Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 57:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Verantw. Redakteur: M. Lehmann, Berlin 26.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Die von Harald Harst gemietete Motorjacht Atlanta, Besitzer und Kapitän Banfy, lag im Hafen Ponta Delgada der Azoreninsel San Miguel vor Anker.
Es war gegen neun Uhr abends. Die Atlanta wiegte sich träge vor ihren Ankerketten. Oben an Deck spielte einer unserer englischen Matrosen Ziehharmonika. Durch die geöffneten Fenster des kleinen Salons der Jacht drang die erquickende Abendluft herein.
Wir drei – Harst, Banfy und ich, saßen um den Tisch herum. Über uns brannte die elektrische Krone mit ihren drei Birnen.
Wir lehnten behaglich in unseren Korbsesseln und rauchten. Vor Harald lag auf dem Tische das alte, abgegriffene Buch – das Tagebuch eines ehemaligen Piraten, wie wir bereits wußten. Es war in spanischer Sprache geschrieben. Aber in den Aufzeichnungen fand sich kein Name, nur immer die beiden Anfangsbuchstaben derjenigen Personen, mit denen der Korsar in seinem reichbewegten Leben zu tun gehabt hatte. Wie dieser Freibeuter hieß, war aus dem Tagebuch in keiner Weise zu ersehen. Jedenfalls hatte er das Haus in der Wildnis im Jahre 1798 als Hauptquartier für sich und seine Bande erbaut. –
„Fangen Sie an, Mr. Harst,“ gähnte Banfy, „Sie wollten uns doch die wichtigsten Stellen aus dem Buche ins Englische übersetzen und vorlesen. Ich brenne vor Neugier.“[1]
„Warten Sie ab, lieber Kapitän,“ unterbrach Harald ihn. „Ich beginne also – nur im Auszuge.“
Er hatte das in Leder gebundene Buch aufgeschlagen. Und er las:
„15. Dezember 1799.
Vor einem Jahr habe ich mir diesen Schlupfwinkel errichtet. Die nahe Bucht ist windgeschützt. Meine drei Schiffe haben dort Ruhe vor jedem Späherblick.
Es wird Zeit, daß ich meine Lebenserinnerungen niederzuschreiben beginne. Ich fühle, daß ich alt werde. Fünfundsiebzig Jahre, davon runde fünfzig stets auf See! Und dazu das wilde, nervenaufreibende Gewerbe eines Piraten!
Ja – mir war es wahrhaftig nicht an der Wiege gesungen, daß ich einst Freibeuter werden würde. Unser altes Geschlecht stirbt mit mir aus. Ich bin der letzte kastilianische Graf Om… – nein, Namen will ich hier weglassen.
Mein Vater war gleich nach meiner Geburt nach Brasilien ausgewandert. Unsere große Plantage bei Pe… warf reichen Gewinn ab. Ich wurde als einziges Kind sehr verwöhnt. Mein zügelloser Charakter bereitete meinen Eltern schon mit 13 Jahren ernste Sorgen. –
Aus Rache wurde ich mit fünfzehn Jahren zum Brandstifter. Unser Nachbar Don Se… hatte mir meinen Lieblingshund erschossen, weil dieser ihm ein paar Hühner erwürgt hatte. Die ganze Hazienda Don Se…’s ging in jener stürmischen Nacht in Flammen auf. Ich hatte nur die eine Scheune niederbrennen wollen.
In derselben Nacht floh ich auf meinem Pferde aus Entsetzen über meine Tat nach Pe…, wo ein Schiffskapitän mich aufnahm. So wurde ich Schiffsjunge eines Sklavenjägers; so begann meine Laufbahn.
Sechs Jahre blieb ich auf der Brigg Semiramis. Dann zettelte ich eine Verschwörung an und machte mich selbst zum Herrn des Schiffes.
Ich wurde Korsar.
Ich fing die Sache sehr schlau an. Meine Schiffe waren stets harmlose Kauffahrteisegler – nichts weiter. Man kam mir nie auf die Spur.
Ich habe in all den Jahren, obwohl ich meine Leute gut bezahlte, ungeheure Schätze aufgehäuft. Nur ich weiß, wo sie verborgen sind. Ich traue niemandem. Nur mir selbst.
Der Krieg, der jetzt zwischen England und Frankreich wütet, wird mir neue Beute bringen.
2. Juli 1801.
Nach vier Monaten wieder zurück. Wieder daheim, denn dieses einsame Haus ist ja meine Heimat geworden.
Ich habe die vier eichenen Fässer glücklich dorthin gebracht, wo sie sicher verborgen liegen werden, bis meine Erben sie holen.
Es war ein schwieriges Unternehmen. Ich durfte keinen Verdacht erregen. Die drei Neger, die mir halfen, sind hinüber. Was kommt es auf drei Schwarze an!
Ich fühle immer deutlicher, daß meine Leute vor mir nicht mehr den Respekt haben wie einst.
Ich werde daher den Brief mit der Zeichnung an den Sohn jenes Mannes, den ich einst durch den Brand an den Bettelstab brachte, baldigst absenden. Und zur Vorsicht in zwei Exemplaren.
5. Oktober 1801.
Eine Rebellion bereitet sich vor. Ich glaube, man wird es mit mir, dem siechen Greise, genau so machen, wie ich einmal gegen den Kapitän der Semiramis vorging. Mein Nachfolger wird mich umbringen. Mag er! Mir liegt nichts mehr am Leben. Das, was ich einst gegen die Familie Don Se…’s gesündigt, habe ich wieder gesühnt. Einen der Briefe müssen sie erhalten haben. Sie werden meiner in Dankbarkeit gedenken.
7. Oktober 1801.
Ich weiß: in dieser Nacht werden meine Leute mich überfallen. Ich bin gerüstet. Sobald sie eindringen werde ich mich mit eigener Hand erschießen.
Dieses Buch und die Schiffspapiere sowie meine beiden Lieblingspistolen verberge ich in dem geheimen Wandfach. Vielleicht findet jemand diese Dinge. Wenn nicht, schadet es auch nichts.
Das Fieber schüttelt mich. Ich schließe diese Aufzeichnungen – eigentlich schon ein toter Mann.“
– – – – – – – –
Harald klappte das Buch zu.
„So – das wären die Hauptpunkte aus des Grafen Om…’s Tagebuch,“ meinte er. „Sie geben ein klares Bild der Tatsachen. Ich möchte nun feststellen, ob die Schätze des Piratenkapitäns wirklich von den Leuten gehoben worden sind, für die er sie bestimmt hatte.“
„Also von dem Sohne jenes Don Se…, der durch den Grafen ein Bettler wurde,“ ergänzte Banfy lebhaft. „Mr. Harst, diese Feststellung dürfte Ihnen nicht ganz leicht fallen. In Brasilien gibt es viele alte Familien, deren Namen mit Se… beginnen und deren Männer den Adelstitel Don führen.“
„Ganz recht. Aber es gibt nicht viele Häfen in Brasilien, die mit Pe… anfangen. Augenblicklich fällt mir nur einer ein: Pernambuco!“
„An den habe ich auch schon gedacht. Ich kenne die Stadt. Und es liegen auch zahlreiche Hazienden in der Nähe. Bedenken Sie aber das eine: der Pirat Graf Om… ist über hundert Jahre tot! Vor hundert Jahren kann also sein Erbe den Schatz gehoben haben. Das ist eine lange Zeit.“
„Gewiß – es ist ein Griff in die Vergangenheit! Aber – die Sache interessiert mich. Es ist ja kein eigentlicher Kriminalfall. Und doch – ich habe noch nie mich an einer Art Rätsel versucht, dessen Ursprung über anderthalb Jahrhunderte zurück reicht. – Wir können morgen früh doch in See gehen, Banfy?“
„Wie sie befohlen haben, Mr. Harst. – Proviant und Trinkwasser ist besorgt. – Unser Ziel ist Pernambuco?“
„Allerdings, Banfy. Unseren Leuten sagen Sie, ich wolle dort einer Fälscherbande nachspüren.“
Fünf Tage drauf stiegen im Hotel Excelsior in der Rua das Almas in Pernambuco zwei Engländer ab, deren Jacht im inneren Hafen ankerte. Sie nannten sich Horster und Schroth, – zwei Namen, die uns schon häufiger gute Dienste geleistet hatten.
Unsere Jachtbesatzung war zuverlässig. Keiner der Leute hätte unsere wahren Namen verraten.
Am Nachmittag machten wir dem Polizeidirektor einen Besuch. Harald fragte, wo wir am leichtesten Aufschluß über Familien erhalten könnten, die um das Jahr 1720 von Spanien nach Brasilien eingewandert seien. Es handele sich um die Familie eines Grafen, dessen Name mit Om… beginne.
Der Polizeigewaltige schüttelte lächelnd den Kopf.
„1720! Ich bitte Sie, Master Horster, das sind fast zwei Jahrhunderte! Die einzige Möglichkeit wäre, daß in der Bibliothek des früheren Jesuitenklosters Santa Virgo, das jetzt von einem Franzosen bewohnt wird, der es vor vier Jahren samt dem ganzen Inventar kaufte, sich irgendwelche Aufzeichnungen finden.“
Harald bedankte sich. Wir nahmen einen Wagen und ließen uns nach dem früheren Kloster fahren. Es liegt weit außerhalb der Stadt hinter dem großen Friedhof.
Als wir an der Mauerpforte läuteten, erhob sich sofort hinter der hohen Steinmauer ein wütendes Gekläff.
Unser Kutscher, den wir warten ließen, bedeutete uns, daß Monsieur Chalpin ein sehr wunderlicher Herr sei.
In der dicken Balkenpforte befand sich eine Klappe. Diese wurde jetzt gehoben, und ein quittengelbes, mageres Gesicht mit schwarzem Schnurrbart und dunkeln, stechenden Augen lugte heraus.
„Verzeihung, könnten wir Monsieur Chalpin sprechen?“ fragte Harald liebenswürdig. „Wir sind Engländer, die sich für die Geschichte der Stadt interessieren. Es sollen sich in der Bibliothek des früheren Klosters alte Aufzeichnungen befinden.“
Der Quittengelbe musterte uns argwöhnisch. Dann sagte er überstürzt:
„Mein Name ist Chalpin. Ich bedauere, Sie heute nicht annehmen zu können. Ich bin gallensteinleidend. Ich fühle mich heute sehr schlecht. Kommen Sie bitte morgen nachmittag wieder.“
Bauz – flog die Klappe zu.
Wir bestiegen den Wagen und kehrten nach unserem Hotel zurück. Als Harald den Kutscher bezahlt hatte und wir die Vorhalle betraten, faßte er mich unter und flüsterte:
„Du – die Sache fängt gut an!“
Wir gingen in den Speisesaal. Als wir an einem Tische neben einer Gruppe von Palmen Platz genommen hatten, fragte ich sofort:
„Weshalb diese Bemerkung soeben, Harald?“
Er sah die Speisenkarte durch und erwiderte ohne aufzublicken:
„Weil ein Radler unserem Wagen folgte.“
„So?! Ein Radler? Etwa vom Kloster aus?“
„Ja, mein Alter. Es gibt Fälle, in denen Gallensteinleidende ganz plötzlich sich so frisch fühlen, daß sie auf ein Rad klettern, nachdem sie sich etwas anders hergerichtet haben. Ein geübter Mann klebt sich einen Vollbart in zwei Minuten an.“
Ich war sprachlos.
Harald nickte mir lächelnd zu. „Tatsache, Monsieur Pertinax Chalpin holte uns sehr bald ein, hielt sich dann stets fünfzig Meter hinter uns und hat fraglos ebenso wenig wie Du gesehen, daß ich meinen kleinen Spiegel in der flachen Hand verborgen hatte und so nach rückwärts beobachtete.“
„Ja – aber wie bist Du überhaupt auf den Gedanken gekommen, daß Chalpin uns verfolgen könnte?“
Der Kellner erschien. Harald bestellte und sagte dann zu mir, indem er sein goldenes Zigarettenetui öffnete:
„Lieber Alter, dieser Chalpin log doch! Ein Mensch mit so lebhaften, argwöhnischen Augen ist doch nicht krank! Der Kerl ist eben furchtbar mißtrauisch und ängstlich und mag uns für Leute gehalten haben, die der edlen Gaunerzunft angehören. Er wollte eben erst mal feststellen, ob wir wirklich so heißen, wo wir wohnen und so weiter. Natürlich wird er sich beim Hotelportier jetzt nach uns erkundigen. Wenn er dann hört, wir seien sogar mit einer Motorjacht hier eingetroffen, wird er sich beruhigen und uns morgen nicht mehr den Zutritt verwehren.“
„Hm – daß der Chalpin gleich einen falschen Bart bei der Hand hatte!“ meinte ich nachdenklich. „Das sieht gerade so aus, als ob er sich häufiger „verändert“.“
„Allerdings. Das sieht so aus. Er hat Übung darin. Und wer in solchen Dingen Übung hat, dürfte kein gewöhnlicher Sterblicher sein. Unser Kutscher wußte uns zu erzählen, Chalpin sei Privatgelehrter. Hinter einem solchen Gummi-Beruf, denn der Begriff Privatgelehrter ist sehr dehnbar, kann sich alles mögliche verbergen.“
Der Kellner brachte die Eisgetränke und den ersten Gang des Menüs.
„Sind Sie Einheimischer?“ fragte Harald den Mulatten-Kellner.
„Yes, Master. Ganz Einheimischer.“
„Kennen Sie Master Chalpin, dem jetzt das Kloster Santa Virgo gehört?“
„Sehr gut, Master. Monsieur Chalpin verkehrt bei uns. Er ist –“ – der kaffeebraune[2] Ober beugte sich tiefer und flüsterte – „Detektiv, nennt sich aber Privatgelehrter.“
„Danke. Bringen Sie mir ein Salzfäßchen.“
Der Kellner zog sich enttäuscht zurück. Er hatte gehofft, der „Detektiv“ würde Eindruck auf uns machen.
„Also ein Kollege – schau’ an!“ meinte Harald. „Dann ist ja auch seine Fixigkeit im Ankleben falscher Bärte erklärt.“
„Sein wahrer Beruf schien dem Kutscher unbekannt zu sein,“ warf ich ein.
„Ja. Chalpin ist fraglos dasselbe wie wir: Liebhaberspürnase!“
Der Hoteldirektor, ein Engländer, kam und erkundigte sich, ob wir mit dem Hotel, der Bedienung und dem Essen zufrieden seien.
Es war ein Mann von tadellosen Umgangsformen und recht sympathischem Gesicht.
„Master Walker,“ sagte Harald vertraulich, „kann man sich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?“
„Unbedingt –“
„Nun, wir sind nach Pernambuco gekommen, um ein junges Mädchen zu suchen, die wahrscheinlich hierher verschleppt worden ist. Wir brauchen einen gewandten Detektiv. Können Sie uns einen empfehlen?“
„Gewiß, gewiß. Sogar einen Herrn, der recht berühmt ist. Monsieur Chalpin. Er wohnt –“
„– im früheren Jesuitenkloster! Wissen wir! Denn wir waren heute bei ihm, um ein paar alte Urkunden einzusehen. Er war jedoch nicht zu sprechen.“
Walker lächelte diskret. „Im Vertrauen, Master Horster, – Chalpin hat mich soeben nach Ihnen und Master Schroth ausgefragt. Er ist sehr mißtrauisch und vorsichtig. Als ich ihm erklärte, die Herren seien mit Ihrer Jacht Atlanta hier eingetroffen, gab er sich zufrieden.“
„So – er ist also Detektiv. Unser Droschkenkutscher sagte, er sei Privatgelehrter.“
„Ganz recht. Nur im Nebenberuf und nur bei besonderen Fällen spielt er den Detektiv. Vor einem Jahr wurde er durch den Selville-Prozeß berühmt, wenn er sich auch bescheiden im Hintergrunde hielt und die Polizei die Lorbeeren ernten ließ.“
„Hm, – Selville-Prozeß. Ich muß darüber in den Zeitungen gelesen haben –“
„Schon möglich, Master Horster. Es handelte sich um einen Giftmord. Edward Selville wurde zu lebenslänglicher Deportation verurteilt, obwohl er bis zum letzten Augenblick leugnete. Er hatte seine eigene Frau umgebracht. Monsieur Chalpin gelang es, das geheimnisvolle Verbrechen aufzuklären.“
„Richtig – jetzt erinnere ich mich. Selville wohnte hier, nicht wahr?“
„Ja. Seine Mutter und Schwester ebenfalls. Die armen Frauen leben in größter Dürftigkeit in einer Hütte auf der Halbinsel Bairro do Recife, im ältesten Stadtteil.“
„So, danke, Master. Wir werden dann also Chalpin zu Rate ziehen.“
Der Hoteldirektor verschwand.
Harald blinzelte mir vielsagend zu.
„Wie wär’s, wenn wir nach dem Essen mal diese beiden Frauen aufsuchten, mein Alter? Ich möchte näheres über diesen Prozeß hören. Walker nannte ihn ein „geheimnisvolles“ Verbrechen. Da regt sich in mir das Berufsinteresse.“ –
Gegen halb neun abends fuhren wir über die beiden Brücken und durch den Stadtteil Sao Antonio nach Bairro do Recife[3]. Am Zollhaus verließen wir den Wagen, lohnten den Kutscher ab und fragten den nächsten Polizisten nach der Wohnung der Frau Selville.
Der Beamte glotzte uns erstaunt an.
„In der Rua do Picao,“ sagte er dann. „Dort geradeaus; die zweite Querstraße.“
Wir gingen weiter. In der Rua do Picao wies ein Neger auf das armselige Häuschen, das die Selvilles bewohnten, Harald gab ihm ein Trinkgeld.
Das Häuschen stand ein Stück von der Straße ab in einem Garten. Dieser war sehr sauber gehalten und dicht mit Gemüse bepflanzt. Die Zaunpforte war nur verriegelt. Man konnte mit der Hand durch die Latten hindurchgreifen und den Riegel zurückschieben.
Wir klopften dann gegen die Haustür, die recht schief in den Angeln hing.
Nach einer Weile fragte eine Frauenstimme, wer so spät noch Einlaß begehre.
„Mir möchten ein paar Pfirsiche kaufen,“ erklärte Harald auf gut Glück.
Die Tür wurde geöffnet. Vor uns stand eine grauhaarige Frau mit einer brennenden Küchenlampe. Sie musterte uns scheu, sagte dann: „Bitte, wollen Sie eintreten. Ich hole die Pfirsiche sofort. Wieviel wünschen Sie?“ – Sie sprach tadellos englisch.
„Mistreß Selville, die Pfirsiche haben Zeit. Ich interessiere mich weit mehr für das Unglück Ihres Sohnes. Ich möchte mit Ihnen über den Prozeß sprechen – nicht aus bloßer Neugier, nein, aus Teilnahme.“
Die Frau schluchzte auf. „Teilnahme?! Oh – Sie wären der erste, der uns bedauert! Die Menschen sind so hart und gefühllos. – Bitte – dort hinein –“
Sie stieß eine Tür auf, riegelte die Haustür wieder ab und wies auf ein Rohrsofa.
„Wollen Sie Platz nehmen.“ – Sie stellte die Lampe auf den Tisch und setzte sich auf einen schlichten Holzstuhl.
„Mistreß,“ begann Harald, „im Interesse Ihres Sohnes möchte ich Sie um strengste Verschwiegenheit bitten – auch Ihre Tochter. Würden Sie diese vielleicht herbeirufen?“
Frau Selville ging in das Nebenzimmer und kehrte mit einem kaum erst erwachsenen jungen Mädchen von angenehmen Zügen zurück.
„Meine Tochter Rosarita,“ sagte sie.
Rosarita setzte sich neben ihre Mutter.
Harald wiederholte seine Bitte um Verschwiegenheit und fügte hinzu:
„Niemand hier in Pernambuco weiß, daß ich nicht Horster, sondern Harald Harst bin.“
Rosaritas Kopf schnellte hoch. „Oh – Harst! Edward hat so oft gesagt, daß Harald Harst ihm wohl helfen könnte. Sie waren damals jedoch in Indien, Master Harst, und die Depesche an Sie kam als unbestellbar zurück.“
„Nun – jetzt bin ich hier. – Haben Sie vielleicht die Zeitungsberichte über den Prozeß gesammelt?“
„Ja – ja!“ rief das junge Mädchen eifrig. „Ich hole sie sofort.“ – Sie eilte hinaus.
„Edward ist unschuldig,“ murmelte Frau Selville schluchzend. „Niemals hat er seine Frau ermordet. Er liebte sie. Aber – das wurde im Prozeß ja alles verdreht, Master Harst. Wir hatten den besten Rechtsanwalt der Stadt. Er hat uns Unsummen gekostet. All unsere Ersparnisse haben wir geopfert. Es war alles zwecklos. Mein armer, armer Junge! So ein guter Sohn! Er und ein Mörder! Und jetzt als Sträfling auf Noronha!“
Rosarita kam zurück und reichte Harald ein Päckchen Zeitungsausschnitte.
„Danke, Miß Selville. Dürfte ich jetzt um die Pfirsiche bitten. Ich komme morgen abend wieder zu Ihnen. Dann werde ich mich genügend über den Prozeß unterrichtet haben.“
Rosarita brachte ein Bastkörbchen voll köstlicher Früchte. Harst legte eine Fünfzigpfundnote auf den Tisch.
„Diese Früchte sind so viel wert. – Auf Wiedersehen –“
Wir gingen schnell hinaus. Frau Selville weinte – jetzt wohl vor Freude über die reiche Spende.
Draußen war es völlig dunkel geworden. Die Gaslaternen in den Straßen brannten recht schlecht. Allerlei Gesindel drückte sich hier herum. Aus den Schifferkneipen drang Lärm und Klavierspiel heraus. Es war das übliche Bild eines verrufenen Hafenviertels.
Harald schaute sich mehrmals argwöhnisch um. Dann faßte er mich unter.
„Zwei Kerle sind hinter uns her,“ flüsterte er hastig. „Nach einer Weile wollen wir unter einer Laterne stehen bleiben und uns eine Zigarette anzünden.“
Wir machten halt. Harald holte sein goldenes Etui hervor, schob es wieder in die Westentasche. Ich hatte gerade das Feuerzeug in Brand gesetzt, als hinter uns wüstes Gebrüll sich erhob. Zwei Männer kamen mit wenigen Schritten Abstand dahergerannt, hinter ihnen drein etwa ein Dutzend farbige Weiber und Matrosen.
„Achtung!“ – Diese Warnung genügte. Ich faßte in die rechte Jackentasche, entsicherte die Pistole.
Der vordere Kerl, ein riesiger Mulatte, stolperte jetzt scheinbar und taumelte dicht an Harald vorüber.
Und – in demselben Moment stieß der Bursche auch schon zu.
All das ging so blitzschnell, daß ich mit genauer Not dem Stiche des zweiten entging.
Harald war nach hinten umgesunken. Ich besann mich keinen Augenblick, zog die Pistole.
Da – Harsts leise Stimme. „Nicht schießen! Ich werde den Schwerverletzten spielen. Bringe mich auf die Jacht –“
Die Weiber und Matrosen waren schon heran, stürmten aber weiter den beiden Meuchelmördern nach. Nur eine hellhäutige Kreolin blieb stehen und beugte sich über den regungslos mit geschlossenen Augen daliegenden Harst.
„Ist der Sennor tot?“ fragte sie in schlechtem Englisch.
„Ich weiß nicht. Helfen Sie mir, ihn an den Fluß tragen. Unsere Jacht liegt im Hafen –“
Wir schleppten Harald davon. An der Brücke neben dem Zollhaus lag ein Zollkutter. Der Steuermann war sehr höflich und brachte uns mit seinem Motorboot nach der Atlanta, wo wir Harst auf das Wandsofa des Salons legten.
Die junge Kreolin, ein hübsches Mädchen mit leider recht verlebten Zügen und einem sehr auffälligen Anzug, war mitgekommen.
Kapitän Banfy, der im Salon Zeitung gelesen und seinen Abendgrog getrunken hatte, wollte sofort nach Harsts Wunde sehen. Ich hielt ihn zurück, zwinkerte ihm zu und gab dann der Kreolin Geld, fragte sie, weshalb die beiden Mulatten – denn auch mein Angreifer war so ein brauner Schuft gewesen – von der Menge verfolgt worden seien.
„Sie haben einer Frau die Halskette entrissen,“ erklärte das Mädchen.
Ich dankte ihr nochmals für ihre Hilfeleistung und bat den Kutterführer, sie wieder mit zurückzunehmen.
Wir waren mit Harald allein. Inzwischen hatten sich noch unser Steuermann Morris und drei Matrosen im Salon eingefunden.
Harst richtete sich plötzlich auf, lächelte, faßte in die Westentasche und zeigte uns sein Zigarettenetui, das durch den Messerstoß in der Mitte durchlöchert und eingebeult war.
„Ich habe unverschämtes Glück gehabt,“ meinte er. „Die Kerle fingen die Sache sehr schlau an. Sie haben dem Weibe absichtlich die Halskette gestohlen, damit sie verfolgt würden.“
Dann wandte er sich an den Matrosen Preegrave, einen blondbärtigen Mann, der etwa Harsts Figur hatte.
„Preegrave, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Rasieren Sie Ihren Bart herunter und spielen Sie den verwundeten Harst, während ich mich in Preegrave verwandeln werde. Ich weiß, ich kann mich auf Eure Verschwiegenheit verlassen, Leute! Also sagt auch den anderen, daß keiner etwas verrät. Morgen früh muß der verwundete Harst unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck in einer Hängematte liegen und ganz wie ein Schwerkranker versorgt werden. Fragt jemand nach meinem Befinden, so erwidert Ihr, Master Schroth verstehe sich auf Wundbehandlung und habe Master Horster den Lungenstich kunstgerecht verbunden.“
Preegrave nickte. „Für Sie tun wir alles, Master Harst. In fünf Minuten ist mein schöner Bart futsch.“
Die Matrosen gingen hinaus.
„Morris, Sie rudern mit dem Beiboot an Land und melden den Überfall der Polizei,“ ordnete Harald weiter an. „Niemand darf unsere Komödie durchschauen. Es handelt sich hier um eine Sache, die mit allergrößter Vorsicht angepackt werden muß.“
Auch der Steuermann verschwand. – Banfy und ich setzten uns in die Korbsessel neben den Tisch. Harald rauchte eine Weile schweigend, meinte dann:
„Käpten, was für eine Zeitung studierten Sie da vorhin?“
Banfy hob das Blatt auf. Es war unter das andere Wandsofa geflattert.
„Es ist die hiesige Zeitung „Pernambuco-Magazin“,“ erwiderte er.
„Geben Sie sie mal her –“ – Harald überflog die Spalten. Auf der Innenseite blieben seine Augen auf einer Stelle haften. „Aha – wir hätten uns den Horster und Schroth sparen können. Hier steht unter neueste Kabeldepeschen:
Der bekannte Liebhaberdetektiv Harald Harst hat mit seiner Jacht Atlanta auf den Azoren eine ganze Verbrecherbande unschädlich gemacht.
Na – nun ist auch das geklärt!“
„Was denn?“ fragte Banfy.
„Das Motiv, lieber Käpten, – der Grund zu dem Überfall auf uns. Es gibt hier eben Leute, die ein verdammt schlechtes Gewissen haben und die sich sofort, als sie diese Kabeldepesche lasen, richtig zusammenreimten, daß diese Atlanta hier Harsts Atlanta ist und daß Horster und Schroth eben Harst und Schraut und deshalb – überflüssig sind. Man wollte uns dies durch Messerstiche beweisen. – Banfy, holen Sie Morris nochmal zurück –“
Als Banfy und Morris wieder eintraten, sagte Harald:
„Lieber Morris, gehen Sie auch gleich in die Redaktion des Pernambuco-Magazin und erzählen Sie dort, daß wir überfallen worden sind und daß der verwundete Horster der Detektiv Harst ist, der ja zumeist inkognito reist. Im übrigen bin ich schwer verletzt. Das vergessen Sie nicht! Geben Sie den Reportern aber gleich einen Wink, daß ich keinen empfange, – auch Schraut nicht. Und auf der Polizei erklären Sie dasselbe. Der kranke Pseudo-Harst ist für niemand zu sprechen. Der Pseudo-Matrose Preegrave wird andere zum Sprechen bringen.“
Morris verließ den Salon wieder.
„So – nun möchte ich nicht gestört werden,“ meinte Harald und nahm eine frische Zigarette. „Ich muß diese Zeitungsausschnitte durchsehen.“
Banfy verstand den Wink, sagte uns gute Nacht und zog sich in seine Kabine zurück.
Man erhielt von dem Verbrechen, dessen Edward Selville beschuldigt worden war, durch die Gerichtsverhandlung ein völlig klares Bild. Harald reichte mir jeden der Zeitungsausschnitte, sobald er ihn gelesen hatte.
Ich will das Ganze hier in gedrängter Kürze wiedergeben.
Edward Selville war Angestellter bei der Kommerzialbank in Pernambuco gewesen, hatte mit 29 Jahren eine Schwedin namens Dagna Vaxholm geheiratet, die genau so arm wie er war, hatte mit ihr im Erdgeschoß eines Hauses der Rua do Pedroa eine kleine Wohnung bezogen, war am 3. Dezember des vorigen Jahres wie immer morgens zum Dienst gegangen und hatte der Flurnachbarin Frau Tuckson gegenüber erklärt, seine Frau liege mit leichtem Fieber zu Bett; die Tuckson möge doch nach zwei Stunden mal nach seiner Frau sehen, sie bis dahin aber schlafen lassen. Frau Tuckson erfüllte diese Bitte, ging um zehn Uhr vormittags in die Wohnung der Selvilles, zu der Edward ihr den Schlüssel übergeben hatte, fand die Kranke im verdunkelten Schlafzimmer mit starkem Fieber vor, holte aus ihrer Wohnung ein Chininpulver und gab es ihr mit Wasser ein, stellte ihr auch noch ein Glas Zitronenlimonade auf den Nachttisch, schloß die Wohnung wieder ab und besorgte dann allerlei Einkäufe. Um 12 Uhr sah sie abermals nach der Kranken. Als sie diese regungslos mit ganz verändertem Gesicht in den Kissen erblickte – sie hatte die Vorhänge vorher etwas aufgezogen – rannte sie sofort hinaus und zum nächsten Arzt. Doktor Saltino stellte fest, daß der Tod bereits eingetreten war und daß dem schmerzlich verzogenen Munde Frau Selvilles ein scharfer Bittermandelgeruch entströmte. Die herbeigerufene Polizei fand das Limonadenglas auf dem Nachttisch sauber ausgespült vor. Dies konnte nur der Mörder getan haben, der in die Limonade Blausäure gegossen hatte, da die Untersuchung des Glases doch noch geringe Spuren dieses Giftes an den Wandungen ergab.
Wer aber war nun der Mörder? – Frau Tuckson erfreute sich eines ebenso tadellosen Rufes wie Edward Selville. Niemand beargwöhnte diese beiden Personen, die vielleicht hier als Täter in Betracht gekommen wären, zumal Selville das Bankgebäude zwischen 10 und 11 Uhr vormittags verlassen gehabt hatte, da ihn ein Bekannter telephonisch nach dem Hauptpostamt bestellte, wo er diesen zwecks Abhebung eines Geldbetrages dem Schalterbeamten gegenüber ausweisen mußte. Selville hatte erklärt, er wäre mit diesem Bekannten, einem Schiffsingenieur, noch vor der Post auf und ab gegangen und deshalb erst gegen elf Uhr wieder in der Bank erschienen. Die Polizei fragte bei der Post an. Es stimmte: es war ein postlagernder Wertbrief für Ingenieur Percy Macdonald an jenem Tage abgeholt worden, und der Schalterbeamte besann sich auch, daß Selville diesen Macdonald als den Empfangsberechtigten ausgewiesen hatte.
Frau Selville wurde obduziert. Im Magen fand man Blausäure. Es lag also tatsächlich Giftmord vor. Selbstmord war ausgeschlossen, da die Tote hierzu nicht die geringste Veranlassung gehabt hätte. – Drei Wochen gingen hin. Der Mord blieb unaufgeklärt. Dann erschien beim Polizeidirektor der Privatgelehrte Ch. (der Name war angedeutet), also Chalpin, und gab zu Protokoll, daß er lediglich aus Liebhaberei in diesem Falle den Detektiv gespielt und folgendes ermittelt habe.
1. Edward Selville sei damals zwischen 10 und 11 doch nicht lediglich auf der Post, sondern auch für kurze Zeit zu Hause gewesen.
2. Selville habe in seinem Schreibtisch in der Bank in einem Fläschchen Blausäure verborgen.
3. Selville habe häufiger spät abends eine in dem Hafenviertel Bairro do Recife wohnende Kreolin von zweifelhaftem Ruf heimlich besucht.
Die Polizei prüfte diese drei Punkte in aller Stille nach. Zuerst Punkt 2. Man fand auch in einem sehr raffiniert angelegten Versteck ein langes, dünnes, noch halb mit Blausäure gefülltes Fläschchen, das Chalpin bereits vordem entdeckt, aber an Ort wo Stelle belassen hatte. – Es meldete sich dann weiter ein alter Bettler, ein Mestize, der Edward Selville gegen ¾11 in der Rua do Pedroa nahe bei dessen Hause gesehen hatte. Auch diesen Zeugen hatte Pertinax Chalpin ermittelt. – Schließlich hatte Chalpin auch die Frau, bei der die Kreolin Manuela wohnte, der Polizei als Zeugin für die späten Besuche Selvilles bei dem Mädchen benannt. – Nun wurde Edward verhaftet. Er gab zu, damals noch nach seiner Wohnung geeilt zu sein, da ihm sein Freund Macdonald Geld geliehen hatte, daß er daheim im Vorderzimmer verwahren wollte. Von dem Giftfläschchen wüßte er nichts. Er hätte das Schlafzimmer bei dem kurzen Besuch in seiner Wohnung auch gar nicht betreten. Die Kreolin Manuela kenne er überhaupt nicht. – Als ihm dann aber die Wirtin Manuelas gegenübergestellt wurde, erklärte diese mit aller Bestimmtheit, Selville sehr oft abends im Hause gesehen zu haben. – Die Kreolin selbst war plötzlich verschwunden und konnte daher nicht vernommen werden. – Selville wurde unter Anklage gestellt. Man warf ihm vor, seine Frau beseitigt zu haben, um die Kreolin heiraten zu können. Es gab ja nur diese eine Lösung den ganzen Umständen nach.
Er leugnete. Es half ihm nichts. Die öffentliche Meinung sprach ihn schuldig, und das Gericht tat dasselbe. Drei Monate nach dem Tode seiner Frau ward er als lebenslänglicher Sträfling nach der Insel Noronha gebracht, wo er nun bereits 14 Monate der Sträflingskolonie angehörte. –
Das war der Sachverhalt. –
Als ich das letzte Blättchen gelesen hatte und es beiseite legte, begegnete ich Haralds sinnendem Blick.
„Nun?“ fragte er leise. „Was sagst Du als Detektiv zu alledem?“
Ich zuckte die Achseln, erwiderte: „Man könnte ja auf den Gedanken kommen, daß Chalpin hier eine sehr zweideutige Rolle spielt. Dann müßte man aber, wollte man diesen Gedanken ernstlich in Erwägung ziehen, für Chalpins heimtückische Handlungsweise erst mal einen Grund entdecken.“
„Ganz recht. Genau dasselbe denke ich auch. Pertinax Chalpin kann erstens das Fläschchen selbst in Selvilles Schreibtisch versteckt und zweitens in einer Verkleidung jene Manuela besucht und sich so deren Wirtin gezeigt haben, damit diese später gegen Selville aussagen könnte. Er wird sich eben dann als Selville eine leidlich ähnliche Maske zurechtgemacht haben. Und dieser Punkt, mein Alter, ist für ihn der gefährlichste. Wo blieb jene Manuela? Weshalb verschwand sie gerade, als Chalpin der Polizei seine Detektiverfolge unterbreitete? Und – weshalb sollten wir beide heute umgebracht werden, als wir von Selvilles Mutter kamen? Weshalb schlichen uns die beiden Mulatten nach, die uns offenbar schon vom Hotel aus verfolgt hatten?!“
Ich beugte mich etwas vor. „Du hegst Verdacht gegen Chalpin?“
„Ja. – Wir werden diesem Herrn gründlich auf den Zahn fühlen. Wir sind nach Pernambuco gekommen, um dem[4] Geheimnis des Brasilianers, des Piraten Om…, nachzuspüren, und haben hier nun andere Arbeit gefunden. – Übrigens eine Frage, mein Alter. – Ist Dir bei dem Namen Selville nichts aufgefallen?“
Ich dachte nach. Dann kam mir die Erleuchtung.
„Don Se… – der Name aus dem Tagebuch des Seeräubers!“ rief ich in leicht begreiflicher Erregung.
Harald nickte. „Es kann derselbe Name sein. Aber – es spricht zu vieles dagegen. Selville ist weder ein spanischer noch ein portugiesischer Name. Und der Mörder Selville heißt Edward, also ein englischer Vorname. Es wäre ja auch ein zu merkwürdiger Zufall, wenn wir auf diese Weise einen Nachkommen jenes Don Se… hier kennen lernen sollten, dem Graf Om… einst die Hazienda niederbrannte und dessen Sohne er seine Reichtümer hinterlassen wollte! – Zufälle muß man bei unserer Arbeit ausschalten. Es mag hier in Pernambuco vielleicht hundert Familien geben, deren Name mit Se… beginnt. Nein – um den Verbleib des Schatzes des Grafen Om… wollen wir uns erst später kümmern. Jetzt – wollen wir zu Bett gehen. Es ist gleich Mitternacht.“ –
Am nächsten Vormittag lag der Pseudo-Harst auf dem Achterdeck im Liegestuhl, sorgsam in Decken gehüllt und durch Kissen gestützt. Neben ihm stand ein Tischchen mit allerlei Flaschen. Der echte Harst, mit blondem Vollbart und in Matrosentracht, war mit Morris schon um 5 Uhr im Beiboot davongerudert.
Ich saß neben dem Krankenlager und las die Morgenzeitung. Mehrere Boote umrundeten dauernd die Atlanta. Die Neugierigen hatten zum Teil Kodaks mit und knipsten den Kranken. Um 9 war auch ein Polizeibeamter erschienen und hatte Harst und mich über den Überfall vernehmen wollen. Ich fertigte ihn jedoch auf dem Vorderdeck ab. Zwei Zeitungsreportern gegenüber wurde ich saugrob.
Preegrave fühlte sich als Kranker „verdammt ungemütlich“, wie er mir sagte. Er langweilte sich, zumal er nicht rauchen durfte.
Um ½11 näherte sich wieder ein Boot der Atlanta.
Ich traute meinen Augen nicht: außer dem Bootsmann saß der quittengelbe Monsieur Pertinax Chalpin darin!
Oh – das wurde interessant! Was wollte er?!
Ich rief das Boot an und dirigierte es nach dem Vorschiff hin.
Pertinax kletterte an Bord. Weil ich mit ihm hier in der prallen Sonne nicht gut längere Zeit sprechen konnte, bat ich ihn, mit mir ins Mannschaftslogis hinabzusteigen. Von den Matrosen war niemand anwesend. Wir setzten uns an den Tisch.
„Master Schraut,“ begann er auf englisch, „ich habe heute in der Morgenzeitung gelesen, wer die Herren in Wirklichkeit waren, die mich gestern nachmittag besuchen wollten, – eben nicht Horster und Schroth, sondern Harst und Schraut. Ich bedauere aufrichtig Master Harsts Mißgeschick. Sie hätten sich aber auf keinen Fall allein in jene verrufene Gegend wagen sollen. Darf ich fragen, wie es Ihrem Freunde geht?“
„Etwas besser.“
„Oh – das freut mich! – Wollten Sie beide gestern wirklich die Bibliothek des Klosters besuchen?“
„Nein. Wir wollten Ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Harst hatte den Auftrag, dem Verbleib einer reichen Engländerin nachzuspüren. Auch der Hoteldirektor des Excelsior empfahl Sie warm. Ihren Namen hatten wir als den eines Kollegen schon vorher gehört.“
„So – so –“ – Das hakennasige Gesicht Chalpins nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Seine schwarzen, stechenden Augen verschwanden hinter den halb geschlossenen Lidern. Dann fragte er leichthin:
„Weshalb verirrten Sie sich gestern gerade in jenes Viertel, Master Schraut?“
„Der Hoteldirektor und Harsts Sensationshunger waren daran schuld. Mr. Walker hatte uns von Ihren Erfolgen in dem Giftmordprozeß Selville berichtet und da wollte mein Freund sich den Fall von Selvilles Angehörigen schildern lassen, was dann auch geschah. Sie haben in der Tat Vorzügliches geleistet, Monsieur Chalpin. Harst meinte allerdings, das ganze Problem wäre doch sehr alltäglich. Wir sind ja etwas verwöhnt. Ein Mann, der seine Frau umbringt eines anderen Weibes wegen, ist ja nur ein armseliger Gelegenheitsverbrecher.“
Chalpins Gesicht hellte sich jetzt geradezu auf. Man merkte, daß ihn bisher eine gewisse Unruhe beherrscht hatte, die nun infolge meiner gut erfundenen Redensarten schnell sich legte.
Er lächelte sogar ein wenig stolz. „Master Harst stellt sich den Fall Selville doch zu einfach vor,“ meinte er. „Nun – das ist ja eine Sache für sich. Ich will Ihnen bei Ihren Nachforschungen nach jener Engländerin gern helfen. Aber – nicht wahr, – eine Hand wäscht die andere. Ich habe auch ein Anliegen an Master Harst. Schade, daß ich ihn nicht sprechen kann.“
Er wickelte jetzt das flache Paket, das er bisher unter dem Arm festgeklemmt hatte, aus. Es kam ein uraltes Buch mit Kupferbeschlägen zum Vorschein.
„Ich hätte Master Harst gern gebeten, sich jetzt auf seinem Krankenlager mit diesem Folianten etwas zu beschäftigen,“ fuhr er fort. „Das Buch stammt aus der Klosterbibliothek und ist 1688 von einem Jesuitenpater geschrieben worden, behandelt die Geschichte der ersten Anfänge der Missionstätigkeit hier in dieser Gegend und enthält eine Zeichnung, die zu dem Text nur in sehr loser Beziehung steht, während die anderen darin befindlichen Zeichnungen ihrer Art nach klarer und verständlicher sind.“
Er schlug den dicken Folianten auf. Das Papier war von Würmern durchlöchert. Die Schrift war sehr verblaßt. Jeder Buchstabe war geradezu gemalt. – Als wir uns das Buch noch ansahen, kam der Steuermann Morris die Treppe hinab und rief:
„Master Schraut, Ihr Freund verlangt nach Ihnen. Er fühlt sich nach dem Pulver wie neugeboren.“
Ich entschuldigte mich bei Chalpin und meinte: „Warten Sie bitte. Ich bin sofort wieder da. Mr. Morris wird Ihnen Gesellschaft leisten.“
Als ich das Achterdeck betrat, war es leer. Aber Banfy stand an der Salontreppe und winkte mir.
Im Salon auf vom Wandsofa lag der – echte Harst!
„Wir kehrten zur rechten Zeit zurück,“ sagte er hastig. „Ich habe von der Kombüse aus den letzten Teil Deines Gesprächs mit Chalpin belauscht. Du hast Dich glänzend benommen, mein Alter! Die Phrase, daß ich das „ganze Problem sehr alltäglich“ gefunden hätte, war eine feine Idee. Hole Chalpin her. Ich bin sehr gespannt, wie er sich hier benehmen wird.“ –
Und Pertinax Chalpin kam. Harald streckte ihm die Hand hin. Er hatte sich etwas bleich geschminkt. In dem halben Dämmerlicht der Kajüte wirkte dies ganz echt.
„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Kollege,“ sagte er höflich lächelnd mit schwacher Stimme. „Nehmen Sie Platz. Schraut – die Zigarren! Und bestelle Eislimonade. Es ist verteufelt heiß hier.“
Pertinax lehnte sich behaglich im Sessel zurück und begann dann von dem alten Folianten zu sprechen. Nachdem er nochmals versichert hatte, er würde uns die Engländerin suchen helfen.
„Hier ist die eine Zeichnung, Master Harst,“ meinte er und reichte Harald das aufgeschlagene Buch. „Das Papier dieser Zeichnung ist etwas dicker als die übrigen Seiten. Man konnte auf die Vermutung kommen, das Blatt sei erst später eingeklebt. Aber die Wurmlöcher gehen gleichfalls hindurch, und das beweist das Gegenteil.“
„Ganz recht. Das Papier ist ebenfalls sehr alt,“ sagte Harst gleichgültig. „Lassen Sie mir das Ding hier. Ich will versuchen die Bedeutung dieser Zeichnung zu ergründen.“
„Bitte, gern. Hoffentlich sind Sie recht bald wieder völlig hergestellt. Ich möchte jetzt nicht länger stören. Ihnen fällt das Sprechen schwer. – Auf Wiedersehen, Master Harst –“
Harald reichte ihm wieder die Hand. Dann geleitete ich Chalpin bis zu seinem Boot.
Als ich in den Salon zurückkehrte, klebte sich Harald vor dem Spiegel den blonden Bart an, den er als Preegrave getragen hatte. Die Schminke hatte er sich bereits abgerieben. Während er dann seine Augenbrauen mit dem Stift blond färbte und ihnen eine andere Form gab, sagte er hastig: „Dort liegt auch für Dich ein Matrosenanzug; dort ein dunkler Spitzbart. Fix, mein Alter, fix! Wir müssen dicht hinter Chalpin bleiben –“
Banfy saß staunend dabei. „Die reine Theaterschule,“ brummte er. „Ich lerne auf meine alten Tage noch allerhand Neues.“ –
Wir kletterten in das Beiboot. Einer unserer Matrosen ruderte.
Chalpins Boot hatte die Richtung nach dem Zollhause eingeschlagen. Unsere Atlanta lag etwa gegenüber dem Sao Franzisko-Bahnhof vor Anker. Bis zum Zollhause waren es vielleicht 1500 Meter. Zum Glück strengte Chalpins Bootsmann sich nicht allzusehr an. So konnten wir gerade noch sehen, daß unser Pertinax einen mit einem Maultier bespannten Mietwagen bestieg und in das Straßengewirr des Bairro do Recife einbog.
Am Zollhause hielten noch mehr Wagen. Wir sprangen in den einen hinein. Der schwarze Kutscher begriff sofort, was er sollte, grinste und meinte:
„Gut, gut, Sennores, wir kriegen den anderen Wagen schon –“
Allerdings – wir fanden ihn. Aber – er kam uns leer entgegen.
Harald drückte dem Kutscher des Maultierwagens eine Banknote in die Hand.
„Wo blieb der Sennor, Amigo?“ (Amigo, Freundchen).
Der kaffeebraune Bursche schaute sich erst die Banknote an, spuckte aus und sagte:
„Bodega das Almas, Sennor. Dort, dritte Querstraße rechts –“
Wir lohnten auch unseren Kutscher ab und eilten zu Fuß weiter. In einem kleinen Laden kauften wir zwei Tabakpfeifen und eine mit Bast beflochtene Flasche Schnaps.
Rauchend und hin und wieder einen Schluck – scheinbar – nehmend, torkelten wir Arm in Arm auf die Bodega zu, deren Schild schon von weitem zu erkennen war.
Auf der offenen Veranda der Kneipe saßen Matrosen, farbige Weiber und Hafenarbeiter. Wir gingen schwankend in den Schankraum hinein, wo Harst unsere Flasche auf den Fußboden schmiß. –
Der Wirt hinter dem Schanktisch war ein Mestize mit schwammigem Gesicht und roten Säuferaugen.
Harald warf ein Goldstück auf das Blech des Schanktisches, sank dann wie schwer trunken auf den nächsten Schemel.
Der Wirt füllte zwei Gläser. Harst grunzte, schmeckte und goß den Inhalt dem Mestizen ins Gesicht, gröhlte:
„Gelber Schuft, wagst Du uns so ’nen Dreck anzubieten!“
Der Mestize lachte und langte nach einer anderen Flasche.
Dann kam durch einen Vorhang links ein Mädchen hereingeschlüpft, flüsterte dem Wirt etwas zu. Ich verstand nur ein Wort davon: „Chalpin!“
Und das Mädchen war dieselbe hübsche, verkommene Kreolin, die mir in der Nacht bei Haralds Transport zum Zollkutter geholfen hatte.
Der Wirt verschwand durch denselben Vorhang. Das Mädchen stützte sich auf den Schanktisch und fragte, ob sie ein Gläschen mittrinken dürfe.
Harald nickte, lallte dann: „Wir – wir wollen – schlafen! Hast Du – ein Zimmer abzugeben, my Darling?“ – Er warf ihr noch ein Goldstück zu.
„Kommen Sie, Sennores.“ – Wir folgten ihr. Das Haus war nur einstöckig, aber sehr tief. Wir taumelten einen endlosen Flur entlang. Das Mädchen stieß eine Tür auf. Es war ein Zimmer mit zwei Rohrbetten und Decken darauf. Harald fiel schwer auf das eine Bett, brüllte: „Scher’ Dich zum Teufel! Weck’ uns nach drei Stunden.“
Die Kreolin ging hinaus. Sie war solche Szenen gewöhnt.
Nach einer Weile erhob Harald sich und schlich zum Fenster, das keine Scheiben, sondern nur Drahtgaze zwischen den Stäben hatte. – Er winkte mir.
„Da – die Rückseite des Häuschens der Selvilles,“ flüsterte er.
Hinter dem Hofzaun der Kneipe sah ich zwar ein Häuschen liegen. Aber daß es das der Selvilles war, hätte ich nie geahnt.
„Ich war morgens bei ihnen,“ fuhr Harald fort. „Was ich dort hörte, gibt diesem Erlebnis die Würze! Man soll nie sagen, daß nur sogenannte blöde Zufälle sich ereignen! – Warte hier. Leg’ Dich wieder hin. Ich muß spionieren gehen. Unser Pertinax und dieser Mestize stecken unter einer Decke. Ein feiner Kollege, der Monsieur Chalpin!“
Lautlos verließ er das Zimmer, nachdem er in den Flur hinausgespäht hatte.
Ich lag auf dem Rohrbett und fieberte vor Ungeduld. Ich sah nach der Uhr. Harald war bereits seit einer halben Stunde weg.
Da – die Türklinke wurde herabgedrückt. Ich schloß die Augen, ließ sie gerade nur so weit auf, daß ich durch die Wimpern ungefähr den Eintretenden erkennen konnte.
Es war die Kreolin. – Sie hatte ein Teebrett in der Hand, stellte es auf den Tisch und rüttelte mich dann.
„He, Sennor, – es ist Zeit!“
Daß Harald nicht da war, beachtete sie nicht. Sehr verdächtig!
„Sennor – hier, trinkt! Es ist Eislimonade. Ihr werdet Euch danach ganz nüchtern fühlen!“
Ah – so war es gemeint! Ich würde danach nicht nüchtern werden sondern vielleicht für alle Zeiten auf Alkohol verzichten! –
Sie hatte die Tür hinter sich zugedrückt. Ich saß jetzt auf dem Bettrand.
„Stell’ das Glas hin. Nachher trink’ ich,“ brummte ich. „Hol’ mir Brandy, – ein Doppelquart!“
Sie fiel prompt auf den Schwindel herein. Kaum hatte sie das Glas wieder hingesetzt, als ich sie schon bei der Kehle bekam. Ich riß sie zu Boden, drückte ihr die Mündung der Clementpistole auf die Stirn.
„Lieg’ still!“ drohte ich.
Aber – mir war bei dem heimtückischen Lächeln, das über ihr Gesicht glitt, nicht sehr behaglich zu Mute.
Ich kniete neben ihr, beobachtete auch die Tür.
Dann – umklammerte irgend jemand von hinten mit eisernem Griff meinen Hals.
Die Kreolin schlug mir gegen die Hand. Ich drückte ab. Aber – ich hatte die Pistole nicht entsichert. Der Alarmschuß versagte. Ich verlor das Bewußtsein.
Doch nur für Minuten verlor ich es. Ich schlug die Augen auf; ich lag auf dem Bett in demselben Zimmer. Vor mir standen – ich stierte wie auf Geistererscheinungen! – Harald und – Pertinax Chalpin, hinter ihnen der dicke, schwammige Wirt.
„Leider ist das saubere Pärchen entwischt, das uns ausplündern wollte,“ ließ sich Harald vernehmen. „Tom, mich hatten sie auch schon halb stumm gemacht. Es war die Schankmamsell, Tom, und ihr Bräutigam, ein Mulatte –“
Er spielte noch immer den Matrosen und rülpste sehr echt. „Tom, alter Boy, rapple Dich auf. Wir müssen aufs Schiff zurück –“
Er zerrte mich hoch.
Der Mestize entschuldigte sich, daß in seiner anständigen Kneipe solche Dinge passiert seien, gab uns die zwei Goldstücke wieder und fügte hinzu:
„Dieser Sennor wird Euch mit zum Hafen nehmen. Sein Wagen wartet draußen.“
Chalpin nickte. „Folgen Sie mir.“ – Durch einen Seitenausgang gelangten wir drei auf eine enge Gasse, in der nur Lagerspeicher standen. Die Gasse war leer. Nur ein Wagen mit zwei Maultieren bespannt wartete auf uns. Der Kutscher, ein Mulatte, peitschte sofort auf die Pferde ein. Der Wagen hatte ein Öltuchverdeck und ebensolche Seitenwände.
Ich begriff von alledem nichts – nichts! Hatte Chalpin uns wirklich nicht erkannt?! – Er sprach mit Harst über die Kreolin und deren Helfershelfer, tat so, als ob das Mädchen bisher nie an solche Streiche gedacht hätte.
Es war eine Situation, aus der ich beim besten Willen nicht klug wurde.
An einer einsamen Uferstelle des Außenhafens hielt der Wagen. Hier gab es einen halb verfallenen Bootssteg. Ein Motorkutter lag daran vertäut.
Wieder torkelten wir beide schwerfällig dem Stege zu, betraten den Kutter, der hinten eine kleine Kajüte hatte. – Chalpin ging voran die Treppe hinunter.
Wir setzten uns auf die eine Bank. Der Motor sprang an. Der Kutter kam in Fahrt.
Chalpin saß uns gegenüber. Er lächelte plötzlich.
Durch die zweite Tür der Kajüte traten schnell zwei riesige Mulatten ein.
Haralds Hand schnellte hoch. In dieser Hand lag die Clementpistole.
„Hände hoch!“ rief er den beiden braunen Athleten zu.
Auch ich hatte schon meine Waffe herausgerissen, zielte auf Chalpin.
Und Pertinax Chalpin lachte meckernd und sagte: „Drücken Sie nur ab! Wie haben die Patronen nämlich entfernt! Diesmal sind Sie der Reingefallene, Master Harst! Bei Orsorio in der Bodega konnten wir Sie beide nicht gut abtun. Das hätte herauskommen können. Nun aber weiß keine Menschenseele, wo Sie beide geblieben sind.“
Harald zog den Patronenrahmen aus seiner Waffe; er war leer.
Er steckte die Pistole in die Innentasche seiner Matrosenbluse, meinte ruhig: „Monsieur Chalpin, jeder macht mal eine Dummheit. – Wir beide sollen also verschwinden – für immer!“
Pertinax und die Mulatten, die inzwischen ihre Revolver hervorgeholt hatten, grinsten in einer Weise, daß einem das Blut in den Adern gerinnen konnte. Satanische Bosheit, Hohn und Triumph leuchtete aus ihren verzerrten Fratzen.
„Wir können jetzt mit offenen Karten spielen,“ sagte Chalpin. „Sie brauchen nicht mehr zu lügen, Master Harst, ebensowenig wie ich es tun werde. – Daß Sie nicht verwundet waren, wußte ich durch die Kreolin Josefa, die Ihrem Freunde so liebevoll half. Ebenso wußte ich, daß Sie heute früh wieder bei den Selvilles gewesen waren. Ich hatte deren Häuschen beobachten lassen. Ich kam nur deshalb zu ihnen auf die Atlanta, um Sie beide in eine Falle zu locken. Mein Bootsmann ruderte absichtlich so langsam. Und der Überfall auf Sie beide in der Bodega hatte nur den Zweck, Ihre Pistolen unschädlich zu machen, Sie aber anderseits auch auf den Kutter hier zu verschleppen, wohin Sie mir auch folgten weil Sie sich noch im Besitz Ihrer geladenen Waffen wähnten. – Sie sehen – ich habe selbst einen Harst hineingelegt, sehen auch, daß ich ganz ehrlich bin. Den alten Folianten brachte ich nur zum Schein mit auf die Atlanta.“ Er grinste wieder. „So – und nun erklären Sie mir, wie Sie gegen mich den Verdacht geschöpft haben, als Detektiv bei dem Selville-Prozeß nicht ganz einwandfrei vorgegangen zu sein. Denn Sie haben Verdacht geschöpft! Ihr ganzes Verhalten beweist das!“
Harald hatte sich an die Bordwand gelehnt und die Arme über der Brust verschränkt.
„Allerdings, Chalpin, ich war sofort argwöhnisch geworden, schon als Sie uns per Rad folgten,“ erwiderte er kühl. „Ich las die Zeitungsausschnitte über den Prozeß. Da wurde mein Verdacht fast zur Gewißheit – fast! Ich kannte ja das Motiv noch nicht, das Sie zu diesem Schurkenstreich veranlaßt hatte. Heute morgen bei Selville ging mir ein kleines Licht über dieses Motiv auf. Und als Sie mir den Folianten zeigten, ein großes. – Zunächst eine Frage, Chalpin: Sie haben Edward Selville verschwinden lassen wollen, wie auch wir jetzt verschwinden werden, – das heißt, – uns werden Sie in die See werfen, während Sie Selville lebend auf der Sträflingsinsel sozusagen begruben.“
„Stimmt, Master Harst, – Edward mußte verschwinden. Das Giftfläschchen habe ich in den Schreibtisch geschmuggelt. Ich mußte wochenlang warten, bevor sich die Gelegenheit zu diesem Streich bot. Die Umstände waren dann aber auch selten günstig.“
„Der Mann, der die Kreolin Manuela besuchte, waren Sie in einer Verkleidung, und Manuela haben Sie dann rechtzeitig weggeschickt.“
„Ja, Master Hast. Und ich schüttete das Gift Frau Selville in die Limonade. Einen Nachschlüssel zu der Wohnung besaß ich längst. – Nun wissen Sie alles. Nun möchte ich noch von Ihnen etwas über das Motiv hören, das mich zu diesem Morde und zu Edward Selvilles Vernichtung trieb und das Sie angeblich entdeckt haben.“ Er lachte ironisch auf. „Wenn Sie es wirklich herausgefunden haben, dieses Motiv, dann – dann schenke ich Ihnen das Leben! Mein Wort darauf! Aber – es ist eben unmöglich, daß Sie es irgendwie herausgeklügelt haben. Dazu ist niemand imstande – niemand!“
„Meinen Sie?!“
Chalpin wurde nun doch stutzig.
„Meinen Sie!“ wiederholte Harald ernst und sehr bestimmt. „Falls Ihre braunen Freunde da über dieses Motiv im unklaren sind, schicken Sie sie lieber hinaus.“
Chalpin zuckte die Achseln. „Lächerlich! Nichts als Wichtigtuerei!“ Aber er war doch unsicher geworden.
„Don Sellavilla de la Rocka,“ sagte Harald jetzt leise.
Chalpin fuhr empor. „Verdammt!“ zischte er. „Mann, was meinen Sie damit?!“
Dann befahl er den Mulatten: „Geht! Ich pfeife, wenn ich Euch brauche –“
Die Kerle zogen sich sehr widerwillig zurück.
Wir waren mit Chalpin allein. Er hatte sich wieder gesetzt, hatte den rechten Arm auf den Tisch gestützt, der zwischen den Wandbänken stand, und hielt den Finger am Abzug seines Revolvers.
„Reden Sie!“ rief er nervös. „Was soll der Name?!“
„Frau Selville erzählte mir heute, daß der Großvater Ihres Gatten seinen portugiesischen Namen Sellavilla de la Rocka in Selville umgeändert hätte, nachdem er eine Französin geheiratet hatte. Die Familie Sellavilla war einst sehr reich, bis ihre Hazienda vollständig niederbrannte. Jener Sellavilla, der sich Selville später nannte, erhielt im Jahre 1801 zwei Briefe kurz hintereinander, die genau denselben Wortlaut hatten. Den Briefen lag je eine Zeichnung bei. Aber jener Selville wußte mit den Briefen und den Zeichnungen nichts anzufangen. Beides, Inhalt der Schreiben und die Skizzen blieb ihm unverständlich. Aber beides wurde auch in der Familie als Kuriosa sozusagen aufbewahrt, vererbte sich bis auf Edward Selville. Vor vier Jahren zogen Sie dann hierher. – Entschuldigen Sie, Chalpin, aber hier muß es Flöhe geben –“ Er fuhr mit der Rechten in den Ausschnitt der Matrosenbluse und kratzte sich.
„Weiter – verdammt! Weiter!“ kreischte Chalpin ungeduldig.
„Sie galten hier bald als kluger Mann. Vor drei Jahren ging Edward Selville mit den Briefen und den Zeichnungen zu Ihnen und fragte Sie, ob Sie vielleicht herausfinden könnten, was beides zu bedeuten hätte. Er ließ Ihnen beide Briefe und beide Skizzen da. Nach drei Monaten sagten Sie ihm, Sie hätten die Papiere aus Versehen leider verbrannt; im übrigen seien Sie auch überzeugt, der Briefschreiber hätte sich mit alledem nur einen Scherz leisten wollen. Edward glaubte Ihnen, und die Sache geriet in Vergessenheit, bis ich heute früh durch geduldiges Ausfragen auch diese Einzelheiten von Edwards Mutter erfuhr. Kurz: Sie haben Edward zum Sträfling auf Lebenszeit gemacht dieser Briefe und Zeichnungen wegen, von denen Sie die eine Skizze in den alten Folianten eingeklebt und die Wurmlöcher künstlich durch Stiche hervorgerufen haben. Diese Löcher kennzeichneten sich schon durch Betasten mit den Fingerspitzen als Stiche, denn sie hatten an der einen Seite des Blattes einen erhöhten Rand.“
„Nun gut! – Und wegen dieser Papierwische soll ich gemordet haben?! Das ist albern!“
„Durchaus nicht albern! Es handelt sich ja dabei um einen Schatz! Und den getrauten Sie sich erst zu heben, nachdem Edward Selville, den Sie als früheren Besitzer der Zeichnungen und als den wahren Erben des Piratenkapitäns immer noch aus irgend einem Grunde fürchteten, beseitigt und über seinen Prozeß Gras gewachsen war.“
Chalpin stierte Harald mit aufgerissenen Augen an.
„Ah – Sie – Sie sollen sofort zur Hölle –“
Weiter kam er nicht.
Haralds Rechte fuhr aus dem Blusenausschnitt heraus. Ein Knall – noch einer:
Chalpin war nach hinten umgesunken. Harald hatte ihm das rechte Hand- und Schultergelenk zerschossen.
Mit einem Satz war ich am Tische, hob Chalpins Revolver auf. Harald stürmte schon die Treppe empor.
Drei dünne Knalle. – Als ich ebenfalls auf Deck anlangte, schlenkerten die drei im Kutter befindlichen Mulatten ihre verstümmelten Hände hin und her. – Ich fesselte sie. Dann sperrten wir sie in den vorderen Verschlag des Kutters ein, stellten den Motor ab und eilten in die Kajüte zurück.
Chalpin lag ohnmächtig auf der Bank. Harst durchsuchte ihn. In einem Ledertäschchen trug Chalpin auf der Brust zwei vergilbte Briefe und eine ebenso mürbe Zeichnung. Harald steckte sie zu sich.
Dann fuhren wir nach Pernambuco zurück. Als wir dort anlangten, war Chalpin tot. Er hatte, nachdem er wieder zu sich gekommen war, Gift geschluckt.
Von dem wahren Sachverhalt machten wir der Polizei vorläufig keine Mitteilung. Harald wollte im Interesse der Familie Selville das Geheimnis des Brasilianers erst restlos aufklären. Wie und wo dies geschah, schildere ich im nächsten Abenteuer. Ich will hier nur noch erwähnen, daß Harald in der Innentasche seiner Bluse einen zweiten, gefüllten Patronenrahmen stecken hatte, den er dann so geschickt in die Waffe schob, daß nicht einmal ich seinen Trick durchschaut hatte.
Nachdem wir sofort nach unserer Rückkehr mit dem Motorkutter, in dessen Kajüte die Leiche Pertinax Chalpins lag, vor der Polizeibehörde in Pernambuco alles Nötige zu Protokoll gegeben hatten, erklärte der inzwischen herbeigerufene Vertreter des Gerichts, daß unter diesen Umständen sofort ein Dampfer nach der Sträflingsinsel Noronha geschickt werden würde, der Edward Selville nach Pernambuco bringen solle. Bis zur Beendigung des Wiederaufnahmeverfahrens müsse Selville freilich noch im Gefängnis bleiben. Es würden ihm alle nur irgend möglichen Erleichterungen seiner Haft gewährt werden.
„Wann gedenken Sie den Dampfer in See gehen zu lassen, Sennor?“ fragte Harald den Beamten.
„Heute abend noch.“
„Würden Sie gestatten, daß mein Freund und ich dieses Schiff mit benutzen? Wir möchten uns einmal eine Sträflingsinsel ansehen.“
„Der Besuch von Privatpersonen auf Noronha ist zwar verboten. Aber mit Ihnen beiden machen wir gern eine Ausnahme. Der Kapitän des Regierungsdampfers wird Befehl erhalten, Sie mitzunehmen, falls Sie es nicht vorziehen, Ihre Jacht Atlanta zur Überfahrt dorthin zu benutzen. Ich würde Ihnen dann einen Ausweis für den Gouverneur der Insel mitgeben.“
„So – dann bitte ich um diesen Ausweis, Sennor. Vielleicht senden Sie ihn mir auf die Atlanta.“ –
Gleich darauf begaben wir uns in das Häuschen der beiden Selvilleschen Damen, die sich jetzt kärglich durch Gemüsebau und Handarbeiten ernährten.
Frau Selville und ihre Tochter Rosarita weinten Freudentränen und konnten gar nicht genug Dankesworte finden.
Harald wehrte freundlich ab. „Mistreß Selville, das, was ich für Sie getan, ist erst der Anfang,“ meinte er. „Ich habe Ihnen bisher nichts von dem Geheimnis des Brasilianers mitgeteilt. Dieses Geheimnis sollen Sie jetzt erfahren. Schweigen Sie aber darüber. Es handelt sich fraglos um viele Millionen, und die Habgier der Menschen ist schnell geweckt. Deshalb habe ich auch der Polizei gegenüber das Motiv zu Chalpins Schurkenstreich so hingestellt, als ob Chalpin lediglich aus Ehrgeiz, eben um für einen begabten Detektiv zu gelten, Ihre Schwiegertochter vergiftete und Ihren Sohn ins Unglück stürzte.“
Die beiden Frauen starrten Harald völlig verständnislos an.
„Geheimnis – Millionen?!“ meinte Frau Selville. „Ich wüßte nicht, wie –“
„Ich werde Ihnen kurz die Hauptsachen erzählen, Mistreß.“
Harst tat es in seiner klaren, übersichtlichen Art. Als er das Tagebuch des Grafen Om… erwähnte und auch dessen schlimmsten Jugendstreich, die Einäscherung der Hazienda des Don Sellavilla de la Rocka, rief Frau Selville:
„Oh – das kann dann nur der Sohn des Grafen Omagastra gewesen sein! Wir haben eine alte Familienchronik, in der von dem Brande und dem jungen Grafen Alfonso Omagastra etwa drei Seiten handeln.“
„Dann wüßten wir jetzt also auch den Namen des Piratenführers, Mistreß. Ich möchte Ihnen nun keine zu großen Hoffnungen auf die verborgenen Schätze machen. Die Zeichnungen, die der reuige Graf den beiden Briefen beifügte, sind sehr schlau ausgeklügelt, genau so wie der gleichlautende Text der Briefe. Immerhin ist es möglich, daß ich die vier eichenen Fässer finde.“ –
Nach einer Stunde kehrten wir an Bord der Atlanta zurück, wo Kapitän Banfy uns mit der Unglücksnachricht empfing, daß drei unserer Leute, darunter Steuermann Morris und der Maschinist plötzlich an Gelbfieber erkrankt und ins Hospital gebracht worden seien.
Harald ordnete an, Banfy solle die Mannschaft sofort durch zuverlässige Leute ergänzen, da wir nachmittags um 6 Uhr in See gehen würden.
Der Ausweis für den Gouverneur der Sträflingsinsel war schon eingetroffen. Harst steckte ihn zu sich, und dann begaben wir uns ins Hotel Excelsior, wo wir zu Mittag aßen, unsere Rechnung beglichen und unsere Koffer an Bord zurückschaffen ließen.
Der Tod Pertinax Chalpins und dessen Geständnis war inzwischen durch Extrablätter bereits bekannt geworden. Hoteldirektor Walker gratulierte uns zu diesem Erfolge, und bald waren wir der Mittelpunkt der Neugier der gesamten Gäste des Speisesaales.
Wir waren an derlei Belästigungen durch zudringliche Blicke schon gewöhnt. Es dauerte auch nicht lange, als sich von einem entfernteren Tische ein schlanker, jüngerer Herr erhob, dessen schmales Gesicht, nachlässig-selbstbewußte Haltung und unauffällig elegante Kleidung ihn als vornehmen Engländer kennzeichneten.
Er verbeugte sich leicht.
„Gestatten – Lord Vincent Salmour,“ stellte er sich vor.
Wir hatten uns erhoben. Harst nannte unsere Namen.
„Nehmen Sie Platz, Mylord –“
Salmour dankte und setzte sich. Er hatte das typische englische leicht blasierte, undurchdringliche Gesicht. Er trug keinen Bart. Seine Züge hatten etwas Mädchenhaftes an sich. Das Monokel im rechten Auge saß ihm wie festgemauert.
„Mein Vetter Edward Wolpoore hat mir Grüße an Sie aufgetragen, Master Harst,“ begann der Lord, den ich auf etwa 28 Jahre schätzte. „Ich befinde mich auf einer Reise um die Welt infolge einer Wette, und Wolpoore meinte, vielleicht würde ich Ihnen irgendwo begegnen. Sie haben Wolpoore damals in Indien von den Thugs befreit und das vergißt er Ihnen nie. Er ist Ihr glühendster Bewunderer.“
Lord Salmour ließ seine Flasche Wein zu uns herüberbringen. Im Laufe der Unterhaltung erfuhren wir, daß er eine Wette abgeschlossen hätte, ohne einen Penny die Reise um die Welt auszuführen und ohne sich je auf seinen Namen, der ihm überall Kredit verschafft hätte, berufen zu dürfen.
„Ich reise als simpler Master Vincent Wendwoord,“ erzählte er gleichmütig. „Ich werde nachher ein Buch über meine Erfahrungen als „armer Mann“ schreiben. Zur Zeit bin ich als Wendwoord Reisebegleiter eines an sich ekelhaften brasilianischen Emporkömmlings. Ich war aber auch schon Kellner, Heizer, Ochsenkarrenführer und Zauberkünstler. Meine Reiseroute ist mir genau vorgeschrieben. Das erschwert die Sache. Ich muß die Welt in sechs Monaten umrundet haben. Ich werde die Wette gewinnen. – Vorhin las ich das Extrablatt. Man wird den armen Selville nun wohl freilassen müssen.“
Harald erwähnte, daß wir um sechs nach Noronha in See gehen würden.
„Schade. Ich wäre gern mitgekommen,“ meinte der Lord. „Ich darf nicht. Mein Brotherr reist abends nach dem Innern, wo er große Plantagen besitzt. Ich will die Herren dann nicht weiter stören, muß mich auch nach Sennor Ariba umsehen.“
Er verbeugte sich leicht und verließ den Speisesaal.
Es war jetzt vier Uhr nachmittags. – Der Kellner brachte uns den letzten Gang des Menüs.
„Ein waschechter Engländer,“ lächelte Harald. „Ich glaube, den bringt nichts aus der Ruhe. Die Salmours sind ungeheuer reich. Wolpoore sprach mal über diese Verwandten. Sie sollen alle einen ziemlichen Spleen haben. Diese Wette beweist das. Aber trotzdem ist Salmour ein recht sympathischer Mensch und – Ah – Direktor Walker naht sich mit einer Miene, als ob ihm –“
Walker stand schon vor uns.
„Master Harst, – eine scheußliche Geschichte ist soeben passiert –“
„Diebstahl?!“
„Nein. Raubüberfall im oberen Flur des Hotels. Es wohnt hier ein Plantagenbesitzer Ariba mit seinem Privatsekretär. Ich saß im Bureau, als dieser Sekretär Mr. Wendwoord blutend soeben eintrat und mir meldete, daß er im Flur von hinten niedergeschlagen worden sei. Er hatte die Reisekasse bei sich – gegen 10 000 Pfund in Banknoten. Man hat ihm die Brieftasche mit dem Gelde geraubt und auch seine Uhr. Er ist jetzt zu einem Arzt gefahren. Sennor Ariba läßt die Sache ziemlich kalt. Würden Sie nicht vielleicht –“
Harald winkte ab. „Unmöglich. Ich verlasse Pernambuco in anderthalb Stunden und habe noch einige Einkäufe zu erledigen. – Dieser Wendwoord war wohl sehr erregt über sein Pech?“
„Keine Spur, Master Harst. Er sagte nur etwas von „Wette nun doch verloren. Muß das Geld ersetzen und den Schleier lüften“. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Es ist ein sehr eleganter Herr, dieser Wendwoord.“
„Wir kennen ihn. Grüßen Sie ihn von uns und sprechen Sie ihm mein Bedauern aus, daß ich leider nicht Zeit habe, ihm[5] irgendwie zu helfen, wenigstens jetzt nicht. Übermorgen treffe ich hier wieder ein. Sollte die Polizei in dieser Angelegenheit bis dahin nichts ausgerichtet haben, dann werde ich sie nachprüfen, obwohl derartige Fälle mich kaum interessieren.“ –
Als wir dann kurz vor sechs uns nach der Atlanta rudern ließen, begegneten wir auf dem Wege zur Jacht einem anderen Boote, in dem Kapitän Banfy mit den drei neu angeworbenen Leuten saß.
Es waren dies zwei Engländer und ein Franzose, alles ältere Männer, die Banfy ganz zufällig in einer Hafenkneipe getroffen hatte. Sie machten einen vorzüglichen Eindruck, besonders der Ersatzmann für Morris war so eine Art Unikum und stellte ich uns mit den Worten vor:
„Ich kann alles – trotz meines Namens Sheep (Schaf), Master Harst. Sogar etwas deutsch kann ich; am besten aber trinken. Ich war noch nie betrunken. Ich vertrage zu viel. Wenn Sie’s mal probieren wollen –“
Daß dieser Tom Sheep dem Alkohol nicht abgeneigt war, sah man seiner Nase und seinen Backen an. Sie schimmerten verdächtig blaurot, und die kleinen Augen schwammen dauernd in Tränen. –
Um ¼7 verließen wir den Innenhafen, steuerten an dem endlos langen Korallenriff entlang, das sich wie eine Mole schützend vor dem Hafen hinzieht, und nahmen nordöstlichen Kurs auf Noronha, welches etwa 45 (deutsche) Meilen von der brasilianischen Küste entfernt im Atlantik liegt.
Es war ziemlich windstill. Als wir erst die offene See erreicht hatten, schaukelte die Atlanta ruhig und gleichmäßig auf den langen Wogen des Ozeans. –
Wir hatten das Abendessen hinter uns. Unser Koch und Steward Hull räumte den Tisch im Salon ab, brachte für Banfy den Schlaftrunk, halb Wasser, halb Rum, stellte die Aschbecher zurecht und verschwand.
„So – nun los!“ meinte Banfy behaglich. „Raus mit den Briefen und den Zeitungen. Möchte mir die Geschichte doch auch ansehen –“
Harald legte einen der Briefe und die Skizze, die er Chalpin abgenommen hatte, auf das weiße Tischtuch.
Banfy und ich rückten näher.
„Ich will hier zuerst den Brief in deutscher Übersetzung wiedergeben:
2. Juli 1801.
An
Don Eustachio Sellavilla de la Rocka
Pernambuco
Rua das Palmas.
Seit vielen, vielen Jahren war ich wieder in der zweiten Heimat, habe Sie von ferne gesehen, habe auch die Stätte meiner damaligen schlimmen Tat besucht. Mein Leben nähert sich seinem Ziele. Im Alter regt sich das Gewissen stärker. Man möchte gutmachen, was man einst verbrach. Nehmen Sie die beifolgende Zeichnung, wenden Sie sich der aufgehenden Sonne zu und denken Sie an den, der Sie und Ihre Familie glücklich sehen möchte, nachdem er das Unglück für viele war. Denken Sie recht scharf an diesen Namen, an die drei O, an die vier A und das einzelne N und R, was übrigbleibt. Sie werden dann alles verstehen, wenn Sie das Meer rauschen hören und die Brandungswelle über die Riffe ins Dunkel hinein schäumend die Hörner umgurgelt. Packen Sie den Stier bei den Hörnern. Es bringt Glück. Dieses Glück fleht auf Sie herab – einst ein Feind, jetzt ein Freund.“
„Das klingt, als hätte ein Verrückter die Geschichte verfaßt,“ meinte Banfy und stopfte seine Pfeife.
„Und doch schrieb es einer, der als Greis noch einen außerordentlich klaren Kopf besaß und der annahm, daß auch andere all diese Andeutungen und Hinweise verstehen würden,“ sagte Harald ernst. „Leider aber verstand jener Eustachio Sellavilla nichts – nichts davon. Und so blieb das Geheimnis des Brasilianers bis heute ein Geheimnis.“
„Bis heute?!“ fragte Banfy. „Dann müßten Sie gerade heute es aufklären, Master Harst.“
„Das will ich auch. Wenigstens will ich es versuchen. Ich habe bisher nicht Zeit gehabt, Brief und Skizze zu prüfen. Mag Schraut sich jetzt mal über den Brieftext äußern.“
Ich tat es.
„Es ist klar, daß Graf Alfonso Omagastra den Empfänger des Briefes vorsichtig auf seine Person aufmerksam machen wollte. Da heißt es ja außer den anderen Hinweisen: Denken Sie recht scharf an diesen Namen, an die drei O, die vier A, – und so weiter. – Der Name Alfonso Omagastra enthält dreimal den Buchstaben O, viermal ein A. – Freilich, die anderen Andeutungen sind mir ebenfalls unverständlich.“
Harald rauchte seine Mirakulum und starrte wie gebannt auf den vergilbten Brief. Er schien gar nicht auf meine Worte hingehört zu haben.
„Mit dieser Weisheit können Sie sich begraben lassen,“ lachte Banfy. „Master Harst – nun mal die Zeichnung!“
Harald rührte sich nicht.
Ich winkte Banfy zu, sich still zu verhalten.
Ich nahm die Zeichnung, die neben Haralds linker Hand lag, leise auf und breitete sie zwischen Banfy und mir aus.
Es war ein Blatt Papier in der Größe von etwa 20 zu 30 Zentimeter. Es war der Länge und Breite nach genau in der Mitte gefaltet und zusammengelegt gewesen. Die Kniffe waren im Laufe der Zeit so brüchig geworden, daß die derart abgeteilten Vierecke kaum noch zusammenhielten.
Ich besann mich, daß die zweite Zeichnung, die Chalpin in den alten Folianten eingeklebt hatte, genau dieser Skizze glich und daß auch dort dieses durch die Kniffe entstandene brüchige Kreuz entstanden war.
Der Foliant lag übrigens jetzt in einem unserer Koffer eingeschlossen.
„Daraus wird kein Mensch klug,“ flüsterte Banfy. „Man weiß ja nicht mal, was bei diesem Wisch oben und unten ist. Und die wenigen Linien und Zahlen werden uns kaum verraten, wo der alte Seeräuber seine vier eichenen Fässer eingebuddelt hat.“
Er hatte sehr leise geflüstert, um Harald nicht zu stören. Und wir waren daher recht überrascht, als Harst jetzt sagte:
„Vielleicht doch, Banfy!“ – Er warf den Zigarettenrest in den Aschbecher. „Oder – um ehrlich zu sein: ich glaube bereits zu wissen, wo Graf Omagastra seine Schätze vergrub –“
Banfy lachte. „Na, na, – so schnell, Master Harst?!“
„Bitte, lieber Banfy, bedenken Sie das eine: der Graf konnte doch die Entzifferung dieser Skizze – ich betone: Entzifferung! – seinem Erben nicht allzuschwer machen. Er mußte mit einem Durchschnittsverstand bei dem Briefempfänger rechnen. Aber – sein Maßstab für geistige Regsamkeit war eben ein zu großer. Er hoffte, er hätte den Don Eustachio genügend mit der Nase auf das Wichtigste gestoßen. Er hoffte – und hatte sich getäuscht. – Kurz – die Entzifferung der Skizze muß spielend leicht sein, wenn man erst den „Haupttrick“ kennt! – Ich kenne ihn, Banfy, und ich wundere mich, daß Freund Schraut hier so total versagt. Oder – bist Du bereits im Bilde, mein Alter?“
„Leider nein,“ bekannte ich beschämt. –
Doch, der Leser mag nun selbst seine eigene geistige Regsamkeit prüfen und sich die Skizze herstellen.
ABCD ist das Blatt Papier. EF ist der eine brüchige Kniff. GH der andere. Am Rande der vier Kanten des Blattes stand in der Mitte stets dieselbe Zahl: 1323114, während etwa in der Mitte das Viereck mit den beiden vorspringenden kleineren Vierecken sich befand. In dem Viereck war ein kleines Quadrat zu sehen, in dem einen vorspringenden Viereck aber ein Kreis mit zwei schrägen Strichen darauf. Von dem Kreise zog sich eine Reihe immer länger werdender Striche über den Umriß des vorspringenden Vierecks hinaus.
„Es ist der Grundriß eines Gebäudes,“ erklärte Banfy plötzlich sehr bestimmt. „Eines Schlosses mit zwei Seitenflügeln. Die Striche an dem einen Seitenflügel stellen eine Freitreppe dar. Der Kreis kann der Sockel einer Statue sein. – Nicht wahr, Master Harst ich bin doch auf der richtigen Fährte?“
„Das sind Sie nicht, Banfy.“
„Na – und weshalb nicht?“
„Zunächst müssen wir doch feststellen, was bei der Skizze oben und unten ist, das heißt, wie man sie halten soll,“ meinte Harald lächelnd.
„Die vier Zahlen,“ fuhr Harald fort, „geben uns einen Wink, was Norden und Süden, das heißt oben und unten ist. Nur wenn die vorspringenden Vierecke der Figur nach rechts, nach Osten weisen, stehen die Zahlen am oberen und unteren Rande des Blattes so, daß keine auf dem Kopf liegt. Nur so kann man oben die 1323114 und unten die 1323114 ohne Drehung des Blattes lesen.“
„Sehr gut!“ nickte Banfy, „Nun aber weiter?“
„Ja – als zweites müssen wir diese Zahlen mal unter die Lupe nehmen, lieber Käpten!“
„Da wird die schärfste Lupe nichts nützen!“
„Aber vielleicht der Begleitbrief, Banfy. Der Pirat sagt da in seinem Schreiben: „Denken Sie recht scharf an diesen Namen!“ – Es ist mit aller Gewißheit aus den vorhergehenden Sätzen zu entnehmen, daß der Graf nur seinen eigenen Namen dabei im Auge hatte, also Alfonso Omagastra. Dann spricht er von den vier A, den drei O. Natürlich auch mit Absicht. – Ich sagte ja schon: die Sache ist kinderleicht, wenn man den „Trick“ kennt. Und der Trick steckt in diesem Hinweis auf den Namen und die Buchstaben.“
Jetzt ging mir ein Licht auf.
„Ich hab’s!“ rief ich. „Ich hab’s!“
„Dann brülle nicht so!“ warnte Harald. „Bitte, was hast Du?!“
„In der Ziffernreihe 1323114 ist 4 gleich A, 3 gleich O.“
Banfy hatte schon sein Notizbuch gezogen und schrieb auf ein leeres Blatt:
1323114
O O A
meinte dann: „Damit kommen wir nicht weiter!“
„Nein, Käpten – aber mit dem Briefe kommen wir weiter, denn der Graf schreibt: „– und das einzelne N und R, was übrigbleibt“. Damit deutet er doch fraglos auf diese anderen Buchstaben seines Namens hin. – Geben Sie mir mal den Bleistift, Banfy. Ich will Ihre Zahlenreihe und die drei Buchstaben etwas ergänzen, so –“
Und er schrieb:
Alfonso Omagastra,
4 3 3 3 4 4 4
sagte dann:
„Es fehlt uns bisher in der Ziffernreihe der Buchstabe für 1 und für 2. Versuchen wir es nun mal mit dem N und dem R, die der Graf gleichfalls hervorgehoben hat. Wenn wir R für 1 setzen, bekommen wir falls 2 gleich N ist, heraus: RONORRA. – Das klingt leidlich hübsch. Aber besser klingt es, wenn man 1 gleich N und R gleich 2 setzt, so –“
1323114
NORONNA
„Verdammt!“ entfuhr es unserem braven Banfy. „Das ist ja die andere Schreibweise des Namens der Sträflingsinsel!“
„Allerdings – die ältere Schreibweise, lieber Käpten. Und Ihr „Schloß“ ist eben die Insel Noronha; die Seitenflügel sind wahrscheinlich Halbinseln; das Quadrat oben links vielleicht ein See, und die Striche – Doch, das möchte ich lieber noch für mich behalten. Wir werden ja an Ort und Stelle nachprüfen, ob Noronha etwa Viereckform hat und zwei Halbinseln nach Osten in die See hinausschiebt.“
„Toll – toll!“ murmelte Banfy. „Sollte man’s für möglich halten: gerade Noronha!“
„Oh – das ist doch nicht weiter wunderbar,“ meinte Harald. „Der Graf schreibt ja, daß er nach vielen Jahren wieder in der zweiten Heimat, also in Brasilien, gewesen war. Und mit diesem Besuch meint er eben seine Reise, die er zum Zwecke der sicheren Unterbringung seiner Schätze unternahm. Noronna oder Noronha war damals noch unbewohnt. Es ist erst seit 1869 Sträflingskolonie. Vielleicht hat der Graf gerade diese Insel erwählt, weil er deren Namen gerade bequem durch seinen eigenen oder durch die Zahlen ausdrücken konnte.“
„Hm, auch das leuchtet mir ein,“ nicke Banfy. „Muß ja ein schlauer alter Knabe gewesen sein, dieser Seeräuber! – Wo aber liegen nun die vier Fässer?“
„Wo man den Stier an den Hörnern packen muß –“
„Alle Wetter – ein Gedanke, Master Harst: der kleine Kreis mit den zwei schrägen Strichen soll einen Stierschädel vorstellen!“
„Das denke ich auch, Banfy!“
„Und – die Wellen sollen diese Stierhörner umgurgeln?!“ brummte Banfy. „Was heißt das wohl?“
„Das – das weiß ich auch noch nicht,“ erklärte Harald und gähnte. „Wir wollen jetzt schlafen gehen. Für heute ist’s genug. – Wann können wir in Noronha sein?“
Banfy überlegte. „Etwa um Mitternacht.“ Er zog seine Uhr. „Jetzt ist’s dreiviertel zehn. Ja – bestimmt um Mitternacht.“
„Dann geben Sie Befehl, daß wir bis zum Morgen irgend eine Bucht an der Südostküste anlaufen, Banfy. Der Hafen Fernando, zugleich Hauptort der Insel, liegt ja auf der Westseite. Man soll uns wecken, sobald der Morgen graut. Der Regierungsdampfer wird wohl erst später in Fernando eintreffen.“
Banfy ging in seine Kabine.
Harald holte jetzt den Folianten aus dem Koffer, riß die Skizze heraus, zündete zu meinem maßlosen Erstaunen sein Feuerzeug an und verbrannte diese Skizze, dann auch den einen Brief.
Er stand dabei mit dem Rücken nach der zweiten Tür hin, die in den Kabinengang führte.
Ich saß ebenfalls mich dem Rücken nach dorthin, fragte nun, als er nach der zweiten Skizze griff:
„Wozu das, Harald?“
In demselben Augenblick knarrte die Tür leise.
Wir schauten uns um.
Da stand Tom Sheep der neue Steuermann, hatte jetzt ein Monokel im rechten Auge und in der rechten Hand einen Revolver.
„’n Abend, meine Herren,“ sagte er in fließendem Deutsch. „Es tut mir leid, Sie ein wenig unter Aufsicht stellen zu müssen –“
Seine Stimme klang ganz anders, erinnerte mich sofort an – Lord Salmours kühle, blasierte Stimme, zumal das Monokel mir ebenfalls den Lord ins Gedächtnis zurückrief.
„Setzen Sie sich, Herr Harst,“ fuhr dieser merkwürdige Tom Sheep fort. „Ich schieße brillant. Sie werden nicht so töricht sein, mich zum Abdrücken zu zwingen. Ihre berühmten Clementpistolen liegen in Ihren Koffern. Außerdem – bitte, dort an der zweiten Tür steht mein Freund Jonathan Wrigg, ein Ehrenmann durch und durch – wie ich! Banfy und die drei Matrosen haben wir bereits so ein wenig gefesselt. Sie hätten uns hier stören können. – Bitte – recken Sie beide jetzt die Arme hoch. – So, danke! – Jonathan, tu’ Deine Pflicht!“
Und der neue Matrose Jonathan Wrigg hatte uns im Nu die Hände kreuzweis über der Brust zusammengebunden.
Wir saßen wehrlos in unseren Korbsesseln. Und Tom Sheep sagte nun in derselben ironisch-blasierten Art:
„Jonathan, kümmere Dich um die Motoren, mein Sohn. Ich brauche Dich hier nicht mehr.“
Wrigg verschwand. Der Monokel-Tom setzte sich zu uns an den Tisch, legte seinen Revolver vor sich hin und – klappte ihn auf!
Es war eine Blechattrappe in Revolverform, die zugleich Feuerzeug und Zigarettendose war. Er nahm eine Zigarette und rauchte ein paar Züge, lehnte sich zurück und begann:
„Ich bin den Herren ein paar aufklärende Worte schuldig. Vielleicht haben Sie in letzter Zeit den Namen Vincent Saalborg irgendwo gelesen?“
Harald beugte sich vor. Auch in seinem Gesicht malte sich ungläubiges Staunen.
„Sind Sie etwa dieser Saalborg?“ fragte er gespannt.
„Zu dienen. Jener Hochstapler Saalborg, der seit einem Jahr durch seine scherzhaften Gaunerstückchen ganz Nordamerika entzückt hat, der von einigen hundert reichen Damen Heiratsanträge erhielt, der die Reporter der amerikanischen Zeitungen mehr interessiert als der Präsident der Vereinigten Staaten, der nie Gewalt anwendet, der die Hochstapelei zu künstlerischer Höhe hinaufkultiviert hat – denn man kann auch etwas herunterkultivieren, wie die Geschichte der mit europäischer Kultur beglückten Naturvölker zeigt –, der diesen ekelhaften, dicken Plantagenbesitzer Sennor Ariba jetzt um 10 000 Pfund erleichtert hat, kurz, ich bin der sogenannte Vincent Saalborg! In Wahrheit heiße ich nämlich ganz anders.“
„Ich verstehe,“ nickte Harald. „Sie haben den Raubüberfall im Flur des Hotels nur vorgetäuscht, weil Sie eben verduften wollten, um sich für die Atlanta anwerben zu lassen.“
„Sehr richtig. – Als Sie mir erzählten, daß Sie nach Noronha fahren würden, fiel mir mein armer Freund Kamillo ein, den die Brasilianer vor einem Jahr in unhöflicher Weise wegen einer geringfügigen Unternehmung – er wollte in die Tresors der Brasilia-Bank eindringen – nach Noronha verschickt hatten. Ich brauchte für den Plan, der da sofort in mir erstand, etwas Betriebskapital, benutzte rote Wasserfarbe zur Täuschung des Hotelpersonals, ging nicht zum Arzt, sondern in mein zweites Quartier – ich habe stets mehrere Wohnungen – und veränderte mich äußerlich ein wenig. Innerlich bleibe ich stets der gleiche. Dann besorgte ich mir schleunigst zwei Verbündete und die nötigen Papiere, wickelte Ihren braven Banfy hübsch ein, das heißt, ich traf „zufällig“ mit ihm zusammen und kam so mit Jonathan und Jim Knox auf die Atlanta, wo ich dann zu meiner nicht gerade bescheidenen Freude vorhin dort hinter der Gangtür Zeuge Ihrer lehrreichen und vielverheißenden Unterhaltung über die Entzifferung alter Briefe und Skizzen wurde. Wir werden uns jetzt erlauben, Sie beide und Ihre Getreuen auf der nordöstlich von Noronha gelegenen, unbewohnten, winzigen Insel Klein-Fernando auszusetzen, natürlich nebst Lebensmitteln und so weiter. Ich bin kein Bandit, kein Mörder. – Sie sollen sogar Ihre Koffer, Waffen und so weiter behalten. Nur die Atlanta brauche ich für einige Zeit. Sie, Herr Harst, haben ja vom Polizeipräfekten in Pernambuco einen Ausweis mitbekommen, der mir Kamillos Befreiung erleichtern wird. Sobald wir dann in Sicherheit sind, werde ich dafür sorgen, daß Sie alle von Klein-Fernando abgeholt werden. Ich werde also beim Gouverneur der Sträflingskolonie Harald Harst genau so tadellos spielen wie Ihnen gegenüber den Lord Vincent Salmour, den es ja tatsächlich gibt und der auch wirklich infolge einer Wette die Erde umrundet, nur daß er sich jetzt in Yokohama befindet. Selbstverständlich werde ich mir auch erlauben, die Hälfte des Schatzes mitzunehmen, den zu entdecken jetzt eine Kleinigkeit sein dürfte. Die Selvilles haben an der anderen Hälfte noch übergenug. Sie können überzeugt sein, Herr Harst, daß ich dies ganz ehrlich meine. Ich nehme nur die Hälfte. Mein Wort darauf.“
Er griff nach einer neuen Zigarette.
„Sie sind genau so, wie die Zeitungsberichte Sie schilderten, Vincent Saalborg,“ sagte Harald jetzt. „Jedenfalls sind Sie kein Durchschnittsverbrecher. Es wird mir eine Freude sein, Sie kalt zu stellen. Daß ich dies tue, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, ist selbstverständlich.“
„Ganz selbstverständlich,“ nickte Saalborg. „Aber genau so selbstverständlich ist es, daß Sie mich nie fangen werden. Sie haben wohl gelesen, daß ich als Verkleidungskünstler Hervorragendes leiste. Sie werden wohl meine Spur, nie mich selbst finden.“
„Was abzuwarten bleibt,“ meinte Harald kühl.
„Wollen wir wetten, Herr Harst? – Ich besitze etwa drei Millionen Dollar, die ich bisher „verdient“ habe. Das Geld liegt in einer Großbank auf den Namen – Doch nein, das wäre unvorsichtig. Ich biete Ihnen folgende Wette an. Ich werde Ihnen eine Liste von dreißig Städten zusammenstellen, in denen ich der Reihenfolge nach dreißig größere „Dinge drehen“ will. Fassen Sie mich dabei auch nur ein einziges Mal ab, dann haben Sie den Einsatz von einer Million Dollar gewonnen. Ich kenne Sie als untadeligen Ehrenmann. Ich halte mich selbst für nicht minder untadelig, abgesehen von meiner Neigung für das abenteuerliche, nervenprickelnde Hochstaplerleben. Ich spreche hier ganz im Ernst. Wollen Sie die Wette annehmen? Wenn Sie verlieren, zahlen Sie mir eine Million Dollar und lassen mich fernerhin unbelästigt.“
„Sie werden verlieren, Saalborg! Soll denn dieser Fall hier mitrechnen?“
„Wie Sie wollen, Herr Harst.“
„Gut denn. Abgemacht!“ –
So kam diese Wette zustande, die vielleicht das Tollste war, was sich in der[6] Kriminalgeschichte ereignet haben dürfte. So begann unser Feldzug gegen einen Feind, den wir zunächst nur allzu sehr unterschätzten. So erlangte Vincent Saalborg jene Weltberühmtheit, nach der er, der Höflich-Bescheidene, der wahre Gentleman-Gauner nie gestrebt hat. So fand ich Gelegenheit, mit diesem Abenteuer die Schilderung unseres Kampfes gegen einen humorvollen, genialen Hochstapler hier zu beginnen. –
Saalborg drückte Harst die gefesselte Hand.
„Also abgemacht! – Schade um Ihr Geld, Herr Harst. Übrigens darf Ihr Freund Schraut Ihnen bei dieser Jagd natürlich helfen. Das ist für mich nicht weiter störend.“
Er stand auf. „Ich werde Ihnen jetzt Jonathan als Wächter schicken. Vergessen Sie nicht, daß Jonathan ein einfacher Gauner und gewalttätig ist. Sein Revolver ist keine Attrappe. Versuchen Sie am besten zu schlafen. Gegen ein Uhr morgens sind wir auf Klein-Fernando. Auf Wiedersehen.“
Jonathan kam und setzte sich uns gegenüber. Er ließ uns keine Sekunde aus den Augen, antwortete auf keine Frage, war zugeknöpfter als ein spanischer Grande.
Ich nickte schließlich in meinem Sessel ein.
Als Saalborgs Stimme mich weckte, lag die Atlanta in der felsigen Bucht der Insel Klein-Fernando.
Es war noch finstere Nacht. Man schaffte uns an Land, brachte Proviant und alles andere ebenfalls ans Ufer und ließ uns allein. Wir sechs Männer standen nun unter den Uferbäumen, hörten als Abschiedsgruß Saalborgs Ruf:
„In fünf Tagen sind Sie frei, meine Herren!“
Dann verlor sich das Motorengeräusch in der Ferne.
Wir knoteten uns nun gegenseitig die Fesseln auf.
Der alte Banfy war so vollgepfropft mit Wut, daß er nicht mal fluchen konnte.
„Ärgern Sie sich nicht, Käpten,“ tröstete Harst ihn. „Dieser Saalborg hält sein Wort, Sie werden Ihre Jacht nicht verlieren. John,“ wandte er sich an unseren jüngsten Matrosen, „hilf Hull, ein Feuer anzuzünden. Kocht Tee. Ich habe Hunger. Diese paar Tage als Robinsons werden ganz gemütlich werden.“
Saalborg hatte uns auch ein großes Reservesegel da gelassen. Wir bauten daraus ein Zelt. Nachdem wir gegessen hatten, streckten wir uns auf unsere Graslagerstätten zum Schlafe aus.
Banfy weckte uns dann gegen neun Uhr morgens durch ein wahres Wutgeheul.
„Die drei Rumflaschen sind weg! Verdammt – man hat uns bestohlen!“
Unser Koch Hull stellte fest, daß auch noch fünf Büchsen Fleisch und drei Pakete Zwieback fehlten.
„Ein Beweis, daß Klein-Fernando zur Zeit doch nicht unbewohnt ist,“ meinte Harald und schloß unsere Koffer auf, reichte mir meine Pistole und steckte auch die seine in die Tasche. „Bleibt hier. Schraut und ich werden uns mal auf dem Inselchen umschaun,“ fügte er für unsere vier Leidensgefährten hinzu. „Banfy, ich rate Ihnen, die Augen gut offen zu halten. Man kann nie wissen, was für Leute eine solche unbewohnte und abseits jeder Schiffslinie liegende Insel zu ihrer vorläufigen Niederlassung erwählt haben.“
Dann schritten wir davon.
Nachdem wir im großen Bogen unser Lager umgangen und nach Spuren der Diebe gesucht hatten, ohne auch nur die geringste Fährte zu finden, begann eine überaus mühsame Kletterpartie, die uns nach einer Stunde auf den höchsten, vollständig kahlen, wild zerrissenen Berg am Ostufer der Insel brachte. Wir hatten die tief in das Land einschneidende Bucht an einer flachen Stelle durchwatet, wobei wir feststellten, daß sich in die Bucht einige Bäche ergossen und daß sie von zahlreichen Krokodilen in ihren sumpfigen Abzweigungen bevölkert war.
Von der Spitze des Berges konnten wir nun die von Ost nach West etwa eine Meile lange, aber kaum eine halbe Meile breite Insel vollständig überschauen. – Das, was unser Banfy, der als alter Seemann Klein-Fernando vom Hörensagen kannte, über die Nordhälfte der Insel mitgeteilt hatte, fanden wir bestätigt: nur der Südteil um die Bucht herum war felsig; im übrigen gab es nur Sumpf mit undurchdringlichem Dickicht und einigen wenigen Bauminseln darin. Die ganze Nordküste war flach und von Mangroven umsäumt. Kein Wunder, daß Klein-Fernando für äußerst ungesund galt.
Harald hatte sein Fernglas an den Augen und suchte jeden Teil des Inselchens sorgfältig ab.
Dann machte er mich auf einen schwachen Rauchstreifen aufmerksam, der in dem Sumpfe nach Nordwest zu über einer größeren Baumgruppe hing.
„Dort brennt ein Feuer,“ meinte er. „Dort dürften auch die Diebe zu suchen sein.“
Er faßte in die Tasche und holte einen kleinen, halb versengten Leinwandlappen hervor, strich ihn glatt und fuhr fort:
„Dies hob ich dort am Fuße des Berges auf, mein Alter. Es ist sehr vielsagend, wenn man die Nachbarschaft Noronhas berücksichtigt. Dieser einst viereckige, weiß gewesene Lappen wurde als Pulverpfropfen für eine Vorderladerschießwaffe benutzt. Das zeigen die versengten Stellen und die schwarzen Pulverfleckchen. Es ist die Nummer von der Jacke eines Sträflings. Man erkennt noch die Zahl 188. Es sind Sträflinge aus Noronha, die dort sich verborgen halten. Sie können meiner Überzeugung nach erst gestern von Noronha entwichen sein. Wären sie schon früher entwichen, hätte der Polizeipräfekt in Pernambuco uns gegenüber dies wohl erwähnt. Er betonte jedoch, daß eine Flucht aus Noronha den dort Internierten infolge der strengen Überwachung ganz unmöglich gemacht sei. Trifft meine Vermutung, daß diese Sträflinge erst gestern entflohen sind, zu, so wird sehr bald ein Dampfer hier erscheinen und die Insel absuchen. Ich wundere mich, daß er noch nicht da ist. Die Flucht der Leute muß doch längst bemerkt sein. Jedenfalls haben wir Aussicht, in Kurzem befreit zu werden, hoffe ich. Kommt der Dampfer nicht, dann ist mir die Sache unklar.“
„Hm – weshalb sollen diese Sträflinge erst gestern entwichen sein?“
„Weil, wären sie vorgestern entwichen, die Polizeibehörden der Hafenstädte bereits Nachricht erhalten hätten. Die Sträflingskolonie verfügt fraglos über ein paar schnelle Motorboote, schon zu Überwachungszwecken. Ein Motorboot kann in fünf Stunden den nächsten brasilianischen Hafen, und das wäre Macau, erreichen. Der Telegraph hätte die Flucht dann weiter gemeldet.“
„Wenn der Dampfer nicht erscheint, – wie steht die Sache dann?“ fragte ich gespannt.
„Dann, mein Alter, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: es sind nicht Sträflinge, und die Sträflingsnummer ist auf andere Weise hierhin geraten. Zweitens: die Sträflinge haben ihre Flucht so schlau angefangen, daß die Überwachungsbeamten es für ausgeschlossen halten, die Leute könnten sich hierher gewandt haben. – Aber – bitte – rieche!“
Er hielt mir den Pfropfen unter die Nase, meinte:
„Liegt der schon längere Zeit an der freien Luft? Würde sich dann der Pulvergeruch so lange gehalten haben?!“
Tatsächlich – er roch noch ganz intensiv nach Pulvergasen.
„Wir sind gegen ein Uhr morgens hier gelandet. Der Schuß kann nur kurz vorher abgegeben worden sein, wahrscheinlich auf ein Tier, das die Leute erlegen wollen,“ fuhr Harst fort. „So – und nun wollen wir versuchen, in jenen Sumpf einzudringen. Mit Hilfe des Glases habe ich vorhin so etwas wie eine Bodenwelle bemerkt, die sich durch den Morast bis an die Stelle hinzieht, wo der Rauch sichtbar ist. – Auch der Rauch ist recht vielsagend, nicht wahr? Die Leute wissen, daß sie auf der Insel nicht mehr allein sind. Trotzdem zünden sie ein Feuer an. Sie fühlen sich also ganz sicher. Sie haben, als sie die Lebensmittel und den Rum stahlen, festgestellt, daß wir nicht zu ihren Verfolgern gehören. Sie rechnen damit, daß wir den Diebstahl bemerken. Aber sie vertrauen auf die Undurchdringlichkeit des Sumpfes, haben vielleicht auch beobachtet, wie wir gefesselt an Land geschafft wurden. Man könnte diese Kombinationen noch weiter ausdehnen. Lassen wir das. Beschäftigen wir uns mit dem Positiven, mit dem Wege durch den Sumpf und den Sträflingen selbst.“
Wir verließen den Berg. Haralds untrüglicher Ortssinn ließ ihn jene Bodenwelle tatsächlich finden. Es war dies ohne Zweifel der einzige Pfad durch diese grundlosen, tückischen Moräste.
Wir rückten mit größter Vorsicht und unter stetem, angestrengtem Lauschen vor. Der Sumpf zu beiden Seiten war von Wasservögeln, Krokodilen und grünbraunen, kleinen Schlangen bevölkert. Plötzlich hörte jedoch der passierbare, natürliche Erddamm auf. Vor uns schillerte eine schmutzig-grüne, gut zwanzig Meter breite Sumpflache.
Harald suchte den Boden nach Spuren ab. Es fand sich auch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß hier jemals Menschen gewesen. – Wir machten kehrt. Harst meinte flüsternd, wir hätten wohl eine Abzweigung dieser Bodenwelle übersehen. Schritt für Schritt ging es rückwärts. Dann kamen wir an eine Stelle, wo eine riesige Palme, vom Sturme entwurzelt, seitwärts in das Gestrüpp hineingefallen war. Der Stamm war mit Schlingpflanzen so dicht überzogen, daß man das Ganze als Baum erst bei genauestem Hinsehen erkannte.
Und diese Palme war die Brücke, die uns zu einer zweiten, ähnlichen Bodenwelle hinüberbrachte. Harald zeigte mir verschiedene frisch geknickte Ranken auf diesem Stamm. Also war er in gleicher Weise auch von anderen kurz vorher als Pfad benutzt worden.
Nach weiteren zehn Minuten näherten wir uns einer Bauminsel, sahen nun auch den dünnen Rauchstreifen wieder dicht vor uns.
Als wir zwischen den Bäumen langsam vorwärtsdrangen, versperrte uns ein Dickicht von Dornen mit einem Male den Weg. Wir schritten am Rande entlang, denn durch diese stachlige Masse hindurchzukommen, war unmöglich. Dieser Dornenwall hörte jedoch nicht auf. Wir langten an unserer Ausgangsstelle wieder an. Das Dickicht war wie ein geschlossenes Ganzes. Nie wieder habe ich einen so unpassierbaren Verhau von solcher Ausdehnung irgendwo gefunden. Und doch – das Feuer brannte innerhalb dieses Verhaus! Also steckten auch die Sträflinge darin.
Harald suchte wieder nach Spuren. Es gehörte seine Geduld dazu, diese sorgfältig verwischten Fährten zu finden, die zu einem uralten, riesigen Baume führten, der dicht an dem Dornendickicht stand. Die mächtigen, wagerechten Äste dieses tropischen Riesen waren bis zu fünfzehn Meter lang. – Harald half mir hinauf. Dann balanzierte er mir voran auf einem der Äste über den Dornenwall hinweg. Man konnte sich an den herabhängenden Zweigen festhalten, und so kamen wir denn glücklich bis an eine lichtere Stelle der Baumkrone, sahen nun schräg unter uns das flache Dach einer Bambushütte, die uns ihre Rückseite zeigte. Vor der Hütte, für uns unsichtbar, brannte das Feuer.
Der Ast, den wir als Steg benutzt hatten, reichte bis über das Dach hinweg. Harald ließ sich vorsichtig hinab, streckte sich auf dem Dache lang aus und lugte über den Rand hinweg. Dann winkte er mir. Ich lag sehr bald neben ihm.
Dort dicht unter uns saßen zwei Sträflinge, ein kleiner dicker mit der Nummer 68 auf der linken Brustseite der braunen Jacke, und ein Hagerer mit intelligentem Gesicht und Hakennase mit der Nummer 86.
Sie starrten vor sich hin. Neben ihnen im Grase lag eine alte Steinschloßpistole.
Der Dicke griff jetzt nach der Rumflasche, die er halb in die Erde eingegraben hatte.
„Trink’ nicht so viel!“ warnte der Hagere. Er sprach englisch. „Wir beide müssen unsre klaren Sinne behalten, Achtundsechzig!“
„Weshalb, Kamerad?! Weshalb! Uns sucht niemand. Wir sind tot – mausetot, sind fein begraben worden!“ Er lachte.
„Und die Männer, die hier mit der Jacht hergebracht worden sind und die wieder abgeholt werden sollen?!“
„Sechsundachtzig, sei kein Angsthase! Die Männer sind froh, daß sie dort an der Bucht in besserer Luft lagern als wir hier. Rum ist gut gegen das Gelbfieber.“ Er führte die Flasche an den Mund. Dann gähnte er. „Ich werde jetzt ebenfalls schlafen, Sechsundachtzig. Übernimm die Wache. Obwohl sich nie und nimmer jemand hierher verirren wird.“
Er kroch auf allen Vieren durch das Türloch in die Hütte.
Der Hagere warf Erde auf das Feuer, damit es weniger stark brenne. Trübe stierte er nun wieder vor sich hin. Er seufzte verschiedentlich.
Dann – ich fuhr zusammen vor Schreck – dann rief Harald den Hageren an:
„Pst – bleibt sitzen!“
Der Sträfling schaute zu uns nach oben, schaute in Haralds Pistolenmündung.
„Eine Frage, Sechsundachtzig,“ flüsterte Harald weiter. „Sind Sie vielleicht Edward Selville? Ich sah bei Ihrer Mutter ein Bild in Pernambuco. Und das Bild stellte einen Mann mit kühngeschnittenem Gesicht und einer Hakennase dar.“
Der Sträfling nickte. „Ich bin Edward Selville. Oder besser: ich war es. Jetzt bin ich eine Nummer – eben Sechsundachtzig!“
Harald winkte ihm. „Folgen Sie uns! Sie sind keine Nummer mehr. Ihre Unschuld hat sich herausgestellt. Ich bin der deutsche Liebhaberdetektiv Harald Harst. Vielleicht ist Ihnen der Name bekannt. Nein – er muß Ihnen bekannt sein. Ihre Mutter hat mir ja damals eine Depesche nach Indien nachgeschickt.“
Selvilles mißtrauisches Gesicht hellte sich auf. „Ich komme!“ flüsterte er freudig.
Gleich darauf befanden wir drei uns wieder außerhalb dieser Dornenburg. Wir machten in einem Gebüsch halt, und Selville erzählte über seine und seiner drei Gefährten Flucht folgendes. – Er hatte mit den dreien in einer Kolonne am Hafen gearbeitet. Er verstand etwas von Botanik, fand im Schlammwasser des Hafens die brasilianische, sehr seltene Kalla Somnia, deren Fruchtknoten, wie er wußte, lang anhaltende Bewußtlosigkeit unter den Begleiterscheinungen des Gelbfiebers hervorrief. Mit seinen drei Gefährten vereinbarte er darauf einen Plan, wie man den dem Trunk ergebenen Arzt der Sträflingskolonie täuschen könnte. Vor drei Wochen verbargen sie zunächst ein Segelboot. Es wurde gesucht, aber da keiner der Sträflinge fehlte, nahm man an, es sei von einer Strömung aufs offene Meer entführt worden. Vor acht Tagen „starb“ dann der erste von ihnen. Sie hausten alle vier in einer Stube der Sträflingsbaracke. Der Arzt stellte Tod an Gelbfieber fest. Die drei Stubengenossen mußten den Toten der Ansteckungsgefahr wegen beerdigen, begruben aber Steine in dem Brettersarge. Dann starb der zweite. Es wiederholte sich derselbe Betrug. Und als Selville und Nr. 68 als letzte plötzlich vom Gelbfieber hinweggerafft wurden, gruben die beiden ersten sie schleunigst nach ihrer Bestattung wieder aus. So war denn Selvilles Plan, der sich auf die genaue Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände gestützt hatte, vollständig geglückt. Man holte das Boot und segelte nachts nach Klein-Fernando, um sich hier erst einmal etwas zu kräftigen, da man sich nach der Vergiftung durch die Kalla Somnia recht schwach fühlte. Das Boot lag jetzt an der Küste im Mangrovendickicht gut versteckt. –
Ich habe hier Selvilles abenteuerliche Erzählung von dieser Flucht nur in gedrängtester Kürze wiedergeben können. Ebenso kurz faßte sich nun Harst bei der Schilderung unserer wechselvollen Erlebnisse, die mit dem Schatze des Grafen Omagastra und mit der Person des Giftmörders Pertinax Chalpins zusammenhingen.
Edward Selville schüttete zuerst ungläubig den Kopf, als er vernahm, daß solche Reichtümer seiner warteten.
„Wir drei müssen nun sofort mit dem Segelboot aufbrechen,“ erklärte Harald in seiner bestimmten Art. „Dieser Hochstapler Vincent Saalborg wird nach dem Schatze suchen. Er hat mir die eine Skizze und den einen Brief abgenommen. Zuerst wird er allerdings seinen Freund Kamillo befreien.“
„Kamillo?“ rief Selville. „Kamillo?! Master Harst, hätten Sie vorhin schon diesen Namen genannt, dann würde ich Ihnen sofort ins Wort gefallen sein. Kamillo ist kein anderer als Nummer 68 – Kamillo Montferrant! Er muß es sein, denn er sprach häufiger davon, daß er zu einer geheimen Verbrechergesellschaft gehöre, deren Oberhaupt ein hochstehender Herr sei, der ihn sicherlich befreien würde.“
„Ah – das ist ja sehr interessant!“ meinte Harald. „Also eine Geheimgesellschaft! Und Saalborg das Oberhaupt! Doch – eilen wir! Wir haben keine Sekunde zu verlieren. Saalborg wird ja als Harst auf Noronha erfahren haben, daß Kamillo und Selville gestorben seien. Er ist dann ohne Zweifel sofort wieder davongefahren. Ob er jedoch den Schatz finden wird, ist sehr die Frage. Das, was die senkrechten Striche vor dem Stierkopf bedeuten, dürfte er so leicht nicht ergründen. Und ohne die Kenntnis dieser Einzelheit nützt ihm die Zeichnung nichts. Fragen Sie jetzt nicht weiter, Selville! An Ort und Stelle sollen Sie alles selbst nachprüfen.“ –
Selvilles Erscheinen in unserem Lager erregte nicht geringes Erstaunen. Harst versprach Banfy, daß wir für seine und der drei Matrosen Befreiung schnellstens sorgen würden. Selville erhielt einen unserer Anzüge und von Harald die nötige Wäsche. Dann beluden wir uns mit unseren Koffern, sagten den Zurückbleibenden Lebewohl und ließen uns von Selville nach dem Versteck des kleinen Segelbootes führen, das gerade nur für drei Personen Platz bot. Um sechs Uhr abends steuerten wir in die offene See hinaus. Der Wind war recht frisch, und in dieser Nußschale von Boot bei so hochgehenden Wogen nach Noronha zu segeln, war ein gefährliches Wagnis. Mehr als einmal gingen die Spritzer über Bord. Einer von uns mußte dauernd das Wasser ausschöpfen.
Stunde um Stunde verrann. Dann glaubte ich vor uns Brandungsgeräusch zu hören. Harald riß das Steuer herum. Wir sahen nun auch den endlos langen hellen Strich einer starken Brandung durch die Nacht leuchten. Aber nach links schien die Brandung schwächer zu sein.
Eine halbe Stunde später mußten wir uns auf der Südseite von Noronha befinden. Der Wind kam von Nordost. Und hier gab es unterhalb der Steilküste völlig ruhiges Wasser. Wir waren offenbar der Brandung am südlichen Vorgebirge glücklich ausgewichen.
Wir entdeckten hier auch bald die Einfahrt in eine Bucht, zogen die Segel ein, gingen zu den Rudern und machten das Boot an einem Felsen im hintersten Winkel der Bucht fest.
Es war jetzt genau halb zwölf nachts. – Selville teilte uns mit, daß die Südostseite der Insel unbewohnt sei und auch nie betreten würde, da es hier nur kahle Felsen und Unmengen von Seevögeln gäbe.
Nachdem wir uns an dem mitgebrachten Proviant gestärkt hatten, brachen wir wieder auf. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Aber der Gedanke, um jeden Preis den Schatz des Grafen Omagastra für die Familie Selville in Sicherheit zu bringen, trieb uns unaufhaltsam vorwärts.
Nach dreistündigem Umherirren in dieser Felsenwildnis hatten wir endlich einen Zugang zu dem flacheren Vorgestade der südöstlichen Halbinsel gefunden.
Weiter und weiter stapften wir auf dem schlüpfrigen, schmalen Pfade dahin. Dann öffnete sich in der himmelhohen Ufermauer ein mächtiger Höhleneingang.
„Es gibt hier mehrere solcher Grotten,“ erklärte Selville. „Einige sind zum Teil mit Wasser gefüllt, das nur bei Ebbe so weit sinkt, daß man sie betreten kann.“
Harald nickte. „Das dachte ich mir, Selville. Es mußte solche Grotten geben. Nur weiter –“
Bald passierten wir drei neue Höhleneingänge, die wie schwarze Schlünde in der Felswand uns entgegengähnten.
Harald schaute jedes Mal, wenn wir eins dieser riesigen Löcher erreicht hatten, prüfend nach den Riffen hinüber, sagte stets. „Noch nicht!“
Noch drei Minuten etwa. Dann machte er plötzlich halt, deutete nach vorn.
„Dort muß es sein!“ sagte er sehr bestimmt. „Fällt Euch nichts auf?“
„Ja – die Riffe haben dort eine freie Stelle, durch die die Wogen hindurchrollen,“ meinte Selville.
„Ganz recht. Sie rollen durch diesen Engpaß der Steilküste zu – wie Striche – wie weiße Striche, schaumgekrönt.“
Da begriff ich.
„Und sie rollen in eine Grotte hinein! In der Grotte muß sich der Stierkopf befinden,“ fügte ich hinzu.
„So ist’s! Die Striche sind auslaufende Wellen. Der Seeräuber-Graf war ein Mann von Geist – ohne Frage.“
Weiter ging’s.
Nun standen wir vor dem Grotteneingang, der so tief lag, daß die Wellen ungehindert hineinschäumten.
„Wir werden bis zur Ebbe warten müssen,“ sagte Harald. „Es gibt jetzt keine Möglichkeit, in die Grotte einzudringen. Die Strömung würde uns mit fortreißen.“
Selville rief bereits: „Die Ebbe setzt nach einer halben Stunde ein. Und nach anderthalb Stunden ist der Eingang passierbar.“
„Dann wollen wir die Zeit dazu benutzen, uns hier in der Nähe einmal umzusehen,“ meinte Harst und – hob ein Zündholz auf, das in eine kleine Ritze der Steilwand gefallen war. „Dieses Zündholz hat noch nicht lange hier gelegen.“ Er beroch es. „Der Schwefelduft läßt vermuten, daß es aus Jonathan Wriggs Zündholzbüchse stammt. Er hatte Schwefelhölzer mit roten Köpfen bei sich. Ich fürchte, ich habe Saalborg unterschätzt. Er ist hier gewesen mit seinen beiden Verbündeten. Suchen wir, ob wir noch mehr Spuren ihrer Anwesenheit finden.“
Wir gingen Schritt für Schritt zurück, bis Harald in einer breiten Felsspalte halt machte. Sie war gut anderthalb Meter breit und zog sich wie ein steiler Hohlweg aufwärts.
„Da – etwas Tabakasche aus einer Pfeife!“ sagte Harst und deutete auf einen Stein dicht am Anfang dieses Hohlweges. „Diese Stelle liegt windgeschützt. So wurde die Asche nicht weggeweht. Ich denke, wir klimmen hier empor.“
Der Hohlweg mündete auf ein mit Felsblöcken besätes Plateau, dessen östlichen Abschluß das Steilufer bildete. – Harald ließ sich Zeit. Und – er fand die Fortsetzung der Spur. Dann standen wir vor einer Geröllhalde. Er wies auf den Boden. Vier Kautabakspritzer zeichneten sich bräunlich von den hellen Steinen ab. Und mit besonderem Lächeln sagte er: „Ich denke, wir wühlen dieses Geröll einmal durch. Ein Teil der Felstrümmer liegt mit der Wetterseite, das heißt der mit Moos und Flechten bewachsenen Seite jetzt nach unten. Vielleicht haben die drei die Fässer hier vorläufig verborgen.“
„Haben Sie aber auch scharfe Augen, Master Harst,“ meinte Selville staunend. „Gut – an die Arbeit also!“
Harald behielt recht: zwei Fässer, etwa ein Meter hoch und ebenso dick, lagen unter dem Geröll.
Sie wurden wieder bedeckt. Dann schritten wir nach Westen zu das Plateau entlang, um festzustellen, ob dahinter vielleicht eine Bucht sich in die Halbinsel hineinzog.
Plötzlich rief Selville leise: „Dort – eine Malerin!“
Ja – dort saß auf einem leichten Klappstuhl eine weiß gekleidete Dame mit großem Strohhut und hatte eine Art Staffelei vor sich stehen, in der Linken aber eine Palette und in der Rechten einen Pinsel. Sie saß mit dem Rücken nach uns hin.
Wir gingen auf sie zu. Sie drehte sich um. Es war eine dunkelhaarige, nicht mehr ganz junge Frau mit frischem Gesicht. – Harald grüßte und sprach sie an.
„Verzeihung, Mistreß, gehören Sie zu den Inselbewohnern? Mein Name ist Harst! Wir sind hinter Dieben her.“
Sie lachte leise. „Nein – ich bin Frau van der Strouw, die Gattin des bekannten Geologen. Mein Mann untersucht die Insel auf das Vorkommen von Eisenerzen. Unsere Jacht liegt dort drüben in einer Bucht. Falls die Herren Unterstützung brauchen – mein Mann hilft Ihnen gern. Gestern hatten wir ebenfalls Besuch an Bord. Es war Lord Vincent Salmour. Ein reizender Mensch.“
Harst entschuldigte sich, und wir eilten der Bucht zu. Nach zehn Minuten blinkte die breite Wasserfläche vor uns auf. Wir sahen auch über ein paar Bäume zwei Mastspitzen hinwegragen.
Dann hatten wir die am Ufer vertäute Jacht erreicht.
„Die Atlanta!“ rief ich. „Unsere Atlanta!“
Auch Harald stierte die Jacht ganz ungläubig an.
„Reingefallen!“ meinte er achselzuckend. „Wer konnte das aber auch ahnen!“
„Was heißt das, Master Harst?“ fragte Selville verwundert.
„Die Malerin war – Saalborg!“
„Nicht möglich!“ –
Harst lief schon über die Planke an Bord. Im Salon fanden wir Jonathan Wrigg und Jim Knox gefesselt und bewußtlos vor. Auf dem Tisch standen eine halb geleerte Flasche Rum und drei Gläser, daneben ein leeres Medizinfläschchen.
„Zurück nach dem Plateau!“ befahl Harald. „Wir werden Saalborg zwar nicht mehr finden, aber vielleicht etwas anderes –“ –
Als wir die Stelle erreichten, wo die Malerin gesessen hatte, war nur noch der Klappstuhl und die Staffelei vorhanden. Das Aquarellbild auf dem Malbrett aber war oben rechts als Briefpapier benutzt worden.
Da stand:
Verehrtester Herr Harst!
Diesmal gebe ich mich geschlagen und benutze Ihr Segelboot zur Flucht. Ich sah Sie in der verflossenen Nacht hier landen. Ich hoffte noch, Sie würden das Versteck der beiden Tonnen nicht finden. Dann hätte ich mir diese später geholt. Meine beiden Verbündeten sind Schurken, wollten mich zwingen, auch noch die beiden anderen Tonnen beiseite zu schaffen. Ich habe diesen Halunken ein Betäubungsmittel in den Rum geschüttet, nachdem ich zum Schein auf ihre habgierigen Pläne eingegangen war. Übergeben Sie sie der Polizei. Beide sind lange gesuchte Verbrecher. – Sie werden mit der Atlanta die Bucht erst verlassen können, nachdem die Brandung sich beruhigt hat. Inzwischen ist in Sicherheit – Ihr ergebenster Vincent Saalborg.
(Hongkong!)
„Wirklich, – ein Gentleman-Gauner!“ meinte Selville kopfschüttelnd. „Er wollte sich tatsächlich mit der Hälfte des Schatzes begnügen.“
„Allerdings. Suchen wir die andere Hälfte,“ nickte Harald. –
Die Grotte konnte jetzt betreten werden. An der Seite war ein schmaler Streifen wasserfrei. Unsere Taschenlampen leuchteten uns. Nachdem wir fünfzehn Meter vorgedrungen waren, stieg der Boden an. Einzelne Felstrümmer lagen hier umher. Der eine Stein glich von vorn etwa einem Stierkopf. Er ruhte auf einer glatten Stelle des Felsbodens. Unsere Kräfte genügten, ihn zur Seite zu rücken.
Darunter wurde eine kurze, breite Felsspalte sichtbar. Als Harald in das Loch hineinleuchtete, sahen wir sofort die beiden Eichenfässer mit ihren rostbedeckten Eisenbändern. Wir schoben den Stein wieder an die alte Stelle.
Harald deutete dann nach vorwärts. „Ihr erkennt an der Feuchtigkeit des Bodens, daß die Wellen bei Flut bis dicht an den Stein schäumen. Die Striche der Skizze sind Wellen. Und Saalborg hat das richtig erkannt. Ein böser Gegner! Das eingeklammerte „Hongkong“ am Schluß seiner Mitteilung sagt mir, wo ich ihn zu suchen habe. Ich muß ihn suchen. Die Wette verlangt es. –“
Um zehn Uhr vormittags verließen wir mit der Atlanta die Bucht, fuhren nach Klein-Fernando, holten Banfy und die Matrosen ab und ließen auf Selvilles Bitte für die drei Sträflinge, die wir nicht mehr zu Gesicht bekamen, etwas Proviant und einige Werkzeuge da. –
Dann wurden am nächsten Morgen die vier Eichenfässer von der Halbinsel Noronhas auf die Jacht geschafft. Abends landeten wir in Pernambuco.
Inzwischen hatte Frau Selville die amtliche Mitteilung von dem Tode ihres Sohnes erhalten. Ihre Freude war grenzenlos, als sie ihn nun gesund in die Arme schließen konnte.
Weder Selville noch wir verrieten etwas über die Art der Flucht der vier „toten“ Sträflinge. Edward Selville wurde im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Der Schatz des Grafen Omagastra hatte einen Wert von annähernd 20 Millionen. Banfy und die Besatzung der Atlanta erhielten von Selville überreiche Geschenke. Harst und ich nahmen jeder nur einen goldenen, mit Juwelen verzierten Becher als Andenken an. –
Was wir noch in Brasilien und später in Hongkong infolge Harsts Wette erlebten, schildere ich im nächsten Band:
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Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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Band |
1–6: |
vergriffen. |
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Anmerkungen: