Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 51:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Black Town, das Eingeborenenviertel Bombays.
Enge Gassen, wunderliche Holz- und Steinhäuser, zahllose Kinder aller farbigen Menschenrassen; dazwischen Hunde, zahme Affen, Ziegen, Schafe, hin und wieder ein hochbepacktes Lastkamel.
An jeder Straßenecke hockt ein Bettler, ein Schlangenbeschwörer oder ein schmutzstarrender Yogi. In den Basargassen sitzen die Handwerker vor ihren Häusern hinter den Tischen, die ihre fertigen Waren tragen.
Bombay ist die nördliche Pforte Indiens, wie Kolombo auf Ceylon die südliche genannt wird. Der Fremdenstrom, der sich aus Amerika und Europa nach Ostasien ergießt, findet hier den ersten seltsamen Wall als Hindernis: die Vermischung moderner Kultur mit der tausendjährigen des Märchenlandes Indien. –
In einer der Basarstraßen standen zwei Europäer vor dem mit einer kostbaren seidenen Decke belegten Warentische eines graubärtigen Inders.
Die beiden trugen unscheinbare Touristenanzüge und breitrandige Strohhüte.
Der größere, schlank und etwas über Mittelmaß, hatte eines jener Gesichter, deren scharf ausgeprägte Züge etwas vom Schauspieler, etwas vom Sportsmann und auch wieder jenes unbestimmte Merkmal eines regen Verstandes an sich haben, das man am treffendsten mit „durchgeistigt“ bezeichnet.
Sein um fast einen Kopf kleinerer Begleiter war ebenfalls bartlos und genau so sonnengebräunt. Sein volles Gesicht, ein bescheidenes Bäuchlein und ein Paar behaglich-verträumte Augen sowie eine gewisse träge Langsamkeit seiner Bewegungen deuteten auf friedlichen, lebensfrohen Charakter hin.
Der größere war Harald Harst, der kleinere ich selbst, sein Privatsekretär und Freund.
Wir besichtigten ein altindisches Schwert mit kostbarem Griff.
Harald lobte die Waffe. „Ich werde sie kaufen,“ meinte er. „Fünfhundert Rupien ist sie wert.“
Er wandte sich an den Inder, der gerade an einem Armreif hämmerte.
„Wieviel soll das Schwert kosten?“
„Tausend Rupien, Sahib. Sehr billig. Die Steine am Griff sind echt –“
Ich wunderte mich, daß Harald sich zu dieser Forderung nicht äußerte. Ich blickte ihn an und sah sofort in seinem schmalen Gesicht jenen Ausdruck erhöhter Spannung, der mir verriet, daß ihm in der Nähe irgend etwas besonderes aufgefallen war.
Er hatte den Kopf halb nach rechts gedreht. Der nächste Verkaufstisch enthielt Elfenbeinschnitzereien. Dann kam ein Tisch, auf dem zumeist antike Becher, Krüge und Kannen standen.
Vor diesem Tische standen ein blondbärtiger Herr und eine elegant gekleidete Dame, beide noch jung, offenbar ein Ehepaar. Ich schätzte auf Amerikaner.
Harald sagte jetzt zerstreut:
„Fünfhundert Rupien –“ – Aber er behielt das Paar drüben im Auge.
Ich schaute nun ebenfalls mit Detektivblicken hin und wollte feststellen, was die beiden denn so Auffälliges an sich hätten.
Sie wollten ohne Zweifel ein auf drei Füßen ruhendes Räucherbecken kaufen. Es war etwa sechzig Zentimeter hoch und hatte einen Deckel, der als Griff eine Götzenstatue besaß.
Der Herr feilschte mit dem Verkäufer, einem hageren Chinesen, und hatte bereits die Banknotentasche in der Hand.
Die Dame, deren Gesicht bis zur halben Nase von einem dünnen weißen Schleier verhüllt war, hob jetzt den Deckel ab.
In demselben Augenblick geschah zweierlei.
Unser Händler sagte:
„Siebenhundert Rupien, Sahib.“
Aber der Sahib war schon mit drei langen Sprüngen neben der Dame und riß sie von dem Tische des Chinesen zurück.
Sie erschrak und ließ den Deckel fallen. Der Herr war herumgefahren und wollte anscheinend Harst zur Rede stellen.
Harald hatte bereits die rechte Hand ausgestreckt und deutete auf eine graugrüne Schlange, die aus dem Innern des Räucherbeckens hervorgeschossen war und nun, hoch aufgerichtet, den kleinen platten Giftschlangenkopf nach allen Seiten blitzschnell und in höchster Wut umherschießen ließ.
Dann nahm er seinen Spazierstock, wickelte sein Taschentuch um die Zwinge und hielt ihn dem fingerdicken, aber weit über ein Meter langen Reptil hin.
Dieses biß denn auch mehrmals hinein, ringelte sich schließlich um den Stock und hatte es nun fraglos auf Harst abgesehen.
Inzwischen waren auch schon eine Menge Leute zusammengelaufen. Ein indischer Soldat zog sein dolchähnliches Messer und trennte mit geschicktem Hieb der Schlange den Kopf ab.
Ich war Harald sofort gefolgt. Neben mir hörte ich nun mehrmals den Namen Tschikarra. – Ich wußte Bescheid: die Tschikarra gehört zu den Baumschlangen und ist überaus gefährlich.
Die Dame wandte sich an Harald.
„Ich danke Ihnen, Master,“ sagte sie hastig.
Und fügte sofort für ihren Begleiter hinzu:
„Tom, gehen wir. Ich fühle mich ganz schwach nach diesem Schreck.“
„Tom“ zog vor Harst den Hut und murmelte gleichfalls ein paar Dankesworte.
Dann drängten sie sich durch die Menschenmauer und verschwanden. –
Der dürre Chinese, für den sich nun das Geschäft zerschlagen hatte, zeterte hinter ihnen drein.
Erst jetzt erschien ein indischer Polizist und erkundigte sich nach der Ursache des Auflaufs.
Der Chinese berichtete alles mit einem endlosen Wortschwall und schwor gleichzeitig bei seinen 555 Ahnen, daß er die Schlange nicht in das Räucherbecken gesperrt hätte.
„Er spricht die Wahrheit,“ erklärte Harald da. „Ich beobachtete einen Mann, der kurz vor dem Erscheinen der beiden Käufer das Reptil bei der Besichtigung des Räucherbeckens sehr geschickt in dieses hineingleiten ließ.“
Der Chinese hüpfte vor Freude hin und her.
„Ah – Master, – es war ein Inder in einem weißen Anzug,“ rief er. „Ich besinne mich schon. Oh, der Schurke, der Teufel, der Hund! Er hat die Schlange loswerden wollen.“
Harald nickte.
Die Menge verlief sich. Der Polizist stellte noch einige Fragen und schlenderte weiter.
Wir kehrten zu unserem Händler zurück. Harst kaufte das Schwert für 500 Rupien. Dann verließen wir Black Town und fuhren mit der Straßenbahn nach dem Hotel Bristol an der Esplanade, wo wir heute früh, von Madras kommend, abgestiegen waren.
Es war jetzt sieben Uhr abends. Wir gingen auf unsere Zimmer. Bisher hatte Harald dieses kleine Erlebnis mit keiner Silbe erwähnt.
Wir setzten uns auf den Balkon. Unter uns auf der Esplanade war großer Korso. Man hätte glauben können, sich in Nizza zu befinden.
Harald rauchte eine Mirakulum.
„Nun, mein Alter?“ fragte er und blies ein paar Rauchringe.
„Hm,“ machte ich nur.
„Allerdings eine merkwürdige Geschichte,“ meinte er. „Noch merkwürdiger war der schleunige Rückzug des Paares. Anstatt den Vorfall aufklären zu lassen, verschwinden die beiden schleunigst. – Übrigens wohnen sie hier im Hotel Bristol. Sie aßen mittags zu dreien im Speisesaale nicht weit von uns. Sie fielen mir auf, weil sie die Anwesenden so sehr eingehend und doch auch wieder heimlich musterten.“
„So, so. Zu dreien?“ warf ich ein.
„Ja. Es war noch ein Herr dabei. – Wir haben ja jetzt nichts anderes vor, mein Alter. Wie wär’s, wenn wir dieses Schlangenattentat genauer untersuchten?“
„Meinetwegen. – Nur – Attentat?! Dieses könnte sich doch nur gegen den Chinesen gerichtet haben, als gegen den Besitzer des Räucherbeckens. Denn – wie sollte der Inder, der die Tschikarra in das Becken tat, wohl damit haben rechnen können, daß das Paar gerade das Räucherfäßchen auswählen wurde?“
Harald warf den Zigarettenrest in den Aschbecher.
„Lieber Alter, lassen wir alle theoretischen Erörterungen. So viel ist jedenfalls sicher: Hinter diesem Attentat steckt eine „große“ Rache. Um ein Nichts sucht man Leute nicht zu vergiften. – Wir werden jetzt Toilette machen und gegen acht Uhr im Speisesaale sein. Sobald das Paar erscheint, spreche ich es an und erkundige mich nach dem Befinden der Dame. Das weitere ergibt sich von selbst.“
Es ergab sich nichts von selbst.
Wir saßen bis gegen zehn Uhr im Speisesaale. Das Paar erschien nicht.
Harald stand plötzlich auf. „Entschuldige. Ich will mich mal erkundigen gehen –“ –
Nach fünf Minuten war er zurück.
„Abgereist, mein Alter,“ berichtete er. „Vor zehn Minuten sind Wilsons mit Mr. Murphison nach dem Bahnhof gefahren. Sie wollten noch drei Tage bleiben, sagte der Hoteldirektor. Sie hätten dann aber heute abend ihre Reisepläne geändert. Sie wollen nach Baroda. Der Zug geht um zehn Uhr zwanzig Minuten ab. Wir werden im Auto noch rechtzeitig da sein und eine negative Feststellung machen.“ –
Harald behielt recht: Die Feststellung fiel negativ aus, denn von Wilsons und Mr. Murphison war bis zur Abfahrt des Zuges keine Spur zu entdecken.
Harald rieb sich die Hände.
„Die Geschichte wird interessant,“ meinte er. „Natürlich haben die drei Bombay gar nicht verlassen. Suchen wir sie also.“
Wen Harald Harst suchte, den fand er auch.
Wir fuhren nach dem Bristol zurück. Der Portier hatte für Wilsons ein Auto holen müssen. Er kannte so ziemlich alle Chauffeure und nannte uns nach kurzem Besinnen die Nummer des Kraftwagens.
Eine halbe Stunde später hatten wir das Auto an einem der wenigen Halteplätze des Europäerviertels entdeckt.
Der farbige Chauffeur wollte Harst zuerst belügen. Er war zweifellos bestochen.
Harald gab ihm zehn Rupien. Das genügte.
„Ich habe die drei nach einer Pension in der Nähe des Viktoria-Parks bringen müssen,“ gab der Inder nunmehr zu. „Die Pension gehört Mistreß Robbin. Ich sollte darüber schweigen.“ –
Gleich darauf waren wir wieder in unseren Hotelzimmern. Harst ließ den Direktor kommen. Wir hatten uns im Bristol als Hirter und Schroot, Kaufleute aus Madras, eingeschrieben.
Der Hoteldirektor, ein Schweizer, versprach uns vollste Verschwiegenheit.
Wir machten in zehn Minuten aus Hirter und Schroot ein älteres Ehepaar. Damenrollen waren mir ja nicht fremd.
Wir nahmen nur unseren einen Koffer mit, und der Direktor sorgte dafür, daß wir das Bristol unauffällig verlassen konnten.
Um ½12 läuteten wir bei Mistreß Robbin, einer älteren Dame, die uns sehr scharf musterte.
Harald bezahlte für drei Tage voraus. Wir bekamen zwei Zimmer im Erdgeschoß nach dem Vordergarten zu. Die Einrichtung der Räume war überaus elegant.
Dann brachte uns ein indischer Diener Tee und eine kalte Platte. Harald verwickelte den Inder in ein Gespräch. Nach drei Minuten wußten wir, daß Wilsons und Murphison auf demselben Flur mit uns in Nummer 4, 5, 6 wohnten. Wir hatten Nummer 9 und 10. –
Wir waren allein. Die Fenster standen offen. Die Stabjalousien waren herabgelassen und tief gestellt. Harald ging im Wohnsalon rauchend auf und ab.
„Es ist noch zu lebhaft im Hause,“ meinte er, vor meinem Rohrsessel stehen bleibend. „Sobald Ruhe eintritt, will ich mal ein wenig –“
Er brach mitten im Satze ab.
Irgendwo im Hause hatte jemand gellend aufgeschrien.
Dann folgten zwei Schüsse, abermals ein Schrei und heftiges Türenzuschlagen.
Wir schauten uns an.
„Vielleicht noch ein Attentat,“ meinte Harst flüsternd. „Los – spielen wir die Ängstlichen! Hinaus in den Korridor!“
Hier trafen wir bereits einige zehn Gäste versammelt. Vor der Tür von Nummer 4 stand Mistreß Robbin, und vor ihr ein Herr im langen Gummimantel, der in der Rechten einen Revolver hielt.
Er gestikulierte wild und berichtete ziemlich unverständlich, was ihm soeben zugestoßen war.
„Ein Kerl hat sich in mein Zimmer geschlichen. Ich schlief bereits, hatte aber die Nachttischlampe nicht ausgeschaltet. Der Mensch stieß nach mir mit einem Dolch. Da –“ er öffnete seinen Gummimantel etwas und zeigte das blutige Nachthemd – „er hat mir zum Glück nur einen leichten Stich in den linken Oberarm versetzt. Ich schoß, und der Mensch entfloh durch die Tür.“
Kaum war er mit diesem[1] Bericht fertig, als aus Nr. 5 das Ehepaar Wilson, nur notdürftig bekleidet, herausstürzte.
Die aschblonde Frau Wilson rief ängstlich:
„Allan – ist Dir etwas zugestoßen?“
Er winkte ihr beruhigend zu. „Hat nichts auf sich, Alix, – nur eine Schramme. Ein Kerl wollte mich ermorden und berauben –“ Er wiederholte seine Schilderung.
Frau Robbin telephonierte dann an die Polizei. Die Gäste verschwanden wieder in ihren Zimmern. Nur wir beide sprachen noch mit Wilsons und Murphison voller Teilnahme über den Vorfall.
Ganz unvermittelt wandte sich Harald darauf an Frau Alix Wilson und sagte:
„Mistreß, waren Sie es nicht, die heute in Black Town beinahe von einer Schlange gebissen worden wäre? Wir befanden uns gerade in derselben Straße. Ein Polizist stellte nachher fest, daß ein Inder die Schlange in das Räucherbecken getan hatte.“
Wir merkten, daß Wilsons uns in dieser Verkleidung nicht wiedererkannten.
Murphison mischte sich jetzt ein und meinte:
„Oh – wir sind schon daran gewöhnt, daß man uns nachstellt.“
„So – Sie werden verfolgt?“ fragte Harst ganz entsetzt. „Das ist ja schrecklich für Sie. Wohl eine Erpresserbande?“ – Er spielte den ängstlichen älteren Herrn vorzüglich.
Tom Wilson bat uns, doch für einen Augenblick in ihren Salon zu kommen.
„Wenn die Polizei die Sache untersuchte,“ meinte er, „können Sie und Ihre Gattin gleich als Zeugen für den Vorfall in Black Town dienen, Master Harper.“
Als „Harper und Frau“ waren wir hier abgestiegen. –
Wir saßen dann zu fünfen im Salon. Harald markierte den harmlosen Kaufmann so gut, daß Wilson und Murphison uns allmählich ihre ganze Leidensgeschichte vortrugen.
Sie waren in Manila auf den Philippinen zu Hause und befanden sich jetzt auf einer Vergnügungsreise. Bereits in Singapore hatte man zwei Attentate gegen das Ehepaar und eins gegen Allan Murphison versucht. Dann erfolgten weitere Mordversuche in Kalkutta und Benares.
„Wir drei haben keine Ahnung, weshalb man uns nachstellt,“ erklärte Tom Wilson zum Schluß. „Wirklich – nicht die geringste Ahnung! Wir haben keine Feinde. Mein Schwager Allan und ich sind Inhaber eines Exportgeschäfts in Manila.“
Es klopfte. Frau Robbin trat mit dem Detektivinspektor Greaper, unserem alten Freunde, ein.
Greaper ging dann mit Murphison in dessen Zimmer. Auch er hatte uns nicht erkannt.
Wir verabschiedeten uns von Wilsons, da unsere Anwesenheit nicht mehr nötig war.
In unserem Wohnsalon schaltete Harst das Licht aus, zog die eine Stabjalousie hoch und lehnte sich zum Fenster hinaus. Dann sprang er in den Vorgarten hinab.
Ich mußte eine volle Stunde warten. Ich stand am Fenster und beobachtete den Vorgarten. Harald schritt auf der anderen Straßenseite auf und ab.
Jetzt verließ Greaper das Haus. Ich sah, daß Harald ihm folgte. Und wieder nach einer halben Stunde half ich beiden in das Fenster hinein.
Greaper drückte mir die Hand und flüsterte:
„Freut mich, Sie wiederzusehen, Mr. Schraut. – Tolle Geschichte, diese Attentate!“
Wir setzten uns um den Tisch. Harst ließ die Jalousie herab und zog die Vorhänge zu. Dann nahm er ebenfalls Platz.
„Harst scheint diesen drei Leuten nicht zu trauen,“ meinte Greaper nun. „Ich begreife nur nicht, aus welchem Grunde. Die Wilsons und der Murphison haben mir ganz einwandfreie Legitimationspapiere gezeigt.“
Harald nickte. „Ich zweifele auch nicht daran, daß sie das Ehepaar Wilson sind und daß Murphison der Bruder der blonden Frau ist,“ sagte er leise. „Ich betone nur die eine Tatsache, daß die beiden Wilsons heute auffällig eilig den Schauplatz des Schlangenattentats verlassen haben. Sie hätten doch das Eintreffen eines Polizeibeamten abwarten können.“
Greaper lächelte. „Lieber Harst, vielleicht tun Sie den dreien wirklich unrecht. Ich sehe nirgends einen Grund, sie zu beargwöhnen.“
Harst hielt Greaper das Zigarettenetui hin.
„Wo sitzen die beiden Revolverkugeln, die Murphison abfeuerte?“ fragte er.
„In der Türfüllung dicht nebeneinander,“ antwortete Greaper. Und fügte hinzu: „Der Stich im Oberarm ist doch nicht so ganz harmlos. Der Kerl muß mit großer Kraft zugestoßen haben. Das Kissen ist vollständig durchbohrt.“
Harald starrte vor sich hin.
„Lassen Sie die drei beobachten, Greaper,“ bat er dann. „Geben Sie mir sofort Nachricht, wenn einer der drei etwas Auffälliges unternimmt. Ich werde den Argwohn nicht los, daß die ganze Sache nicht sauber ist.“
„Aber ich bitte Sie, was soll denn da nicht sauber sein?!“ rief Greaper ungeduldig. „Denken Sie etwa, daß die Attentate vorgetäuscht sind?“
Harst schien die Frage überhört zu haben. Greaper wiederholte sie daher und betonte noch:
„Nennen Sie mir dann doch die Absicht, die diese drei damit verfolgen! Sie sind doch der Mann der strengen Logik, Harst! Also – bitte!“
Harald holte ein Taschentuch hervor. Es war dasselbe, in das die Tschikarra hineingebissen hatte. Er zeigte uns vier grünliche Fleckenpaare und erklärte uns:
„Das Reptil hatte seine Giftzähne und die Giftdrüsen waren gefüllt, wie Sie hier an den Flecken sehen. Mehr noch: man hatte der Tschikarra um den Schwanz einen dünnen Draht so fest gebunden, daß der Schmerz das Tier zu höchster Wut reizen mußte. – Nein – dieses Attentat war nicht vorgetäuscht! Ich habe ja auch den Inder gesehen, der das Reptil mit wahrer Taschenspielerfertigkeit in das Räucherbecken sperrte. Er hatte die Tschikarra in einem ledernen Säckchen bei sich. Er beugte sich weit über den Tisch und bedeckte das Räucherbecken halb mit seiner weißen Jacke. So konnte er, ohne daß der Chinese etwas merkte, die für ihn recht gefährliche Manipulation vornehmen und die Schlange in das weitbauchige Fäßchen schütteln. Zwei Minuten später traten dann die Wilsons an den Tisch des Chinesen heran.“
„Na also!“ meinte Greaper. „Was wollen Sie noch mehr, bester Harst. Das Attentat hat genau so seine Richtigkeit wie dies hier, das gegen Murphison versucht wurde.“
Harald gähnte verstohlen.
„Alles sehr schön,“ sagte er müde. „Trotzdem bleibt das eine bestehen: Mistreß Alix Wilson hat irgend einen Grund, ein Zusammentreffen mit der Polizei zu vermeiden. Sie war es auch, die vorhin im Flur Frau Robbin veranlassen wollte, erst morgen früh die Polizei zu benachrichtigen.“
Greaper zuckte die Achseln. „Gut – ich werde die drei also beobachten, Harst, obwohl ich mir davon nichts verspreche.“ Er stand auf und sagte uns gute Nacht.
Nachdem er durch das Fenster verschwunden war, fragte ich nun auch meinerseits Harst in etwas zweifelndem Tone:
„Hast Du wirklich irgendeinen Verdacht gegen die drei, Harald? – Wenn ich ehrlich sein soll: ich muß Greaper recht geben. Ich kann keinen Grund zum Argwohn finden.“
„So, so!“ meinte er. „Keinen Grund! Merkwürdig! – Willst Du mir vielleicht sagen, weshalb die drei aus dem Bristol so eilig verdufteten?!“
Ich stutzte. – Ah – daran hatte ich wirklich nicht mehr gedacht!
„Und weshalb verdufteten sie?“ forschte ich zögernd.
„Weil sie sich nicht auf einer Vergnügungsreise befinden! – So, und nun gehe ich schlafen!“
Ich konnte zunächst nicht einschlafen. Harsts tiefe Atemzüge bewiesen, daß er bereits eingeschlummert war. Ich rief mir alles ins Gedächtnis zurück, was mit den drei Fragwürdigen zusammenhing. Und dabei fiel mir ein, daß Harald vor der Fahrt zum Bahnhof gesagt hatte, daß wir dort nur Negatives feststellen würden.
Mithin hatte er gewußt, daß die Wilsons und Murphison nur zum Schein abreisen würden.
Woher wußte er es? – Ich strengte meinen Kopf an; ich grübelte und grübelte. Bis mir schließlich klar wurde, daß Harald mehr beobachtet hätte, als er Greaper und mir gegenüber zugab.
Ich schlief ein. Kurz vorher schlug eine Uhr im oberen Stockwerk zwei.
Und bereits nach einer Stunde rüttelte Harald mich wach.
„Aufstehen – fix, mein Alter!“ sagte er mehrmals. Ich wurde rasch munter.
„Die Vögel sind ausgeflogen, und wir werden schleunigst hinterdrein flattern,“ erklärte er leise und kramte in unserem Koffer, warf mir eine Menge Kleidungsstücke zu und gab mir kurz die Anweisung:
„Ältere, zerlumpte Matrosen. In zehn Minuten mußt Du fertig sein.“ –
Wir ließen dann für Mistreß Robbin einen Zettel zurück und baten sie, unser Gepäck aufzubewahren; wir hätten aus geschäftlichen Gründen plötzlich abreisen müssen. –
Wir steckten nur unser gewöhnliches Handwerkszeug zu uns, sprangen durch das Fenster und stiegen an der nächsten Straßenecke in ein dort auf uns wartendes Auto. Der indische Chauffeur hatte fraglos ein sehr anständiges Trinkgeld erhalten. Er deutete auf ein Bündel, das im Wagen lag, und sagte, er habe alles noch glücklich besorgen können.
Harald gab zu, daß er überhaupt nicht geschlafen hatte, sondern nach meinen ersten Schnarchtönen aufgestanden und auf die Straße gegangen sei, nachdem er sich in einen waschechten Jan Maat verwandelt gehabt hatte.
Zwanzig Minuten nach zwei hätten die drei Fragwürdigen, berichtete er weiter, das Pensionat mit ihren Handkoffern verlassen und seien nach dem Hafen hinabgewandert, wo sie dann am Viktoria-Dock einen Dreimastschoner betreten hätten. Die Deckwache des Schoners kannte die drei offenbar schon. Im Heckaufbau seien auch ohne Zweifel zwei Räume für das Ehepaar und Murphison bereitgehalten worden.
„Ich habe am Dock nicht lange herumspioniert,“ sagte Harald zum Schluß. „Ich fand ein Auto, fuhr zu Mistreß Robbin zurück und beauftragte den Chauffeur, uns Lebensmittel zu besorgen. Hier in diesem Bündel liegen sie. Der Schoner heißt übrigens „Maria Van-Hellen“[2] und gehört dem Holländer Pieter Duisport. Der Dockwächter, den ich ausforschte, stellte Duisport kein gutes Zeugnis aus.“
Unser Auto hielt. Harst nahm das Bündel, drückte dem Chauffeur noch zehn Rupien in die Hand und zog mich mit sich fort nach einer Bootsbrücke hin.
Es war noch völlig dunkel. Wir ketteten einen Kahn los und ruderten vorsichtig zwischen den vertäuten und ankernden Schiffen hindurch, bis vor uns ein alter Segler auftauchte, der einen ziemlich verwahrlosten Eindruck machte.
An der Backbordreling lehnte die Deckwache, ein Chinese.
Der Kerl glotzte zu uns herab und rief uns mißtrauisch an.
Harst verständigte sich schnell mit ihm. Dreißig Rupien schläferten das offenbar nicht sehr empfindliche Gewissen dieses alten Burschen, der den Namen Ming Bana hatte, völlig ein. – Wir gaben uns als desertierte englische Kriegsschiffmatrosen aus, und Harald versprach ihm weitere fünfzig Rupien, wenn er uns auch fernerhin beistehen würde.
Wir kletterten an Bord. Den Nachen ließen wir treiben. Hier im Hafenbassin mußte der Eigentümer ihn leicht wiederfinden.
Ming Bana führte uns durch die Mittelluke in den Laderaum hinab und in einen Verschlag, der allerlei Gerümpel enthielt, darunter auch drei Ballen Reservesegel.
Um den Chinesen nicht argwöhnisch zu machen, hatte Harald es vermieden, ihn irgendwie auszufragen. Er sagte uns aber freiwillig, daß der Schoner mittags in See ginge und für Passani, einen der größeren Häfen Belutschistans, Reis und Getreide geladen hätte. Die drei Amerikaner hatte er nicht weiter erwähnt.
Unser Versteck war lang und schmal. Im hintersten Winkel machten wir es uns bequem. Kisten, leere Fässer und anderes Gerümpel türmten wir beim Schein unserer Taschenlampe so vor uns auf, daß nur ein kleines Loch zum Durchkriechen frei blieb.
Wir lehnten uns dann jeder in eine Ecke und schliefen im Sitzen. Zum Ausstrecken war nicht genügend Platz vorhanden.
Um zehn Uhr vormittags bekamen wir dann einen bösen Schreck. Es betraten mehrere Leute die Kammer. Wir glaubten schon, der Chinese hätte uns verraten. Es wurden jedoch nur zwei Kisten in die Kammer gebracht und vorn hingestellt.
Wir erkannten Allan Murphisons Stimme, der zu jemand sagte:
„So, auch das wäre erledigt. Wenn wir nun noch günstigen Wind haben, ist die Sache in zehn Tagen ganz im Lot –“
Die Leute entfernten sich wieder.
Eine halbe Stunde darauf kam Ming Bana und erzählte uns, daß eine schöne Miß und zwei Herren, Freunde des Kapitäns, die Reise mitmachen würden.
„Sie sind nachts an Bord gekommen,“ flüsterte er weiter. „Da stimmt irgend was nicht. Wir haben Befehl vom Kapitän, nicht über die Anwesenheit der drei auf dem Schoner zu sprechen. Wir erhalten jeder zehn Rupien extra.“
Der alte Chinamann hatte eine Laterne mit und musterte uns nun so eigentümlich, daß ich sofort merkte: er zweifelte an unserer Echtheit und brachte uns mit den drei Freunden des Kapitäns irgendwie in Beziehung.
Harald hatte dasselbe Empfinden. Er hielt es daher für ratsam, den Gelben einzuweihen, allerdings nur halb, gab Ming Bana weitere dreißig Rupien und erklärte, wir seien Detektive aus Bombay, die hier etwas zu erledigen hätten.
Der alte Matrose verschwand dann. Wir waren wieder im Dunkeln. Harald war sehr schweigsam. Wir aßen und warteten auf die Abfahrt des Schoners. Genau um zwölf Uhr mittags begann der Schoner zu schwanken. Er ließ sich aus dem Hafen schleppen. Um ein Uhr spürten wir an den Schiffsbewegungen, daß wir die offene See erreicht hatten.
Bis Mitternacht ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Nun hielt Harald die Zeit für gekommen, die beiden Kisten zu untersuchen. Ming Bana hatte uns ein kleines Brecheisen gebracht. Gegen ein halb eins erschien er in unserem Versteck. Wir wuchteten die Kistendeckel los und fanden in der einen eine vollständige Taucherausrüstung, in der zweiten eine zerlegte Luftpumpe, wie sie für Taucherarbeiten gebraucht wird.
Der Chinese war genau so überrascht wie wir beide.
„Ah – sie wollen nach Perlenmuscheln suchen,“ meinte er.
„Wahrscheinlich!“ nickte Harst. – Dann mußte der Chinese, nachdem wir die Kisten verschlossen hatten warten, bis Harald für Mistreß Wilson einen Zettel geschrieben hatte, den Ming Bana ihr heimlich zustecken sollte. Harst gab ihn mir zu lesen.
Da stand auf englisch:
Mistreß Wilson, der Name Harald Harst dürfte Ihnen nicht unbekannt sein. Ich bin Detektiv aus Liebhaberei. Ich befinde mich zu Ihrem Schutze heimlich hier an Bord und rate Ihnen dringend, niemandem gegenüber diese Mitteilung zu erwähnen. Der Chinese wird Sie zu uns führen. Er ist von mir bestochen. – Harald Harst.
Kein Wunder, daß ich Harald sofort fragte, nachdem Ming Bana davongeschlichen war:
„Was in aller Welt bedeutet das nun wieder?! Du setzt Dich mit der Frau in Verbindung?!“
„Ja. Ich hätte es vielleicht besser schon früher getan. Mir war aber die Absicht noch nicht ganz klar. Der Taucheranzug gab mir die Gewißheit.“
„Über diese Absicht?“
„Ja. Es handelt sich um Geld. Als ich Greaper gestern nacht auf der Straße vor der Pension Robbin erwartete und als wir über die Wilsons sprachen, erwähnte er das, was mir damals noch unwichtig schien. Jetzt ist es sogar ausschlaggebend geworden.“
„Was denn?“
„Der Tod des Vaters der Geschwister Murphison.“
„Nun bin ich genau so klug wie bisher.“
„Oh, ich habe mir die Familienverhältnisse auch erst konstruieren müssen, mein Alter. Jedenfalls gibt es hier –“
Er schwieg plötzlich. Auch ich hatte im Laderaum draußen irgendein Geräusch gehört.
Wir hatten uns nur flüsternd unterhalten. Es war ausgeschlossen, daß durch unser Gespräch jemand auf uns aufmerksam geworden war.
Wir lauschten angestrengt. Wir hörten neue Geräusche. Kisten wurden hin und her gerückt. Säcke polterten. Dann fluchte jemand ziemlich laut, und es wurde wieder still.
Nach einer ganzen Weile sagte Harald:
„Hm – die Sache gefällt mir nicht!“
„Glaubst Du, der Mann, der sich offenbar einen Reissack hat auf den Fuß fallen lassen und der fluchend abzog, suchte nach uns?“
„Vielleicht. Obwohl ich mir nicht denken kann, daß Ming Bana uns verraten wird.“ –
Morgens um acht Uhr kam der Chinese.
„Wir haben die Cholera an Bord,“ berichtete er gleichmütig. „Mistreß und Master Wilson sind in der Nacht schwer erkrankt. Ich kann daher auch den Zettel nicht abgeben.“
„Wann erkrankten sie?“ fragte Harst.
„Es muß so gegen vier Uhr morgens gewesen sein. Der Kapitän weckte den Koch und ließ Tee zubereiten.“
„Steht es denn schlimm mit den Kranken?“
„Der Kapitän hat eine gute Schiffsapotheke. Er wird die beiden wohl durchbekommen.“
Harst ließ sich den Zettel zurückgeben, zerriß ihn und verschluckte die Stücke.
Ming Bana versprach, uns einen Topf Tee zu bringen. Er benahm sich so harmlos, daß Harst jeden Verdacht fallen ließ, der Gelbe könnte uns etwa dem Kapitän oder Murphison und Wilson verraten haben. –
Der Chinese ließ sich jedoch nicht wieder sehen. Wir warteten umsonst auf den Tee. Die Stunden schlichen in unerträglicher Langsamkeit dahin.
Der Schoner stampfte immer toller. Es mußte ein gehöriger Sturm aufgekommen sein. Ich kämpfte dauernd gegen eine starke Übelkeit an. Die schlechte Luft tat das ihrige, die ersten Anzeichen der Seekrankheit noch zu vermehren. Ich lehnte mehr tot als lebendig in meiner Ecke. Ich befand mich in jenem Zustande völliger Gleichgültigkeit, der stets die Seekrankheit begleitet.
Gegen Abend legte sich der Sturm. Ich schlief ein. Als ich von selbst erwachte und Harald fragte, wie spät es sei, erhielt ich die Antwort: „10 Uhr.“
„War Ming Bana hier?“ wollte ich wissen.
„Nein.“
„Seltsam. Weshalb mag er –“
Da – leise Schritte im Laderaum. Die Tür des Verschlages kreischte in den Angeln. Dann ein leises „Pst – pst!“ Und die Tür wurde wieder geschlossen, die Schritte entfernten sich.
Harald schaltete seine Lampe ein, rückte die Kiste beiseite, die vor dem Schlupfloch stand, und kroch nach vorn.
Er kehrte mit einer großen Emaille-Deckelkanne zurück.
Als er den Deckel hob, stieg leichter Dampf auf, und der liebliche Duft von Tee erfüllte unser Versteck.
„Ah – das wird uns gut tut tun,“ flüsterte ich.
„Ja – sehr gut tun, mein Alter!“ – Harst hatte schon den zusammenschiebbaren Aluminiumbecher in der Hand und füllte ihn, hielt ihn dicht unter die Nase, roch daran, schmeckte, spie aus und – lachte kurz auf.
„Also so stehen die Aktien!“ murmelte er. „Nur gut, daß ich Greaper entsprechende Anweisungen gegeben habe.“
Ich saß stumm da, sah nun, wie Harst die Hälfte des Inhalts der Kanne durch eine Ritze der Dielen nach unten in den Kielraum goß.
„Vergiftet?“ stieß ich entsetzt hervor.
„Ja. Entweder ein starker Schlaftrunk oder Gift. Jedenfalls enthält der Tee eine Beimengung. Es war ja schon so auffallend, daß Ming Bana uns nur durch das „Pst pst!“ auf diese Gabe aufmerksam machte und sich selbst nicht blicken ließ. Es war eben nicht der Chinese, sondern der Andere. Ming Bana hat uns also doch verraten, und nun will man uns beseitigen.“
Mir riß jetzt doch der Geduldsfaden.
„Verdammt, sage mir endlich, um was es sich hier handelt!“ rief ich halblaut.
„Darum, daß wir jetzt stocksteif und zusammengekrümmt daliegen müssen, mein Alter. Unser Fall ist in das zweite Stadium eingetreten, wo eben die Gemütlichkeit aufhört. Wenn wir nicht sehr geschickt die völlig Bewußtlosen vortäuschen, gebe ich für unser Leben keinen Pfifferling mehr. Mag geschehen, was da will: Du läßt alles mit Dir machen! – Ich glaube, man wird uns nach einer Stunde in die See werfen. Das schadet nichts.“
„Laß die Witze!“ brauste ich auf. „Schadet nichts? Wir werden dann –“
Ich fühlte Haralds Hand auf meinem Arm.
„Still! Du tust, was ich wünsche! Wir werden nicht ersaufen, verlaß Dich darauf.“
Harst stieß dann die Teekanne um, legte den Becher daneben und warf einen angebissenen Zwieback in die Nässe.
Wir mußten halb übereinander liegen. Anders hatten wir nicht Platz. Harald sah sehr genau darauf, daß die Stellung, die wir einnahmen, recht natürlich wirkte.
Dann hieß es warten – warten mit klopfendem Herzen und einer nicht zu bannenden Angst vor dem, was sich weiter ereignen würde.
Mir lief der Schweiß über das Gesicht. Ich atmete keuchend. Die Zeit schlich. Allmählich wurde ich ruhiger.
Da – ein Geräusch im Laderaum.
Die Angeln der Tür des Verschlages kreischten.
Jemand untersuchte den Stapel Kisten und Fässer, hinter dem wir lagen. Dann drückte er die Kiste vor dem Schlupfloch zur Seite.
Ich preßte die Augen zu und hielt den Atem an.
Ich bekam einen Fußtritt vor den Leib. Zum Glück war ich auf eine ähnliche Probe, ob wir auch bewußtlos waren, vorbereitet. Ich regte mich nicht.
Dann zog der Mensch mich durch das Schlupfloch und trug mich in den Laderaum, wo er mich dicht an der Bordwand auf ein paar Reissäcke warf.
Gleich darauf fiel auch Harald neben mir nieder.
Der Mann öffnete jetzt eine der Ladeluken. Ich wagte es, ganz wenig die Augen zu öffnen.
Es war – Allan Murphison! Eine Laterne stand neben uns auf den Säcken.
Er riegelte den Ladelukendeckel oben fest, packte dann Harst und – ließ ihn in die See gleiten.
Jetzt hob er mich auf. Der Mensch mußte Riesenkräfte haben.
Er lachte höhnisch. „So – die beiden Schnüffler wären gut aufgehoben. Jetzt mag mir doch jemand beweisen, daß ich sie auf dem Gewissen habe!“
Ich flog in die noch immer ziemlich hoch gehenden Wogen, versank und machte erst, als mir die Luft knapp wurde, Schwimmbewegungen, tauchte auf und sah die Hecklichter des Schoners bereits hundert Meter entfernt.
Über mir blinkte der klare Sternenhimmel. Eine einsame Wolke segelte über das Firmament hin. Die Wellen hoben mich. Ich erblickte Harst, der auf mich zu schwamm.
„Schuhe aus!“ rief er dann. „Es wird immerhin fünf Minuten dauern, bis Greaper mit dem Polizeikutter heran ist –“
Ich hatte mir, seit ich Harst kannte, das Wundern längst abgewöhnt. – Ich begriff nun alles: Harst hatte Inspektor Greaper offenbar durch den Chauffeur einen Zettel zugeschickt. Und Greaper war daraufhin dem Schoner gefolgt, hatte sich am Tage außer Sichtweite mit dem Polizeikutter gehalten und war nur nachts näher aufgerückt. Harald mußte also mit ähnlichen Zwischenfällen gerechnet haben. –
Er holte jetzt eine wasserdicht schließende Blechbüchse hervor. Gleich darauf flammte ein grünes bengalisches Zündholz auf.
Noch weitere drei brannte Harst ab. Dann bemerkten wir nach Südost zu einen dunklen Fleck auf dem Wasser. Bald hörten wir auch das Knattern des Motors. Man warf uns Leinen zu. – Wir waren an Bord. Greaper schüttelte uns die Hände. Wir stiegen in die Kajüte hinab. Hier saß ein junger, schlanker Europäer, der sich bei unserem Eintritt erhob.
Harald stutzte.
„Lady Broog, – Sie?!“ meinte er unsicher.
Es war wirklich die exzentrische Lady, mit der wir letztens in Madras einen bösen Strauß ausgefochten hatten, wie ich dies im „Piratenschoner“ geschildert habe.
„Ja, Master Harst,“ hatte sie etwas kleinlaut erwidert, „ich wollte Ihnen doch noch einen Streich spielen und bin Ihnen daher von Madras nach Bombay gefolgt. Ich ließ Sie nicht aus den Augen. Als Sie und Master Schraut dann auf der „Maria Van-Hellen“ sich eingeschmuggelt hatten, handelte ich sehr unüberlegt und schickte Mr. Murphison am Morgen durch einen Boten einen Brief, in dem nur stand: „Harst und Schraut sind an Bord“. – Ich ahnte ja nicht, daß es sich hier um einen gefährlichen Fall handelte. Ich kenne Murphison nicht. Seinen Namen erfuhr ich im Bristol-Hotel, wo auch ich abgestiegen war. Ich war auch Zeugin des merkwürdigen Schlangenattentats. Nachher bereute ich es, Sie verraten zu haben. Ich eilte zu Master Greaper und habe ihm alles gebeichtet.“
„Ah – also ist Ming Bana doch treu geblieben,“ meinte Harst. „Was Sie betrifft, Mylady, so brauchen Sie sich weiter keine Vorwürfe zu machen. Es war ganz gut, daß Murphison erfuhr, wer sich auf dem Schoner befand. Er hat sich zu einer Dummheit dadurch verleiten lassen. Er wollte uns beseitigen, und hat sich nun selber nur den Strick gedreht.“
Lady Broog streckte Harald die Hand hin.
„Verzeihen Sie mir, Master Harst,“ bat sie.
„Sehr gern,“ meinte er. „Sie haben ja sofort bereut, Mylady. – So, jetzt geben Sie uns aber trockene Sachen, Greaper,“ wandte er sich an den Inspektor. „Haben Sie unsere Koffer an Bord? – Ah – gut! Dann werden wir uns erst einmal umziehen.“ –
Eine halbe Stunde drauf saßen wir vier um den Tisch in der kleinen Kajüte herum. Lady Broog hatte Harald um Aufschluß über diesen neuesten Fall gebeten, und auch Greaper hatte erklärt, er wolle nun endlich wissen, worum es sich hier handele.
„Unter diesen Umständen muß ich wohl die Waffen strecken,“ lächelte Harald, der froh war, wieder seine geliebte Mirakulum rauchen zu können. „Ich will mich ganz kurz fassen. – In dem Inder, der die Tschikarra in das Räucherbecken tat, erkannte ich sofort einen verkleideten Europäer. Nachher fiel mir auf, daß Allan Murphison genau so schräg nach links den Kopf trug, wie ich dies bei dem Inder bemerkt hatte, als er davoneilte. In der Pension Robbin geschah dann das zweite Attentat auf Murphison. Dieser heuchelte hierbei eine Erregung, die umso unechter wirkte, als er alle Einzelheiten bei seiner Schilderung des Vorfalles wegließ. Auch Ihnen, lieber Greaper, hat er vorgeredet, er hätte vergessen, seine Zimmertür abzuschließen. – Die beiden Revolverkugeln saßen in der Türfüllung dicht nebeneinander, wie Sie mir mitteilten. Auch dies sah sehr nach künstlicher Mache aus. Wenn ich vom Bett aus auf einen flüchtenden Einbrecher feuere, der mir soeben einen Stich versetzt hat, dann[3] würde selbst ich nicht eine so ruhige Hand haben, beide Kugeln nahe beieinander in das Holz einer Türfüllung zu treiben. – Schließlich kam ich dann auch aus der Erzählung des Ehepaares Wilson über die früheren Attentate schnell auf den Gedanken, daß all diese Angriffe von Murphison ausgegangen wären. Es war nämlich bei den gegen ihn selbst versuchten Attentaten nie ein Zeuge dabei gewesen, während anderseits das Ehepaar stets nur in Abwesenheit Murphisons irgendwie belästigt wurde. – Dann erzählten Sie mir nachts auf der Straße von dem Tode des vielfachen Millionärs Murphison, dessen Jacht unweit des Hafens von Passani bei schwerem Südsturm scheiterte. Die Jacht sank an einer Riffreihe. Murphisons Leiche wurde an der Küste aufgefunden. Sie äußerten dabei, diese Geschwister Murphison seien wahrscheinlich die Kinder des Millionärs, da auch der alte Murphison in Manila daheim gewesen sei. – Nachher habe ich auf dem Schoner in zwei Kisten eine Taucherausrüstung entdeckt. Ich nehme nun an, daß die Wilsons und Murphison in aller Stille etwas aus dem Wrack herausholen wollen, was für sie von großem Werte ist. Es kann sich hierbei nicht um Kostbarkeiten handeln, sondern, wie ich aus einer Bemerkung Frau Wilsons schließe, um ein Testament. Sie sagte nämlich ganz beiläufig, daß ihr Bruder Allan mit ihrem Vater recht schlecht gestanden hätte und daß auch ihr Verhältnis zu ihm kein besonders herzliches gewesen sei. Als sie dies so hinsprach, warf Murphison ihr einen warnenden Blick zu und runzelte ärgerlich die Stirn. Ob ich mit meiner Vermutung recht habe, wird sich ja sehr bald herausstellen. Wir werden dem Schoner weiter heimlich folgen und hoffentlich das verhüten, was Murphison plant. Er spielt eben ein doppeltes Spiel. Ich behaupte, daß auch andere Verwandte Murphisons noch nach diesem Testament suchen wollen. Aber – das wird sich ja alles in kurzem zeigen. – Gehen wir jetzt zu Bett –“
Zwei Tage später. – Gegen Mitternacht hatte der Schoner sein größtes Boot zu Wasser gebracht, und darin waren drei Leute auf ein paar kleine Felseninseln zugerudert, die der Bai von Passani vorgelagert sind.
Unser Kutter steuerte in großem Bogen dieselben Inseln an. Die Strandungsstelle der Jacht lag nach Süden an einer Riffreihe, die etwa hundert Meter von der südlichsten Insel entfernt war. Wir gelangten unbemerkt in eine von hohen Felsen umgebene Bucht, machten den Motorkutter fest und schlichen dann mit Greaper nach dem Südufer hinüber.
Das Boot des Schoners war leicht zu finden. Es lag auf der Südseite in einer ähnlichen Bucht.
Die drei Insassen waren an Land gegangen und hatten ein Feuer angezündet. Wir konnten ganz dicht, gedeckt durch Gestrüpp, an sie heranschleichen. Es waren Murphison und zwei Matrosen des Schoners. Einer der Leute, ein Inder, schlief. Der andere, ein Chinese, unterhielt sich mit Allan Murphison. Über dem Feuer stand ein Kessel.
„Ich kann mir gar nicht denken, daß Ming Bana von selbst über Bord gestürzt sein soll,“ sagte der schlitzäugige Matrose jetzt in beinahe gereiztem Ton. „Er liebte den Rum nicht, und wir hatten in jener Nacht schwachen Wind.“
Allan Murphison hatte eine Zigarre im Mundwinkel und zuckte gleichmütig die Achseln.
Harald, der zwischen Greaper und mir in den Sträuchern lag, flüsterte:
„Murphison hat Ming Bana auf dem Gewissen. Und der Matrose ist argwöhnisch. Vielleicht hatte Ming Bana ihn eingeweiht.“
Der Matrose blickte den Amerikaner starr an.
„Master, vielleicht hat man Ming Bana auch beseitigt,“ sagte er ebenso laut.
Murphison nahm die Zigarre aus dem Munde und gähnte.
„Wer sollte wohl ein Interesse daran gehabt haben, ihn verschwinden zu lassen?“ meinte er gleichmütig. Und fügte sofort hinzu: „Sobald der Morgen graut, beginnen wir. Ihr beide müßt erst die Luftpumpe bedienen lernen. – Mache jetzt den Tee fertig. Ich werde die Pumpe zusammensetzen.“
Er stand auf und ging zum Boote hinab. Der Chinese schaute ihm mit merkwürdigem Gesichtsausdruck nach. –
Eine halbe Stunde später zeigte sich im Osten der erste fahle Schein des heraufziehenden Tages.
Wir blieben ruhig in unserem Versteck. Greaper hatte ein Fernglas mit, und so konnten wir auch später alles genau verfolgen, als die drei mit dem Boote nach den Riffen hinausruderten. Wir sahen, wie das Boot verankert wurde, wie Murphison den Taucheranzug anlegte, wie die Matrosen den Helm festschraubten und wie dann erst in dem flachen Wasser nach der Landseite hin ein paar Tauchversuche gemacht wurden.
Jetzt verschwand Murphison abermals im Wasser. Der Inder und der Chinese drückten gleichmäßig die Hebel der Luftpumpe herunter. Ihre Gestalten zeichneten sich gegen die im Morgensonnenschein gleißende Wasserfläche scharf ab.
Zehn Minuten vergingen. Dann tauchte der Amerikaner wieder auf.
Und – er reichte dem Chinesen jetzt einen länglichen Gegenstand, der im Sonnenlichte funkelte. –
Ich habe dieses unser Abenteuer „Die Büchse der Pandora“ betitelt. Pandora war bekanntlich in der griechischen Sage ein verführerisches Weib, das die Götter auf die Erde sandten, um die Menschen dafür zu strafen, weil sie von Prometheus das Feuer angenommen hatten, welches dieser aus dem Olymp stahl. Zeus gab der Pandora (zu deutsch „der Vielbeschenkten“) eine Büchse mit, in der alle Übel eingeschlossen waren. Prometheus öffnete sie aus Neugier, und sämtliche Übel flatterten heraus. Von diesem Augenblick an hörte der Zustand der Glückseligkeit für die Menschheit auf. –
Der Leser wird sofort erkennen, aus welchem Grunde ich gerade diesen etwas anspruchsvollen Titel gewählt habe. –
Die beiden Matrosen ruderten das Boot wieder in die kleine Bucht zurück. Murphison saß am Steuer und hatte das funkelnde Etwas im Schoße liegen.
Das Boot kam näher und näher. Wir sahen nun, daß der Gegenstand, den Murphison aus dem Wrack herausgeholt hatte, ein Kelch mit einem Deckel war.
Der Amerikaner sprang an Land. – „Wartet auf mich,“ rief er den beiden Matrosen zu. Dann kam er gerade auf unser Versteck zu. Den Kelch, der offenbar aus Gold bestand, hatte er in der linken Hand.
Nun durchschritt er eine Lücke in den Sträuchern.
Er war unser! – Harald trat ihm in den Weg. Greaper schlich von hinten an ihn heran.
Murphison stand wie versteinert und stierte Harald an. Sein Gesicht war aschfahl geworden.
Harst sagte kalt: „Sie haben das Spiel verloren, Master Murphison. Mein Name ist Harst –“
In demselben Augenblick riß Greaper dem Amerikaner den Kelch aus der Hand, legte ihn schnell auf die Erde und packte Murphisons Handgelenke, um ihm Stahlfesseln anzulegen.
„Sie sind verhaftet!“ rief er. „Im Namen des Vizekönigs von Indien erkläre –“
Er kam nicht weiter. Wir drei hatten uns zu sehr auf unsere Überzahl verlassen und zu wenig mit Murphisons Körperkräften gerechnet.
Ein Ruck – und der Verbrecher war frei. Ein Satz und er hatte Harst überrannt und ihm gleichzeitig einen Boxhieb gegen die Herzgrube versetzt, daß Harald minutenlang ohnmächtig dalag.
Ich hatte im Nu die Clementpistole herausgerissen, feuerte auf den Flüchtling, traf jedoch nicht. Murphison verschwand zwischen den Felsen. –
Volle drei Tage suchten wir dann nach ihm. Auch die beiden Matrosen beteiligten sich dabei. Der Chinese war überzeugt, daß der Amerikaner Ming Bana beseitigt hatte. Er wollte sich um jeden Preis an Murphison rächen. – Alles Suchen blieb erfolglos. Schließlich gaben wir die Nachforschungen auf und fuhren mit dem Kutter nach Passani.
Der Schoner lag dort noch vor Anker. Das Ehepaar Wilson befand sich, bereits halb genesen, an Bord.
Greaper öffnete dann in ihrer Gegenwart den durch Gummiringe wasserdicht verschlossenen Kelch, dessen Deckel ein zierliches Kunstschloß besaß. – Der Kelch enthielt das Testament des alten Murphison. Er hatten seine beiden Kinder Allan und Alix zu gleichen Teilen zu seinen alleinigen Erben eingesetzt. An seinen Bruder Howard Murphison fiel nur ein Legat von einer Million. Das Barvermögen des Erblassers betrug allein 26 Millionen.
Frau Alix weinte, als Greaper die Urkunde verlesen hatte. Sie erklärte dann folgendes zu Protokoll:
Das Ehepaar und Allan hatten gewußt, daß der goldene Kelch mit dem Testament in einem geheimen Wandfach des Salons der Jacht lag. Allan war nach dem vor sieben Monaten erfolgten Scheitern der Jacht heimlich nach Passani gefahren und hatte die Liegestelle und das Wrack selbst daraufhin untersucht, ob man mit einem Taucheranzug hinabsteigen könne. Inzwischen hatte sich Howard Murphison bei dem Gericht in Manila als Erbe gemeldet und sich darauf berufen, daß sein verstorbener Bruder ihm seiner Zeit mitgeteilt hätte, er habe seine Kinder enterbt und ihn zum Universalerben eingesetzt. – Allan wußte nun die Wilsons dazu zu bestimmen, gemeinsam den Kelch mit dem Testament zu heben. Es ereigneten sich dann auf der Reise die verschiedenen Attentate, über deren wahre Bedeutung Harst nun dem Ehepaare Aufschluß gab.
„Sie gingen sämtlich von Allan aus,“ sagte er in seiner bestimmten Art. „Allan hatte dabei folgendes im Auge. Einmal wollte er Ihnen gegenüber, Mistreß Wilson, den ehrlichen, wohlmeinenden Bruder spielen, und dies eben für den Fall, daß er irgendwie der Erbschaft verlustig ginge. Dann aber suchte er Ihnen beiden anderseits wieder das ganze Unternehmen durch die scheinbar von seiten Ihres Onkels Howard ausgehenden Attentate derart zu verleiden, daß Sie die Reise aufgeben sollten. Er wollte eben allein und als erster Einsicht in das Testament nehmen. Wäre dieses Testament zu seinen Ungunsten abgefaßt gewesen, dann hätte er es verschwinden lassen und behauptet, der Kelch wäre leer gewesen. Er suchte sich also nach allen Seiten hin zu sichern.“
Frau Alix Wilson nickte und schluchzte in ihr Taschentuch hinein.
„Dieser goldene Kelch,“ fuhr Harald fort. „ist für Allan zu einer Pandora-Büchse geworden. Der Inhalt des Kelches trieb ihn zu Verbrechen. Und – alles war umsonst! Der Kelch brachte ihm nur Unheil. – Er verdient kein Mitleid. Er hat Sie, seine leibliche Schwester, wiederholt ernstester Lebensgefahr ausgesetzt. Er war es, der Ihnen auch auf dem Schoner jetzt ein Gift reichte, das choleraähnliche Erscheinungen hervorrief.“ –
Schon am folgenden Tage reiste das Ehepaar mit Greaper auf dem Motorkutter nach Bombay zurück. Sie blieben in Passani. Harald wollte als Tourist das noch wenig erforschte Belutschistan bereisen. So sagte er wenigstens zu Greaper und den Wilsons.
Wir standen am Hafenbollwerk und winkten dem Kutter nach. Greaper und Lady Broogs Taschentücher flatterten im Winde. Wir haben die Lady seitdem nicht wiedergesehen.
Dann hakte sich Harald in meinem Arm ein und meinte:
„So, mein Alter. Jetzt werden wir beide den Mörder Ming Banas suchen. Und wir werden ihn finden! Verlaß Dich darauf!“
„Wir werden ihn finden! Verlaß Dich darauf!“
Der Ton, in dem Harald dies gesagt hatte, entsprach ganz dem drohenden Inhalt der Sätze.
Ich schaute ihn überrascht an. „Dann hast Du auf der kleinen Felseninsel, wo Murphison uns entschlüpfte, doch eine Spur gefunden,“ meinte ich. „Du mußt sie gefunden haben! Wie könntest Du sonst wohl jetzt mit solcher Bestimmtheit erklären: wir werden ihn finden!“
„Gehen wir, mein Alter –“ – Er zog mich mit sich fort. „Eine Spur?“ flüsterte er. „Nein, das wohl nicht. Aber – ein Geheimnis! Und vielleicht, nein, nicht vielleicht, – bestimmt hängt dieses mit dem doch gewiß rätselhaften Verschwinden Murphisons zusammen. Du besinnst Dich! Daß ich mich am zweiten Tage, als wir jeden Stein auf der Insel sozusagen umkehrten, abends gegen acht Uhr nochmals von unserem Lagerplatz entfernte.“
„Ja – Du hattest Dein goldenes Zigarettenetui verloren. Wir wollten Dir suchen helfen. Du lehntest jede Begleitung ab.“
„Stimmt. Es war noch ganz hell. Die Sonne war soeben untergegangen. Ich holte mir das Zigarettenetui und fand meine Annahme bestätigt.“
„Du holtest es? Holen tut man nur etwas, dessen –“
„– ganz recht – dessen Lage uns bekannt ist. – So war es auch. – Murphison ist wie ich leidenschaftlicher Zigarettenraucher. Darauf spekulierte ich. Ich hatte das Etui, gefüllt mit neun Mirakulum, auf einen flachen Felsblock in jener kraterähnlichen Vertiefung auf dem höchsten Punkte der Insel beim Bücken fallen lassen, ganz so, als ob ich’s zufällig verlor. Ich legte es also nicht hin. Nein, ich sagte mir, daß ich doch vielleicht beobachtet werden könnte. Ich war eben vorsichtig. Murphison konnte ja in der Nähe sein.“
„Ich verstehe: nachher waren in dem Etui nicht mehr neun, sondern –“
„– nur fünf Zigaretten!“ ergänzte Harald. „Meine bescheidene Spekulation auf Murphisons Zigarettenhunger war also geglückt. Ich weiß jetzt, daß die Insel ein Geheimnis enthält: eben ein so tadelloses Versteck, daß selbst wir beide es nicht fanden – bisher nicht fanden! – Ich habe natürlich damals abends das Etui nicht „geholt“, sondern scheinbar sehr eifrig gesucht. Murphison ist kein Dummkopf. Man muß ihm gegenüber sehr schlau sein. Hätte ich es nur geholt, so würde er noch nachher die Falle gemerkt und sich danach gerichtet haben. So aber hoffe ich, daß er nicht auskneift, sondern vorläufig in seinem Schlupfwinkel bleibt.“
Ich überlegte mir diese gewiß recht interessanten Mitteilungen nach allen Seiten hin und fand auch einige Punkte heraus, die mir unklar waren.
Wir bogen gerade in die nach unserem bescheidenen Hotel führende Straße ein, als ich Harst fragte:
„Weshalb „verlorst“ Du das Etui denn gerade in jenem Krater, also an einer Stelle, die ihrer ganzen Beschaffenheit nach dem Flüchtling kaum als Versteck dienen konnte und wo somit wenig Aussicht vorhanden war, daß er das Etui bemerkte?“
Harald blies den Rauch seiner Mirakulum stoßweise in die Luft und erwiderte dann:
„Ich habe diese Frage erwartet. Ich werde sie Dir aber erst an Ort und Stelle beantworten.“
„Nun gut. Dann etwas anderes: weshalb verschwiegst Du Greaper dies alles? Weshalb hast Du nicht sofort auf der Insel mit Nachforschungen in dieser Richtung begonnen?“
„Ja – sieh mal, die Sache ist so, lieber Alter. Ich ließ das Etui gegen sechs Uhr nachmittags aus der Tasche gleiten. Und als ich darauf die Kraterwand erklettert und so einen weiten Überblick über das Meer gewonnen hatte, da erspähte ich mit meinen guten Augen in der Ferne etwas, das mir mit einer zweiten, fast gleichzeitigen Beobachtung in Verbindung zu stehen schien. Ich setzte natürlich meinen Weg ruhig fort und tat so, als hätte ich nur für die Möwen Interesse, die die östliche Steilküste des Inselchens umschwärmten, prüfte aber das Geschaute sofort im Geiste und gelangte zu der Überzeugung, daß das Geheimnis des kleinen Felseneilandes weit bedeutungsvoller sein müßte, als ich dies zuerst angenommen hatte. Und – Rätsel von Bedeutung, mein Alter, das weißt Du, löse ich am liebsten allein mit Dir, also ohne polizeiliche Hilfe. Greaper ist ja ein sehr netter Mensch. Aber – diese Herren packen immer gleich zu grob zu! Sie verderben einem leicht die ganze Freude an einem schönen Problem. – Ah – das ist ja der Chinese Tscho Maki, der Matrose von dem Schoner des Holländers, der Freund des doch offenbar von Murphison beseitigten Ming Bana –“
Tscho Maki war ein kleiner, stämmiger Bursche von etwa 25 Jahren und hatte fraglos für Harst eine große Vorliebe gefaßt. Er stand vor dem Eingang des Hotels und hatte uns jetzt kaum erblickt, als er auch schon eiligst auf uns zukam.
Er riß den zerlöcherten Strohhut vom Kopf, dienerte und sagte leicht verlegen:
„Oh, Master Harst, Kapitän Duisport (das war der Besitzer des Schoners „Maria Van-Hellen“) haben armen Tscho Maki rausgeschmeißt. Weiß nicht, weshalb, Master Harst. Ich jetzt hier in Passani sitzen ohne Geld. Können Master Harst nicht brauchen treuen Diener? Tscho Maki alles verstehen: Kochen, Waschen, Schießen, – viel mehr noch!“
Harald blickte den Gelben prüfend an. Dann sagte er:
„Komm’ mit ins Hotel.“
Wir gingen auf unsere Zimmer. In dem sogenannten Salon setzten wir uns an den Tisch und Harst winkte dem Chinesen ganz dicht heranzutreten.
„Tscho, ich will’s mit Dir versuchen,“ meinte er leise. „Du darfst aber niemandem erzählen, daß Du jetzt unser Diener bist. Hier hast Du 200 Rupien. Kaufe dafür ein Segelboot und besorge Proviant für drei Tage. Außerdem kleide Dich neu ein. Es ist jetzt zehn Uhr vormittags. Um elf Uhr abends erwartest Du uns außerhalb des Hafens mit dem Boote am Strande nach Osten zu. Ich habe dort einen kleinen, weißen Bungalow bemerkt, zu dem eine Anlegebrücke gehört.“
Tscho nickte eifrig. „Habe Bungalow auch gesehen, Master Harst. Oh – ich werde sein sehr viel treuer Diener, Master Harst. Tscho sein schlau. Tscho werden Boot kaufen, daß niemand dies merken –“
Die Freude des gelben Burschen war beinahe rührend und fraglos echt. – Als er gegangen, meinte Harald:
„Ich denke, wir haben mit Tscho einen guten Griff getan. Ich verstehe diese schlitzäugigen Halunken zu behandeln. Denn – Halunken sind es! Ohne Tadel ist keiner.“
Er wollte noch mehr hinzufügen. Es klopfte jedoch, und der Zimmerkellner meldete uns den Polizeidirektor John Haberland, dessen Bekanntschaft wir bereits vorgestern gemacht hatten.
Haberland war geborener Deutscher und hatte es als um die Ecke gegangener Offizier im englischen Kolonialdienst bis zum Polizeidirektor gebracht, war jetzt an die sechzig Jahre alt und natürlich Stockengländer geworden, wenn er auch an seinem deutschen Vaterlande noch immer mit großer Liebe hing.
„Morgen allerseits,“ begrüßte er uns in unserer Muttersprache.
„Eine ganz verfluchte Geschichte, Landsmann,“ wandte er sich an Harald. „Denken Sie, man hat vor drei Stunden draußen vor der Stadt in einem Dattelwäldchen den hier gut bekannten persischen Händler Mirza Karam halbtot und völlig ausgeplündert aufgefunden. Sein Pferd lag erschossen neben ihm. Mirza Karam ist Edelsteinhändler. Er beklagt den Verlust von Smaragden im Werte von 60 000 Rupien. Hm – würden Sie sich nicht mal so etwas um die Geschichte kümmern, lieber Herr Harst? Sie verstehen von dem Kram doch mehr als ich. Seit zehn Jahren ist etwas derartiges hier nicht mehr vorgefallen. Der Perser liegt jetzt im Polizeilazarett. Unser Doktor Pennword meint, die Verletzungen seien nicht gefährlich. Nur viel Blut hat der arme Teufel verloren. Jedenfalls ist er vernehmungsfähig. Mein Wagen wartet unten. Wollen Sie nicht –“
Harald stand schon auf. „Gern, Landsmann, gern. Abends reisen wir zwar ins Innere ab, aber – ich will Ihnen zu Liebe alles versuchen, was sich irgend tun läßt.“
Gleich darauf betraten wir ein kleines Zimmer des Lazaretts und standen am Krankenlager Mirza Karams.
Mirza Karam mochte vierzig Jahre alt sein. Sein gelbbraunes Gesicht war zum Teil durch einen Verband verhüllt. Der schwarze, herabhängende Schnurrbart, die dunklen, großen Augen und die schwammigen Wangen kennzeichneten ihn als reinblütigen Perser.
Wir setzten uns neben das Bett auf Stühle. Dann begann der Perser über sein Mißgeschick zu berichten. Er beherrschte das Englische fehlerfrei, und die Art, wie er uns den Überfall schilderte, bewies, daß er seine Gedanken logisch zu ordnen verstand.
Er war gestern in aller Frühe von Sami, einer Stadt im Innern, fortgeritten. Er hatte damit gerechnet, bei Dunkelwerden Passani zu erreichen. Sein Pferd begann jedoch auf dem halben Wege zu lahmen, und so gelangte er erst nach Mitternacht in die Nähe von Passani. Unweit eines Dattelpalmenhains waren plötzlich zwei vermummte Männer seinem Pferde in die Zügel gefallen. Er hatte seinem feurigen Hengst sofort die Sporen gegeben und überritt die Wegelagerer, die dann jedoch zweimal hinter ihm drein feuerten. Sein Pferd hatte mit wilden Sätzen noch gerade das Wäldchen erreichen können, wo es plötzlich zusammenbrach und ihn zu Boden schleuderte. Die beiden Banditen waren im Nu zur Stelle und schlugen auf den Wehrlosen mit Knütteln ein. Er verlor das Bewußtsein und kam erst gegen Morgen wieder zu sich, rief um Hilfe und lockte auch zwei Bauern herbei, die dann die Polizei benachrichtigten.
So ungefähr lautete Mirza Karams Bericht.
Harald stellte noch einige Fragen und erklärte dann, er wolle sich den Tatort einmal ansehen.
Während Haberland den Perser noch mit einigen gutgemeinten Worten über den Verlust der Edelsteine zu trösten suchte und ihm Hoffnung machte, daß die beiden Banditen entdeckt werden würden, war Harald an den am Fenster stehenden Tisch getreten und hatte die dort liegenden Sachen Mirza Karams flüchtig gemustert.
„Ich sehe, Sie führen stets gute Waffen bei sich,“ sagte er dann. „Diese zwei Repetierpistolen sind amerikanisches Fabrikat, nicht wahr?“
Der Perser hatte sich mit einem Ruck im Bett aufgerichtet und blickte nach Harald hin, der eine der Pistolen jetzt in der Hand hielt und den Patronenrahmen herausschnellen ließ.
„Vorsicht, Master,“ warnte Mirza Karam hastig. „Sie sind geladen. – Ja, die Waffen stammen aus Amerika.“
Harst nahm die zweite Pistole vom Tische auf.
„Ein sehr kleines Kaliber,“ meinte er. „Dafür auch zehn Patronen in jedem Rahmen –“ – Er legte die Waffe wieder hin und fügte hinzu:
„Gehen wir, Landsmann Haberland. – Auf Wiedersehen, Mirza Karam. Hier in Passani wird es ja nicht allzu viele dunkle Ehrenmänner geben, die als Täter für diesen Streich in Betracht kommen.“
Er nickte dem Perser zu, und wir verließen das Polizeilazarett. Vor der Tür sagte Harald dann zu John Haberland:
„Können Sie uns ein Auto besorgen? – Ich möchte nachher mal ein Stück nach Sami zu dem Weg entlangfahren, den Mirza Karam gestern geritten ist. Vielleicht sind ihm die beiden Kerle von einem Dorfe aus heimlich gefolgt.“
Haberland erklärte, er besitze selbst ein Auto.
„Dann lassen Sie es bitte sofort fahrbereit machen,“ meinte Harst. „Der Kutscher wird den Palmenhain wohl allein finden. Wir sind dann in kurzem vor Ihrer Wohnung, lieber Haberland.“
Der Polizeidirektor war viel zu erfreut über Haralds Hilfe, als daß er gemerkt hätte, was es mit dieser Bitte auf sich hatte.
Wir fuhren davon. Und Harald flüsterte mir zu:
„So, den wären wir los! Nun können wir in Ruhe nachprüfen, ob das tote Pferd uns so einiges zu verraten hat. Der eine Patronenrahmen Mirza Karams war ja schon recht vielversprechend.“
„Inwiefern?“
„Nun, weil an der obersten Patrone sich ein Blutfleck befand, der noch recht frisch war.“
Ich wußte aus diesen Andeutungen nichts zu machen und schwieg daher.
„Der Perser war blutig geschlagen,“ setzte Harst denn auch von selbst hinzu. „Und wenn er nun mit blutigem Finger vielleicht zwei neue Patronen in den Rahmen gesteckt hat, dann – dann –“
Ich begriff jetzt alles.
„Du meinst, der Perser hat den Überfall nur erfunden?“ fragte ich schnell.
„Ja, das meine ich. Ein Mensch, der so jäh im Bett hochfährt, wenn ich seine Pistolen erwähne, kann kein reines Gewissen haben. – Aber – wir werden ja das Pferd uns anschauen. Und dann weiß ich Bescheid, falls eben der Kopfschuß, der den Gaul niederstreckte, aus einer kleinkalibrigen Pistole kam.“ –
Passani ist nur ein elendes Nest. Wir waren denn auch in fünf Minuten an Ort und Stelle.
Zwei indische Polizisten bewachten den Kadaver. Eine Schar Kinder stand im Kreise herum.
Harald befahl den Beamten, die Kinder zu verjagen. So waren wir denn ein paar Minuten bei dem toten Tiere allein.
Der Kopfschuß saß dicht hinter dem Ohr. Eine zweite Kugel hatte den rechten Hinterfuß unterhalb des Kniegelenks getroffen.
Harald nahm einen trockenen, dünnen Ast und schob ihn in die Schädelwunde hinein. Dasselbe tat er bei der anderen Wunde. Hier hatte die Kugel den Fußknochen glatt durchschlagen.
„Sechs dreiviertel Millimeter – es stimmt!“ meinte Harst leise. „Außerdem, mein Alter: ob das Pferd mit diesem Schädelschuß noch von der Straße bis hierher galoppiert wäre?! Die Entfernung beträgt etwa 120 Meter. – Nein, das ist ausgeschlossen! Der Gaul wäre und ist auch mit dieser Kugel im Hirn nach höchstens zwei bis drei Sprüngen zusammengebrochen.“
Die Polizisten kehrten zurück. Nur zum Schein suchte Harald dann noch nach Fußspuren.
Merkwürdig genug: er fand auch auf einer sandigen Stelle nach der Straße zu die Fährte zweier Leute, die offenbar die landesüblichen Sandalen aus Pferdehaut getragen hatten. Die Spuren ließen sich sowohl bis zum Wege als auch bis zum Palmenhain hin verfolgen und waren noch recht frisch.
Noch merkwürdiger: dicht an der Straße lag neben diesen Fährten ein Uhrkettenanhänger in Gestalt einer aus rosa Koralle geschnittenen Möwe.
Harald betrachtete das künstlerisch hergestellte kleine Schmuckstück sehr eingehend, schüttelte den Kopf und meinte:
„Jetzt wird die Sache kompliziert. – Fahren wir zur Stadt zurück.“ –
Als wir Haberlands Arbeitszimmer betraten, rief uns der Riese von Polizeidirektor sofort entgegen: „Na – Erfolg gehabt, meine Herren?“
Harst zeigte ihm wortlos die Korallen-Möwe.
John Haberland riß die Augen auf.
„Hol’s der Henker,“ stammelte er, „das Ding hat bisher immer an Tim Forblays Uhrkette gebaumelt!“
Harald erzählte, wo wir die Koralle gefunden hatten.
„Dieser Tim Forblay ist ein Engländer, der hier eine kleine Plantage besitzt,“ erklärte Haberland dann. „Der Mensch lebt wie ein Nabob. Wo er das Geld her hat, weiß niemand. Aber – ein netter Kerl ist er! – Hm – sollte der etwa den Perser –?“
Er beendete den Satz nicht und schaute Harst fragend an.
„Schweigen Sie über diesen Fund,“ sagte Harald kurz. „Jetzt werden Schraut und ich mal Ihr Auto benutzen. Sie können uns inzwischen zwei Reitpferde besorgen. Legen Sie bitte das Geld aus. Wir verlassen Passani abends auf jeden Fall.“
Unser Chauffeur war ein Eurasier von sehr heller Hautfarbe (Eurasier, Mischling zwischen Europäer und Asiaten). Der Mann fuhr sehr sicher. Dicht hinter Passani türmt sich das Daram-Gebirge bis zu 1200 Meter Höhe auf.
Harst fragte den Eurasier, ob es noch vor der Paßhöhe des Gebirges ein größeres Dorf an der Straße gebe.
„Etwas von der Straße ab, Master,“ erklärte der Chauffeur. „Wir sind nicht mehr weit entfernt von Gadbi. So heißt der Ort. Soll ich dorthin fahren?“
„Ja. Und halte vor dem Hause des Dorfältesten an.“ –
Der Tuman-Amki (Dorfälteste) trat uns in den hier gebräuchlichen Kattunhosen, blauem Hemd und blauem Turban entgegen.
Wir stiegen aus, und Harald nahm den alten Mann, dessen Gesichtsschnitt schon stark an den mongolischen Typus erinnerte, bei Seite und fragte, ob man hier Pferde kaufen könne. – Belutschistan ist wegen seiner Pferdezucht berühmt.
Der Tuman-Amki nickte. Sein Englisch war miserabel, aber wenigstens verständlich. Er pries die Pferde seines Schwiegersohnes besonders an und führte uns dann auch zu diesem hin.
„Ein Perser hat mir die hiesigen Pferde empfohlen,“ sagte Harald beiläufig.
Ich merkte: er wollte feststellen, ob Mirza Karam hier seinen Braunen gekauft hatte.
Er konnte aber nur herausbringen, daß in der letzten Woche kein persischer Händler in Gadbi gewesen war. Daher wurde auch nichts aus dem Pferdekauf. –
Wir bestiegen nach diesem Mißerfolg das Auto wieder und kehrten um, hielten aber nun bei jedem noch so kleinen Dorfe an und spielten so dreimal aufs neue die Pferdekäufer. Erst bei einer nur aus sechs Gehöften bestehenden Siedlung unweit der Straße hatten wir Glück.
Zwar war es nicht ein Perser gewesen, der hier einen Braunen mit weißem Stirnfleck (und ein solches Pferd hatte Mirza Karam höchst eigenhändig erschossen!) gestern abend gekauft hatte, sondern ein Nharui, also ein Angehöriger eines der unbotmäßigsten Belutschenstämme.
Harald war zufrieden. – Wir trafen gegen drei Uhr nachmittags wieder in Passani ein.
Haberland erwartete uns mit einem Mittagessen von fünf Gängen und zwei wirklich tadellosen Reitpferden. Von dem Nharui, der den Braunen erstanden hatte, erfuhr er nichts. Harald sagte ihm nur, als Täter käme doch wohl lediglich Tim Forblay und ein zweiter hiesiger Mann in Betracht, und er könne ihm nur raten, Forblay beobachten zu lassen, dann würde er schon weitere Beweise finden, die zu einer Verhaftung genügen würden.
Der dicke Haberland nahm dies als bare Münze hin, wurde dann bei Tisch sehr fidel und stellte uns ein Empfehlungsschreiben für die übrigen Polizeistationen des Landes aus.
Um ½10 abends verließen wir dann Passani zu Pferde. Unsere Koffer wollte Haberland in Verwahrung nehmen. Wir hatten das Nötigste in die Satteltaschen eingepackt. Der gute John dankte uns wortreich und winkte uns noch lange nach.
Als wir die Vorberge erreicht hatten, bogen wir bei völliger Dunkelheit von der Straße ab und hielten auf ein einzelnes Gehöft zu, wo wir die Pferde dem gerissenen Belutschen für einen Spottpreis verkauften und ihn nur bei Mohammed schwören ließen (die Belutschen sind mit wenigen Ausnahmen Mohammedaner), daß er von diesem guten Geschäft keiner Menschenseele etwas mitteile.
Mit zwei Bündeln auf dem Rücken schritten wir dann wieder in die Nacht hinaus.
Tim Forblays Plantage sollte nach der Beschreibung Haberlands im Osten der Stadt liegen. Wir fanden sie auch und wurden zu unserer Überraschung gewahr, daß der kleine weiße Bungalow, an dessen Landungsbrücke wir Tscho Maki mit dem Boote hinbestellt hatten, das Wohnhaus der Plantage sein mußte.
Der Bungalow lag etwa 300 Meter von der felsigen Küste entfernt. Der Garten war sehr verwildert. Wir legten unsere Bündel an der halb verfallenen Steinmauer ab und schlichen auf das weiße Haus zu.
Ich war über Haralds Absichten völlig im unklaren. Er hatte mir bisher mit keiner Silbe über sein wirklich auffälliges Interesse für den Perser Aufklärung gegeben. Er machte es eben wie stets: ich mußte wie ein Blinder neben ihm hertappen! –
Der Bungalow hatte nach dem Meere zu eine überdachte große Veranda, die hier jedoch nicht auf Pfählen ruhte, sondern untermauert war. Hohl und gespenstisch grinste das Haus durch die Bäume hindurch. Alle Fenster waren dunkel.
Wir glitten lautlos über den Vorplatz und erreichten die Verandatreppe, huschten die Stufen empor und krochen auf die Tür zu.
Dann hörten wir linker Hand Stimmen. Dort mußte ein Fenster geöffnet sein. Die Leute unterhielten sich scheinbar im Dunkeln.
Wir krochen auf allen Vieren auf den Dielen der Veranda entlang.
Jetzt befanden wir uns genau unter dem Fenster. Wir vernahmen deutlich einzelne Worte. Es schienen zwei Männer zu sein, die jedoch eine mir unbekannte Sprache benutzten.
Plötzlich ertönte vom Vorplatze her der schrille Schrei einer Möwe.
Harst drückte meinen Arm. – „Achtung!“ flüsterte er.
Die Männer drinnen waren verstummt. Noch zweimal erklang der heisere Vogelruf. Dann –
Der Fußboden unter uns gab nach, und wir sausten in die Tiefe!
Aber – wir fielen weich! Maisstrohbündel waren’s, die den Sturz ungefährlich machten.
Im Nu waren wir wieder auf den Beinen. Und doch nicht schnell genug!
Eine breite, weiße Lichtbahn sprang aus der Finsternis auf, hüllte uns ein und blendete uns. Gleichzeitig warfen sich sechs Leute auf uns und rangen uns nieder. Es waren große, stämmige Belutschen, Kerle von einer Körperkraft, gegen die nicht aufzukommen war.
Die Sechs sprachen kein Wort. Nachdem sie uns mit Riemen gebunden hatten, schleppten sie uns durch eine Tür in einen kleinen Keller und banden uns hier aufrecht an einen einzelnen dicken Pfosten Rücken an Rücken fest. Dann fiel die eiserne Tür dröhnend zu. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Wir waren allein und in völliger Finsternis.
Zwei – drei Minuten nichts. Ich atmete keuchend vor Aufregung. Die Riemen an den Handgelenken waren brutal fest zugezogen.
Dann – Haralds Stimme wie ein Hauch:
„Keine Sorge – wir werden sehr bald frei sein!“
War das sein Ernst?! Frei sein?! – Dann kam mir die Erleuchtung. Ich besann mich, daß Harst aus unserem Requisitenkoffer noch allerlei zu sich gesteckt hatte, als ich mit Haberland am Fenster stand. Ohne Zweifel: er hatte mit diesem Zwischenfall gerechnet! Und – er war darauf vorbereitet! Das heißt, er hatte wie schon früher ein paarmal ein kleines Messer in der Rückennaht seiner Jacke so versteckt, daß er es selbst mit gefesselten Händen herausziehen konnte! –
Ich wartete. Ich hörte, wie Harst sich bewegte, wie er an den Riemen zerrte. Dann Stille. Und nun ein feiner, dünner Lichtstrahl.
Harald stand vor mir, in der Linken die Taschenlampe, die er halb mit den Fingern bedeckte, in der Rechten sein Dolchmesser.
Meine Riemen waren sehr bald durchschnitten. Ich rieb mir die Handgelenke.
„So, nun die Tür!“ flüsterte er und holte aus dem Futter seiner Jacke eine kleine zusammenlegbare Stahlsäge hervor. – Ich mußte ihm leuchten. Die Eisentür war nur dünn. Man sah an den Nieten genau, wo der Riegel saß.
Harst hatte in zehn Minuten ein längliches, kleines Loch unterhalb des Riegels herausgesägt. Die Spitze seines Dolchmessers schob dann den Riegel Stück für Stück zurück. –
Wir waren frei. Die Tür stand offen. Wir schlüpften in denselben Raum, in dem wir auf dem Maisstroh gelandet waren. Harald leuchtete die Holzdecke ab. Aber die Falltür dort oben lag drei Meter über uns. Sie hätte sich ohne Geräusch und ohne Zeitverlust kaum öffnen lassen. In der Außenwand jedoch bemerkten wir Luftlöcher, die nur schwach vergittert waren. Eines der Gitter wurde herausgesägt. Die Öffnung war gerade groß genug, selbst mich hindurchzulassen.
Im Schatten der Mauer krochen wir bis zu den ersten Büschen, suchten dann unsere Bündel und liefen zum Strande hinab.
Ah – wir atmeten auf! Tscho Maki mit dem Boote war noch da.
Wir stiegen ein, stießen ab. Der Wind kam von Westen. Das Großsegel flog hoch, und das Boot schoß davon.
„So,“ sagte Harst, der am Steuer saß. „Nun wissen wir schon recht viel. Alles weitere wird uns die kleine Insel offenbaren.“
„Master Harst,“ meinte Tscho ganz aufgeregt und zappelig vor Freude, „oh – ich schon gedacht haben, Sie werden nicht mehr kommen. Und ich doch kaufen so schöne Boot und so viele Sachen zu essen und trinken. Geld alles futsch, Master Harst, – alles!“
„So, so,“ meinte Harald. „Hör mal, mein gelber Jung, Du schwindelst, schätz’ ich. Dieses Boot ist alles andere als schön und dürfte keine 100 Rupien gekostet haben.“
Tscho Maki schwor, er hätte dafür 150 Rupien bezahlen müssen. Er schwor mit solchem Eifer, daß dies schon sein schlechtes Gewissen verriet.
„Na, nun kennen wir unseres Dieners Schwäche, werden ihm scharf auf die Finger sehen müssen.“ –
Der Himmel war leicht bewölkt. Die See ging ziemlich hoch. Aber Tscho Maki verstand wirklich tadellos, mit den Segeln umzugehen. Wir bekamen nur ein paar Spritzer über Bord und liefen gegen drei Uhr morgens in jene Bucht des Felseneilandes ein, in der wir schon damals mit dem Motorkutter gelegen hatten.
Es war noch ganz dunkel. Wir ließen das Boot voll Wasser laufen, beschwerten es mit ein paar Steinen und versenkten es an einer flachen Stelle. Die Segel und die vier Ruder, ebenso Mast und Steuer verbargen wir im Gestrüpp.
Der Chinese mußte den Proviantsack auf den Rücken nehmen. Wir beluden uns mit unseren Bündeln, und Harald machte dann den Führer.
Langsam und geräuschlos schlichen wir weiter und gelangten an den Rand der kraterähnlichen Vertiefung, die einen Durchmesser von etwa neunzig Meter hatte. Wir fanden dann auch zwischen zwei Felsblöcken ein leidliches Versteck, welches Harald noch verbesserte, indem er ein paar große Distelstauden dicht über der Wurzel abschnitt und in den Ritzen des Steinbodens so einklemmte, daß die beiden Ausgänge unseres engen Schlupfwinkels nun genügend gegen neugierige Blicke geschützt waren.
Harald riet mir und Tscho, uns zum Schlafe auszustrecken. Der Chinese ließ sich dies nicht zweimal sagen.
Ich dachte nicht an Schlaf. Ich war viel zu gespannt darauf, was sich hier nun ereignen würde.
Harst und ich saßen nebeneinander mit dem Rücken an den einen Fels gelehnt. Er rauchte eine Zigarette, während ich aus dem Proviantsack mir ein Hirsebrot herausholte und große Stücke davon verschlang. Ganz unvermittelt flüsterte Harald dann:
„Du bist diesmal so wenig neugierig, daß Du dafür belohnt werden mußt, mein Alter. Ich will Dir also berichten, wie die Aktien hier stehen. Und – sie stehen gut für uns und schlecht für die Gegenpartei. – Höre also: – Zunächst das, was ich damals hier beobachtete. Zweierlei war es: erstens sah ich von der Höhe des Kraterrandes aus einen kleinen Küstendampfer, der hier die Eilande anlaufen wollte. Und kaum hatte ich ihn erspäht, als dort drüben, wo der Kraterrand sich zu einem steilen Felskegel auftürmt, auf dem zwei armselige Palmen gen Himmel ragen, plötzlich – na, nun rate mal –“
„– plötzlich Murphison sichtbar wurde,“ ergänzte ich. „Daß er irgendwo in der Nähe steckte, hatte Dir das zum Teil geplünderte Zigarettenetui bewiesen.“
„Falsch geraten! Ganz falsch. Nein, Freundchen, – es hatte sich ein Naturwunder ereignet. Ja: mit einem Male standen da oben nicht zwei, sondern drei Palmenbäume, nur daß der neu gewachsene – Kunst war, und nicht Natur. – Ja, als ich dieses Wunder bemerkt hatte, schaute ich schnell wieder weg und pfiff vergnügt einen Walzer. Und nachher habe ich festgestellt, daß der kleine Dampfer plötzlich seinen Kurs geändert hatte und der Küste zusteuerte. – Was meinst Du: ob wohl dieser künstliche Palmenbaum ein Signal für den Dampfer war, daß die Luft nicht rein sei und daß er daher verduften möge? Ich glaube, es ist so. Denn – die dritte Palme war nur etwa fünf Minuten als Naturwunder anzustaunen. Dann – versank sie blitzschnell.“
„Natürlich ein Signal!“ meinte ich. „Aber – wir haben doch versucht, den Felskegel zu erklimmen. Es war unmöglich. Und doch muß Murphison dort oben verborgen gewesen sein.“
„Ja – er und vielleicht noch ein paar Leute. – Lieber Alter, dies Abenteuer ist eine ganz große Sache mit einer Menge von Mitspielern und nur drei Gegenspielern, nämlich uns und Tscho. Und Mirza Karam spielt auch mit, aber bei der feindlichen Partei.“
Er nahm eine frische Zigarette.
„Weshalb hat der Perser den Überfall vorgetäuscht,“ fuhr er dann fort. „Ich behaupte, um uns auf die Veranda von Tim Forblays Bungalow zu locken! – Überlege Dir mal folgendes. Dieses Inselchen wird von dunklen Ehrenmännern zu dunklen Zwecken gebraucht. Schmuggler können es nicht sein. Der Warenschmuggel lohnt hier an der Küste Belutschistans nicht. Nein, die Leute treiben andere Dinge. Was, – die Frage wollen wir noch offen lassen. Jedenfalls besitzen sie einen Dampfer, der hier des öfteren irgend etwas landet. Dieses Geschäft muß mit Gefahren verknüpft sein. Daher der falsche Palmenbaum als Signal: „Macht kehrt!“ – Wir befanden uns mit Greaper auf dieser Insel, und deshalb wurde dem Dampfer das Warnungszeichen gegeben. Er verschwindet. Wir halten uns dann in Passani auf. Die dunklen Ehrenmänner kennen Harst: er wird sicherlich noch weiter nach Murphison suchen! – Und deshalb – er könnte ja sonst das Geheimnis dieser Insel entdecken! – Deshalb muß Mirza Karam die Komödie des Überfalls inszenieren. Die Leute kalkulieren dabei so: Harst wird fraglos von dem Polizeidirektor gebeten werden, nach den beiden Banditen zu suchen. Wir legen daher neben die Fährte einen Gegenstand, den Haberland sofort als Tim Forblay gehörig erkennen muß. Dann wird Harst diese Korallen-Möwe finden und nachts dem Bungalow Forblays einen Besuch abstatten, und dann fangen wir ihn und Schraut und lassen beide für immer verschwinden. – Und – die Leute kalkulierten auch ganz richtig, übersahen nur eins, daß ich all das vorausahnte und daher schneller wieder freikam, als die Herrschaften vermuten konnten. – Was Mirza Karam betrifft, so dürfte dieser Edelsteinhändler in Wahrheit mit ganz anderen Sachen handeln, die weniger harmlos sind. Er wird sehr wahrscheinlich sich auf dem Dampfer befunden haben, ist dann zu Forblay geeilt, wo beide Nachricht von unserer Anwesenheit hier erhielten, und nachher, als wir in Passani weilten, haben die Leute eben den Plan ausgeknobelt, uns stumm zu machen. Mirza ließ sich den Gaul durch einen Vertrauten besorgen, und dann kam der sogenannte Überfall. – Feine Sache, ohne Frage! Fein ersonnen, nur miserabel ausgeführt. Mirza knallte das Pferd nieder und ließ sich ein paar blutrünstige Stellen schlagen. Dann fiel ihm ein, daß er die beiden abgefeuerten Patronen ergänzen müsse. Er tat es mit blutigen Finger, – und ich – ich merkte den Braten!“
Er drückte den Zigarettenrest auf dem Boden aus und gähnte.
„So, mein Alter, nun wollen auch wir noch schlafen. Ich denke, vor heute abend wird sich nichts mehr ereignen. Gute Nacht!“
Der Mogel-Tscho schnarchte derart, daß Harald ihm schon wiederholt einen unsanften Rippenstoß gegeben hatte. Bevor Harst sich jetzt zum Schlafe ausstreckte, tat er es aufs neue, rüttelte ihn unsanft und befahl ihm, die Wache zu übernehmen.
„Wehe Dir, wenn Du etwa einnickst!“ drohte er ihm. „Ich will Dir nur sagen, daß es hier um das Leben geht. Also bleibe munter!“
Lange sollte ich jedoch diese Wohltat eines mir nach den letzten Erlebnissen sehr nötigen Schlafes nicht genießen.
Harst rüttelte mich wach, hielt mir aber gleichzeitig die Hand auf den Mund und flüsterte mir zu:
„Keinen Laut! Die Sache ist verdammt ernst, mein Alter!“
Diese Warnung genügte. Ich war im Nu munter, richtete mich auf und sah Harald neben mir knien, während Tscho aufrecht an jenem Ausgang unseres Versteckes stand, der nach der Mitte der muldenartigen Vertiefung zeigte.
„Wir sitzen hier jetzt in einer feinen Falle,“ flüsterte Harald weiter. „Wenn nicht gerade ein Wunder geschieht, sind wir verloren. Steh’ leise auf und schau durch die Distelstauden hindurch. Du wirst Augen machen!“
Ein Blick, – und ich fuhr unwillkürlich zurück.
In der Felsenmulde kaum dreißig Meter vor uns saßen und standen einige zwanzig Männer umher. Es waren zumeist Belutschen vom Stamme der Nharui, vier Perser und drei Europäer.
Letztere hatten die richtigen Galgenvisagen. Daß es Abenteurer waren, die vor nichts zurückschreckten, merkte man schon aus ihrer Bewaffnung.
Dann war noch ein vierter Weißer da. Ich traute meinen Augen kaum, als ich in diesem gefesselten, an einen hohen Stein gebundenen Menschen Allan Murphison erkannte.
Die übrigen bildeten vor ihm eine Art Halbkreis. Das ganze sah wie eine Gerichtssitzung aus.
Hinter mir flüsterte Harst:
„Sie lassen jetzt die ganze Insel durchsuchen. Im ganzen sind es 32 Mann. Eine unheimliche Bande, die uns gewiß nicht schonen wird.“
Da – draußen eine helle, energische Stimme, die dem längsten der drei weißen Abenteurer gehörte.
„Verdammt – fangen wir an,“ sagte er ärgerlich. „Es ist ja Blödsinn, was Tim Forblay uns melden ließ. Wenn diese beiden deutschen Schnüffler ihm ausgekniffen sind, so ist doch noch lange nicht anzunehmen, daß sie nun hier auf der Insel stecken. Ich glaube das nicht. – Wer ist dafür, daß wir beginnen?“
Fast alle erhoben den rechten Arm.
Nun wandte sich der lange Kerl, dessen Anzug eine gewisse Geckenhaftigkeit verriet, an Allan Murphison.
„Sie haben sich und uns da eine nette Suppe eingebrockt, Murphison,“ rief er in so schneidendem Tone, daß mir Murphison, obwohl er’s nicht verdiente, geradezu leid tat. „Als Sie vor vier Monaten hierher kamen, um das Wrack zu untersuchen, entdeckten Sie zufällig das Geheimnis dieser Insel und wir entdeckten Sie. Da Ihr Charakter einem Abenteuer größeren Stils, bei dem es noch etwas zu verdienen gab, nicht abgeneigt war, wurden Sie durch Handschlag einer der unseren. Sie gelobten unter anderem, Ihrerseits alles zu tun, um das Geheimnis der Möwen-Insel und somit auch das des Möwen-Bundes zu schützen. Sie haben uns dann zweimal sehr gute – hm ja – Waren geliefert. Leider verführte Sie nachher aber die Geldgier dazu, hier nochmals heimlich zu erscheinen, um das Testament aus dem Wrack herauszuholen. Dadurch lockten Sie auch Harst hierher. Dieser Deutsche, den ich bewundere, den ich trotzdem jedoch als höchst gefährlich niederknallen würde, ist Tim Forblay und Mirza Karam dann zwar ins Netz gegangen, sofort aber wieder ausgekniffen, – ein Vorfall, der auch für Tim einige Folgen nach sich ziehen wird. Er hatte von mir den ausdrücklichen Befehl erhalten, Harst und dessen Freund sofort stumm zu machen. Tim ist ein Waschlappen. Jedenfalls haben Sie, Allan Murphison, Ihr Gelöbnis grob verletzt. Sie kennen die Gesetze des Möwen-Bundes. Wir werden Sie jetzt richten. Ich stelle den Antrag auf Todesstrafe. Sollte dieser abgelehnt werden, so beantrage ich in zweiter Linie Kerkerhaft im Turme, bis unsere Sache erledigt ist. Eine Verteidigungsrede Ihrerseits ist überflüssig, da die Sie belastenden Tatsachen einwandfrei festgestellt sind. Ich verteile jetzt die weißen und schwarzen Kiesel. He, Madison, hilf mir dabei.“
Madison war einer der beiden anderen Europäer.
Dann ging der Ankläger die Steine einsammeln. In seinem Tropenhelm fand sich bei der Durchsicht nur ein einziger weißer Stein vor.
„Es tut mir leid, Murphison,“ erklärte der Sprecher darauf. „Aber – Ihr Schicksal ist besiegelt. – Verbindet ihm die Augen!“
Zwei stämmige Nharui sprangen zu. Murphison war leichenblaß. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht.
„Horace Welling, ich warne Sie!“ brüllte er. „Harst wird Sie alle –“
Da hatte ihm einer der Belutschen bereits ein Tuch in den Mund geschoben. Er zerrte verzweifelt an seinen Banden. Ein Zeugfetzen verhüllte ihm auch die Augen.
Sechs Nharui traten, die Revolver halb erhoben, zwei Schritt vor den Verurteilten hin.
Hinter mir stieß Harst leise hervor:
„Nein – das dürfen wir nicht dulden, wenn Murphison auch –“
Er kam nicht weiter.
Von der Höhe des Kraterrandes herab eine Stimme:
„He, Welling, die beiden Deutschen sind hier. Wir haben im Gestrüpp einen Mast nebst Segeln und anderes gefunden.“
Der lange Welling fluchte greulich.
„Wir werden sie finden. Jetzt aber Schluß hier –“
Und ehe Harald noch irgend etwas unternehmen konnte, knallten die sechs Revolverschüsse. Murphisons Körper sank in den Stricken schlaff zusammen.
„So – jetzt kommen wir heran!“ sagte Harst fast zischend. „Aber – wir werden unser Leben teuer genug verkaufen! Sie sollen sich wundern!“
Er drehte sich um. Er hatte die Lippen ganz fest zusammengekniffen. Sein Blick ruhte beinahe wehmütig auf meinem Gesicht.
„Mein Alter,“ flüsterte er auf deutsch, „diesmal werden wir beweisen müssen, daß wir zu sterben verstehen.“ – Dann wandte er sich an Tscho.
„Mein gelber Junge und Zigarettendieb –“
Tscho grinste verlegen. Harald hatte also nicht geschlafen.
„– Du sollst versuchen, Dein Leben zu retten. Die Kerle finden uns hier sicher. Also macht es nichts aus, wenn Du jetzt unser Versteck verläßt und zum Feinde übergehst. Vielleicht schonen sie Dich dann –“
Tscho grinste jetzt ganz anders.
„Master Harst spaßen,“ meinte er leise. „Tscho stehlen gern. Aber Tscho auch tapfer, sehr tapfer. Ich also bleiben hier.“
Harald streckte ihm die Hand hin.
„Boy, das vergesse ich Dir nicht! Leider werde ich’s aber bald vergessen müssen, weil wir eben in kurzem –“
Er beendete den Satz nicht.
Und nun – nun kam der Sieg des Genies über die Übermacht.
Er beendete den Satz nicht, weil sein Blick, der unwillkürlich bei diesen Gedanken an das bevorstehende Ende durch den Kanon, den unsere beiden Felsblöcke bildeten, empor zum Himmel geschweift war, in den Aushöhlungen des einen Steines drei Wildtaubennester entdeckt hatte, auf denen drei blaugraue Tiere brütend saßen.
Er schwieg, und seine Augen hafteten noch immer auf den Tierchen.
„Wenn man sie fangen könnte,“ murmelte er. Er hatte die englische Sprache bei diesen Worten benutzt, weil er soeben doch Tscho ebenfalls auf englisch angeredet hatte.
Tscho hatte den Satz verstanden. Er blickte ebenfalls nach oben. Die Felsblöcke waren etwa vier Meter lang und gut fünf Meter hoch, dabei sehr unregelmäßig geschichtet, hatten große Vorsprünge, tiefe Risse und kleine terrassenartige Einbuchtungen.
„Oh – ich kriegen die Tauben,“ flüsterte Tscho hastig. „Ich werden da hinaufklettern und von Seite Jacke über Tauben werfen. Tauben sitzen fest, wenn brüten –“
Und – es gelang wirklich. Die Felsen waren so breit, daß der Chinese von den Banditen nicht gesehen wurde.
Nun kam er schnell herab. Er hatte die Tierchen in seiner Jacke.
„Was hast Du eigentlich vor?“ fragte ich Harald.
Er schüttelte nur den Kopf, zog sein Taschenbuch hervor, riß drei Blätter aus und rollte sie zu kurzen Röhrchen zusammen.
Noch immer begriff ich nicht, was er beabsichtigte. Erst als er dann diese Röhrchen den Tauben an einem Faden um den Hals hing, dämmerte es mir so etwas. –
Draußen brüllte jetzt Horace Welling: „Es genügt, wenn vier Trupps zu je vier Mann die Insel absuchen. Für die anderen ist genug Arbeit da. Wir müssen die Kisten schleunigst in den Turm schaffen, damit die Möwe abdampfen kann –“ –
Harald hatte eine seiner Mirakulum, die stets von selbst weiter schwelten, zerschnitten und so drei kurze Stückchen erhalten.
„Es ist zwar eine Grausamkeit,“ meinte er, während er mit Tschos Hilfe die Zigarettenstückchen unter den Flügeln der Tauben festband. „Aber – es handelt sich um Menschenleben. Der Schmerz wird die Tiere pfeilschnell in die Ferne treiben.“
Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und setzte die Zigarettenstückchen in Brand. Dann nahm er die Tauben, die sich verzweifelt wehrten, unter die Jacke und – war mit ein paar Sätzen in dem Felsenkessel.
„Master Welling, – einen Augenblick!“ übertönte seine Stimme die des Anführers der Bande.
Laute Rufe draußen, – dann Stille.
„Sie sehen, ich lasse hier drei Brieftauben aufsteigen,“ fuhr Harst ebenso ruhig fort. „Ihnen dürfte bekannt sein, daß Polizeidirektor Haberland in Passani aus Sportinteresse Brieftauben hält. Er hat uns drei mitgegeben. Die Ankunft der Tiere –“ – er öffnete seine Jacke, und die Tauben schossen davon – „wird sofort bemerkt werden. Der Polizeidampfer liegt unter Dampf. Die Tauben sind für Haberland das Signal, daß er Sie hier abfangen kann. Ich gebe Ihnen den guten Rat, mit der Möwe nach Osten zu steuern und zwar sofort. Denn im Westen und Süden lauern zwei englische Marinekutter. Ich habe kein Interesse daran, daß man Sie gefangen nimmt. Es handelt sich hier um politische Dinge, und in Politik mische ich mich nur insoweit, als es sein muß. Ich wollte Murphison hier suchen, sonst nichts. Daß ich Ihr Geheimnis entdeckte, war nicht zu vermeiden. – Fliehen Sie, – der Weg nach Osten ist frei!“
Er drehte sich um und kehrte zu uns zurück. – Dann war aber auch seine Gelassenheit dahin. Er riß die Pistole aus der Tasche.
„Schmiegt Euch in die Vertiefungen, daß Ihr nicht getroffen werdet,“ rief er leise. „Vorwärts! Zögert nicht!“
Er stieß uns fast in die Ausbuchtungen der Felskolosse hinein. Er selbst warf sich lang hin, hob einen großen flachen Stein auf und benutzte ihn als Schutzschild.
Die lähmende Überraschung der Bande draußen fand jetzt in einem wilden Wutgebrüll ein Ende.
Schüsse knallten. Kugeln klatschten gegen die Felsen.
Dann schoß Harald hinter dem Stein hervor.
Neues Gebrüll. Bald eine einzelne Stimme – es war die Horace Wellings:
„Fort von hier! Unsere Möwe läuft nur acht Knoten! Der Polizeidampfer aber –“
Dann Stimmengewirr, das sich schnell entfernte.
Harald stand auf. Ein Lächeln spielte um seinen Mund.
„Ganz programmäßig, nicht wahr?!“ sagte er ironisch. „Die Kerle sollten ahnen, wie sie betrogen worden sind. Dreien habe ich noch einen Denkzettel ins Bein gegeben.“
Wir verließen vorsichtig unseren Schlupfwinkel, und Tscho kletterte rasch auf die Höhe des Kraterrandes hinauf, meldete dann:
„Sie gehen an Bord, die Halunken, Master Harst! Oh – verflucht eilig sie haben es! Oh – was sein diese Banditen dumm!“
Wir standen vor Murphisons Leiche. Die sechs Revolverkugeln saßen sämtlich in der Herzgegend.
Harald schnitt den Toten los. „Wir werden ihn nachher begraben,“ meinte er. „Ja – die Büchse der Pandora hat ihm nun wirklich den Tod gebracht.“ –
Der Dampfer der Möwen-Bande entfernte sich nach Osten zu. Schwarzer Qualm entquoll dem Schlote. Man merkte, wie die Kerle die Kessel heizten, um nur zu entkommen. –
„Möchtest Du mir jetzt nicht sagen, um welche Art von Geheimnis es sich hier handelt?“ bat ich Harst, als wir drei jetzt der Möwe nachschauten.
„Sagen?! Nein, sehen sollst Du! Diesmal werden wir den Zugang zu dem Felskegel schon finden, auf dem der künstliche Palmenbaum als Signal diente. Du hörtest doch, wie Welling von einem „Turme“ sprach, in den die Kisten geschafft werden sollten.“
Der enorme Steinklotz, der etwa die Gestalt eines abgestumpften Kegels hatte, besaß so glatte, steile Wände, daß es unmöglich schien, ihn ohne besondere Hilfsmittel zu ersteigen. Harald hatte jetzt aber sein Augenmerk auf eine andere Art Zugang gerichtet, nämlich von unten her, in Gestalt eines unterirdischen Ganges. Wie er diesen Gang fand und wie der zum Teil hohle Felskegel, offenbar der Krater eines früheren Vulkans, zu trockenen Lagerräumen hergerichtet war, das alles hat für den Schluß unseres Abenteuers kein besonderes Interesse. –
Und – was enthielt der Turm?! – Wir brachen ein halbes Dutzend der langen Kisten auf. Es waren nur Waffen darin: Gewehre, Revolver, Patronen, auseinandergenommene Schnellfeuergeschütze, Säbel und Dolche.
„Die Geschichte hier ist Millionen wert,“ meinte Harald. Dann wandte er sich an Tscho.
„Mein gelber Junge, wenn Du noch weiter bei uns Diener bleiben willst, so schwöre, daß Du von diesem Waffenversteck nichts verraten wirst, ebenso wenig etwas von den Vorgängen hier auf der Insel. – Wir werden jetzt Murphison begraben und dann nach Passani zurücksegeln. Dort werde ich Haberland gegenüber schon eine Ausrede wegen unserer Umkehr von dem Ritt in die Berge finden. Ich mische mich eben grundsätzlich nicht in politische Angelegenheiten. Und dieses Waffenlager ist Politik – Gewaltpolitik zur Losreißung irgendeines Teiles Belutschistans. Vielleicht wollte der Möwen-Bund gegen England vorgehen, vielleicht auch gegen den Khan von Kelat. Uns kann das gleichgültig sein.“ –
Mittags ein Uhr landeten wir in Passani. Landsmann Haberland freute sich so sehr über unsere Rückkehr, daß er gar nicht recht hinhörte, was Harald ihm über den Grund unseres abermaligen Erscheinens in Passani erzählte.
Nachmittags gingen wir beide allein in das Polizeilazarett zu Mirza Karam und konnten ihn auch ohne Zeugen sprechen. Harst hielt ihm den Betrug mit dem Überfall vor und teilte ihm mit, was sich auf der Insel vormittags abgespielt hatte.
„Ich werde nichts verraten, Mirza Karam,“ sagte er zum Schluß. „Tim Forblay hat sich ebenfalls in Sicherheit gebracht, wie Haberland uns berichtete, der ihn verhaften wollte. Der weiße Bungalow war leer. Verschwinden Sie hier baldigst, Mirza Karam. Man kann nicht wissen, ob Haberland nicht doch schließlich Argwohn gegen Sie schöpft.“
Der Perser bedankte sich für unsere Rücksichtnahme. „Vielleicht kann ich Ihnen einmal irgendwie meinen Dank abstatten, Master Harst,“ meinte er ernst. –
Wir haben ihn nicht wiedergesehen. Was aus dem Waffenlager auf der Möwen-Insel geworden ist, weiß ich nicht. –
Im nächsten Band will ich ein Erlebnis schildern, das überreich an merkwürdigen Einzelheiten war und das wie selten eines Harald Harst Gelegenheit zu geistiger Feinarbeit gab.
Der nächste Band:
Der Tintenlöscher des Sadi Ahmed.
Verlagswerbung:
Wie
benehme ich mich?
Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte
Von W. v. Neuhof
Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Anmerkungen: