Wenn nur das Andere noch da ist.“

Er kettete und band uns los. Als er sich dicht zu mir herabbeugte, spürte ich einen schwachen Parfümgeruch.

Gleich darauf war er davongehuscht. – Harald hielt seine Uhr in der Hand. Als eine Viertelstunde um war, nahm er die Laterne und schritt voran. Das Gewölbe machte noch zwei scharfe Krümmungen. Dann standen wir vor einer Schutthalde. Über uns schien durch ein großes Loch das Tageslicht hinein.

Wir kletterten den Schuttwall aufwärts. Wir standen auf den alten Festungswerken der Insel Talschi.

„Ich hatte nicht einen Moment das Bewußtsein verloren,“ sagte Harald und atmete tief die Morgenluft ein. „Ich stellte mich nur ohnmächtig. – Siehst Du das Ruderboot dort. Darin sitzt der Sprecher.“

„Und wer ist der Mann?“

„Ich kenne ihn nicht – noch nicht! Jedenfalls ist er ein Freund des sehr ehrenwerten Herrn Thimal. – Begreifst Du nun alles?“

„So ziemlich. Thimal hat uns die Schufte auf den Hals geschickt. Wie konnte er aber wissen, daß wir auf dem Wasserwege Plombers Grundstück verlassen würden.“

„Hm, denke einmal nach. Und – denke dabei an die Sektion, der ich nicht beiwohnen sollte.“

„Bedauere, Harald. Hier versage ich.“

„Die Sektion, die er so eilig ausführen ließ, war der erste Schritt zur Verteidigung, den Thimal tat. – Wer verteidigt sich? – Einer, der einen Angriff fürchtet.“

„Ah – also so ist es! Du glaubst also, Thimal ahnt, daß Du gegen ihn Argwohn geschöpft hast.“

„Freilich. Er muß Argwohn geschöpft haben. Und er als schlauer Mensch sah voraus, daß wir seine Abwesenheit dazu benutzen würden, ihn zu besuchen, das heißt, bei ihm zu spionieren, und daß wir den bequemsten Weg, eben zu Wasser, wählen würden. Daher schickte er diese drei Neulinge, diese Amateur-Erpresser, damit sie uns eine Weile hier auf der Insel festhalten sollten. Die Kerle kriegten es jedoch nur zu schnell mit der Angst, als ich meine Andeutungen vom Stapel ließ. Thimal hätte eben etwas mutigere Banditen anwerben sollen. Nun sitzt er ganz tief in der Patsche –“ –

An der Insel fuhr ein Fischernachen vorüber. Harald rief die Leute darin an. Er erzählte ihnen, unser Boot sei von der Strömung abgetrieben worden. Daß wir verkleidete Europäer waren, merkten sie wohl. Sie setzten uns nördlich von Plombers Bungalow ans Ufer, bekamen nur ein paar Worte Dank und ruderten davon. Denn all unser Geld hatten die Genossen des „Sprechers“ uns abgenommen. –

Um 7 Uhr morgens waren wir daheim in Plombers Garten.

Edward Plomber sah uns kommen. Erst erkannte er uns nicht. Dann rief er:

„Verdammt, – natürlich die beiden Verschwundenen! Ich bin Ihretwegen schon sehr in Sorge gewesen.“

Er drückte uns die Hände. Er freute sich ehrlich, daß wir wieder da waren.

Harst hatte es eilig. „Wir müssen sofort wieder weg, Master Plomber. Schnell eine Kleinigkeit zum Frühstück. Wir ziehen uns nur um. Sramotta soll sofort das kleine Motorboot Ihres Bruders in Ordnung bringen. Sie können mitkommen.“

Um ½8 verließen wir mit dem Motorboot die Anlegebrücke. Harald bediente den Motor. Plomber steuerte. Es ging stromaufwärts, etwa eine halbe Meile weit.

Dann befahl Harst: „Wenden! Am anderen Ufer zurück. Ich bin jetzt sicher, daß wir nicht beobachtet werden.“

Am linken Ufer ist die Dschamna stellenweise sumpfig. Die Hauptströmung läuft am rechten Ufer entlang, also auch die Fahrrinne. Wir waren hier also so gut wie allein. Um nicht aufzufallen, frisierten wir das Motorboot als Segler, indem wir den Notmast aufrichteten. Ein sanfter Wind und die Strömung trieben uns still dahin. Der Motor war verstummt.

Harald stand mit dem Fernglas an den Augen auf dem Dache des Motorkastens. Die Luft war das, was der Seemann „diesig“ nennt, eben nicht ganz klar, wenn man auch nicht von Nebelbildung sprechen konnte.

„Ans Ufer!“ rief Harst dann. „Wir befinden uns hier Ihrem Bungalow gerade gegenüber, Master Plomber.“

Wir landeten. Harst stieg allein aus. Dschungeldickicht zog sich hier eine Anhöhe hinan. Plomber und ich warteten eine volle Stunde. Dann kam Harald zurück, – völlig beschmutzt und mit Kratzern von Dornen auf Gesicht und Händen. Aber seine Augen leuchteten. Vergnügt sprang er ins Boot.

„Auf einem Umwege flußaufwärts nach Hause,“ sagte er. „Mir fehlt jetzt nur noch eins: der Name des „Sprechers“. Auch den werde ich in Erfahrung bringen.“

Wir hatten Plomber inzwischen in alles eingeweiht. Er erkannte die den Polizeidirektor Thimal belastenden Tatsachen durchaus an. Als er[6] Harald jetzt fragte, was dieser denn in dem Dschungel gewollt hätte, erwiderte Harst mit einer so triumphierenden Miene, wie ich sie selten an ihm gesehen habe:

„Master Plomber, gedulden Sie sich noch. Sie sollen Zeuge eines Experiments werden, wie es nicht oft vorgenommen worden ist. Ich habe wirklich nicht zu hoffen gewagt, daß mein Erfolg ein so restloser sein würde. Es mag noch Tage dauern, bis Sie und Schraut und ganz Agra alles erfahren. Jedenfalls: lassen Sie sich Thimal gegenüber nichts anmerken! Nur dann fangen wir ihn ganz bestimmt.“

Plomber gab sich zufrieden. – Um ¾12 vormittags waren wir wieder daheim.

Die nächsten drei Tage verstrichen ohne jedes besondere Ereignis. Wir beide gingen wenig aus. Harst lag den ganzen Nachmittag in demselben Liegestuhl, in dem den Detektivinspektor der Tod ereilt hatte. Plomber und ich saßen dann zumeist auf der Treppe der Wasserterrasse und angelten.

Harald sprach über den rätselhaften Mord kein Wort mehr. Vormittags bummelte er aber viel in der Stadt umher, ohne mich mitzunehmen.

Am vierten Vormittag jedoch forderte er mich auf, ihn zu begleiten. Wir schlenderten in der Hauptbasarstraße Agras auf und ab, sahen uns die Auslagen an und kauften Kleinigkeiten.

So kamen wir auch vor den Laden eines Waffenhändlers.

Harald deutete auf einen offenbar sehr alten Dolch und sagte: „Fragen wir mal nach dem Preise.“

Wir betraten das Geschäft. Der Inhaber war ein hagerer Inder mit Turban, langem schwarzen Bart und einem schneeweißen Leinenanzug von europäischem Schnitt. Der Mann benahm sich recht merkwürdig. Er schien sehr nervös zu sein, konnte vor Erregung kaum sprechen und wußte gar nicht, wo er die Augen lassen sollte.

Mit einem Male roch ich ein Parfüm, – dasselbe Parfüm, das ich in den Gewölben auf der Insel Talschi gespürt hatte. – Ah – nun wußte ich Bescheid! Dieser Waffenhändler war der „Sprecher“.

Harald kaufte den Dolch. Wir verließen den Laden.

„Der Mann heißt Bura Singh,“ teilte Harst mir nun mit. „Er besitzt ein Motorboot. Es war nicht schwer für mich, dieses Boot herausfinden. Ich war ja nur scheinbar bewußtlos nach der Insel geschafft worden. Es hatte einige Besonderheiten. Als ich das Boot hatte, war Bura Singh mir nicht mehr lange fremd. – So, nun wird er fraglos sofort in heller Angst zu Polizeidirektor Thimal rennen und ihm berichten, daß dieser verdammte Harst ihm auf den Fersen sei. Thimal ist nämlich gestern abend zurückgekehrt. Das Drama nähert sich nun seinem Ende –“

 

5. Kapitel.

Harst hatte ganz recht: Edgar Thimal erschien schon mittags 1 Uhr in Plombers Bungalow, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen.

Der schlanke, elegante Herr mit dem blonden Spitzbart und den lebenslustigen Augen war die Liebenswürdigkeit selbst. Wir drei vergalten Gleiches mit Gleichem: wir waren noch liebenswürdiger.

Wir saßen auf der Veranda und sprachen über den Mord. Thimal fragte, ob Harst etwas Neues entdeckt hätte. Harald erzählte von unserer Entführung nach der Insel. Thimal spielte den ungläubig Überraschten. Harst versicherte, daß alles der Wahrheit durchaus entspreche. Er hatte unser Erlebnis aber so geschildert, als ob wir keine Ahnung hätten, wer die drei Banditen gewesen waren und daß „jemand“ sie zu diesem Streich verführt hatte.

Daß Thimal hier bei uns nur spionieren wollte, war klar. Die Unterhaltung, die von Harald spielend leicht gelenkt wurde, war für Plomber und mich eine genußreiche Komödie. Thimal versuchte alles mögliche, um hinter Harsts geheime Gedanken zu kommen. Er konnte sich meisterhaft verstellen. Aber ihm fehlte die geistige Gelenkigkeit Haralds.

„Unser toter Freund Plomber hatte übrigens mit vollem Recht eine so große Vorliebe für den Pavillon,“ sagte Harald jetzt. „Ich habe das Plätzchen dort schätzen gelernt. Ich bin des Inspektors Nachfolger geworden, lese stets nachmittags dort meine Zeitungen.“

„Ja,“ meinte Edward Plomber, „Master Harst benutzt sogar denselben Liegestuhl und stellt ihn genau so sorgfältig auf denselben Fleck wie mein Bruder. Auch die Zeit hält er ein. Von sechs bis sieben Uhr ist er für uns nicht zu haben. Master Schraut und ich müssen dann angeln –“

Thimal erklärte, die Aussicht vom Pavillon über den Fluß sei ja auch wirklich sehr schön.

Dann fragte Harst, ob Thimal schon festgestellt hätte, ob in Agra jemand Luftpistolen von starker Durchschlagskraft besäße. Thimal erwiderte ablenkend, daß er noch auf der Suche danach sei und fügte hinzu: „Vielleicht bekenne ich mich schließlich auch zu Ihrer Theorie von verirrten Kugeln, Master Harst, – von einer tödlichen Kugel „aus dem Nichts“, obwohl sehr vieles Blooce schwer belastet.“ –

Um 3 Uhr verabschiedete Thimal sich.

Aber – um ¼7 abends erschien er abermals.

Harst saß im Pavillon im Liegestuhl. Thimal rief ihm zu: „Lassen Sie sich nicht stören. Ich setze mich zu den Anglern.“

Er blieb eine halbe Stunde und erzählte uns, daß er leider bisher mit der Suche nach den Luftpistolen keinerlei Erfolg gehabt hätte. Als er gegangen war, winkte Harald uns in den Pavillon hinauf. Seine Augen leuchteten wieder.

„Dieser zweite Besuch Thimals beweist, daß alles klappen wird,“ sagte er. „Morgen nachmittag kommt die Entscheidung.“ – Weiter war von ihm nichts zu erfahren. –

Am nächsten Nachmittag gegen 5 Uhr befanden wir drei uns in unserem Schlafzimmer. Harald hatte sich von Plomber ein paar alte Fahnen und unbrauchbare Tücher geben lassen und sie zu einem Bündel zusammengeschnürt. Außerdem hatte er von Sramotta einen Kürbis in Kopfgröße besorgen lassen.

Wir ahnten noch immer nicht, was er vorhatte. Erst als er einen zweiten Anzug über den Arm nahm, kam mir die Erleuchtung.

Ich hatte richtig vermutet: um ¾6 wurde im Pavillon eine Puppe hergestellt, die Harsts Leinenanzug anhatte. Der Kürbis diente als Kopf.

Harald selbst hockte im Pavillon neben dem Liegestuhl hinter einer dicken Eisenplatte, die Sramotta ebenfalls in aller Stille beschafft hatte.

Plomber und ich saßen dann wie gewöhnlich vorn auf der Anlegebrücke und angelten.

Pavillon und Wasserterrasse boten also genau dasselbe Bild dar wie am Tage zuvor. Im Liegestuhl allerdings lag eine ausgestopfte Puppe.

Um ¼7 rief Harald uns zu: „Ein Motorboot kehrt vom anderen Ufer zurück. Es wird sofort losgehen.“

Wir beide fieberten vor Spannung. Plomber fragte immer wieder: „Werden Sie daraus klug, bester Schraut?“

Ich konnte nur erwidern: „Nein. Natürlich erwartet Harst, daß auf die Puppe geschossen wird. Aber alles Übrige ist mir schleierhaft.“

Die Minuten schlichen förmlich. Plomber schaute so und so oft nach der Uhr.

„Dreiviertel sieben,“ sagte er jetzt leise.

In demselben Moment rief Harald:

„Gelungen! Kommt her!“

Wir rannten in den Pavillon. Harst deutete auf zwei Schußlöcher im Anzug der Puppe. Die eine Kugel saß in der Brust, die zweite in der Bauchgegend.

„So – nun telephonieren Sie nach der Polizeidirektion, lieber Plomber,“ ordnete Harald an. „Teilen Sie mit, daß ein zweites Verbrechen geschehen sei. Tun Sie so, als wäre ich tot.“

Er warf die Puppe in eine Ecke und setzte sich selbst in den Stuhl.

Vom Flusse her näherte sich ein Motorboot der Anlegebrücke. Vier Herren stiegen aus. Sie kamen auf den Pavillon zu.

„Ich habe sie bestellt,“ sagte Harald. „Es sind der Gouverneur der Provinz Agra, Sir Franklin, und drei Beamte der politischen Polizei. Ich bin vorgestern bei Sir Franklin gewesen und habe ihn eingeweiht.“

Die Herren machten oben auf der Treppe halt.

„Sir Franklin,“ erklärte Harst, „es ist alles gekommen, wie ich dachte. Bitte, die Herren stellen sich besser am Fuße der Terrasse auf. Plomber telephoniert bereits. Die Polizei wird bald erscheinen.“

Und sie erschien: Thimal, der Polizeiarzt und drei Detektive.

Als Thimal den Gouverneur erblicke, stutzte er. Er hatte sich aber gut in der Gewalt. Er spielte mir gegenüber den Teilnahmvollen. Auch ich spielte meine Rolle nicht schlecht.

Thimal wollte sich den Toten nun ansehen. Er schritt die Treppe empor.

Mit einem Male prallte er zurück.

Ich war dicht hinter ihm.

Harald hatte den verbrecherischen Polizeidirektor mit großen Augen angeschaut und dann drohend die rechte Hand erhoben.

Thimal wich vor Harst Stufe um Stufe zurück.

Er war ganz aschfahl geworden. Seine Lippen bewegten sich. Aber er konnte keinen Laut über die Zunge bringen.

Harald sagte dann scharf und eindringlich:

„Master Thimal, das Spiel ist aus! Sie tun am klügsten, wenn Sie alles zugeben.“

Doch er unterschätzte den Polizeidirektor.

Thimal rief jetzt schneidend:

„Was soll diese Irreführung, Master Harst?! Sie wagen sehr viel. Und – für die Äußerungen, die Sie sich soeben erlaubten, werde ich Sie vor Gericht zur Rechenschaft ziehen.“

Harst kam langsam die Stufen herab. Thimal stand jetzt am Fuße der Treppe, umgeben von einem Kreise von Männern, die mit atemloser Spannung auf Harsts Anklagen und Beweise warteten.

Harald blieb auf der untersten Stufe stehen.

„Master Thimal, Sie haben einen Mord begangen, einen zweiten versucht und außerdem den Waffenhändler Bura Singh, der nebenbei Geldverleiher ist und dem Sie viele Tausende schulden, dazu überredet, eine Erpressung zu verüben, indem Sie ihm einen genauen Plan entwarfen, wie er uns gefangen nehmen könnte. Bura Singh verlangte sein Geld zurück. Anstatt der Rückzahlung gaben Sie ihm den Tipp „Harald Harst“, mit dem sehr viel zu verdienen wäre.“

Thimal zuckte die Achseln und wandte sich an den Gouverneur:

„Sir Franklin, dieser Herr scheint plötzlich den Verstand verloren zu haben.“

Der Gouverneur blickte Thimal kalt an und schwieg.

Harald holte nun zum vernichtenden Schlage aus.

„Master Thimal, Sie ermordeten Inspektor Plomber,“ rief er fast überlaut, „um den Ankläger aus der Welt zu schaffen. Sie haben amtliche Gelder unterschlagen. Plomber wußte es. Deshalb mußte er stumm gemacht werden.“

„Master Harst,“ sagte Thimal ironisch, „Sie vergessen, daß ich im Polizeigebäude war, als Plomber ermordet wurde. Oder glauben Sie, ich hätte vom Polizeigebäude aus den Inspektor erschossen?“

„Nein – nicht von dort aus, Master Thimal. Aber drüben vom anderen Ufer aus.“

Thimal lachte heiser auf.

„Für solche Scherze fehlt mir das Verständnis, Master Harst!“

„Das Verständnis werde ich bei Ihnen wecken. – Als ich Inspektor Plombers Leiche mir hier im Pavillon ansah, bemerkte ich in der Brüstung des Pavillons hinter dem Liegestuhl im ganzen acht Schußlöcher, die aber wieder verschmiert und übergepinselt waren. Daß es Schußlöcher waren, zeigte die andere Seite der Brüstung, die Außenseite, wo beim Austreten der Kugeln Holzsplitter mit abgerissen worden waren. Auch diese Ausschüsse waren verschmiert und übermalt.

Aber die Farbe war nicht ganz die gleiche, und diese Farbe war noch ziemlich frisch. – Dann stellte ich weiter fest, daß die Kugel, die Plombers Hüfte getroffen hatte und abgeglitten war, nur von oben herbeigeflogen sein konnte. Dazu ließ ich mir die dünne Eisenstange geben, die ich etwas bog, um die Flugbahn der abgeglittenen Kugel ungefähr verfolgen zu können. Ich erkannte so, daß beide Kugeln aus weiter Entfernung gekommen sein mußten. – Die Schußlöcher in der Brüstung, überlegte ich mir, waren vielleicht dadurch entstanden, daß sich jemand auf den Liegestuhl eingeschossen hatte. Der Stuhl blieb ja stets im Pavillon stehen, und er stand auch immer genau auf demselben Fleck. – Ich besichtigte auch den Stoff, mit dem der Liegestuhl bespannt ist. Ich fand darin drei Schußlöcher. Das genügte mir: es hatte sich tatsächlich jemand, der Inspektor Plomber gut kannte, auf den Stuhl zu verschiedenen Zeiten eingeschossen und die Schußlöcher in der Brüstung wieder unsichtbar gemacht. – Master Thimal, wollen Sie noch immer nicht gestehen?“

Thimal hatte den Kopf gesenkt. Ihm lief der Schweiß über das Gesicht.

„Einschießen konnte der Betreffende sich nur vom anderen Ufer aus,“ fuhr Harald fort. „Und er konnte es nur auf diese Weise, daß er das weittragende Gewehr einspannte, das heißt, daß er eine Vorrichtung ersann, die das Gewehr in derselben Lage festhielt, nachdem der erwünschte Erfolg, eben Treffer in der Stuhllehne, eingetreten war. Diese Vorrichtung habe ich im Dschungel drüben im dicksten Dickicht auf einem Hügel gefunden. Das Gewehr ist zwischen zwei in die Erde eingerammten Pfählen festgenagelt. Es ist eine Housfield-Repetierbüchse. Der Lauf ist ziemlich steil nach oben gerichtet, sodaß die Flugbahn des Geschosses sehr hoch gehen und stark gekrümmt sein mußte. An dem einen Pfahl war ein Uhrwerk angebracht. Dieses ermöglichte es dem Attentäter, die Schüsse abzufeuern, ohne daß er selbst dabei war. Er brauchte das Uhrwerk nur auf eine bestimmte Zeit einzustellen, und die Kugeln kamen dann scheinbar aus dem Nichts auf das Opfer zugeflogen. – Dieses Opfer war Inspektor Plomber. Das erste Opfer. Das zweite sollte ich werden. Dort oben liegt die Puppe mit zwei Kugellöchern. Sie, Edgar Thimal, sind heute im Motorboot schnell über den Fluß gefahren und haben das Uhrwerk eingestellt, nachdem Sie eine Gestalt dort im Liegestuhl erblickt hatten, die Sie notwendig für einen Menschen halten mußten. Sie hofften mich auf gleiche Weise zu beseitigen, da Sie mich ebenfalls fürchteten. Ich will jetzt –“

Harst schwieg. Thimal hatte mich bei Seite gestoßen, rannte nach der Wassertreppe.

Ein Schuß knallte. Ein Körper klatschte ins Wasser.

Der Mörder hatte sich selbst gerichtet. –

Dieser eigenartige Mord war in ganz Indien, ja, in der ganzen Welt lange Zeit das ausschließliche Tagesgespräch. Es gab keine Zeitung, die darüber nicht ganz eingehend berichtete. Und doch waren alle diese Sensationsartikel in keiner Weise geeignet, gerade das Hauptmoment dieses Fern-Mordes klar zu beleuchten, nämlich die geniale Art, mit der mein Freund sofort aus den Schußlöchern in der Brüstung und dem Stuhlbezug auf ein raffiniertes Verbrechen mit Hilfe eines unverrückbar festgestellten Gewehres geschlossen hatte. – Doktor Daniel Blooce gelang es abermals, aus dem Polizeigefängnis in Agra auszubrechen. Hierüber will ich Näheres in der folgenden Erzählung berichten.

 

 

Der Flügel des Doktor Godwell.

 

1. Kapitel.

„Daniel Blooce ist wieder ausgekniffen!“

Mit diesen Worten begrüßte uns Edward Plomber, der schon morgens in der Stadt gewesen war. Er hatte diese Nachricht von dem Polizeiarzt erhalten. Einzelheiten wußte er nicht.

Harald telephonierte die Polizeidirektion an. Detektivwachtmeister Smark, ein Irländer, teilte ihm mit, daß Blooce wie bei seinem ersten Ausbruch durch das Fenster seiner Zelle entwichen sei. Das Gitter hätte er ebenfalls wieder durchgesägt.

Plomber und ich hörten dieses Gespräch mit an. Als Harald damit fertig war, meinte Plomber:

„Der Mensch ist der reine Ausbrecherkönig. Wir haben doch ein völlig modernes Polizei- und Untersuchungsgefängnis. Wo er nur die Werkzeuge –“

Plomber wurde hier durch den Eintritt des indischen Dieners Sramotta unterbrochen.

„Ein Brief für Sahib Harst,“ meldete der alte Hindu. „Ein Dienstmann brachte ihn.“

Er reichte Harald den Brief auf silbernem Teller.

„Wartet der Dienstmann auf Antwort?“ fragte Harst.

„Nein, Sahib.“

„Es ist gut.“ – Sramotta verschwand.

Harald blickte auf die Aufschrift des Umschlags.

„Ah – von Doktor Daniel Blooce, dem Ausbrecherkönig,“ meinte er. „Die Handschrift kenne ich ja. Blooce sucht[7] sie nie zu verstellen.“

Wir setzten uns an den Mitteltisch. Harald schnitt den Umschlag auf und entfaltete die darin erhaltenen Bogen.

„Sieh da, ein sehr langer Brief. Was mag Blooce wollen? – Nun, ich werde vorlesen –

Sehr geehrter Master Harst!

Gestern nachmittag haben Sie mich dadurch von dem Verdacht, ein Mörder zu sein, befreit, daß Sie den wahren Täter entlarvten. Ich erfuhr dies abends neun Uhr.

Ich wäre schon früher ausgebrochen, wenn ich nicht erst hätte abwarten wollen, bis dieser Verdacht von mir genommen war. Es gibt keine Zelle, die fest genug für mich ist.

Es ist das keine leere Prahlerei von mir. Jeder hat eben seine Spezialität. Sie, Master Harst, enthüllen Verbrechen. Ich begehe solche in bescheidenem Maße aus einer unüberwindlichen Neigung und – breche aus.

Sie haben sich nun, was den Fall Thimal betrifft, mir gegenüber sowohl auf der Wasserterrasse des Ermordeten als auch jetzt durch die Beseitigung des gegen mich aufgetauchten Verdachts von einer so menschenfreundlichen Seite gezeigt, daß ich Ihnen gern meinen Dank nicht nur durch Worte abstatten möchte.

Ich weiß, wie sehr Sie eigenartige Vorgänge, auch wenn sie mit Verbrechen direkt nichts zu tun haben, lieben. Wie für den Billardmeister das Spiel mit einem ebenbürtigen Gegner ein Genuß ist, ebenso bereitet Ihnen die Aufklärung von Geschehnissen ein besonderes Vergnügen, die über das menschliche Begriffsvermögen hinausgehen.

Zufällig erfuhr ich nun vor einem halben Jahr von recht merkwürdigen Dingen, die sich im Bungalow eines Kollegen von mir abspielen.

Man kann in diesem Falle mit gutem Recht von „abspielen“ sprechen. Denn bei der ganzen Angelegenheit „spielt“ ein Konzertflügel die Hauptrolle.

Gestatten Sie, daß ich Ihnen nun kurz mitteile, wie ich Kenntnis von diesem Geheimnis erhielt.

Eine entferntere Verwandte von mir, Miß Lydia Promrose, heiratete vor zwei Jahren den Arzt Doktor Allan Godwell, der in Gulbargah im Reiche des Nizam von Haidarabad seine Praxis ausübt.

Vor etwa sechs Monaten kam ich auf einer Urlaubsreise durch Gulbargah und besuchte Godwells.

Godwell war gerade über Land gefahren. So traf ich denn Lydia, die meine Jugendgespielin ist, allein an.

Ich war entsetzt bei ihrem Anblick. Aus dem blühenden, frischen Mädchen war ein sieches junges Weib geworben.

Ich hatte mein Gesicht schlecht in der Gewalt. Lydia bemerkte mein Erschrecken. Sie bekam beinahe einen Weinkrampf und umklammerte mich, indem sie fortwährend schluchzte:

„Hier verliere ich den Verstand, – hier werde ich wahnsinnig.“

Es gelang mir, sie zu beruhigen.

Ich glaubte zunächst, daß ihre Ehe unglücklich sei.

Doch – das war es nicht. Es war etwas ganz anderes.

Und nun sollen Sie, Master Harst, die seltsamste Geschichte hören, die mir je zu Ohren gekommen ist.

Lydia erzählte mir folgendes. – Zwei Monate nach ihrer Hochzeit starb eine Tante Godwells, die in Kalkutta lebte. Sie war sehr musikalisch gewesen. Godwell beerbte sie. Das Testament enthielt die Bestimmung, daß Godwell den ganzen übrigen Hausrat der Erblasserin verkaufen dürfe, nur nicht deren Konzertflügel, dem er in seinem Hause einen Ehrenplatz einräumen müsse. Sollte er es wagen, ihn zu veräußern, so sollte die Erbschaft anderen Verwandten zufallen.

Der Konzertflügel, der noch sehr gut erhalten war, wurde im Bungalow Godwells in einem Eckzimmer aufgestellt, wo man auch noch andere Andenken an die Tante unterbrachte. Weder Lydia noch Allan Godwell waren musikalisch. Der Flügel wurde also nur ganz selten benutzt, wenn Gäste da waren.

Vier Wochen war das Instrument im Hause. Dann begann das Seltsame.

Eines Nachts wachte Lydia auf. Das Schlafzimmer war durch drei Räume von jenem Eckzimmer getrennt. Lydia hörte, daß jemand Klavier spielte. Die Töne waren nur undeutlich zu vernehmen.

Sie weckte ihren Mann. Godwell behauptete erst, Lydia habe geträumt. Er war noch schlaftrunken. Dann hörte er selbst die Töne des Flügels. Irgend jemand spielte ein sehr lautes Stück. Sonst hätten die Klänge nicht bis in das Schlafzimmer dringen können.

Allan und Lydia kleideten sich an und gingen nach dem Musikzimmer. Plötzlich verstummte das Spiel. Godwell stürzte nun hastig vorwärts und riß die Tür auf. Doch – in dem Musikzimmer befand sich niemand. Der Deckel des Instruments stand jedoch offen.

Diese nächtlichen Konzerte wiederholten sich immer häufiger. Allan gab sich die größte Mühe, den geheimnisvollen Klavierspieler abzufassen. Es gelang ihm nicht. Lydia wurde immer nervöser. Das Ehepaar verlegte das Schlafzimmer in das andere Eckzimmer des Bungalows. Nun lagen fünf Räume dazwischen, und das Klavierspiel war nicht mehr oder doch nur ganz schwach zu hören.

Trotzdem kam Lydia aus der nervösen Unruhe nicht heraus. Die in einem Nebengebäude wohnende Dienerschaft hatte die merkwürdige Geschichte von dem Flügel, der geradezu von Geisterhänden gespielt zu werden schien, in der Stadt verbreitet. Die Bekannten Godwells peinigten das Ehepaar durch neugierige Fragen. – Ein Privatdetektiv aus Haidarabad sollte dem Spuk ein Ende machen. Er entdeckte nichts. Wenn er im Musikzimmer nachts sich einschloß oder vor der Tür lauerte, ereignete sich nichts. Sobald er nicht in der Nähe war, begann das Konzert wieder. Der, der den Flügel bemühte, war nicht zu ermitteln.

Allan Godwell schaffte sich einen sehr scharfen Hund an, der nachts im Musikzimmer schlief. Auch das half nichts. Der Flügel wurde gespielt, und der Hund heulte mit.

Oft blieb das unheimliche Konzert tage- und wochenlang aus. Dann ertönte das Klavier abermals.

So ging es ein dreiviertel Jahr lang. Dann schien der Spuk ausgetobt zu haben. Sieben Monate verstrichen, und der Flügel ließ sich nicht wieder vernehmen.

Aber – Lydia und Allan hatten zu früh aufgeatmet. Als ich sie besuchte und nur Lydia antraf, tobte der Spuk toller denn je, und dies bereits seit drei Wochen. Jede Nacht begann das Konzert im Musikzimmer, ohne daß ein Mensch zu entdecken war, der es veranstaltete. –

Ich kann mich hier im Rahmen dieses Briefes, sehr verehrter Master Harst, mit Einzelheiten nicht abgeben, will nur noch erwähnen, daß ich damals acht Tage bei Godwells als Gast wohnte und mir die redlichste Mühe gab, die Sache aufzuklären. Während ich unter dem einen Fenster des Musikzimmers stand, spielte der „Geist“ mir mit kräftigstem Anschlag und großer Fingerfertigkeit Wagner vor: Walküre, Tannhäuser, Lohengrin. Und als ich dann blitzschnell auf einer bereitgehaltenen Leiter zu dem Fenster emporkletterte und die Scheiben einschlug, um die Hand mit der elektrischen Laterne hineinstecken zu können, war das Zimmer leer. Das Klavierspiel hatte ganz plötzlich aufgehört. –

Lydia hat mir vor zehn Tagen noch eine Karte mit der lakonischen Bemerkung geschrieben: „Hier alles beim alten. Entsetzlich!“ – Der Spuk treibt also noch weiter sein Wesen.

Ich möchte nochmals betonen, Master Harst, daß ich es nie wagen würde, Ihnen hier etwa ein Märchen aufzutischen. Sie haben an mir als Gentleman gehandelt. Das vergesse ich Ihnen nie.

Sollten Sie die Absicht haben, diesem Geheimnis nachzuspüren, hinter dem sich vielleicht mehr verbirgt, als man denkt, dann schwenken Sie bitte heute abend 7 Uhr auf der Wasserterrasse Ihr Taschentuch in der Luft.

Welchen Weg Sie auch wählen, um nach Gulbargah zu gelangen, ich werde ein Zusammentreffen mit Ihnen noch vor Ihrer Ankunft dort herbeiführen. Dann können Sie mich mündlich nach allem fragen, was Ihnen wichtig scheint. Ich möchte Ihnen auch noch einige Winke geben, was das Haus Godwell und seine Bewohner betrifft.

Sie als Gentleman werden dieses Wiedersehen zwischen uns nicht dazu benutzen, mich der Polizei auszuliefern, die ich im übrigen insofern nicht fürchte, als ich aus jedem Gefängnis zu entweichen vermag.

Ich bleibe Ihr dankbar ergebener

Dr. med. Daniel Blooce.“

Harald steckte den Brief in die Tasche.

„Na, Plomber und Schraut, – wie gefällt Euch dieser Flügelspuk?“ fragte er.

Plomber zuckte die Achseln.

„Schwindel, bester Harst. Eine Irreführung!“

Harald blickte mich an. Ich schwieg. Da sagte er sehr bestimmt:

„Es ist keine Irreführung. Blooce wird recht haben: hinter diesem Geisterklavier verbirgt sich mehr, als man ahnt.“

„Sie wollen also hinfahren?“ meinte Plomber.

„Natürlich. Ich werde mir doch etwas derartiges nicht entgehen lassen.“

In demselben Moment rasselte die Glocke des Telephons auf dem Schreibtisch sehr anhaltend.

Plomber sprang auf und nahm den Hörer von der Gabel.

„Hier Edward Plomber. Jawohl, Harst ist hier. Gut – wird gleich da sein.“ Er winkte Harald. „Man verlangt Sie vom Hotel Royal aus,“ erklärte er.

Harst meldete sich.

Wir beobachteten sein Gesicht. Wir sahen, wie es den Ausdruck höchster Spannung annahm.

Dann sprach er in den Apparat hinein:

„Der Fall liegt ja klar. Ich fürchte, das Geld wird verloren sein. Trotzdem werde ich hinkommen.“

Er legte den Hörer weg und setzte sich wieder zu uns.

„Im Royal sind dem Minenbesitzer Treskabor 10 000 Pfund in Banknoten gestohlen worden. Der Verdacht richtet sich auf eine junge Inderin, die angeblich als Angestellte eines Damenfrisiersalons zu Frau Treskabor kam und in deren Schlafzimmer eingelassen wurde. Nachher fand man die Frau des Minenbesitzers betäubt auf. Der Koffer war erbrochen und das Geld daraus verschwunden.“

„Zehntausend Pfund,“ meinte ich. „Das sind 200 000 Mark. Das lohnt wenigstens.“

Haralds Mund umspielte ein Lächeln.

„In der verflossenen Nacht ist Blooce ausgebrochen,“ sagte er langsam. „Und heute erscheint im Royal eine Inderin, die 10 000 Pfund stiehlt! Hm ja, ob man da –“

„Blooce der Dieb?“ rief Plomber.

„Vielleicht,“ erwiderte Harst.

Dann fuhren wir beide nach dem Royal.

 

2. Kapitel.

Frau Treskabors zwei Zentner ruhten auf einem Diwan in ihrem Schlafzimmer. Ihr endlos langer Gatte rannte aufgeregt darin auf und ab. Harst saß auf einem Stuhl neben der dicken Dame, und ich lehnte am Fenster.

„Sie wohnen also bereits vierzehn Tage hier im Royal,“ sagte Harst, indem er die Angaben des Ehepaares kurz wiederholte. „Täglich um 10 Uhr vormittags ließen Sie sich durch eine Friseuse das Haar ondulieren. Heute blieb die Friseuse aus. Sie telephonierten daher um ½11 nach dem Geschäft und beklagten sich über die Bummelei.“

„Ich telephonierte nicht selbst,“ verbesserte die Dicke, die sich von der Betäubung noch nicht ganz erholt hatte. „Ich öffnete die Tür nach dem Flur und rief einen Hotelangestellten an, der gerade vorüberging. Dieser besorgte das Telephongespräch.“

„So?! Das hätten Sie gleich erwähnen sollen,“ meinte Harald sehr kühl. „Wie sah denn dieser Hotelangestellte aus?“ fragte er weiter.

Die dicke Dame beschrieb den Mann: ein Hindu, noch jung, sehr schlank, mittelgroß, aber merkwürdig zugekniffene Augen.

Harald lachte leise. „Mistreß Treskabor, da hatten Sie sich gerade an die richtige Adresse gewandt. Dieser Hindu war nämlich einer der gerissensten Hoteldiebe Indiens, ein gewisser Doktor Daniel Blooce. Er hat graue Augen, wie sie kein Inder besitzt. Daher muß er in der Maske eines Eingeborenen diese Augen zu verbergen suchen. – Die Sache ist hiermit völlig geklärt. Blooce hat natürlich nicht telephoniert, sondern sich schleunigst in eine junge Inderin verwandelt. Für einen Mann, wie er es ist, für einen solchen vielgestaltigen Menschen bietet es keine Schwierigkeit, in kurzem als Weib wieder aufzutauchen. Er hat dann hier die Friseuse gespielt und auf gut Glück den Koffer nachher erbrochen. Gerade der Umstand, daß er Ihre Pretiosen liegen ließ, verrät ihn als Daniel Blooce, der in der vergangenen Nacht aus dem hiesigen Polizeigefängnis entwischt ist. Juwelen hätte er in seiner Lage schwer zu Gelde machen können. Er hätte sie nur dann fraglos mitgenommen, wenn er ohne Beute hätte abziehen müssen, also ohne das Paket Banknoten.“

Der lange Minenbesitzer war vor Harald stehen geblieben.

„Sie bekommen 5000 Rupien, wenn Sie den Schuft greifen,“ sagte er in einem Ton, als ob diese 5000 Rupien eine fürstlicher Belohnung darstellten.

„Ich bin Liebhaberdetektiv, Master Treskabor,“ erwiderte Harald kurz.

Treskabor grinste und zeigte alle Goldplomben seiner Riesenhauer.

„He, he, – Liebhaberdetektiv – Liebhaberpreise! Ich verstehe. Also 8000 Rupien, Master Harst.“

In diesem Augenblick trat der Hoteldirektor ein. – Als Harald schwieg, rief der Minenbesitzer, den man auf 200 Millionen schätzte, wütend:

„Verdammt, dann sollen Sie 10 000 haben, Sie tüchtiger Geschäftsmann!“

Harst erhob sich. „Ich empfehle mich, Master Treskabor. Sollte die Polizei von mir Aufschluß über diesen Diebstahl haben wollen, so weiß man ja, wo ich wohne.“

Er verbeugte sich knapp. Ich desgleichen.

Wir fuhren nach Plombers Bungalow zurück.

Als der Wagen davonrollte, sagte Harald:

„Wir werden abends nach Gulbargah fahren. Aber wir werden Blooce das Zeichen mit dem Taschentuch nicht geben. Mag er auch ein Dieb aus krankhafter Leidenschaft für das Verbrechen sein: er bleibt ein Dieb! Und jetzt nach diesem neuesten Streich im Royal will ich mit ihm nichts mehr zu tun haben.“ –

Edward Plomber allein wußte, wohin wir reisten. Auf ihn war Verlaß. Er würde schweigen. Der Abschied von ihm war überaus herzlich. In unserer Gesellschaft war dieser menschenscheue, weltfremde und verbitterte Mann förmlich aufgetaut.

„Sie müssen mich recht bald wieder besuchen,“ rief er dem Zuge nach.

Harst hatte sich auf den Klappschemel gesetzt und rauchte eine seiner Mirakulum.

„Irgend ein Interesse muß doch Blooce an der Aufklärung des Geheimnisses haben,“ begann ich das Gespräch.

„Sein Interesse an der Aufdeckung der Sache, mein Alter? Nun, der Name Lydia kommt in dem Briefe recht oft vor.“

„Ah – sie war seine Jugendgespielin und seine –“

„– Jugendliebe,“ ergänzte Harst. „Es ist schon passiert, daß jemand aus Verzweiflung über eine fehlgeschlagene Liebeshoffnung zum Verbrecher wurde, eben um sich abzulenken, um etwas zu tun, wozu seine ganze geistige Spannkraft gehörte. Vielleicht liegt bei Blooce eine solche Tragödie vor. Merkwürdig ist es doch, daß er als Arzt, als offenbar hochintelligenter Mann Hoteldieb wurde. Und – dieses lichtscheue Nebenhandwerk treibt er seit einem Jahr. Lydia aber ist seit zwei Jahren Godwells Gattin.“

„Möglich,“ sagte ich nur. Ich war müde. Wir legten uns dann auch sehr bald nieder.

Um 7 Uhr weckte uns der Schaffner. Wir wollten über die Hauptstadt Haidarabad des gleichnamigen Eingeborenenstaates den Weg nehmen und mußten in Nagpur umsteigen.

Der Schnellzug nach Haidarabad war überfüllt. Wir bekamen nur noch in einem Nichtraucher-Abteil 1. Klasse zwei Plätze an der Tür, saßen aber wenigstens nebeneinander. Die übrigen Mitreisenden waren sämtlich Damen. Uns gegenüber saß eine dicke Amerikanerin, die die Schminke gleich pfundweise aufgetragen hatte und die dauernd kandierte Früchte kaute.

Die Amerikanerin fing nach einer Weile mit mir eine Unterhaltung an. Sie bat mich, für sie beim Kellner eine Eislimonade zu bestellen. So entwickelte sich ein längeres Gespräch, aus dem wir erfuhren, daß ihr Gatte Ingenieur war und zwar Angestellter des Minenbesitzers Treskabor. Sie wohnte erst seit vier Wochen in Gulbargah und schimpfte sehr ungeniert auf das langweilige Nest.

Harst wurde jetzt plötzliche gleichfalls gesprächig. Ich ahnte, weshalb. Er wollte Frau Banting, so hieß die geschminkte Dame, über Godwells aushorchen.

Sehr vorsichtig änderte er das Thema. Frau Banting merkte nichts.

Ja, Godwells kannte sie. In Gulbargah gab es ja nur zweihundert Europäer. Da mußte man schon miteinander bekannt werden.

Was der Doktor für ein Mann sei? – Hm – sie wollte ihn nicht geschenkt haben.

„Er spielt,“ flüsterte sie und beugte sich vor. „Die arme junge Frau kann einem leidtun. Er soll sie nur ihres Geldes wegen geheiratet haben. Mindestens zwanzig Jahre älter ist er als sie –“

Sie flüsterte noch leiser.

„Und dann – dann gibt es da in dem Bungalow der Godwells noch etwas, wodurch die arme Frau allmählich hinsiecht. Denken Sie: Godwells haben einen Flügel geerbt, der –“

Und nun vernahmen wir nochmals all das, was Daniel Blooce uns schriftlich mitgeteilt hatte. –

Frau Banting schien dann genug geplaudert zu haben und schlief in ihrer Türecke ein.

Wir gingen in den Gang hinaus und nach dem Speisewagen. Es war 1 Uhr mittags geworden. Der Kellner reichte uns die Menükarte.

Als wir gegen 3 Uhr nachmittags unser Abteil wieder betraten, war Frau Banting nicht mehr da.

Eine Engländerin, die mit im Abteil saß, reichte Harst einen Brief.

„Master, die Dame, die dort an der Tür saß, gab ihn mir. Sie sind wohl Master Harst?“

„Ja –“ – Harald nahm den Brief. Auf dem Umschlag stand sein voller Name:

Master Harald Harst

„Die Dame ist in Warangal ausgestiegen,“ sagte die Engländerin noch.

Wir setzten uns. Harald öffnete den Umschlag. Ich wußte schon, was kommen würde. Und ich hatte richtig vermutet, denn der Brief lautete:

Verehrtester Master Harst!

Es gibt keine Frau Ingenieur Banting. Es gibt nur einen Verwandlungskünstler namens Daniel Blooce. Das, was ich über Godwell Ihnen erzählte, entspricht der Wahrheit. – Es tut mir leid, daß ich in Agra gezwungen war, meine Kasse bei Treskabors aufzufüllen. Sie wissen natürlich, daß ich dort Friseuse spielte. – Im übrigen werde ich in Gulbargah zur rechten Zeit wieder da sein. Bis dahin bleibe ich

Ihr ergebener und dankbarer

Daniel Blooce.

Nachschrift. Sie werden in Gulbargah nur maskiert etwas erreichen. Unterschätzen Sie auch bitte die Gefahren nicht, die dort für Sie beide in demselben Moment entstehen, wo gewisse Leute ahnen, wer Sie sind.

Harald hatte mich mitlesen lassen und steckte nun den Brief ein.

„Unglaublich,“ flüsterte er. „Ich habe diese Frau Banting für durchaus echt gehalten. Daniel Blooce ist wirklich ein Genie.“

Um acht Uhr abends waren wir in Haidarabad. Wir stiegen in einer bescheidenen Pension ab und bezahlten für eine Woche voraus. Wir sagten der Pensionsinhaberin sofort, daß wir Ausflüge in die Umgebung der Stadt machen wollten und wenig daheim sein würden.

Um Mitternacht kletterten wir dann, äußerlich völlig verändert, zum Fenster unseres Erdgeschoßzimmers hinaus, verbrachten den Rest der Nacht auf dem Bahnhof, kauften vormittags Malgerät und fuhren mit dem Mittagszuge nach Gulbargah.

 

3. Kapitel.

„Es bietet sehr viele Vorteile, wenn man für taub gilt,“ hatte Harald zu mir auf dem Bahnhof in Haidarabad gesagt. „Sobald wir mit unseren Einkäufen beginnen, benehmen wir uns ganz unseren vereinbarten Rollen gemäß, das heißt, ich bin der taubstumme norwegische Maler Sven Ericksen und Du mein Diener, geborener Amerikaner namens Tom Fulb. Es wird kaum in Gulbargah einen Menschen geben, der scharfsichtig genug ist, unsere Echtheit anzuzweifeln. Ein wenig in Öl zu pinseln verstehe ich ja. Und Dein Englisch, mein Lieber, wird für einen Amerikaner aus den Südstaaten gerade genügen.“ –

Um sechs Uhr nachmittag fuhren Ericksen und Fulb vor dem Polizeigebäude in Gulbargah vor.

Der Polizeichef war ein früherer Hauptmann der indischen Armee namens Boster, einer jener Engländer, die aus ihrem „Spleen“ weiter kein Hehl machen.

Dieser Boster wirkte auch äußerlich ziemlich komisch. Er war klein und mager, hatte einen Riesenschädel und ein so stark vorgebautes Kinn, daß sein braunes Gesicht mit den tiefen Falten um Mund und Kinn nur zu sehr an eine Bulldogge erinnerte, zumal die kurze Oberlippe die Zähne völlig enthüllte.

Ich antwortete auf jede Frage in jener maulfaulen Art, wie sie zu einem Diener gehört, der gleichzeitig der Vertraute seines Herrn ist. Endlich konnte ich beginnen. Ich fragte, ob wir einen leeren Bungalow für 4 Wochen mieten könnten. – Bevor wir nämlich zu Boster gefahren waren, hatten wir uns in der Europäervorstadt von Gulbargah bereits so etwas umgesehen und festgestellt, daß das eine Grundstück neben dem des Doktor Godwell unbewohnt war.

Der kleine Polizeichef überlegte und nannte uns dann drei Adressen, die Sommerhäuser zu vermieten hätten. Ich schrieb die Namen auf und fragte weiter, ob man hier in Gulbargah ein gutes Klavier mieten könnte. Mein Herr sei gewohnt, bei Musikbegleitung zu malen.

Boster stutzte. „Ich denke, Master Ericksen ist taub?“ sagte er verwundert.

„Allerdings – leider! Aber Sie dürften wissen, daß bei vielen Taubstummen die Hautnerven ganz besonders empfindlich sind. Die Schallwellen erzeugen bei einem tauben Menschen auf der Haut einen besonderen Reiz. Dieser Reiz regt meinen Herrn zur Arbeit an.“ – Dies war ein ziemlich faustdicker Blödsinn. Doch jeder Blödsinn findet gläubige Gemüter, wenn er nur mit der nötigen Überzeugungstreue vorgetragen wird.

Boster nickte. „Hm – das klingt ganz vernünftig. Hautreiz, – schon möglich. – Ein Klavier mieten?! Ja, das wird sich wohl schwer machen lassen.“

„Auf dem Bahnhof hier,“ meinte ich, „erzählte uns jemand, ein gewisser Doktor Bellgod hätte einen Flügel, den er nicht braucht und –“

„Godwell – Godwell!“ verbesserte Boster. „Stimmt, der hat so eine große schwarze Wimmerkiste.“

„Mein Herr würde für die Vermittlung gern zehn Pfund zahlen,“ warf ich hin.

Der Polizeichef war sicherlich kein Millionär.

„Gut, gut, ich will’s versuchen –“

„Bis zu fünfzig Pfund Miete für einen Monat könnten Sie bieten, Master Boster,“ erklärte ich weiter. „Ohne den Hautreiz kann mein Herr nicht arbeiten. Er will hier nur Studienköpfe von alten Indern malen.“

„Fünfzig Pfund?!“ – Boster war so etwas sprachlos.

„Ja, und dann noch ein Klavierspieler für drei Stunden täglich. Ob man gegen gute Bezahlung so einen Mann auftreiben kann? Er muß aber tadellos spielen. Ganz besonders liebt mein Herr den Anreiz der Wagneropern[8].“

Bosters Gedanken waren ihm vom Gesicht abzulesen. Er dachte: dieser Ericksen hat viel Geld. Bei dem läßt sich manches verdienen.

Er überlegte.

„Ich werde mit meiner Frau sprechen,“ sagte er darauf. „Die beste Klavierspielerin hier ist Miß Farting. Aber ob sie bereit sein wird, gegen Bezahlung zu –“

„Es kommt auf ein paar Pfund nicht an,“ fiel ich ihm eifrig ins Wort. „Spielt die Dame auch Wagner?“

„Ja, sie spielt alles, und alles sogar auswendig.“

„Was ist diese Miß Farting?“

„Schriftstellerin.“

„Wo wohnt sie, Master Boster?“

„Lassen Sie nur, – die Sache bringe ich mit ihr schon selbst in Ordnung. Ich erreiche mehr als Sie.“

„Dank, Master Boster. Mein Herr wird sich erkenntlich zeigen. – Würden Sie uns nicht auch zu den Bungalowbesitzern begleiten?“

Boster sprang auf. „Gern, sehr gern –“

Ich legte eine Zwanzigpfundnote auf dem Tisch und drehte mich diskret um. Nachher war die Banknote verschwunden.

Harald hatte derweilen still dagesessen und eine Zigarette nach der andern geraucht.

Wir fuhren zu den Grundstücksbesitzern. Am besten gefiel meinem taubstummen Herrn der Bungalow neben dem des Doktors. Wir mieteten die baufällige Baracke für einen Monat. Sie hatte acht Zimmer, von denen drei möbliert waren. Uns genügte dieses Möbelgerümpel. Was uns fehlte, besorgte Boster noch an demselben Abend. Auch zwei Diener mietete er für uns, von denen der eine kochen konnte. Es waren ältere Hindu.

So begann unser Feldzug gegen den Spuk im Hause Godwell.

Um zehn Uhr abends nahmen wir die erste Mahlzeit im neuen Heim ein. Der Bungalow stand mitten in einem großen, verwilderten Garten. Nach der Straße zu war der Garten eben. Hinter dem Hause gab es einige Hügel und Felspartien.

Nach Tisch schlenderten wir auf den Wegen auf und ab. Allmählich näherten wir uns der Steinmauer, die unser Grundstück von dem Godwells trennte. Von einem Hügel aus sahen wir den Nachbarbungalow dann dreißig Meter entfernt vor uns liegen. Es war ein hübscher Besitz.

[Nichts regte sich. Daß uns jemand sah, brauchten wir nicht][9] zu fürchten. Sven Ericksen konnte also getrost mit seinem Diener Fulb reden, wenn auch nur leise.

„Die Geschichte klappt famos,“ meinte Harst. „Wir haben von diesem Polizeichef eine ganze Menge erfahren. Besonders interessiert mich diese Schriftstellerin Miß Farting, die auch Wagner spielt. Blooce betonte ja, daß der Geister-Flügel[10] Wagneropern im Repertoire hatte. Morgen früh wirst Du, sobald Boster hier erscheint, ihn aushorchen, wie Godwells Tante in Kalkutta hieß. Vielleicht war sie auch eine geborene oder verehelichte Godwell, vielleicht war sie gar nichts.“

„Was meinst Du mit diesem „Gar nichts“?“

„Das wirst Du später schon begreifen. Wir werden jetzt zum Schein zu Bett gehen. Um ½1 beginnt dann unsere Rolle als andächtige Zuhörer, falls der Spuk sich eben in dieser Nacht meldet.“

„Weshalb mag Boster nichts von dem Geister-Flügel gesagt haben?“ fragte ich noch schnell.

„Sicherlich nur deshalb, weil er fürchtete, wir könnten abergläubisch sein und er könnte dadurch um einen Vermittlerlohn kommen. – Ich bin neugierig, ob Godwell den Flügel vermieten wird. Tut er es nicht trotz eines günstigen Angebots, so kann man daraus einen neuen Beweis gegen ihn konstruieren. Er müßte doch froh sein, daß das Ding mal eine Weile aus dem Hause kommt.“

„Harald, gestatte noch eine Frage,“ bat ich. Als er zustimmend nickte, fuhr ich fort: „Wenn Godwell an diesem Geisterkonzert mit beteiligt ist, dann kann die nächtliche Musik zwei Gründe haben. Den ersten nanntest Du schon, nämlich, daß der Doktor seine reiche Frau loswerden, also beerben möchte. Der zweite Grund kann nur der sein, daß durch das Klavierspiel Geräusche anderer Art übertönt werden sollen. – Weißt Du nun noch einen dritten Grund?“

„Ja. Und dieser dritte hat bisher das meiste für sich. Aber – nennen tue ich ihn Dir nicht, mein Alter. Strenge Deinen Kopf gefälligst selbst etwas an.“ –

Als wir in unserem Wohnzimmer das Licht eingeschaltet hatten, bemerkten wir beide gleichzeitig einen fremden Herrn, der neben der Tür am Fenster stand.

Der Herr hatte einen gestreiften Flanellanzug an, eine weiße Mütze auf dem Kopf und trug einen rund geschnittenen dunklen Vollbart. Er hatte die Arme halb über der Brust verschränkt, die rechte Hand aber etwas vorgestreckt und erhoben. In dieser Hand hielt er einen Revolver mit sehr langem Lauf.

„Setzen Sie sich dort nebeneinander auf das Rohrsofa,“ befahl er mit einem tiefen Baß. „Sie werden so vernünftig sein und mich nicht dazu zwingen, abzudrücken.“

Wir gehorchten. Natürlich war es Daniel Blooce.

„So,“ meinte er wieder in englischer Sprache. „Nun legen Sie die Hände vor sich auf den Tisch.“

Wir taten es.

„Sie können die Knallbüchse ruhig wegstecken, Blooce,“ sagte ich nun. „Daß wir Sie auch wegen der neuen Geschichte im Royal in Agra nicht festnehmen werden, wenigstens jetzt nicht, ist wohl selbstverständlich.“

Und Harald fügte flüsternd hinzu: „Schraut hat ganz recht. Vorläufig sind wir so halb und halb Verbündete. – Wollen Sie uns noch einige Winke geben, was das Nachbarhaus betrifft?“

Blooce schwieg eine Weile.

„Ja,“ erklärte er dann. „Ich werde Sie morgen nacht in das Musikzimmer einlassen.“

„Wohl mit Lydia Godwells Hilfe?“ fragte Harst.

„Ja. Ich erwarte Sie um ein Uhr früh auf dem Hügel, wo Sie vorhin standen.“

„Blooce,“ sagte Harald darauf sehr ernst, „sobald die Sache hier erledigt ist, kann ich Sie nicht mehr schonen. Begegnen wir uns dann, so nehme ich Sie fest. Allerdings – bei Ihrer Fertigkeit im Verkleiden wird es selbst mir schwer werden, Sie irgendwo aufzustöbern. Ihre Maske im Zuge nach Haidarabad war glänzend. Diese Frau Ingenieur Banting wirkte durchaus echt.“

Blooce verneigte sich. „Freut mich! – Ich gehe nun. Gute Nacht –“

Er öffnete das Fenster und verschwand über die Veranda in den Garten. –

Um Mitternacht begannen wir uns ein wenig anders zu kostümieren. Es waren zwei chinesische schmierige Kulis, die dann auf demselben Wege durch das Fenster in den Garten schlüpften, über die Mauer kletterten, um den Bungalow von vorn betrachten zu können.

Der Mond war inzwischen aufgegangen. Wir konnten auf diese kurze Entfernung jede Einzelheit unterscheiden. Der Bungalow war abweichend von der sonst üblichen Bauart nur mit einer Veranda versehen, die nicht an der ganzen Vorderfront entlanglief, sondern an den Seiten je zwei Fenster freiließ. An der linken Hausecke waren bei diesen Fenstern die Stabjalousien nicht herabgelassen, sondern nur die Vorhänge zugezogen. Diese Fenster lagen nach unserem Bungalow hin. Die beiden anderen an der rechten Seite hatten herabgelassene Stabjalousien.

Die Fenster des Erdgeschosses befanden sich etwa 1½ Meter über dem Boden. Unter diesen Fenstern lag noch eine Reihe kleiner vergitterter Kellerfenster, die jedoch an den Seiten fehlten. Der Eingang lag in der Mitte des Hauses. Eine breite Treppe führte hier zu der offenen, aber überdachten Veranda empor.

Wir kauerten im Schatten der hohen Marmoreinfassung der Fontäne. Harald hatte mir soeben zugeflüstert: „Die beiden Fenster links mit den Vorhängen dürften die des Musikzimmers sein,“ und ich hatte erwidern wollen, daß ich dasselbe annähme, als vom Hause her die ersten Töne eines Klavierstückes verschwommen mein Ohr erreichten und mich schweigen ließen.

„Ah!“ meinte Harald, „wir haben Glück –“

Ja – wir hörten das Geisterkonzert. Und das Eckzimmer links war wirklich der Raum, woher die Töne kamen. Das Ganze hatte jedoch auch nicht die Spur Unheimliches an sich. Wenigstens nicht für uns.

Das Spiel dauerte mit Unterbrechungen etwa eine Stunde. Harald regte sich nicht, sprach kein Wort, lauschte nur.

Dann, als eine weitere halbe Stunde lang alles still blieb, warteten wir die gute Gelegenheit ab, bis der Mond hinter einem Wolkenfetzen verschwand, und kehrten in unseren Garten zurück, gelangten auch unbemerkt ins Haus. Unsere Diener schliefen in einem Zimmer auf der anderen Seite nach hinten heraus.

„Nun?“ fragte ich leise, als wir uns wieder in Ericksen und Fulb verwandelten. „Hast Du noch etwas Neues entdeckt?“

„Ich brauche nichts mehr zu entdecken, mein Alter,“ erklärte Harald flüsternd. „Es fehlen nur noch einige nebensächliche Einzelheiten.“

„So sage mir doch, um was es sich eigentlich handelt,“ bat ich.

„Um etwas, nehme ich an, das im Leben sehr häufig gebraucht wird und auch nötig ist, und zwar in einer besonderen Art von „Leben“. – So, nun finde das weitere selbst heraus. – Gute Nacht.“

Ich lag noch lange wach und grübelte und grübelte. Haralds Andeutungen blieben mir jedoch ein Rätsel.

 

4. Kapitel.

Am folgenden Vormittag zu neun Uhr erschien Master Boster bei uns.

Harald saß bereits im Garten vor seiner Staffelei und malte unseren Diener Tofri, der als Modell auf einem Felsstück hockte.

Boster berichtete folgendes. – Er war noch gestern abend bei Doktor Godwell gewesen und hatte ihn gefragt, ob er den Flügel vermieten wolle. Godwell hatte erst gezögert. Aber auf Drängen seiner Frau hatte er dann zugesagt. Das Instrument könnte also jeder Zeit abgeholt werden. Als Miete hatte der Doktor fünfzig Pfund für einen Monat verlangt.

„Auch bei Miß Dasy Farting, die übrigens neben Godwells auf der anderen Seite wohnt, habe ich Erfolg gehabt,“ fuhr Boster strahlend fort. „Sie will aus Mitgefühl für Ihren taubstummen Herrn täglich drei Stunden hier musizieren. Sie verlangt pro Tag drei Pfund.“

Es kostete mich Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen. – Godwell gab den Flügel her?! Was bedeutete das nun wieder?! – Ich hatte ganz bestimmt eine Ablehnung erwartet.

Boster und ich hatten uns in die Nähe von Harsts Staffelei auf eine Bank gesetzt. Ich war von Harald morgens genau instruiert worden und begann nun über Godwell zu sprechen. Ich tat so, als hätte ich morgens von einem Obstverkäufer die Geschichte von dem Geister-Flügel erfahren.

Boster wurde etwas verlegen, als ich darüber zu reden begann.

„Ja, es ist eine seltsame Berühmtheit für Gulbargah und Umgegend, dieses Instrument,“ meinte er. „Für mich als Polizeibeamten bedeutet diese Art von Spuk so etwas wie einen Vorwurf. Nun, ich habe alles getan, um die Sache zu ergründen. Es gelang mir ebensowenig wie dem bekanntesten aller Detektive, dem Deutschen Harald Harst.“

Mir blieb beinahe der Mund vor Staunen offen. Ich blickte nach Harald hin. Er hatte fraglos alles gehört. Aber er malte ruhig weiter. Er durfte ja auch nicht irgendwie verraten, daß der Maler Sven Ericksen bessere Ohren hatte als sonst irgend jemand.

„Was Sie sagen, Master Boster,“ rief ich nun. „Der große Harst war hier?“

„Allerdings. Aber inkognito. Er gab sich für einen Privatdetektiv aus Haidarabad aus. Als auch er keinen Erfolg hatte, reiste er ab, ohne die Maske zu lüften. Es hätte ja auch seinem Ruhme geschadet, wenn er mal versagt hätte.“

„Woher wissen Sie denn, daß es Harst war?“

„Nun, man hat doch Augen, Master Fulb. Godwell ließ einen Detektiv kommen. Und da hat Harst anstelle des Berufsdetektivs hier gewirkt. Er ist ja reich und kann sich so was leisten. Dieser Detektiv rauchte nämlich fortwährend Zigaretten. Außerdem konnte er tadellos Deutsch. Godwell glaubt bestimmt, daß es Harst gewesen ist. Jedenfalls brauche ich mich nicht zu sehr meines Mißerfolges wegen zu ärgern, wo doch ein Mann von Weltruf wie Harst hier nichts ausgerichtet hat.“

„Allerdings, Master Boster, allerdings –“ – Ich war völlig zerstreut jetzt. Offenbar hatte doch Godwell das Auftauchen dieses Gerüchts, jener Detektiv sei Harald gewesen, noch begünstigt. Weshalb nur?! Godwell mußte doch als Auftraggeber genau wissen, daß es nicht Harst war! – Dann nahm ich mich zusammen und begann wieder von Godwell zu sprechen, indem ich fragte, woher er eigentlich den Flügel hätte.

„Geerbt. Von seiner Tante Eveline Godwell, die vor zwei Jahren in Kalkutta starb.“

„So, so, ein Erbstück, aber kein angenehmes.“

„Oh – er erbte auch etwas Geld und noch andere Sachen.“

„Na, dann läßt man sich’s gefallen. – Godwell hat wohl sehr viel Praxis?“

„Er ist jetzt wieder der einzige Arzt hier. Freilich, er braucht auch große Einnahmen. Jeder Mensch hat ein kleines oder – ein großes Laster.“

Ich nickte und zwinkerte dem Herrn Polizeichef zu.

„Wir lernten in Haidarabad flüchtig eine Dame kennen, Master Boster, die mit den hiesigen Verhältnissen gut vertraut war. Den Namen der Dame werde ich nicht nennen. Sie hielt nicht gerade viel von Godwell. Er soll ein[11] Spieler sein. Und seine Ehe ist auch nicht glücklich.“

Boster warf einen besonderen Blick auf Haralds Modell. – Ich verstand: der Diener konnte wohl einen Teil unserer Unterhaltung belauschen, wenn wir nicht gerade flüsterten. – Ich erhob mich daher, und Boster tat dasselbe. Wir gingen tiefer in den Garten hinein. Hier reichte ich Boster zunächst eine Zwanzigpfundnote. „Bitte – als Vermittlerlohn.“

Er zierte sich erst etwas. Aber dann steckte er die Banknote ein, seufzte und meinte: „Ich habe neun Kinder –“ – Neun Kinder! Da war manches verständlich.

Dann sagte Boster: „Es stimmt. Godwell spielt. Und mit der Ehe ist es nicht weit her. Er ist Amerikaner, Landsmann von Ihnen, Master Fulb, – aus Neuyork. Als er sich vor fünf Jahren hier niederließ, hatte er zuerst gar nichts zu tun. Es gab damals eben noch zwei andere Ärzte. Aber Godwell hatte eben Glück. Sie starben. Und mit einem Male war er dann nach ein paar glücklichen Kuren der gesuchteste Arzt.“

Ich wollte etwas ganz anderes aus ihm herauslocken. Diese Einzelheiten hatte uns schon Mistreß Banting alias Daniel Blooce mitgeteilt.

„Miß Farting ist wohl sehr hübsch?“ fragte ich. „Mein Herr liebt angenehme Züge. Als Maler haßt er alles Unschöne.“

„Oh – sie ist blendend schön, wenn auch nicht mehr jung.“

„Wohnt sie ganz allein in dem Bungalow links neben dem Godwellschen Grundstück?“

„Ja. Sie hat zwar eine Gesellschafterin, eine Französin. Aber die ist uralt und leidet an demselben Gebrechen wie Master Ericksen.“

„Traurig, sehr traurig. – Miß Farting und Godwells verkehren natürlich miteinander?“

„Nein, nein! Godwell mag die Farting nicht leiden.“

„Wohnt sie denn schon lange hier?“

„Etwa fünf Jahre –“

Diese Antwort kam schon etwas zögernd heraus. Ich merkte: Boster war durch meine Neugier argwöhnisch geworden! – Ich renkte die Sache schnell wieder ein.

„Sie müssen sich nicht wundern, Master Boster, daß ich mich über unsere Nachbarn erkundige,“ sagte ich lächelnd. „Mein Herr ist sehr reich und sehr mißtrauisch. Er ist schon wiederholt bestohlen worden. Ich frage nur in seinem Auftrag. Wenn Miß Farting jetzt drei Stunden täglich hier bei uns weilt, dann könnte eine nicht ganz einwandfreie Person –, na, Sie verstehen –“

„Gewiß. Sie können jedoch ganz unbesorgt sein, Master Fulb. – Wann soll der Flügel nun hergeschafft werden und Miß Farting ihren Dienst antreten?“

„Morgen,“ erklärte ich auf gut Glück.

Boster verabschiedete sich nun.

Als er gegangen war, hörte Sven Ericksen sehr bald mit der Malerei auf. Wir hatten in unserem Schlafzimmer die beste Gelegenheit miteinander zu sprechen, ohne daß wir belauscht werden konnten. Ich erzählte Harald alles, was Boster über die beiden uns so sehr interessierenden Personen geäußert hatte. Ich mußte darauf nach Kalkutta ein Chiffretelegramm an den dortigen Detektivinspektor Gralper, der mit Harst befreundet war, aufgeben. Die Antwort sollte Gralper postlagernd schicken.

Ich fuhr nach dem Postamt und war nach zwanzig Minuten wieder zu Hause.

„Es ist Besuch da,“ meldete mir der eine Diener. „Eine Mem-Sahib (Europäerin, Herrin). Sie ist im Wohnzimmer. Sahib Ericksen ist noch im Garten. Ich habe ihn bereits gerufen.“

Harald tauchte schon auf. Bevor wir das Wohnzimmer betraten, flüsterte er mir zu: „Es wird die Farting sein.“

In einem Korbsessel am Holztisch saß ein junges Mädchen in einem weißen Leinenkostüm. Auf dem dunklen, vollen Haar trug sie einen schlichten Strohhut. In der Linken hielt sie einen Sonnenschirm mit sehr langem Stock.

Sie hatte sich halb nach uns umgewandt und lächelte schalkhaft.

Wir waren wie angewurzelt stehen geblieben.

„Blooce!“ flüsterte ich.

Harald raunte mir zu: „Bleibe an der Tür, damit wir nicht etwa belauscht werden.“

Er ging auf das junge Mädchen zu.

„Blooce, was wollen Sie schon wieder hier?!“ sagte er leise.

Daniel Blooce lächelte nicht mehr.

„Schon wieder?!“ meinte er. „Wir haben uns zum letzten Mal im Eisenbahnabteil gesehen, Master Ericksen.“

Ah – Ericksen! Also selbst unsere Namen kannte dieser Teufelskerl schon. Er war fraglos stets auf unseren Fersen geblieben.

Harst schüttelte den Kopf, zog einen Sessel herbei und sagte, indem er Platz nahm:

„Soll das ein Scherz sein, Blooce?! Sie waren doch nachts bereits hier eingedrungen.“

Der Gentleman-Dieb, der wieder geradezu vorzüglich Maske gemacht hatte, schaute Harald unsicher an.

„Ich war nicht hier Master Harst,“ flüsterte er in sehr bestimmtem Tone. „Nach Scherzen ist mir wenig zu Mute. Ich habe Lydia heute früh gesprochen, und –“

„Halt!“ rief Harst leise. Er blickte nach mir hin. „Mein Alter, merkst Du was?! Das Spiel wird verdammt ernst.“

Ich begriff alles: der Mann mit dem Revolver war – Allan Godwell gewesen.

Harald nickte. Er hatte meine Gedanken erraten.

„Wir haben es ihm leicht gemacht,“ meinte er. „Du warst es, der ihn als Blooce ansprach. Das hat der Mensch sofort ausgenutzt.“

Er wandte sich an Blooce.

„Die Sache ist schon geklärt. Godwell hat in der Nacht sich als Daniel Blooce ausgegeben.“ Er berichtete noch einige Einzelheiten.

„Dieser Schurke!“ murmelte Blooce. „Er will Sie beide ins Haus einlassen! Wie gerieben! Sie würden nicht mehr lebend herauskommen.“

„Nun schenken Sie uns endlich reinen Wein ein, Blooce,“ sagte Harst freundlich. „Dieser Spuk erschien mir erst sehr harmlos. Ich denke jetzt anders, wenn ich auch meine Ansicht über den Kern des Geheimnisses nicht geändert habe.“

Blooce nickte. „Wenn Sie nun bereits selbst Godwell für einen recht fragwürdigen Herrn halten, so ist meine Zeit gekommen. Ich habe Lydia stets geliebt. Ihre Eltern wohnten und wohnen noch in Bombay. Ich hätte sie geheiratet. Aber da trat Godwell dazwischen. Er lernte Lydia kennen und wußte sie zu umgarnen. Sie bekam 25 000 Pfund als Mitgift mit. Er hat das Geld in einem Jahre verspielt. Erst heute morgen, als ich Lydia in der Stadt traf, hat sie mir dies gebeichtet. Sie wagt sich ihren Eltern nicht anzuvertrauen. Ach – sie ist noch elender und nervöser als früher. Sie freut sich unendlich, daß ich wieder in ihrer Nähe bin. Sie hat hier ja keinen Menschen, der es gut mit ihr meint. Sie erzählte mir auch, daß Sie beide den Flügel gemietet haben. Sie ahnt nicht, wer Sie sind.“

Harst lachte kurz auf. „Aber Godwell ahnt es. Als Boster gestern abend bei ihm war und wegen des Instruments verhandelte, muß er sofort gegen uns Verdacht geschöpft haben. Und sein Besuch bei uns in der Nacht hätte wohl einen anderen Verlauf genommen, wenn Schraut diesen Menschen nicht mit Blooce angeredet hätte. Ist Godwell bartlos?“

„Ja, er hat das typische Amerikanergesicht.“

„Also mit falschen Bärten weiß er auch Bescheid! – Was wollen Sie hier bei uns, Blooce?“

„Ich wollte das, was ich schon getan habe: Ihnen sagen, weshalb ich um Lydia so besorgt bin. Godwell beabsichtigt nichts anderes, als Lydia langsam hinzumorden. Man kann das auch ohne Waffen und Gift erreichen. Jedes Nervensystem ist einmal am Rande seiner Widerstandskraft. Dann kommt der Wahnsinn, und – Selbstmord in einem lichten Moment ist die allerletzte Konsequenz. Retten Sie Lydia, Master Harst! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich mich dann freiwillig der Polizei stelle und alles, was ich noch als Beute besitze, ausliefere.“

Haralds Augen ruhten sinnend auf Blooces Gesicht.

„Wurden Sie aus Verzweiflung über Lydias Heirat zum Diebe?“ fragte er leise.

„Ja. Ich mußte mich ablenken. Ich wäre sonst verrückt geworden. Der Nervenkitzel der Hoteldiebstähle machte mich gesund, so merkwürdig das auch klingen mag.“

Harald nickte nur. Er hatte all das ja vermutet gehabt.

„Über den „Spuk“ wissen Sie nichts, das Sie uns noch mitteilen könnten?“ fragte er nun.

„Nichts, Master Harst. Die Sache ist rätselhaft. Godwell muß da einen Trick ersonnen haben, hinter den niemand kommt.“

„Sie irren, Blooce. Ich bin bereits dahintergekommen. Eine Dame, Miß Farting, muß mit Godwell im Bunde stehen. Sie ist die gewandte Klavierspielerin.“

Blooce schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen, Master Harst! Ganz ausgeschlossen. Sie befinden sich da auf falscher Fährte. Der Flügel muß von selbst spielen. Auch der Detektiv aus Haidarabad hat nie einen Menschen im Musikzimmer bemerkt. Godwell muß eine Vorrichtung ersonnen haben, das Instrument durch Elektrizität –“

Harald winkte mit der Hand. „Nein, Blooce. Sie denken an einen in den Flügel eingebauten Selbstspielapparat. Haben Sie denn das Instrument nie besichtigt.“

„Sehr genau. Ich fand nichts. Trotzdem muß –“

„– Ja, die Sache wird eben anders befingert, Blooce. – Hören Sie zu: Um 1 Uhr nachts treffen wir uns mit dem falschen Blooce im Garten. Halten Sie sich in der Nähe. Aber lassen Sie sich nicht sehen. Vorher beobachten Sie das Haus der Farting. Ich bin überzeugt, daß diese ebenfalls recht anrüchige Miß gegen Mitternacht in den Godwellschen Bungalow schleichen wird. Sie ist die Klavierspielerin, dabei bleibe ich. Nun gehen Sie, Blooce. Frau Lydia wird sich nicht mehr „zu ängstigen brauchen“.“

Als die „junge Dame“ uns verlassen hatte, begann Harald wieder seine Malarbeit im Garten.

Der Tag verstrich ohne besondere Vorfälle. Um 7 Uhr abends fuhr ich nach der Post. Es war eine Depesche für Sven Ericksen eingetroffen.

Harald machte sich dann sofort an die Arbeit und entzifferte die Zahlenschrift. Der Detektivinspektor aus Kalkutta hatte geantwortet:

„Eine Eveline Godwell, ältere Dame, hat hier nie gelebt und ist hier in Kalkutta auch nicht verstorben. Lediglich eine gefährliche Hochstaplerin dieses Namens wohnte hier bis vor fünf Jahren etwa, stets unter anderen Namen. Soll Amerikanerin und verheiratet gewesen sein. Ein Konzertflügel wurde hier vor zwei Jahren bei der Firma Tompkins von einem praktischen Arzt Godwell gekauft und nach Gulbargah verladen. Drei Wochen drauf kaufte derselbe Godwell ein Pianino, das auf seinen Wunsch angeblich als Büfett in Kiste verschickt wurde. – Sollte eine hellblonde Frau von etwa dreißig Jahren dort wohnen, die am Kinn eine drei Zentimeter lange, wenig sichtbare, nach oben gebogene Narbe hat, so bitte um Bescheid. Dann ist es Eveline Godwell, die noch ein großes Sündenregister hat. – Gruß … Gralper.“

„Ganz nett!“ meinte Harald lächelnd. „Ich hielt die Farting für Godwells Geliebte, die er nach Lydias Tode heiraten wollte. Das war also ein Irrtum. Das Paar ist schon verheiratet, und die Ehe Lydias daher ungültig. Armes Weib! Es war wirklich die höchste Zeit, daß wir hier eingriffen. – Wir werden uns für den Besuch bei Godwell entsprechend rüsten, mein Alter. Der Mensch hat sich als etwas anderes entpuppt, als ich glaubte. Ich hielt ihn nur für einen smarten Amerikaner. Er ist mehr als das: ein Verbrecher! Wir zahlen ihm den Schwindel von der vergangenen Nacht mit gleicher Münze heim. Er – soll sich wundern!“ –

Um elf Uhr abends, als unsere Diener schliefen und wir ungestört waren, machte Harald sich an die Arbeit. Wir hatten aus unserem Requisitenkoffer alles mitgenommen, was wir vielleicht hier gebrauchen würden. Ich schaute Harald andächtig zu.

„Wir schließen hier eine Lebensversicherung ab – oder nein[12]!“ meinte er. „Wer sich doppelt versichert, kann ruhig ans Sterben denken –“

 

5. Kapitel.

„Ah, da sind Sie ja, Blooce,“ flüsterte Harald dem falschen Blooce auf dem Gartenwege zu. „Godwell ist wohl nicht daheim?“

„Nein, er ist über Land auf Praxis gefahren,“ erwiderte der unechte Blooce flüsternd. „Kommen Sie, Master Harst,“ fuhr er leise fort, „wir wollen uns beeilen. Ich habe alle Schlüssel besorgt, die wir brauchen.“

Er kletterte als erster über die Mauer. Dann führte er uns zu dem Hintereingang seines Bungalows, schloß die Tür auf und ließ uns eintreten.

Wir hatten Tennisschuhe an. Lautlos huschten wir im Dunkeln durch die Flure. Godwell hielt Harst an der Hand, dieser mich. So kamen wir durch zwei Zimmer in den zweifenstrigen Raum, wo der Flügel stand.

Harald schaltete seine Taschenlampe ein.

Der große schwarze Konzertflügel war das einzige Möbelstück. Nur an den Wänden hingen ein paar Bilder und Photographien und ein Wandbrett, auf dem Noten lagen.

Harald schlug den Deckel des Instruments auf und leuchtete hinein.

„Nichts Besonderes daran,“ meinte er zu dem falschen Blooce.

„Ja – und doch spielt das Ding von selbst. Gehen wir nebenan in den Salon,“ sagte Godwell leise. „Vielleicht haben wir Glück, und der Spuk läßt sich hören.“

Wir setzten uns in den Salon auf ein paar Sessel. Die Tür nach dem Musikzimmer hatten wir nur ins Schloß gedrückt.

Wir warteten. Ich fühlte, wie mir der Schweiß aus allen Poren drang. Was beabsichtigte Godwell – was nur?!

Da – ein kräftiger Akkord.

Dann ein brillanter Läufer, der in irgend einen Konzertwalzer überging.

Jeder Ton war hier deutlich zu hören.

„Reißen Sie die Tür auf, Master Harst,“ flüsterte Godwell, scheinbar sehr erregt. „Dann mit einem Satz hinein. Vielleicht fassen Sie den Geist endlich ab –“

„Den habe ich schon abgefaßt,“ erwiderte Harst. „Trotzdem kann ich ja mal hineinleuchten –“

Er stand auf und schlich zur Tür. Ich blieb dicht hinter ihm. Er legte die Hand auf den Drücker.

Jetzt flog die Tür auf.

In demselben Moment brach das Spiel ab. Der Lichtkegel der Taschenlampe huschte durch das Zimmer. Es war leer.

Wenn ein Mensch darin gewesen wäre, hätte er so schnell nicht flüchten können.

Ich war wirklich sprachlos.

„Donnerwetter!“ entfuhr es Harst. „Keine lebende Seele. Das begreife ein anderer!“

„Ich denke, Sie haben den Geist schon abgefaßt,“ flüsterte Godwell hinter uns, und das klang so ironisch, daß Harald sich umdrehte und – Godwell ins Gesicht lachte.

„Blooce, ich tat nur so, als imponierte mir der Spuk,“ erklärte er scheinbar in bester Laune. „Die Geschichte ist so einfach. Das Haus ist unterkellert. Aber an den Hausecken sind die Kellerfenster vermauert worden. – Wozu wohl? fragte ich mich, als mir dies auffiel. Ich gab mir auch gleich die Antwort: Weil der Keller unter dem Musikzimmer nicht mehr zugänglich sein sollte! – Damit die vermauerten Fenster nicht Verdacht erregten, hat Godwell auf der anderen Hausseite sie vermauern lassen. Unter dem Musikzimmer steht ein Pianino, über dem ein großer Schalltrichter angebracht ist, dessen Mündung bis dicht unter eine Stelle des Parkettfußbodens reicht, die als Klapptür eingerichtet ist. Spielt nun jemand im Keller Klavier und ist die Klapptür offen, so hört es sich genau so an, als würde auf diesem Flügel gespielt. Das ist der ganze Witz. – Ob Sie uns wohl in den Keller führen können, Blooce?“

„Gewiß, gewiß,“ meinte Godwell übereifrig. „Ich hätte Ihnen diesen Vorschlag auch von selbst gemacht. Ich hatte so ungefähr den gleichen Verdacht wie Sie, Master Harst.“

Als wir die Tür des Musikzimmers wieder geschlossen hatten, begann das Spiel von neuem.

„Ein elektrisches Läutewerk, das in den Keller führt und anzeigt, ob die Tür geöffnet oder geschlossen wird,“ sagte Harald kurz. „Alles sehr schlau ausgeklügelt. Nur nicht schlau genug –“ –

Wir waren im Keller. Wir standen vor einer Ziegelmauer, hinter der jener Kellerraum sich befinden mußte, in dem das Pianino aufgestellt war.

An der Mauer war ein Holzregal befestigt. Leere Flaschen und anderes lagen auf den Brettern.

Godwell benahm sich sehr gewandt. Er ließ Harald ruhig nach dem Zugang suchen.

Harst leuchtete das Regal ab.

„Aha – hier links sind drei Krampen nur scheinbar in die Seitenbretter des Regals eingeschlagen,“ flüsterte er. „Es wird sich abrücken lassen.“

Er hob es an der linken Seite etwas an, schob es von der Mauer ab. Gleichzeitig mit dem Regal wich auch ein Brett zurück, das ein schmales Loch verdeckt hatte.

„Bravo!“ flüsterte Godwell. „Bravo! Nun hinein!“

Harst schlüpfe schon tief gebückt durch die Öffnung in der Mauer; ich hinterdrein.

Da stand mitten in dem Kellergelaß ein riesiger Schalltrichter.

Von dem Klaviersessel war ein Weib hochgefahren, ein blondes, schlankes Weib. Ihr Gesicht wurde von einer großen Petroleumlampe hell beschienen.

Sie wich zurück, streckte wie entsetzt die Arme aus.

Hinter uns eine scharfe Stimme:

„Hände hoch, Ihr Spione! Hände hoch! Oder ich drücke ab.“

Wir gehorchten. Die Blonde saß schon wieder am Klavier und spielte.

„Strecken Sie die Arme nach hinten,“ befahl Godwell „Sie sehen, es gibt noch schlauere Leute, als Sie es sind!“

Wir taten, was er verlangte. Er hatte offenbar schon Stricke mit Schlingen bereitgehalten. Wir sahen nichts von ihm. Erst als er uns die Arme auf dem Rücken gefesselt hatte, trat er vor, den Revolver halb erhoben, deutete auf zwei Stühle und sagte:

„Setzen Sie sich!“

Jetzt erst erblickten wir hinter dem Klavier einen Inder, der an einen Stuhl gefesselt war und einen Knebel im Munde hatte.

„Ihr Freund Blooce,“ stellte Godwell ironisch vor und deutete auf den Inder. „Es tut nicht gut, mit mir anzubinden. Das werden Sie drei noch heute spüren.“

Das blonde Weib spielte weiter. Und sie spielte gut. Hin und wieder drehte sie den Kopf und schaute uns an.

Godwell lehnte sich uns gegenüber an das Klavier. Den Revolver hatte er in der auf den Klavierdeckel gestützten Rechten.

„Ich nehme an, daß Sie drei hier nur allein arbeiten – gegen mich!“ begann er. „Jeder ist sich selbst der nächste. Sie werden schmerzlos sterben. Ich werde Sie durch Blausäure vergiften –“

„Das werden Sie nicht, Doktor Godwell,“ erklärte Harald ruhig. „Man mordet drei Menschen nicht deshalb, um einen Reklametrick vor der Öffentlichkeit weiter geheimzuhalten. Ihr Geister-Flügel ist eine echt amerikanische Idee. Sie hatten hier in Gulbargah zunächst wenig Praxis. Dann starben Ihre beiden Konkurrenten und Kollegen. Sie spekulierten jetzt auf die Neugier der Menschen. Den Arzt, der einen Geister-Flügel im Hause hatte, wollte jeder kennen lernen und sich das Instrument ansehen. Der Spuk schwieg zeitweise. Das geschah gerade dann, wenn Sie wieder einen Kollegen, der sich hier neu niedergelassen hatte, weggegrault hatten. Doktor Blooce erzählte uns dies in der Eisenbahn. Aber den wahren Zweck des Spukes ahnte er nicht. Dieser Zweck ist also ein sehr harmloser. Sie werden dieserhalb keinen Menschen töten, Master Godwell.“

Die Blonde am Klavier und der Mann mit dem Revolver lachten gleichzeitig auf.

„Master Harst,“ meinte Godwell spöttisch, „Sie unterschätzen mich. Genau so gut, wie wir Blooce bemerkt haben, als er das Haus Evelines in dieser Nacht umschlich, ebenso gut nahmen wir wahr, daß Ihr Freund Schraut vormittags ein Telegramm aufgab und abends die Antwort abholte. Ich weiß auch, daß die Antwortdepesche aus Kalkutta kam.“

Eveline Godwell also – wirklich die Hochstaplerin!

„Sie unterschätzen mich. Aber ich unterschätze Sie nicht, Master Harst,“ fuhr Godwell fort. „Ein Harald Harst findet mehr heraus, als nur einen harmlosen Reklametrick!“

„Sie wollten Lydia langsam dem Irrsinn zutreiben,“ sagte Harst gleichmütig. „Vielleicht haben Sie auch noch Ihre beiden Kollegen hier auf dem Gewissen, die so kurz hintereinander starben. Ich leugne die Depesche aus Kalkutta nicht ab. Es hat keinen Zweck mehr. Ich biete Ihnen eine halbe Million, wenn Sie uns drei freigeben.“

Godwell verzog höhnisch den Mund, „Lydia ist das einzige Kind mehrfacher Millionäre. Meine Spekulation ist doch etwas großzügiger, als Sie denken. Wenn Lydias Eltern sterben, erbt sie alles, und nach ihr erbe ich. Dieses gute Geschäft, das wir seit Jahren vorbereiten, lasse ich mir nicht entgehen.“

Jetzt lächelte Harald. „Master Godwell,“ meinte er, „vielleicht nehmen Sie mal mein Zigarettenetui aus meiner Brusttasche heraus und lesen die Depesche, die ich darin versteckt habe –“

Godwells Gesicht veränderte sich. Er wurde unsicher. Langsam kam er auf Harald zu. Er hatte den Revolver in die Linke genommen, faßte mit der Rechten in Harsts Rocktasche und ging mit dem Etui zum Klavier zurück.

Eveline Godwell spielte leiser und schaute zu, wie er nun das goldene Etui in der Hand mit dem Daumen durch einen Druck auf den Schieber öffnete.

Ich wußte, was kommen würde.

Ich hielt den Atem an.

Er drückte schärfer auf den Schieber. – Wir hatten es ausprobiert. Die Zündpille mußte durch den Druck explodieren.

Da – ein Knall.

Eine Stichflamme schoß aus dem Etui hervor. Das Etui flog Godwell aus der Hand. Und vor Schreck ließ er auch den Revolver fallen.

Harald war mit einem Satz hochgeschnellt. Seine Faust traf Godwell unter das Kinn, schleuderte ihn lang zu Boden.

Auch ich hatte mich schon auf das blonde Weib geworfen.

Wie wir so schnell unsere Handfesseln losgeworden waren? – Nun – die zweite „Lebensversicherung“ waren eben unsere aufgeklappten Taschenmesser gewesen, die wir im Rückenfutter unserer Jacken so untergebracht hatten, daß wir sie auch mit gefesselten Händen erreichen konnten. Bei einiger Geschicklichkeit vermag man selbst mit gefesselten Händen mit einem Messer Stricke zu durchschneiden. –

Zwei Minuten später war die Situation etwas anders. Auf den Stühlen saß das Verbrecherpaar, und Daniel Blooce fesselte ihnen nun auch die Füße an die Stuhlbeine.

Die beiden waren jetzt vollständig zusammengebrochen. Das Weib heulte und weinte. Godwell schien einer Ohnmacht nahe.

„Allan Godwell, weshalb verbreiteten Sie hier, daß der Detektiv aus Haidarabad sehr wahrscheinlich Harald Harst gewesen sei?“ fragte Harald den Doktor.

Godwell stierte Harst mit zuckenden Lippen an.

„Ich – ich wußte, daß – daß Sie in – Indien waren,“ stammelt er. „Ich – wollte Sie herlocken, bevor ich – den Plan zu Ende führte. Sie – mußten erst verschwinden, bevor ich das Letzte wagen durfte. – Ich habe bisher keinen Mord begangen, Master Harst. Ich – ich bin ein Opfer meiner Spielleidenschaft und – Evelines geworden. Als ich sie heiratete, wußte ich nicht, welche Vergangenheit sie hatte. Sie war es, die mich auf Lydia hetzte – nur sie!“

„Feigling!“ zischte das Weib. „Elender Feigling! Master Harst – er ist kein Arzt. Er war Heilgehilfe in Kalkutta. Die Papiere stahl er einem Arzt, der dort gestorben war. Er heißt in Wahrheit Edward Parson –“ Dann wandte sie den Kopf und – spie ihrem Manne ins Gesicht. –

Blooce holte die Polizei. Unser Freund Boster fiel aus den Wolken, als er nun erkannte, wer Ericksen und Fulb eigentlich waren.

Daniel Blooce ließ sich dann gleich mit verhaften, nachdem er mit Lydia noch gesprochen hatte. Er wurde nachher von dem Vizekönig von Indien auf Harsts Fürsprache hin begnadigt. Heute ist er Lydias Gatte und Arzt in einer kleineren Hafenstadt Vorderindiens.

Allan Godwell erhängte sich im Gefängnis. Die blonde Hochstaplerin wanderte für viele Jahre ins Zuchthaus.

Drei Tage nach der Verhaftung des Verbrecherpaares Godwell erhielt Harald eine Depesche von Lord Blackmoore, den wir aus Anlaß unseres Abenteuers mit dem goldenen Gongong kennen gelernt hatten. Der Lord bat Harst, schleunigst nach Madras zu kommen, da seine Jacht Atlanta aus diesem Hafen spurlos verschwunden sei.

Auf der Suche nach der Atlanta erlebten wir jenes seltsame Abenteuer, das seiner Zeit in allen Zeitungen kurz erwähnt war und das ich im nächsten Bande schildern will.

 

 

Verlagswerbung:

Der Goldschatz der Azoren

Die glänzende Erzählerkunst Walter Kabels, welcher doch nun schon seit Jahren tausende Leser an die Detektiv-Abenteuer unseres Harald Harst fesselt, schenkt uns in dem soeben erscheinenden großen Sensationsroman

Der Goldschatz der Azoren

ein neues Werk von so eigenartiger und packender Schönheit, daß auch dieser Roman zahlreiche Freunde finden und die Lesergemeinde der Kabelschen Arbeiten noch vergrößern wird.

Ein ganz eigenartiges Motiv hat sich der Autor für diese Arbeit gewählt: Die Macht des Goldes. Deutsche Männer und Frauen haben während des Krieges in unseren afrikanischen Kolonien einen großen Goldschatz gefunden, den sie dem Vaterlande schenken. Ein deutsches U-Boot nimmt das Gold an Bord, um es nach Deutschland zu schaffen. Im Atlantischen Ozean aber erleidet das U-Boot einen Maschinendefekt, es wird von einem englischen Kriegsschiff verfolgt und in der Nähe der Azoren-Inseln in den Grund gesenkt. Nur ein einziger der Besatzung, der Steuermann Hartwich, kann sich auf die Insel San Miguel retten, wo er drei Jahre lang als Robinson lebt. Als er dann nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückkehrt, findet er sein Vaterland am Boden liegend, das deutsche Volk unsäglich an den Folgen des Krieges leidend. Nun beschließt er den gewaltigen Goldschatz zu heben, um damit die Leiden seiner deutschen Volksgenossen zu lindern. Er trifft mit seinem Jugendfreunde Viktor v. Gaupenberg zusammen, der ein ganz neuartiges Luftschiff konstruiert hat, und mit Hilfe dieses Luftschiffes wollen die Freunde den Schatz bergen. Doch durch einen Zufall haben andere von dem Goldschatz erfahren, die nun mit allen Mitteln versuchen, für sich das Gold zu gewinnen. Und um diesen riesigen Goldschatz entbrennt nun einen Kampf, wie er gewaltiger und packender nicht geschildert werden kann.

Gratis und franko

erhält jeder Leser der Harst-Erzählungen das 1. Heft des „Goldschatz der Azoren“. Wir bitten um Einsendung der Adresse, worauf wir sofort vollständig kostenlos das erste Heft senden.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „ein“ ergänzt.
  2. In der Vorlage steht: „enSind“.
  3. In der Vorlage steht: „ein“.
  4. Hier sind fünf Zeilen doppelt vorhanden.
  5. In der Vorlage steht: „Schufe“.
  6. Fehlendes Wort „er“ ergänzt.
  7. In der Vorlage steht: „fucht“.
  8. „Wagner-Opern“ / „Wagneropern“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Wagneropern“ geändert.
  9. Hier fehlt eine Zeile, dafür ist die folgende Zeile doppelt. Text sinngemäß ergänzt.
  10. „Geisterflügel“ / „Geister-Flügel“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Geister-Flügel“ geändert.
  11. In der Vorlage steht: „eine“.
  12. In der Vorlage steht: „ein“.