Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 58:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Verantw. Redakteur M. Lehmann, Berlin 26.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Nach einem glutheißen, windstillen Tage brachte der Abend eine erquickende Seebrise, die über das dem Hafen von Pernambuco vorgelagerte lange Korallenriff hinwegstrich und die Wasser des Innenhafens sanft kräuselte.
Unweit des Zollhauses lag hier eine schneeweiße, elegante Motorjacht mit zwei Masten vor Anker.
Zu beiden Seiten ihres scharfen Bugs prangte in Goldbuchstaben der Name Atlanta.
Es war dieselbe Jacht, die Harald Harst in London für längere Zeit gemietet und die uns nach manchen Abenteuern hierher geführt hatte.
Wir saßen jetzt zu dreien auf dem Achterdeck in bequemen Korbsesseln: Harst, Kapitän Banfy und ich, Haralds Privatsekretär und Freund.
Soeben hatte ein Boot einen Brief für Harst gebracht.
Er hielt den Brief, nachdem er ihn überflogen hatte, in der Hand und lächelte etwas.
Dann sagte er: „Hier schreibt mir eine Sennora Maria Travesta, daß sie mir etwas mitteilen könnte, was mich als Liebhaberdetektiv wohl interessieren dürfte. Es heißt hier wörtlich:
„Ich bin eine alte Frau, die frei von Aberglauben ist. Und doch – wer in meinem Hause ein paar Tage wohnt, kann wohl abergläubisch werden. Die Dienstboten halten es bei mir nie lange aus trotz glänzender Bezahlung. Nur meine Köchin Josefa habe ich nun schon 23 Jahre. – Ich habe heute früh in der Zeitung alles über den Schatz des Grafen Omagastra, den Sie nun gefunden haben, mit größter Spannung gelesen, auch von jenem Hochstapler Vincent Saalborg, mit dem Sie auf eine Million Dollar gewettet haben, daß Sie ihn unschädlich machen werden. Sie sollen reich sein, Sennor Harst. Ich bin es nicht. Ich kann Ihnen daher kein hohes Honorar für Ihre Bemühungen versprechen. Aber ich möchte doch wieder einmal eine Nacht in Ruhe schlafen. Sollten Sie heute abend Zeit haben, so sind Sie mir willkommen. – Maria Travesta.““
„Die Mulattin, die im Boote saß und den Brief brachte, wird die Köchin gewesen sein,“ meinte Kapitän Banfy. „Als ich ihr das Schreiben abnahm murmelte sie etwas von Josefa und Köchin.“
„Die alte Dame wohnt Rua Torquilla Nr. 18 wie hier zu Anfang des Briefes steht,“ sagte Harald. „Wo mag diese Rua Torquilla liegen?“
Ich hatte einen Stadtplan bei mir, suchte eine Weile diese Straße und erklärte dann: „Unweit des früheren Jesuitenklosters in der Vorstadt.“
„Gut. Fahren wir hin,“ entschied Harst. „Wo es spukt, steckt stets eine bestimmte Absicht dahinter. Und im Hause der Sennora Travesta spukt es fraglos. Sie redet ja von „abergläubisch werden“. Also – Aufbruch! Nehmen wir unser Handwerkszeug mit, Schraut. Man kann nie wissen, was geschieht.“ –
Das Haus der Sennora Travesta war ein alter, düsterer Backsteinbau dicht an der Straße. Ein großer Garten erstreckte sich weit nach hinten zu.
Das Grundstück war von einer hohen, verwitterten Mauer umgeben, die oben noch durch Stacheldrähte geschützt war.
Als Harald an der Glocke der Mauerpforte zog, heulten im Hause sofort ein paar Hunde auf.
Hinter dem Guckloch der Pforte erschien ein braunes, faltiges Weibergesicht.
Harald nannte seinen Namen und zeigte den Brief der Sennora Travesta als Ausweis vor.
Die Mulattin verschwand wieder im Hause, ließ aber gleichzeitig drei große Bluthunde in den Vorgarten.
„Die Alte sichert ihr kostbares Leben!“ scherzte Harald.
Er zündete sich eine Zigarette an. Wir warteten und warteten.
Dann riß ich ungeduldig nochmals an der Glocke.
Niemand erschien. Nur die gelben Riesenköter knurrten uns durch die Pforte wütend an.
„Hm – die Mulattin machte ein so erstauntes Gesicht,“ sagte Harald nachdenklich. „Hier stimmt irgend etwas nicht.“
Und jetzt zog er selbst zum dritten Mal die Glocke.
Kein Mensch ließ sich sehen.
Wir schauten uns an.
„Begreifst Du das, mein Alter?“ meinte er und rauchte schneller. „Den Brief hat die Mulattin mitgenommen. Schade, daß wir den Wagen weggeschickt haben. Nun können wir zu Fuß zurück. Ich stehe mir hier nicht länger die Beine in den Leib. – Ah – vier Polizeibeamte hoch zu Rad! Merkwürdig!“
Die vier Polizisten, sämtlich Mestizen, sprangen von den Rädern, lehnten sie an die Mauer und verteilten sich so, daß sie uns einkreisten.
„Hm – mir geht ein Licht auf,“ lächelte Harald, nahm eine neue Zigarette und schaute den Polizeikorporal, der ihn von oben bis unten musterte, vergnügt an.
„Wer sind Sie, he?“ fragte der gelbe Sennor sehr kurz und behielt die rechte Hand am Revolver, den er in einer Ledertasche am Riemen trug.
„Gute Freunde des hiesigen Polizeipräfekten Don Saratilla. Ich heiße Harst, Amigo –“ (Freundchen).
„Das ist gelogen!“ platzte der Korporal heraus.
„So?! Was Sie sagen! Bisher glaubte ich stets, daß ich leidlich wüßte, wer ich bin. – Wollen Sie mir vielleicht mitteilen, weshalb Sie hier vier Mann hoch angerückt sind? Ich sehe da vom Hause der Sennora Travesta einen Telephondraht nach der Straßenleitung laufen. Die Sennora wird an die Polizeiwache der Vorstadt telephoniert haben, daß zwei Leute, von denen sich einer als Harst ausgibt, vor der Tür stehen, während doch ein anderer Harst schon vorher bei ihr war. Ist es so, Amigo?“
„Ja, so ist’s! Ich muß Sie verhaften. Sie sind nicht Sennor Harst. Der echte Sennor Harst war vor einer Stunde bei Sennora Travesta. Aber allein. Sie beide sind Spitzbuben.“
Harald nickte. „Gut, gehen wir zur Polizeiwache, Amigo. Dort werde ich mit Don Saratilla telephonisch sprechen. Und dann –“
In demselben Moment schrillte vom Hause her eine Stimme:
„Ich bin bestohlen – ich bin bestohlen! Man hat mir meine Brillanten geraubt. Es kann nur der Mann gewesen sein, der sich als Harst ausgab!“
In der Haustür stand eine weißhaarige Matrone in schwarzseidenem Kleide, eine sehr würdige Erscheinung; neben ihr die alte Mulattin.
„Korporal!“ rief die Dame weiter, „holen Sie Don Saratilla herbei. Er war ein Freund meines seligen Mannes. Er muß wissen, ob dieser Sennor da draußen der richtige Harst ist.“
Harald zog die weiche Reisemütze.
„Sennora, diese Feststellung läßt sich schneller erledigen. Sie haben Telephon. Ich werde Don Saratilla anrufen. Er kennt meine Stimme. Außerdem, Sennora, – der falsche Harst, der vor mir hier war, hatte keinen Begleiter, während ich Ihnen doch Ihren Brief hineinschickte und auch mein Freund Schraut bei mir ist, ohne den ich kaum je etwas unternehme.“
Die Sennora Travesta rief zurück:
„Oh, Sennor Harst, ich glaube jetzt auch bereits, daß Sie der echte Harst sind. Der andere hat mich ja bestohlen, als er allein meine Zimmer in Augenschein nahm, nachdem er mich ausgefragt hatte, ob ich Schmuck oder viel Geld im Hause hätte. Ich war ja so vertrauensselig. – Bitte – treten Sie näher. – Josefa, sperre die Hunde ein.“ –
Gleich darauf standen wir mit der Sennora und den vier Polizisten in der Vorhalle. Hier hing auch das Telephon. Harald ließ sich mit der Privatwohnung Don Saratillas verbinden. Der Polizeipräfekt war daheim.
Harst winkte Sennora Travesta an den Apparat.
„Don Saratilla hat meine Stimme erkannt –“
Die alte Dame entschuldigte sich nun wortreich, schickte die Polizisten weg und bat uns in den Salon, wo eine Glaskrone brannte.
Wir nahmen Platz.
„Sennora, wann sandten Sie mir den Brief?“ fragte Harst.
„Vor drei Stunden, also etwas nach fünf Uhr.“
„Durch wen?“
„Durch Josefa. Sie sollte ihn persönlich abgeben. Sie traf aber an der Zollhausbrücke einen Matrosen, der sie nach dem nächsten Arzte fragte und dabei erwähnte, er gehöre zu Harald Harsts Jacht Atlanta. Da gab sie ihm den Brief gleich mit, da er sofort wieder zur Jacht zurückrudern wollte.“
„So, so. Wann traf denn der falsche Harst hier ein?“
„Gegen ¾6 Uhr. Er hatte wirklich etwas Ähnlichkeit mit Ihnen, war sehr höflich, ließ sich alles erzählen und rauchte dauernd Zigaretten – wie Sie, Sennor Harst. – Bitte – bedienen Sie sich übrigens. Es ist eine vorzügliche Marke –“
Wir langten zu. Dann berichtete die alte Dame, wie der falsche Harst von ihr sehr geschickt herausgelockt hätte, wo sie ihre Brillanten aufbewahrte.
„Der Schmuck ist gut eine halbe Million wert und lag in einer kleinen Kassette unter meinem Kopfkissen im Bett meines Schlafzimmers. Erst als Sie beide dann draußen immer wieder läuteten, stieg der Verdacht in mir auf, der erste Harst könnte vielleicht –“
„Und da sahen Sie nach, ob die Kassette fehlte?“
„Sie war da. Aber erbrochen und leer.“
Harald nickte mir zu.
„Saalborg!“ sagte er mit Betonung.
Die alte Dame stutzte.
„Sie glauben, es war der Hochstapler, der –“
„Er war’s bestimmt, Sennora Travesta. Beruhigen Sie sich aber. Ich werde versuchen, ihm die Brillanten wieder abzujagen. Es ist ganz klar, daß er vorher der Matrose war, der Josefa den Brief abnahm, als auch später die Mulattin, die ihn mir dann erst gegen halb acht überbrachte. Er muß mithin gewußt haben, daß Sie an mich schreiben würden, muß auch den Streich genügend vorbereitet haben. – Die Frage ist: woher wußte er dies? Woher kannte er die Verhältnisse in Ihrem Hause so genau, daß er selbst Josefa kopieren konnte? Überlegen Sie, Sennora, fällt Ihnen nicht irgend etwas ein?“
Die alte Dame, die ebenfalls schon bei der dritten Zigarette war, dachte angestrengt nach.
„Ah – jetzt hab’ ich’s!“ rief sie dann temperamentvoll. „Heute vormittag stellte sich bei mir ein neues Stubenmädchen vor. Ich hatte eine Anzeige eingerückt. Und dieses Mädchen, das einen recht bescheidenen Eindruck machte und das wie eine Kreolin aussah, erwähnte, sie würde Sennor Harst bitten, ihren verschwundenen Bruder zu suchen. Harst helfe ja jedem und verlange nicht einmal Bezahlung[1]. – So brachte sie mich auf den Gedanken, an Sie zu schreiben. Sie sagte nämlich, man dürfe Harst ein Anliegen zuerst nur schriftlich vortragen. Besucher weise er stets ab.“
„Dieser Saalborg, dieser Saalborg!“ meinte Harald. „Der Mensch ist wirklich ein Genie. – So – nun erzähle Sie mir noch, Sennora, was denn hier in Ihrem Hause vorgeht, was Sie ängstigt oder doch zum mindesten aufregt?“
Die alte Dame wurde verlegen.
„Sie werden mich vielleicht auslachen, Sennor Harst,“ sagte sie zögernd. „Aber – ich habe ihn selbst gesehen –“
Sie deutete auf ein Ölgemälde, das einen Mann mit weißem Knebelbart und weißem hochgebürsteten Haar in der Uniform der brasilianischen Generale darstellte.
„Es ist mein verstorbener Gatte, Sennor Harst. – Das erste Mal stand er vor einem Jahr etwa vor meinem Bett – genau so, wie Sie ihn dort auf dem Bilde sehen. Er drohte mir mit der Faust, blies das Nachtlicht aus und verschwand. Ich hörte noch, wie er die Tür hinter sich zudrückte. Er ist seit acht Jahren tot.“
„Und dann?“
„Dann erschien er Josefa. Dann wieder eines Nachts mir selbst, als ich noch drüben im Wohnzimmer saß. Er drohte mir wieder und ging hinaus. Seitdem wandelt er häufiger hier durch das Haus. Ich sah ihn fünfmal. Und stets hob er drohend die geballte Faust.“
„War Ihre Ehe unglücklich, Sennora?!“
„Im Gegenteil. Wir lebten sehr glücklich, obwohl uns Kinder versagt blieben.“
„Sennora, Sie sind doch wohl ziemlich reich, wenn Sie auch in Ihrem Brief an mich –“
Sie hüstelte, rief leise:
„Ja, ja, – ich will ehrlich sein. Ich bin etwas – sparsam. Ich fürchtete, Sie könnten von mir ein hohes Honorar verlangen. Ich bin reich.“
„Wer beerbt Sie einmal?“
„Oh – das kann Sie doch kaum interessieren, Sennor Harst –“
„Haben Sie nähere Verwandte?“
„Nur – nur einen Neffen meines Mannes. Er lebt in Bahia, der südlicheren Hafenstadt.“
„Ist das der Erbe?“
Die alte Dame schüttelte den Kopf.
„Weshalb nicht?“
„Oh – er hat eine Kreolin geheiratet. Und wir sind reinblütige Portugiesen.“
„Wann heiratete er?“
„Vor drei Jahren.“
„Hat denn Ihr Gatte nicht gewünscht, daß dieser Neffe das Vermögen erhalten solle?“
Sennora Travesta schaute zu Boden.
„Ja – er hat es gewünscht.“
„Sie sollten ein Testament machen und diesen Neffen zum Erben einsetzen?“
Die alte Dame nickte sehr widerwillig. Aber Harald bohrte weiter.
„Und Sie haben nun ein anderes Testament gemacht, Sennora?“
„Oh – Sie fragen zu viel!“ rief sie gereizt.
Harst erhob sich. „Sie gestatten, daß wir uns verabschieden. Ihre Familienverhältnisse interessieren mich nicht. Wenn Sie ein Ihrem Gatten gegebenes Versprechen gebrochen haben, wird es wohl Ihr schlechtes Gewissen sein, das Sie ängstigt. Ihr Gatte droht Ihnen mit Recht.“
Sie schaute uns sehr hochmütig an und griff nach der silbernen Glocke. Auf das Läuten hin erschien die Mulattin so rasch im Zimmer, daß ich sofort argwöhnte, sie müsse an der Tür gehorcht haben.
„Josefa, begleite die Herren hinaus,“ befahl die alte Dame. „Ich wünsche die Herren nicht länger zu bemühen.“
Sie war wie umgewandelt. Sie war geizig, stolz und herrschsüchtig. Ihr bis dahin freundliches Matronengesicht war vor Hochmut wie erstarrt.
Wir verbeugten uns sehr knapp und gingen.
Draußen aber an der Pforte kam das Nachspiel.
Die Mulattin schloß auf. Harald flüsterte ihr zu:
„Josefa, der General Travesta war klein, mager und sonnverbrannt – wie Du! Ziehst Du vielleicht nachts seine Uniform an und klebst Dir einen Bart auf die Oberlippe und ans Kinn?“
Sie taumelte gegen den Pfeiler der Pforte, stierte Harald ins Gesicht, murmelte:
„Sennor – Sennor – das – das ist nicht wahr!“
„Geht mich auch nichts an!“ Er nickte ihr zu und gab ihr eine Banknote.
Wir schritten die Straße hinab, trafen ein Mietfuhrwerk, waren um neun am Hafen und ließen uns nach der Jacht übersetzen.
Als wir Banfy im Salon begrüßten, kam die neue Überraschung.
„Na, haben Sie die Becher nicht wieder mitgebracht?“
Wir blickten Banfy ob dieser Frage verständnislos an.
„Becher?“ meinte Harald gedehnt. Dann:
„Himmel – dieser Saalborg! Ich begreife!“ Er sank in den nächsten Korbsessel. „Ich begreife! Die Mulattin Josefa war hier und hat die beiden goldenen Becher, die Selville uns zum Andenken aus dem Schatz des Piraten schenkte, abgeholt, unter dem Vorgeben, wir wollten sie Sennora Travesta zeigen.“
Jetzt riß Banfy den Mund vor Staunen auf.
„Verdammt!“ rief er, „so war’s! Und ich gab ihr die Becher. Es war ja dieselbe Mulattin, die den Brief gebracht hatte. – Was hat Saalborg damit zu tun?!“
Harald lachte jetzt, wie er selten in seinem Leben gelacht hat.
„Kinder,“ meinte er, „dieser Saalborg hat uns fein eingewickelt! Ihr müßt zugeben, die Geschichte entbehrt der Komik nicht! Harst wird bestohlen, und der Pseudo-Harst stiehlt die Brillanten! Dieser Saalborg – dieser Saalborg!“
Dann erzählte er Banfy alles haarklein. Der brave Kapitän fluchte.
„So ein Schuft! So ein Schuft! Und dazu dieser Geizkragen, die Travesta! Nun sind die Becher futsch!“
„Na – vielleicht kriegen wir sie wieder,“ meinte Harald. „In Hongkong! Übermorgen früh gehen wir in See. Banfy, machen Sie alles bereit. Hier zu bleiben und nach Saalborg zu suchen, hat keinen Zweck. Der Mensch ist zu vielgestaltig. In Hongkong treffen wir ihn bestimmt. Dort will er ja den nächsten großen „Coup landen“, wie er uns infolge der Wettbestimmungen letztens mitgeteilt hat.“
„Und der Geist des Generals?“ fragte Banfy.
Harald hatte ihm verschwiegen, daß er Verdacht gegen die echte Mulattin Josefa geschöpft hatte, und erwiderte daher auch jetzt:
„Um die Sache kümmere ich mich nicht mehr!“ –
Die Episode im Hause der unsympathischen Sennora Travesta habe ich hier nicht etwa nur deshalb so genau geschildert, um Vincent Saalborgs Vielseitigkeit und Genialität als Hochstapler recht dick zu unterstreichen. Nein – die Sennora Travesta trat nochmals, wenn auch nicht persönlich, in sehr unangenehmer Weise zu uns in engste Beziehungen. –
Am Morgen brachten die Zeitungen bereits eingehende Berichte über Saalborgs Geniestreich im Hause Travesta. Natürlich wurden auch wir dabei erwähnt. Und in den Abendausgaben stand dann zu lesen, daß der berühmte Harst am nächsten Morgen mit der Atlanta in See gehen würde.
An diesem Abend vor der Abreise waren wir beide zu einem Herrensouper zum Präfekten Saratilla eingeladen. Die Südamerikaner sind fast alle wütende Spieler. Nach der Tafel zog sich denn auch ein Teil der Gäste in das Spielzimmer zurück. Bei Tisch hatte uns der heute hier erst eingetroffene neue schwedische Konsul Baron Vaxendahl gegenüber gesessen, der nachmittags dem Präfekten seine Aufwartung gemacht und sofort eine Einladung für den Abend erhalten hatte.
Vaxendahl war ein älterer, graubärtiger Herr mit goldenem Kneifer. Da er fließend deutsch sprach, unterhielt er sich viel mit uns und meinte nachher, wir sollten uns doch einmal den Spielbetrieb ansehen.
Es wurde Baccarat gespielt. Der Schwede übernahm dann die Bank. Wir sahen nur zu. Mit einem Male rief er über den Tisch:
„Herr Harst, ich habe bisher an 15 000 Mark gewonnen. Vertreten Sie mich bitte ein paar Minuten. Ich muß ein Glas Sekt in Ruhe trinken.“
Harst tat ihm den Gefallen. Der Baron kehrte schon nach drei Minuten zurück, stellte einen kleinen Pappkarton vor Harst hin und erklärte, er müsse in sein Hotel fahren: er habe soeben eine wichtige Depesche erhalten.
Indem er seinen Bankgewinn in die Tasche schob, fügte er hinzu: „In dem Karton habe ich eine Rarität, die Sie den Herren mal zeigen können. Auf Wiedersehen –“
Er verbeugte sich und ging hinaus.
Mit einem Male sprang Harald vom Stuhle auf und lief in den Flur, kam aber sofort zurück, sagte:
„Meine Herren, dieser Konsul war unecht. Ich habe es leider eine Minute zu spät gemerkt.“
Er öffnete den Karton.
In Watte verpackt lagen darin – die beiden goldenen Becher. Und ein Zettel in dem einen Becher enthielt nur die Worte:
„Auf Wiedersehen in Hongkong!
Vincent Saalborg.“
Ich will nur noch bemerken, daß der echte neue Konsul am anderen Morgen in Pernambuco eintraf, wo ihn niemand persönlich kannte, was Saalborg schlau ausgenutzt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, daß Saalborg als Bankhalter überaus geschickt falsch gespielt hatte. Denn brasilianische Gentlemen im Spiel zu betrügen, ist nicht ganz leicht, da eben in Südamerika diese Kunst des „Korrigierens des Glücks“ so weitverbreitet ist, daß jeder dort dem andern, und sei es sein bester Freund, sehr scharf auf die Finger sieht.
Dieses Falschspiel war das Vorspiel für eine nicht gerade angenehme Nacht. –
Eine Stunde nach Saalborgs Verschwinden sagten wir dem Präfekten Lebewohl, der inzwischen seine gesamte Polizeimacht auf die Beine gebracht hatte, um womöglich den nicht geringen Ruhm zu ernten, diesen in seiner Art wohl einzig dastehenden Hochstapler dingfest gemacht zu haben.
„Sennor Harst, mein Auto steht unten für Sie bereit,“ sagte Saratilla liebenswürdig. „Ich werde die Herren noch bis auf den Vorplatz begleiten.“
Die Villa Saratillas lag weit draußen im neuesten Viertel Pernambucos. Vor der Freitreppe hielt das elegante, offene Auto. Wir drückten dem Präfekten nochmals die Hand, stiegen ein.
„Nach dem Hafen, Juan,“ befahl er seinem Chauffeur.
Wir winkten ihm zu, und der Kraftwagen rollte davon, die wunderschöne Rua das Pontas entlang, deren Palmen uns rauschend ein Lebewohl zuzunicken schienen.
Es war nach Mitternacht, und hier in der Villenvorstadt herrschte dieselbe vornehme Ruhe wie in allen solchen Villenquartieren der Weltstädte.
Der Motor schien nicht in Ordnung zu sein. Schon nach wenigen Minuten verstummte er ganz, und der Wagen hielt. – Der Chauffeur sprang ab und entschuldige sich; er würde die Sache sofort wieder in Ordnung bringen.
Schräg über uns stand der leicht verschleierte Mond. In einem nahen Park zankte eine Herde Affen. Ihr Gekreisch war wie eine Entweihung dieser tropischen Zaubernacht.
Harald hatte den Karton mit den beiden Goldbechern auf dem Schoße, sagte nun leise:
„Dieser Saalborg gibt uns viel zu raten auf, mein Alter. Er betonte, als wir ihn kennen lernten, daß er Gentleman-Gauner ist. Daß er die Becher uns von Bord der Atlanta wegholte, war offenbar nur eine Warnung, die uns andeuten sollte: Ich kann alles – alles! Unterschätzt mich nicht! – Dieser Mensch imponiert mir beinahe. Er besitzt Phantasie, Mut, beherrscht wohl alle lebenden Sprachen und –“
Der Satz ist nie beendet worden.
Es mußten sich von hinten mehrere Leute an das Auto geschlichen haben.
Mir glitt etwas über das Gesicht – eine Lederschlinge. Dann ein furchtbarer Ruck. Mir wurde die Kehle zugeschnürt. Eine Decke flog mir über den Kopf. Als letztes hörte ich noch das Getrappel der Pferde eines sich schnell nähernden Wagens.
Und dasselbe Getrappel, dasselbe Rollen von Rädern vernahm ich, als ich wieder zu mir kam, als ich fühlte, daß ich an Händen und Füßen gefesselt war und mit einem Knebel im Munde in einem Wagen lag. Auch die Augen waren mir verbunden. Der Zipfel des Tuches hing bis zum Munde hinab.
Ich atmete krampfhaft. Mein Hals schmerzte. Und in die Nase drang mir ein merkwürdiger Geruch.
Was war es nur? Woran erinnerte dieser Geruch. – Ah – an frische Backware, an – eine Backstube!
Dem Rattern und Dröhnen des Wagens nach lag ich in einem jener Kastenwagen, die von Geschäftsleuten zum Ausfahren ihrer Waren benutzt werden.
Also wohl ein Bäckerwagen! – Seltsam – ein Bäckerwagen! Steckte etwa wieder Saalborg hinter diesem brutalen Streich?! War er nur zum Schein so weit Gentleman gewesen, uns die goldenen Becher, diese Andenken an eins unserer wechselvollsten Abenteuer, zurückzugeben? Wollte er sie uns jetzt wieder abnehmen und sich uns gegenüber auch von einer anderen Seite, eben einer brutaleren, zeigen?! –
In dem Wagenkasten lehnte rechts neben mir ein zweiter Mensch. Soeben hatte mich dessen Ellbogen berührt.
War es Harald?! – Ich versuchte es mit der zwischen uns seit langem vereinbarten Berührungstelegraphie, beugte mich nach rechts hinüber und stieß ihn dreimal mit dem Ellbogengelenk an.
„Sitz’ still!“ gröhlte mir eine rauhe Stimme auf englisch ins Ohr. „Eure Faxen kennen wir; bei uns kommt Ihr damit nicht weit!“
Und zur Bekräftigung dieser Worte wurde mir eine kalte Messerklinge auf die Kehle gedrückt. Ich zuckte zusammen, und der Kerl neben mir lachte und nahm das Messer wieder weg. –
Jetzt rumpelte der Wagen ein Stück über schlechtes Pflaster. Dann über eine Strecke ganz glatten Bodens. Dann wurden die Hufschläge fast unhörbar. Es mußte ein Kiesweg sein, den wir entlangfuhren.
Der Wagen hielt. Die Türen des Wagenkastens wurden geöffnet. Die Gelenke kreischten. Man zerrte mich an den Beinen heraus. Ein Mann trug mich in den Armen davon. Es mußte ein Riese sein, denn ich wiege nicht wenig. Er aber tat so, als schleppe er einen leeren Sack.
Ich gab genau acht. Es ging durch eine kühle Halle. Die Schritte des Mannes dröhnten auf dem Fliesenboden. Hinter uns her kamen noch ein paar Leute.
Dann stieg der Mann eine Treppe hinab. Es wurde immer kälter um mich her. Wieder eine Halle mit Fliesenboden und leicht modrig riechender Luft; wieder eine Steintreppe.
Noch acht Schritte tat der Mann; setzte mich ab. Auf einen Kasten, der dumpf erklang, als meine Stiefel unten dagegenschlugen.
Wieder Schritte. Man gab mir Gesellschaft auf diesem Kasten. Es konnte nur Harst sein, der nun neben mir saß. Haralds Kleider strömen für eine feine Nase stets den süßlichen Geruch seiner Mirakulum-Zigaretten aus. Und diesen Duft spürte ich in diesem Modergestank doppelt deutlich.
Dann entfernte man den Knebel und das Tuch, das mir das Sehen unmöglich gemacht hatte.
Ich blinzelte in eine grell brennende Radfahrerlaterne hinein; bemerkte zwei weitere Laternen und uns gegenüber auf einem sargähnlichen Kasten einen Menschen in einem weißen Leinenanzug und großem Strohhut, der einen bis auf die Brust reichenden Seidenlappen als Maske trug.
In den Löchern der Seidenmaske schillerten ein Paar Augen, deren Farbe mir grau erschien.
Neben dem Kasten standen zwei andere Männer, gekleidet wie die ärmere Bevölkerung, auch mit Masken vor dem Gesicht. Eine der Laternen hing an dem Kasten; die beiden anderen an zwei gemauerten Pfeilern dieses dumpfigen, niederen Gewölbes.
Ich sah noch mehr. Ein Blick nach rechts. Ja – es war Harst, der neben mir saß und der nun starr nach der rechten Wand des Gewölbes hinüberschaute.
Dort standen eine Menge altertümliche Lehnstühle. In jedem saß ein Mann in Mönchstracht mit einem eigentümlichen schwarzen Filzhut auf dem Kopf.
Die Lichtkegel der Laternen waren auf Harst und mich gerichtet. Die Mönche dort drüben erkannte man nur sehr undeutlich.
Da begann der Mann uns gegenüber schon zu sprechen. Er hatte eine helle, durchdringende Stimme.
„Es ist Zeit, daß man Eurem schädlichen Treiben ein Ende bereitet,“ sagte er in schnell sich steigernder Erregung. „Ihr beide mischt Euch stets in Dinge, die Euch nichts angehen. Euer Sensationshunger und eine lächerliche Sucht, von sich reden zu machen, läßt Euch zu Schergen der sogenannten Polizei werden. Ihr habt hier in Pernambuco meinen Freund Pertinax Chalpin in den Tod getrieben, habt uns die Schätze des Piraten entzogen. Wir werden über Euch zu Gericht sitzen –“
Er wandte den Kopf nach links, wo die Mönche regungslos in ihren Sesseln lehnten.
„Ich stelle den Antrag auf Todesstrafe. Wer dagegen ist, erhebe sich –“
Bisher hatte mich diese Szene nicht weiter angefochten.
Als nun aber drüben von der unheimlichen Gesellschaft – es waren zwölf Mönche – sich niemand erhob, wurde mir doch etwas beklommen zu Mute.
„Der Antrag ist also einstimmig durchgegangen,“ sagte der Mann im Leinenanzug jetzt. „Es fragt sich, wie die beiden sterben sollen. Ich bin dafür, daß sie gefesselt und geknebelt hier unten liegen bleiben. Wir können sie auf diese alten Särge binden. Hunger und Durst werden die Henker sein. – Wer dagegen ist, erhebe sich.“
Die zwölf dort im Halbdunkel regten sich nicht.
„Gut – erledigt!“ meinte der Weißgekleidete. „Dann zuerst der Schraut! Sucht die festesten Riemen heraus.“
Die beiden anderen Maskierten bückten sich. Vor ihnen auf den Fliesen lagen lange Lassos.
Harald hatte bisher kein Wort geäußert, sondern nur den „Sprecher“ beobachtet.
Jetzt sagte er sehr laut:
„Schade!“
Der Sprecher zuckte die Achseln. „Was soll das?!“
„Hm – tragen Sie immer unter der Maske im rechten Auge ein Monokel?! Sie müßten daran denken, daß man das sehr wohl erkennt. Schade, Vincent Saalborg, ich hätte mehr von Ihnen gehalten! Sie sind kein Gentleman-Gauner. Sie sind ein gewalttätiger Durchschnittsverbrecher.“
Also doch Saalborg! Wirklich schade! Der Kerl war Hochstapler. Aber ich hatte für ihn etwas wie Sympathie empfunden. –
Saalborg lachte höhnisch auf. „Ja – ich wechsele nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere, Harst! Du hältst Dich für ein Genie. Ich nicht. Wenn Du beim Besteigen des Autos Saratillas achtgegeben hättest, wäre Dir kaum entgangen, daß der Chauffeur sein Gesicht vor Saratilla zu verbergen trachtete. Der echte Chauffeur liegt gefesselt und geknebelt in der Garage.“
„Gut, gut!“ nickte Harald gleichmütig. „Also doch nicht Saalborg! Es war nur eine Anzapfung, Amigo. Ich konnte es auch nicht recht glauben, daß Saalborg so alberne und rüde Streiche ausführt! – Amigo, wenn man sich ein Monokel ins Auge klemmt, wird man dadurch noch lange nicht der monokeltragende, höfliche, feine Saalborg! Nein – der hätte nie die gemeine Straßenräuberfrechheit besessen, mich zu duzen. Ich weiß nun, Amigo, daß Du nicht Saalborg bist. Und den Firlefanz mit den zwölf Mumien da an der Wand hättest Du Dir auch sparen können. Wir befinden uns hier in den Gewölben des ehemaligen Jesuitenklosters, in dem Pertinax Chalpin nachher wohnte. Ihr seid absichtlich mit uns vor der Stadt kreuz und quer gefahren, damit wir nicht merken sollten, wohin man uns brachte. – Amigo, ich habe heute einer alten Dame in gewisser Weise Unrecht getan. Sie wollte mir nicht sagen, weshalb sie ihren Neffen enterbt hätte. Wenigstens wollte sie mir nicht alles sagen, spielte plötzlich die hochmütig Verschlossene. Ich fragte Don Saratilla nach diesem Neffen aus. Er schilderte ihn mir als ein recht übles Früchtchen. Soeben traf der Lichtschein Deine linke Hand, Amigo. Du trägst denselben achteckigen Wappenring, den Dein Oheim auf dem Gemälde am Ringfinger stecken hat. Du bist Fernando Travesta, bist wahrscheinlich auf eine Warnungsdepesche der Mulattin Josefa, Deiner Verbündeten, von Bahia hierher geeilt, weil Du fürchtetest, ich könnte Dir Dein Spiel verderben. Der Geist Deines Onkels soll Deine Tante zur Änderung des Testaments zu Deinen Gunsten veranlassen. Und Du möchtest hier als Saalborg auftreten, um Dir für alle Fälle den Rücken zu decken. Das Kloster ist jetzt seit Chalpins Tode unbewohnt. Das paßte Dir in Deinen Kram. – Fernando Travesta, Du bist ein Stümper als Verbrecher –“
Travesta war mit heiserem Wutschrei dicht vor Harst hingetreten, hatte einen Dolch herausgerissen und holte mit der Rechten aus.
Haralds gefesselte Füße zuckten hoch.
Ein Stoß gegen Travestas Brust.
Er flog nach hinten, schlug mit dem Kopf gegen den alten Eichensarg, sank zu Boden, lag still.
Die beiden anderen Männer standen wie erstarrt da.
Harald rief ihnen zu, bevor sie noch richtig wußten, was geschehen:
„Ihr da – Ihr seid Mulatten, seid wahrscheinlich von Travesta für dieses Bubenstück angeworben worden. Ich möchte Euch nur warnen. Ich sah diesen Schurkenstreich voraus. Die Polizei hat Euch beobachtet. Das Kloster ist umstellt. Ich lege für Euch ein gutes Wort ein, wenn Ihr Travesta sofort bindet. Besinnt Euch nicht lange. Don Saratilla wird mit Euch kurzen Prozeß machen, läßt Euch aufknüpfen. Ich zähle bis zehn. Habt Ihr mich bis dahin nicht losgeschnitten, dann –“
Der kleinere Kerl sagte hastig:
„Sennor, wir werden eingesperrt werden –“
„Nein. Ich sorge schon dafür, daß es nicht geschieht.“
Der Mulatte sprang zu. Sein Messer fuhr durch Harsts Riemen.
Harald griff in die Tasche, zog die Clement.
In demselben Augenblick hinter uns eine drohende Stimme:
„Keiner rührt sich!“
Harald drehte sich trotzdem um. Auch ich wandte den Kopf. Ich traute meinen Augen nicht:
Es war der schlanke, elegante Saalborg in derselben Kleidung, wie wir ihn als Lord Salmour zum ersten Male im Hotel Excelsior gesehen hatten – bartlos, Monokel im Auge.
Nur daß er jetzt in jeder Hand einen Revolver hielt.
Dann sagte er schon mit leichter Verbeugung:
„Ich merke, ich bin hier nicht mehr nötig. Sie sind schon frei, Master Harst –“
Lautlos tauchte er im Dunkel des Gewölbes wieder unter.
Harst hob Travestas Dolch auf, machte mir die Hände frei. –
Dann fesselte ich Travesta, während Harald die Mulatten im Auge behielt.
„Wo habt Ihr den Bäckerwagen her?“ fragte er sie nun.
Der Kleinere erwiderte: „Ich bin Kutscher bei dem Bäcker Laurenzo, Sennor.“
„Gut – verschwindet. Ich werde Euch nicht verraten.“
„Und – und die Polizei oben, Sennor? Man wird uns festhalten –“
„Die Polizei hat sich zurückgezogen. Geht. Euch wird nichts geschehen. Nehmt die eine Laterne mit.“
Sie murmelten ein paar Dankesworte und schlüpften davon. –
Travesta war wieder zu sich gekommen. Harst riß ihm die Maske ab. Das Monokel fiel auf die Steinplatten und zersplitterte. Ein verlebtes Gesicht stierte uns haßerfüllt an.
„Stehen Sie auf, Travesta,“ befahl Harald kurz. „Ich habe nicht viel Zeit. Wir werden Sie nach der Polizeiwache der Vorstadt bringen.“
Travesta wollte sich weigern. Harst packte ihn.
„Lump – ich schieße Ihnen die Finger blutig, wenn Sie nicht gehorchen! – Schraut die Laternen! Vorwärts!“ –
Vor dem Kloster stand noch im Garten der Bäckerwagen. Aber die beiden Pferde fehlten. Die Mulatten waren damit entflohen. –
Auf der Polizeiwache gab Harald zu Protokoll, daß Travesta uns mit Hilfe zweier Männer in den Gewölben hatte umbringen wollen.
Dann begaben wir uns – mit dem Karton und den Goldbechern – an Bord der Atlanta. Der Morgen graute bereits.
Eine Stunde später verließ unsere Jacht den Hafen mit Kurs auf Panama. Wir wollten durch den Panama-Kanal den Stillen Ozean erreichen. –
Vierzehn Tage später.
Vor der hochgezogenen Scheibe eines Ladens eines chinesischen Geldwechslers der Stadt Viktoria auf der Insel Hongkong standen auf der Straße zwei in gelbbraune Touristenanzüge gekleidete Europäer und ließen sich ein paar Pfundnoten in Silber-Dollar einwechseln.
Der dicke Chinese reihte die Silberstücke mit verblüffender Geschicklichkeit auf und flüsterte dabei in nicht ganz tadellosem Englisch:
„Drywater-Salon, – Drywater-Salon. Erstklassige Damenbedienung, Opiumstube, Bar, ungarische Kapelle, zwei Roulettetische, zwei Baccarattische. – Drywater-Salon, Houston-Street – Houston-Street 16. Nur für Gentlemen, nur für Gentlemen –“
Er machte also Reklame für diesen „Salon“, offenbar ein „erstklassiges“ Nepplokal.
Die beiden Europäer schritten weiter, ohne das Geplapper des Dicken zu beachten.
Bald traten die Häuser der hochgelegenen Straße zurück. Wohlgepflegte Anlagen und weißgestrichene Bänke luden zum Ausruhen ein.
Die beiden Gentlemen gingen durch die Anlagen bis an das eiserne Geländer. Unter ihnen stürzte die Felswand dieser zweiten Terrasse steil ab. Zu ihren Füßen ein Häusermeer; weiterhin der Hafen von Hongkong; drüben jenseits der 800 Meter breiten Meeresbucht die Stadt Kaulun[2]. –
Der Durchschnittsgebildete hält Hongkong für den Namen einer Hafenstadt. Hongkong ist aber eine Insel, und der Hauptort heißt Viktoria. Trotzdem spricht niemand von einem Hafen von Viktoria; immer nur von Hongkong.
Viktoria ist eine Terrassenstadt. Hinter ihr steigt die Felsmasse der Insel im Viktoria Peak zu 560 Meter Höhe auf; hinter ihr schmiegen sich in die Schluchten und Täler die Niederlassungen der Chinesen mit Gärten und bescheidenen Feldern wie Kinderspielzeug aus einem Baukasten bunt und malerisch[3] ein. –
Die beiden Europäer setzten sich auf eine leere Bank. Der größere entnahm einer goldenen Zigarettendose mit dem Monogramm H. H. auf dem Deckel eine Zigarette, hielt das kostbare Etui dann dem anderen hin und sagte:
„Bitte. Bediene Dich, Schraut.“
Sie rauchten schweigend, bis ich Harald fragte:
„Weshalb hast Du die Banknoten gerade hier oben gewechselt? In unserem Hotel wäre das bequemer gewesen.“
„Stimmt, lieber Alter. Aber nicht so lehrreich. Heute vormittag wechselte ich Geld bei drei anderen Chinesen. Sie waren offenbar nicht eingeweiht.“
Er holte die hier erscheinende englische Zeitung hervor und deutete auf einen Artikel mit der Überschrift:
Schließung dreier Spielhöllen.
Die Polizei hat vorgestern nacht wieder drei Spielhöllen ausgehoben. Zu diesem scharfen Vorgehen gegen diese zumeist nach außen hin als harmlose Teestuben oder dergleichen frisierten Lokale sah sie sich durch die Anzeige zweier Holländer veranlaßt, die in einer Woche hier gegen eine Million – natürlich an Falschspieler – verloren haben.
Ich hatte diese Notiz schnell überflogen.
Harald deutete weiter unten auf eine zweite.
Mord oder Selbstmord?
Den ersten Buchhalter der Firma Blaker u. Co., Henry Blox, hat eine Polizeipatrouille in der verflossenen Nacht gegen 2 Uhr am Fuße einer Steilwand des Houston-Tales mit zerschmettertem Schädel tot aufgefunden. Es ist bereits festgestellt, daß Henry Blox im geheimen leidenschaftlicher Spieler war und seine Firma um rund 20 000 Pfund betrogen hat. Das Geld dürfte er verspielt haben. Ob er in der Dunkelheit von der Steilwand abgestürzt ist oder sich selbst dort den Tod gegeben hat, wird die Polizei bald aufgeklärt haben.
Harald steckte die Zeitung wieder ein.
„Es ist die heutige Morgenausgabe,“ meinte er. „Nun weißt Du, weshalb ich gerade heute so viel Geld wechselte. Die chinesischen Geldwechsler sind sehr häufig „Schlepper“ für Spielhöllen. Ich wollte herausbekommen, ob nicht außer den drei bereits geschlossenen Jeusalons noch ein vierter existiere. Der dicke Chinese sah uns die Globetrotter, die Vergnügungsreisenden, sofort an. Daher sein Hinweis auf Houston-Street 16, Drywater-Salon, zwei Roulettetische – und so weiter.“
Ich dachte nach, sagte dann:
„Du hoffst Vincent Saalborg dort zu finden?“
„Hoffen?! – Zwei Holländer haben eine Million verloren. Eine Million durch Falschspieler. Ich möchte diese Holländer kennen lernen. Dann werde ich Dir sagen, ob ich hoffe.“
Er rauchte die zweite Mirakulum sich an. „Und der Mord interessiert mich auch – oder der Selbstmord. Henry Blox ist in der verflossenen Nacht verunglückt. Im Houston-Tale! Ich denke, die Houston-Street wird sich durch dieses Tal hindurchschlängeln. Gib doch mal den Plan von Viktoria her.“
Wir beugten uns über den in Buntdruck ausgeführten Stadtplan.
„Da ist das Houston-Tal,“ meinte ich. „Du hast recht. Die dünn bebaute Straße dort heißt Houston-Street.“ –
Eine Viertelstunde später betraten wir das Polizeigebäude. – Hongkong ist englische Kronkolonie und hat eine vorzügliche Polizeitruppe, die hier bei dem internationalen Getriebe auch sehr notwendig ist.
Detektivinspektor Staamer sollte, wie wir vom Pförtner erfuhren, die Untersuchung im Falle Blox und auch den Kampf gegen die Spielhöllen leiten. – Wir schickten ihm unsere auf Horster und Schrook lautenden Besuchskarten in sein Dienstzimmer und wurden auch sofort vorgelassen.
Staamer bat uns Platz zu nehmen. Als Harst ihm unsere richtigen Namen nannte, lächelte er und meinte:
„Ihre Jacht Atlanta liegt im Hafen. Daß Sie hier sind, wußte ich seit dem Moment, als die Jacht am Kai festgemacht hatte. Freilich – gesehen hatte ich Sie noch nicht.“
Harald fragte nach den Namen der gerupften Holländer.
„Die Herren sind heute früh abgereist, Master Harst. Sie konnten den Aderlaß vertragen. Durch sie erfuhren wir von den drei Spielhöllen, die wir dann schleunigst aushoben.“
„Konnten die Holländer Ihnen einen Fingerzeig betreffs der Person eines Mannes geben, den sie als Falschspieler im Verdacht hatten?“
„Ja und nein. Sie hatten Baccarat gespielt – in allen drei Spielhöllen. Sie beschrieben uns vier Leute, die ihnen verdächtig vorgekommen waren, einen Schweden, einen Spanier –“
„Danke, Master Staamer. Und als die Razzia erfolgte, fanden Sie keinen dieser vier Verdächtigen vor.“
„Leider nein. Obwohl die Holländer uns begleiteten.“
„Etwas anderes. Meinen Sie, daß Blox, der Buchhalter, ermordet wurde?“
„Ja. Das habe ich schon festgestellt. Ich möchte Sie aber bitten, dies geheim zu halten. Die Öffentlichkeit soll annehmen, wir glaubten an Selbstmord. Blox ist hinterrücks niedergeschlagen und bis zum Abhang geschleift worden. Wir haben einen einwandfreien Zeugen gefunden, einen Matrosen, der gegen halb zwei Uhr in der verflossen Nacht auf der Houston-Street einem anderen Matrosen begegnete, dessen Verhalten ihm auffiel. Der zweite Matrose lief nämlich wie gehetzt talaufwärts. Die Houston-Street zieht sich das gleichnamige Tal entlang. Die Stelle, wo die beiden sich begegneten, liegt keine hundert Meter von dem Abhang entfernt. Die Straße ist dort unbebaut. Rechts und links gibt es nur Felsgeröll.“
„Wie heißt der Zeuge?“
„Tom Fireland von der Brigg Medusa, die hier Salpeter löscht. Fireland ist zweiter Steuermann, nicht einfacher Matrose. – Wollen Sie den Fall untersuchen, Master Harst?“
„Nein. Ich habe etwas anderes vor.“
Staamer kniff das eine Auge zu. „Verstehe – Saalborg! Die Geschichte von der Wette stand letztens in der Zeitung. Ist von Pernambuco herübergekabelt worden. Wissen Sie, Master Harst, dieser Saalborg wird Sie genasführt haben. Während Sie ihm hier nachspionieren, wird er wohl anderswo sehr rührig sein. Übrigens hat die Neuyorker Polizei 5000 Dollar Belohnung auf seine Ergreifung ausgesetzt. Möchte das Geld gern verdienen. Aber –“ Er zuckte die Achseln. „Aber der Kerl ist zu fassen!“
Wir verabschiedeten uns.
Wir waren im Hotel Miramare abgestiegen, einem der behaglichsten, kleinsten Gasthäuser im Ostteile der Stadt.
Auf dem Wege zum Hotel sagte Harald zu mir:
„Staamer kennt den Drywater-Salon als Spielhölle nicht – oder hält es vor uns geheim. Wir werden diese Nacht den Salon uns ansehen. – Hm – wir könnten eigentlich mal gleich die Medusa näher in Augenschein nehmen.“
Die Brigg war bald gefunden. Wir schritten über die Laufplanke an Bord und fragten einen Matrosen nach Steuermann Fireland.
Der Matrose grinste. „Schläft jetzt. Hat mit Käpten Blaag und dem Ersten (Steuermann) heute mächtig viel gesoffen.“
„So. Fireland trinkt wohl gern einen übern Durst, wie?!“ lachte Harald harmlos.
„Ach nee, Master. Er hält’s mehr mit den Weibern und dem Knobelbecher.“
„Na – wir kommen morgen wieder. Sind von der Firma Schrapp,“ log Harald und gab dem Matrosen einen Silberdollar.
Wir verließen die Medusa. – „Fireland dürfte im Drywater-Salon in der vergangenen Nacht gewesen sein,“ sagte Harst. „Er spielt. Bin neugierig, wie dieser Salon ausschaut. Wir werden jetzt im Hotel soupieren, dann auf der Atlanta etwas Toilette machen und gegen zehn uns nach der Houston-Street begeben. Die vier Verdächtigen, die die Holländer Staamer bezeichneten, sind übrigens vielleicht nicht vier, sondern nur einer gewesen.“
„Saalborg?“
„Ja – vielleicht. Und – vielleicht finden wir ihn in einer fünften Maske im Drywater.“ –
Als wir gegen neun Uhr den Salon der Atlanta betraten, saß dort unser braver Käpten Banfy bei seinem gewohnten Nachttrunk und las Zeitung.
„Na – dann brauche ich nicht nach dem Hotel zu schicken,“ begrüßte er uns. „Vor kaum drei Minuten war ein Chinese hier und brachte einen Brief für Sie, Master Harst. Da liegt er noch.“
Harald zeigte mir die Anschrift. Diese steilen, energischen Buchstaben kannte ich. Es war Saalborgs Schrift. Und sein Brief lautete:
Master Harst!
In aller Eile. – Den beiden Holländern hat die Lehre nichts geschadet. Sie sind beide schwer reich. – Sie waren nachmittags bei Staamer, Master Harst. Und der dicke Geldwechsler gab Ihnen den richtigen Wink. Ich kenne den Mörder. Kommen Sie zu Houston. Sie verstehen. – Stets Ihr ergebener Saalborg.
„Der Mensch fällt mir allmählich auf die Nerven!“ seufzte Harald. „Der weiß einfach alles! – Schraut, ich werde ihn als zweiten Privatsekretär engagieren. Dann kannst Du Dich ganz der Schriftstellerei widmen.“
Ich sagte gar nichts. Ich war noch verblüffter als Harst. –
Dann konnte Banfy uns wieder bewundern, wie wir uns in zwei bärtige, rotnasige Schiffskapitäne verwandelten. Zum Schluß goß Harald uns aus Banfys Rumflasche eine gehörige Dosis Seemannsparfüm auf die blauen Jacken.
Um ¾10 stiegen wir schnell in unser Beiboot, und Banfy ruderte uns bis zu einem entfernten Bootssteg, wo wir ausstiegen. Wir wußten jetzt genau, daß niemand uns beobachtet haben oder gefolgt sein konnte.
Bis zur Houston-Street hatten wir noch gut zwanzig Minuten zu laufen. Das Tal war nur vorn dicht bebaut. Dann kam ein weites Stück kahles Gestein zu beiden Seiten, dann ein paar Chinesenbuden, dazwischen einige Villen von Europäern, bis uns linker Hand aus einem stallähnlichen, weißen Gebäude mit hell erleuchteten Fenstern Musik und Gejohle entgegentönten. Über dem Eingang hing eine elektrische Bogenlampe, die die ganze Straße in hellstes Licht tauchte.
Wir waren nicht die einzigen, die dieser Vergnügungsstätte zustrebten. Aber wir warteten, bis wir allein vor dem Hause standen, bogen dann links um das Gebäude herum, kamen durch einen dürftigen Garten und – mußten kehrtmachen, da das Haus sich mit dem linken Seitenflügel an die steile Talwand anlehnte.
Wir gingen wieder nach vorn. Rechts vom Haupteingang gab es einen zweiten, über dem ein Schild mit „Bar“ angebracht war.
Diese Bar unterschied sich in nichts von ähnlichen Räumen in ostasiatischen Seestädten. Nur die Ausstattung war etwas eleganter.
Am Schanktisch, hinter dem vier „Damen“ in abgelegten Ballroben die Gäste kräftig animierten, war kein Platz mehr. Wir setzten uns in eine Nische und bestellten Sekt bei einer fünften flachsblonden Europäerin, deren kindlich-harmloses Gesicht in dieser Umgebung recht seltsam wirkte.
Sie nahm unaufgefordert bei uns Platz und plapperte frisch drauf los. Es war eine geborene Dänin, die uns die übliche Leidensgeschichte von „aus guter Familie“, „Gouvernante“ und „fehlendem Geld zur Heimkehr“ auftischte. – Trotzdem: alles, was sie erzählte, war doch wohl nicht erfunden. Man merkte ihr an, daß sie vor der Inhaberin des Lokals, der Mistreß Drywater, Angst hatte. Sie weinte auch ein paar Tränen.
„Wenn ich nicht genug Kasse am Monatsende habe,“ sagte sie unter anderem, „verliere ich die Stelle. Und – hier ist es doch weit besser als in ähnlichen Salons. Hier in der Bar verkehrt nur besseres Publikum.“
Nach der dritten Flasche Sekt und nachdem wir ihr mitgeteilt hatten, daß unsere Dampfer erst heute hier vor Anker gegangen seien, holte sie ein Spiel Karten und zeigte uns Kartenkunststücke, fragte so nebenbei, ob wir vielleicht ein Spielchen machen wollten.
Harald blinzelte mir zu. Ich verstand: jetzt würde das Mädchen uns in den Spielsalon locken!
So war es auch. – Harst heuchelte großes Interesse für Roulette und ähnliche Dinge, zeigte seine gut gefüllte Brieftasche und sicherte dem Mädchen dann vollste Verschwiegenheit zu, bezahlte unsere Zeche, gab sehr reichlich Trinkgeld und winkte mir. Ich spielte erst noch den Soliden. Dann erhob ich mich gleichfalls.
Das Mädchen führte uns über einen langen Flur in ein dunkles Zimmer, wo in der Wandtäfelung eine Geheimtür sich befand. Wir kamen so in ein wahres Labyrinth von Treppen, Gängen und verborgenen Türen, schließlich in einen hell erleuchteten Vorraum, in dem hinter einem Tische der Gemahl der Mistreß Drywater, ein unheimlich dicker, rothaariger Gentleman mit einer wahren Schweineschnauze, saß. Seine roten Triefaugen musterten uns argwöhnisch. Das Mädchen flüsterte auf ihn ein, bis der Kerl nickte und uns angrunzte:
„Dreißig Dollar Eintritt pro Person. Nur beste Gesellschaft. Keine Gefahr, daß Polizei erscheint.“ Er grinste stolz. „Gar keine Gefahr! Und wenn sie erscheint – na, dann geht sie wieder!“
Wir bezahlten. Er zeigte mit der Hand auf eine weißlackierte Tür. Wir traten ein.
Es war ein schmaler, langer Saal, ganz in Weiß und Gold gehalten. Die Sessel, die Wandsofas, die Marmortische, die gedämpfte Beleuchtung, die vier Spieltische, hinten der Schanktisch, – alles aufs feinste.
Das war in der Tat eine Spielhölle, wie niemand sie hier vermutet hätte! – Dabei waren die Spieltische dicht umlagert. Ich schätzte die Zahl der Anwesenden auf mindestens fünfzig: Europäer aller Nationen, Japaner, Chinesen, Inder – sämtlich gut gekleidet, sämtlich von nur einem Interesse beseelt: für das Jeu!
Niemand beachtete uns. Als wir uns dem zweiten Bacc-Tisch (Bacc, Baccarat) näherten, stutzten wir gleichzeitig. – Dort saß dicht neben dem Bankhalter ein Seemann, dessen bartloses Gesicht unheimlich verzerrt und erdfahl war. Selten habe ich ein Spielergesicht gesehen, das durch die unselige Leidenschaft derart zur abstoßenden Fratze verwandelt war. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, rannen ihm die Nase und die Schläfen entlang. Seine zitternden Hände hielten eine Banknotentasche krampfhaft zusammengedrückt. Zwischen den aufgestützten Armen lag ein Häufchen Gold- und Papiergeld.
Soeben hatte die Bank den „großen Schlag“ gehabt und die Harken kratzten eilfertig die gesamten Einsätze zusammen.
„Verdammt!“ keuchte der Seemann.
Wir waren hinter seinen Stuhl getreten, hatten nun also auch den Bankhalter dicht vor uns. Es war ein Mensch mit goldener Brille, Scheitel und dünnem Vollbart.
Harald stieß mich mit dem Ellbogen an, schaute auf den Kopf des Bankhalters herab und flüsterte: „Falsch!“
Ja – es war eine blonde Scheitelperücke!
„Wir haben ihn!“ hauchte Harst.
Der Bankhalter rief das neue Spiel aus. Wir setzten. Inzwischen waren noch vier andere Spieler an unseren Tisch gekommen. Einer stellte sich neben Harst. Es war ein Steuermann mit blondem Spitzbart.
Die Bank gewann abermals.
Der Seemann hatte abermals eine Hundertpfundnote eingebüßt. Er fluchte leise.
Harst bückte sich nach links und raunte ihm zu:
„Fireland, das nennt man Pech!“
Der Steuermann blickte gar nicht auf, wühlte nur in seiner Brieftasche, brummte: „Auch das Pech hört mal auf.“
Er setzte jetzt nur zehn Silberdollar. (Hongkong prägt eigene Münzen, so den Silberdollar zu 4,350 Mark – vor dem Weltkrieg!) – Die Bank verlor. Fireland schlug mit der Faust auf den Tisch, warf dann für das nächste Spiel 200 Pfund auf eins der Felder.
Die Bank gewann.
Harald flüsterte dem vor Ingrimm keuchenden Fireland ins Ohr:
„He – Fireland, seit gestern haben Sie wahrhaftig Pech! Das macht die Leiche!“
Der Steuermann duckte sich wie unter einem Faustschlag zusammen. Dann flog sein Kopf herum. Seine Augen starrten mich wie einen bösen Geist an. Er glaubte, ich hätte diese Worte ihm zugeflüstert.
Ich nickte und sagte leise: „Der Bankhalter betrügt!“ – Mir fiel nichts Besseres ein.
Harst beugte sich tiefer. „Fireland, wir kennen den Schuft! In Kanton trieb er’s ebenso. Dort hieß er stets „die Leiche“, weil er alles tot mogelte –“
Des Steuermanns mißtrauische Augen wurden zuversichtlicher, ruhiger. Er drehte sich wieder um, warf eine Fünfzigpfundnote auf ein Feld.
Und – die Bank gewann!
Fireland packte plötzlich die linke Hand des Bankhalters.
„Hund – Du betrügst!“ brüllte er. „Du bist „die Leiche“! Da – der Master hinter Dir kennt Dich –“
Einen Moment Stille. Die Spieler drängten sich um uns.
Dann – ein schriller Pfeifenton. Der andere Steuermann, der rechts neben Harst stand, hatte eine Trillerpfeife an den Mund geführt, rief jetzt:
„Im Namen des Gesetzes! Niemand verläßt den Saal.“ – Er riß sich den Bart herunter. „Ich bin Detektivinspektor Staamer! Und Sie“ – er legte dem Bankhalter schwer die Hand auf die Schulter – „verhafte ich wegen Verdachts des Falschspiels.“
„So – dann auch diesen Mann, Inspektor,“ meldete sich Harst. „Diesen Steuermann Tom Fireland von der Medusa! Er ist der Mörder des Buchhalters Blox, der gestern hier mit reichem Gewinn die Spielhölle verließ, wie mir das eine Barmädchen erzählt hat. Blox hat stets mit Verlust gespielt. Gestern gewann er. Und Sie, Fireland, sind der Mörder!“
Fireland schnellte hoch.
„Sie sind es! Meine Bemerkung über die „Leiche“ trieb Ihnen die Angst in die Augen. Und dies hier –“ er faßte des Steuermanns rechten Unterarm – „dies hier an dem vergoldeten Ankerknopf ist Blut – eingetrocknetes Blut und zwei rotbraune Haare darin! Blox hatte solches Haar, wie heute in der Abendzeitung steht! Sie sind nicht der Zeuge, der den Mörder davonlaufen sah, Sie sind der Mörder selbst! Sie waren gestern hier. Sie wollten Blox dann berauben, verließen vor ihm das Lokal. Das Barmädchen hat mir auch dies mitgeteilt.“
Firelands Nerven hielten dieser Anklage nicht stand. Er sank auf den Stuhl zurück. Sein Gesicht verriet, was sein Mund noch verschwieg.
Staamer rief jetzt. „Master Harst – Sie?! – Das genügt! – Fesselt ihn!“
Zwei Inder sprangen zu. Um Firelands Handgelenke schnappten Stahlfesseln ein.
„Nun zu Ihnen, Vincent Saalborg,“ wandte Harald sich an den Bankhalter, der seinen Gewinn inzwischen zu sich gesteckt hatte, äußerlich ganz ruhig schien und aufgestanden war.
„Sie gestatten, daß ich Ihnen die Perücke abnehme,“ fuhr Harald fort. „Sie sind –“
„Ich gestatte nichts,“ sagte der Blonde mit herrischer Stimme. „Inspektor – bitte einen Augenblick –“
Er winkte Staamer. Wir folgten.
In der Ecke neben dem Schanktisch nahm der Blonde die Perücke dann von selbst ab, ebenso die Brille und den falschen Bart. Er stand dabei mit dem Rücken nach den Spieltischen hin, fragte Staamer nun mit genau so herrischer Stimme:
„Erkennen Sie mich, Inspektor?“
Unter dem falschen, blonden Bart war ein grauer, kurzer Schnurrbart und unter der Perücke ebenso graues, kurz geschnittenes Haar und ein feuerrotes Mal an der linken Wange zum Vorschein gekommen.
„Exzellenz,“ stammelte der Inspektor.
„Sie werden schweigen! Und Master Harst genau so. Ich bitte dringend darum!“ sagte der Herr und stülpte die Perücke wieder auf, befestigte sich den Bart und fügte hinzu: „Ich erwarte Sie drei nach einer Stunde bei mir im Gouverneurpalast! – Staamer – begleiten Sie mich hinaus!“
Die beiden verschwanden. – „Ein netter Reinfall!“ meinte Harald. „Weißt Du, wer das war: Exzellenz Lord Bickport, der Gouverneur von Hongkong!“
Da kam auch schon der dicke Master Drywater angewatschelt, grinste und flüsterte: „Also Harst – he, he – Harst! Ja, sagte ich Ihnen nicht, daß die Polizei hier nichts ausrichtet! Seit drei Abenden verkehrt Exzellenz hier – inkognito – he he!“
Staamer kehrte zurück. Inzwischen war Fireland schon abgeführt worden.
„Gehen wir,“ sagte Staamer verärgert. „Exzellenz ist mit meinem Dienstauto nach Hause gefahren. Na – er ist ja seiner Extravaganzen wegen berühmt. Er wird uns in seinem Palast wohl erklären, weshalb er hier den Detektiv gespielt hat.“ –
Wir wanderten der Stadt zu. Harald hatte jedem eine Beruhigungszigarette gespendet. Wir rauchten.
„Wie sind Sie eigentlich zuerst auf Fireland gekommen, Master Harst?“ fragte Staamer.
„Daß er der Mörder sein könnte? – Nun, durch die Äußerungen des blonden Barmädchens, das von Blox’ fabelhaftem Glück erzählte, um uns für die Spielhölle reif zu machen. Sie erzählte, daß kurz vor Blox der Steuermann Fireland weggegangen sei, der auch Stammgast wäre, gestern aber etwas Pech gehabt hätte. Wenn nun Fireland vor Blox das Lokal verlassen hatte, konnte er doch nicht gut dem Mörder begegnet sein. Daher dann meine Bemerkung wegen der „Leiche“. Und da – verriet Fireland sich. Außerdem sah ich dann auch den kleinen Blutfleck und die zwei Härchen.“ –
Wir mußten vor dem Palast des Gouverneurs lange warten. Staamer hatte den Pförtner zu Seiner Exzellenz geschickt und uns anmelden lassen. Es war jetzt zwei Uhr morgens.
Der Pförtner kam zurück.
„Exzellenz weiß nichts davon, daß er die Herren herbestellt hätte,“ erklärte der Pförtner. „Exzellenz ist erst vor einer Stunde von dem Souper bei Lord Minton zurückgekehrt und müde. Die Herren möchten morgen vormittag nochmals vorsprechen.“
„Himmel!“ rief Harald und stierte den Pförtner ganz wild an. „Exzellenz ist also im eigenen Auto vor einer Stunde hier vorgefahren?“
„Natürlich!“ nickte der Pförtner. „Ich habe Exzellenz noch den Schlag geöffnet.“
Staamer griff sich an die Stirn.
„Master Harst, – es war gar nicht –“
„Nein, lieber Inspektor es war gar nicht Exzellenz! Es war Saalborg in – doppelter Maske! – Gehen wir schlafen –“ –
Lord Bickport hat sich am Vormittag dann über diesen Hochstaplerstreich so amüsiert, daß er uns zur Tafel einlud.
Als wir bei Tisch saßen, erhielt der Lord eine dringende Depesche:
„Exzellenz, wollen Sie Master Harst von mir grüßen. Vielleicht findet er mich drüben in Kanton. – Ergebenst
Vincent Saalborg.“
„Ein Genie!“ lachte Bickport, der dem Spielhöllen-Bickport aufs Haar glich. „Ein Genie! Knacken Sie diese Nuß, bester Harst, – knacken Sie sie!“
„Exzellenz, ich fürchte, ich werde mir dabei die Zähne ausbeißen! Ein paar habe ich schon verloren –“
Tom Fireland hatte ein Geständnis abgelegt. In dem amtlichen Protokoll hieß es:
„Ich gebe zu, den Buchhalter Blox niedergeschlagen und seiner Barschaft, rund 21 000 Pfund, beraubt zu haben. Nach Verübung der Tat begegnete ich jenem blondbärtigen Herrn, der gestern als Bankhalter wegen Falschspiels ebenfalls im Drywater-Salon verhaftet werden sollte. Ich erkannte ihn, und mich packte die Angst, er könnte in mir den Mörder später vermuten. Deshalb ging ich selbst zur Polizei und sagte aus, daß ein Matrose mir verdächtig vorgekommen sei.“ –
Fireland endete am Galgen. – Das Ehepaar Drywater saß in Untersuchungshaft. Die Spielhölle war geschlossen worden. –
Nach dem Diner bei Lord Bickport kehrten wir gegen neun Uhr in das Hotel Miramare zurück. Es war ein köstlicher Abend. Wir setzten uns auf den zu unserem Wohnsalon gehörigen Balkon. Harald blieb still und verstimmt. Dann erklärte er unvermittelt:
„Ich komme mir zum ersten Mal in meinem Leben einem Verbrecher gegenüber machtlos vor. Denn – ob Gentleman-Gauner oder nicht – Saalborg ist ein Verbrecher. Wohl der eigenartigste, den die Erde je getragen hat –“
In der Balkontür erschien ein chinesischer Kellner.
„Master Harst, es ist eine blonde Miß draußen und bittet vorgelassen zu werden,“ bestellte der Gelbe. „Sie sagt, Master Harst hätte gestern im Drywater-Salon mit ihr gesprochen.“
Harald nickte. „Es wird das Barmädchen sein. Gut – führe sie herein.“
Wir gingen in den Salon, wo Harst die elektrische Krone einschaltete.
Das Mädchen hieß Ingeborg Svendsen, wie sie uns gestern erzählt hatte. Ob dies stimmte, war allerdings fraglich. –
Dann saß[5] sie in einem der rotlackierten Rohrsessel uns gegenüber. Ihre Haltung, ihr Gesicht, die Art, wie sie sprach – alles drückte müde Hoffnungslosigkeit aus.
„Master Harst, ich habe nun durch die Schließung des Drywater-Salons auch diesen Unterschlupf verloren,“ hatte sie auf Haralds liebenswürdige Frage nach ihren Wünschen erwidert. „Ich besitze nur ganz geringe Ersparnisse. Ich bin genötigt, mich nach einer ähnlichen Stellung umzusehen. Denn als Gouvernante nimmt mich niemand mehr auf –“
Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Ein halb ersticktes Schluchzen rang sich aus ihrem bedrückten Herzen los.
Dann fuhr sie leiser fort: „Wer einmal bis zum Barmädchen in einem solchen Lokale herabgesunken ist, kommt als Erzieherin in einem ehrbaren Haushalt nicht mehr in Frage. Sie werden mir gestern sicherlich nicht die Hälfte von dem geglaubt haben, was ich Ihnen über meine Schicksale erzählte. Ich habe Ihnen auch nur die Hälfte mitgeteilt. Hätte ich alles erzählt, dann würden Sie mir erst recht nicht geglaubt haben. Ich hielt Sie beide auch nur für Schiffskapitäne. Unsereiner hat das Bedürfnis, sich einmal das Herz frei zu reden. Und Sie waren gestern so höflich zu mir, so ganz anders als andere Gäste –“
Sie weinte still in sich hinein. – War es eine Komödiantin, eines von den zahlreichen armen Geschöpfen, die halb unbewußt infolge ihres kläglichen Berufes zu durchtriebenen Heuchlerinnen werden?!
„Bitte erzählen Sie alles – alles!“ sagte Harald gütig. „Ich werde Ihnen glauben –“
Sie trocknete die Tränen „Sie werden mir nicht glauben,“ meinte sie trostlos. „Noch niemand hat mir geglaubt, selbst die hiesige Polizei nicht, an die ich mich in meiner Verzweiflung vor vier Monaten wandte.
Mein Vater war Kapitän und Besitzer einer Brigg. Wir wohnten in Kopenhagen. Vor einem halben Jahr starb meine Mutter. Kurz darauf bekam mein Vater für seine Brigg Sweaborg Fracht nach Makao, der portugiesischen Hafenstadt gegenüber der Insel Hongkong am Kanton-Fluß[6]. Er nahm mich mit. Was sollte ich allein in Kopenhagen?! Ich habe nur noch einen älteren Bruder, der Bankbeamter in Stockholm ist. Ich war damals zwanzig Jahre alt. Inzwischen bin ich einundzwanzig geworden. – Die Seereise verlief ohne Zwischenfälle – bis wir eines Nachts die bekannte Kau-lan-Insel südwestlich von Makao erreichten. Da begann das, was mir eben niemand glaubte.“
„Kau-lan?“ meinte Harst. „Ist das nicht jenes berüchtigte Hauptquartier der chinesischen Piraten, die noch in den achtziger Jahren es wagten, englischen Kreuzern Trotz zu bieten?“
„Ja, Master Harst. – Es war eine stürmische, regnerische Nacht. Vater wollte deshalb lieber in einer windgeschützten Bucht dieser Insel den Morgen abwarten. Das Fahrwasser in dem Inselgewirr im Nordteil des Südchinesischen Meeres ist sehr gefährlich. Vater hätte einen Lotsen nehmen können. Er scheute aber die Geldausgabe. Er war recht sparsam, fast geizig. Doch nur meinetwegen. Ich sollte nach seinem Tode gut versorgt zurückbleiben.“
„Und – was ereignete sich in jener Nacht?“ munterte Harald das Mädchen zu etwas kürzerer Schilderung auf.
„Wir gingen mit der Sweaborg in einer Bucht vor Anker, so gegen elf Uhr abends. Dann aß ich mit meinem Vater und dem Steuermann Jörngarl, einem Norweger, in der Kajüte Abendbrot. Ich wurde sehr müde und schlief auf dem Sofa ein.“
„Wodurch wurden Sie so müde?“
„Das weiß ich nicht. Jedenfalls – ich schlief ein. Und als ich erwachte, hörte ich eine furchtbare Brandung das Schiff umtoben. Ich raffte mich auf und wollte an Deck.“
„Wie spät war es da?“
„Fünf Minuten nach halb zwölf. Ich sah nach der Schiffsuhr. Ich wunderte mich, daß ich nur fünf Minuten geschlafen hatte. Denn ich konnte erst gegen halb zwölf eingenickt sein.“
Harald machte eine kurze Handbewegung. „Sie gestatten, daß ich mir eine Zigarette anstecke. Ich kann meine Gedanken dann besser konzentrieren. Ihr Bericht wird interessant, Miß Svendsen.“ Er rauchte ein paar Züge. „Ich kann mir schon denken, was weiter geschah,“ fügte er hinzu.
„Das ist unmöglich, Master Harst –“
„Bitte, es ist möglich. – Als Sie an Deck kamen, sahen Sie zu Ihrem Entsetzen, daß die Brigg gescheitert war, also in der Brandung auf Klippen lag. Und Sie waren allein auf dem Schiff.“
„Mein Gott, – so ist es!“
Harald nickte. „Der Sturm wurde noch stärker. Die Wogen zertrümmerten die Brigg langsam. Sie brachten in höchster Todesnot ein paar Stunden zu. Dann[7] müssen Sie bewußtlos irgendwie geborgen worden sein.“
„Ja – ja! Ich war dem Wahnsinn nahe. Ich vergaß, wie lange dieses Entsetzliche dauerte. Mir kam es nur so vor, als ob es sehr schnell hell würde. Ich meine, ich wunderte mich, daß der Morgen so rasch anbrach. Die Brigg lag auf den Riffen eines Vorgebirges. Es war das Kap Tschi-Lao der Insel Kau-lan, wie ich nachher erfuhr.“
„War dieses Kap weit von der Bucht entfernt, in der die Sweaborg vor Anker ging?“
„Nein, Master Harst. Die Westseite des Kaps bildet die Tschi-Lao-Bucht. Und Vater hatte noch beim Abendessen gesagt, wir lägen in dieser Bucht. – Die Brigg sackte dann plötzlich, durch einen ungeheuren Wasserberg gehoben, von dem Riff nach der Landseite hin auf ein anderes Riff. Das Deck stand ganz schräg. Ich hatte mich an der Steuerbordreling festgeklammert. Inzwischen war es heller Tag geworden. Von einem vorbeifahrenden Frachtdampfer wurde ich erspäht. Eine Woge riß mich von der Reling weg. Ich hatte schon vorher in der Kajüte Geld, Papiere und ein Bild meines Vaters zu mir gesteckt. Die Woge trieb mich den steilen Felsen des Ufers zu. Ich sah den Tod vor Augen. Irgend eine Strömung jedoch rettete mich vor dem Zerschmettertwerden. Ich verlor das Bewußtsein. Dann fand ich mich an Bord einer Dschunke wieder. Vor mir standen Chinesen und Europäer. Gerettet hatten mich die Chinesen, die mich mit einem Bootshaken den Wellen entrissen hatten, bevor noch das Boot des Dampfers herangekommen war. Der Dampfer hieß Alice. In dem Boote der Alice hatte der Steuermann Olfer kurz nach mir die Dschunke erreicht, war an Deck geklettert und nahm mich dann nach dem Dampfer mit, obwohl der Kapitän der Dschunke aufs beste für mich zu sorgen versprach. Olfer wurde jedoch sehr energisch, und seine sechs Matrosen unten im Boote der Alice wollten schon an Deck kommen, um den Chinesen, die mich durchaus bei sich behalten wollten, mit –“
„Danke. – Sie kamen also auf die Alice –“
„Ja. Ich verfiel in ein hitziges Fieber, lag vierzehn Tage im Krankenhause in Hongkong und erfuhr dann, daß mein Vater und ein paar Leute der Sweaborg als Leichen geborgen und begraben worden seien. Die Brigg war völlig zertrümmert. Sie war nicht versichert gewesen. Die Ladung, aus Maschinenteilen bestehend, war ebenfalls verloren. Ich stand mittellos da. Eine Depesche an meinen Bruder blieb unbeantwortet. Da mußte ich froh sein, daß Steuermann Olfer, ein Deutscher, mir eine Stellung als Erzieherin bei dem Großkaufmann Silvano in Kanton, einem Italiener, besorgte. Olfer hatte mir auch meine Papiere und das andere aufbewahrt.“
Sie errötete verschämt. In ihre Augen trat ein sehnsüchtiger Glanz.
„Oh – er war überhaupt sehr lieb zu mir, der Herbert Olfer. Leider verließ die Alice sehr bald Hongkong und ging nach Neuyork. Ich habe von Olfer nichts mehr gehört, obwohl ich ihm drei Briefe nach Neuyork nachschickte. Er – er hat mich längst vergessen. Und – das ist gut. – Ein Barmädel –!“ – Sie schluchzte wieder leise.
Harald trat neben sie, streichelte ihre Hand.
„Kind, nicht weinen! – Erzählen Sie weiter. Oder nein. Ein paar Fragen erst. – Besinnen Sie sich, ob die Schiffsuhr in der Kajüte noch tickte, als Sie kurz nach halb zwölf erwachten?“
Ingeborg Svendsen schaute Harald erstaunt an.
„Ob sie tickte? – Natürlich tickte –“ Sie schwieg plötzlich. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Dann rief sie:
„Ich habe noch nie daran gedacht. Nein – sie tickte nicht. Sie war stehen geblieben. Denn als ich die Papiere und das Geld aus der Kajüte holte, war sie noch immer fünf Minuten nach halb zwölf.“
„Hatten Sie nicht eine eigene Taschenuhr?“
„Ja. Die fand ich aber in der Eile nicht.“
„Hm – eine Schiffsuhr bleibt nie stehen, Miß Svendsen. Das sollten Sie als Tochter eines Seemannes wissen. Doch – etwas anderes. – Wo kam denn die Dschunke her, deren Leute Sie an Deck holten?“
„Sie muß wohl in der Tschi-Lao Bucht geankert haben. Ich habe danach nie gefragt, obwohl ich den Kapitän dann häufiger in Kanton sah.“
„So?! Wo sahen Sie ihn denn?“
„Bei Silvanos. Es war kein reinblütiger Chinese, sondern ein Mischling, halb Malaie, halb Chinese. Er heißt Kypang. Er machte für Silvano Frachtfahrten.“
„Und Ihre Angaben über die Vorgänge jener Nacht fanden vor dem Seeamt, als das Protokoll über den Untergang der Sweaborg aufgenommen wurde, keinen Glauben, nicht wahr?! Man sagte Ihnen, Sie hätten nur in Ihren Fieberträumen erlebt, daß die Brigg vor Anker gegangen sei. Man zweifelte an der Richtigkeit Ihres Erinnerungsvermögens und erklärte Ihnen, die Brigg wäre, ohne geankert zu haben, im Sturme gescheitert.“
„Ja – ja! Und – schließlich dachte ich selbst fast, ich hätte nur geträumt, wir hätten dort geankert. Aber allmählich erkannte ich doch, daß damals irgend etwas vorgegangen war, wofür ich keine rechte Lösung fand. Ich habe das auch Detektivinspektor Staamer gesagt. Doch – der lächelte mitleidig und schickte mich weg.“
„Wie erging es Ihnen bei Silvanos?“
„Zuerst ganz gut. Dann wurde Frau Silvano, die aus einer vornehmen Chinesenfamilie stammte, erst ein Ring, bald eine Perlenkette und schließlich gar eine sehr kostbare Brillantbrosche gestohlen. Ich merkte, man beargwöhnte mich. Als ich einmal nach Hongkong hinunterfuhr, um dort nach postlagernden Briefen von Olfer zu fragen, wurde ich von der Polizei an Bord des Flußdampfers verhaftet und durchsucht. Zu meinem Entsetzen war die Brillantbrosche in meinem Rocksaum eingenäht.“
„Ah – und dann?“
„Entließen Silvios mich, ohne Strafantrag zu stellen. Man hatte in meinem Koffer noch den Ring und die Perlenkette gefunden. Silvanos wollten mich vor dem Gefängnis bewahren. All meine Unschuldsbeteuerungen halfen nichts. Ich war abermals ohne Geldmittel. In Hongkong auf dem Postamt, wo ich wiederum an meinen Bruder mit dem letzten Gelde depeschiert hatte, lernte ich Frau Drywater kennen, die mich schließlich als Barmädchen einstellte.“
Sie rang die Hände, rief mit tränenerstickter Stimme:
„Master Harst, ich habe bei Drywaters die Hölle auf Erden gehabt. Gestern verschwieg ich Ihnen das. Ich war nicht dazu zu bewegen, so wie meine Kolleginnen zu leben in Schande und Schmach –“
Harald nahm ihre Hand.
„Armes Kind, man hat Ihnen übel mitgespielt. Noch etwas Erwähnenswertes?“
Er behielt Ingeborg Svendsens Hand in der seinen.
„Ja, Master Harst. Bei Silvanos verschwanden meine Papiere, meine Geburtsurkunde, die Heiratsurkunde meiner Eltern, ein paar Schulzeugnisse –“
„Und jetzt Miß Svendsen?“
„Ich – ich wollte Sie bitten aufzuklären, wer mir den gemeinen Streich gespielt hat, mich als Diebin hinzustellen. Und – und vielleicht leihen Sie mir das Reisegeld bis Stockholm. Ich will zu meinem Bruder –“
„Gut. Sie sollen das Geld haben. Aber erst später. Ich könnte Sie hier noch als Zeugin brauchen. Ich werde Sie jetzt auf meine Jacht Atlanta bringen. Dort finden Sie eine behagliche Kabine und den braven Kapitän Banfy, der liebevoll wie ein Vater zu Ihnen sein wird; dort werden Sie sorgenfrei leben, dort wird es Ihnen an nichts fehlen, nur – an der Freiheit! – Miß Svendsen, ich warne Sie in Ihrem Interesse: verlassen Sie die Jacht nie! Jedenfalls nie ohne Begleitung. Oder besser: auch dann nicht! Bleiben Sie an Bord. Dort sind Sie am sichersten. Denn ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Sie in Gefahr schweben, seit Sie dieses Hotel und diesen unsern Salon betreten haben. Es gibt hier Leute, die ein – Doch – davon später! – Kind, versprechen Sie mir, die Atlanta als ein angenehmes Gefängnis zu betrachten. Lassen Sie sich auch nicht irgendwie weglocken. Seien Sie mißtrauisch bis zum äußersten!“
Ingeborg lächelte plötzlich ganz glücklich. „Ah – Sie glauben mir, Master Harst! Sie sehen ein, daß meine Schicksale hier in Ostasien von geheimen Mächten gelenkt worden sind! Endlich ein Mann, der mir glaubt. Ich freue mich so. Ich werde die Atlanta als Versteck ansehen, Master Harst –“ –
Dann gingen wir mit Ingeborg nach dem Hafen und weihten auch Banfy in alles ein. Bevor wir uns von den beiden im Salon der Jacht verabschiedeten, fragte Harald noch:
„Wie hieß die Dschunke jenes Kypang?“
„Taipali,“ erwiderte Ingeborg. „Das ist malaiisch und bedeutet die Hölle.“
Wir schritten über die Laufplanke zum Kai hinüber.
Banfy begleitete uns bis ans Ende der Planke und fragte: „Bester Harst, diese Geschichte mit der Brigg hat einen Haken. Ein Schiffschronometer bleibt nie stehen, da haben Sie ganz recht. Und – das arme Mädel kann doch nicht nur im Fieberwahn all das erlebt haben, – daß die Brigg in ruhigem Wasser vor Anker ging und daß die drei in der Kajüte gemütlich Abendbrot aßen!“
„Gute Nacht, Banfy!“ Harald drückte unserem Käpten die Hand. „Der Hauptpunkt ist, daß Ingeborg ihre Taschenuhr nicht fand! Sie sollte sie nicht finden. Es war ein Schurkenstreich ersten Ranges.“
Wir gingen langsam davon. Harald hatte sich in meinen Arm eingehängt.
„Es ist jemand hinter uns her,“ sagte er leise. „Schon vom Hotel an. Jemand, der fraglos Ingeborg gefolgt war. Wer weiß, was hinter alledem steckt. Sicherlich steckt „er“ dahinter, – „er“ und der Andere.“
„Und wer sind diese beiden? Etwa Kypang und der Italiener?“
„Wer sonst. – Du, wie wär’s, wenn wir den Spion – es ist ein Chinese – fangen würden? – Setzen wir uns dort in die Anlagen. Jene Bank hat hinter sich Büsche. Der Kerl wird uns belauschen wollen.“
Wir nahmen auf der Bank Platz. Rechts von uns stand eine Laterne. Die Bank aber lag im Schatten.
Harald reichte mir eine Zigarette.
„Das arme Mädel!“ Er blies den Rauch von sich und sprach ziemlich laut. „Ihre Geschichte klingt reichlich geheimnisvoll. Was mag davon wahr sein?!“
Das war für den Lauscher bestimmt. Ich hatte genau aufgepaßt. Die Büsche hinter uns hatten sich kaum merklich bewegt.
„Es wird nicht viel davon wahr sein,“ meinte ich ebenso laut. „Diese Ingeborg will vielleicht nur Mitleid erwecken und –“
Da – hinter uns ein dumpfer Aufschrei. Dann das Rauschen von Zweigen.
Alles wieder still.
Harald war aufgesprungen, zog die Taschenlampe hervor, nahm die Clementpistole in die Rechte und drängte sich in die Sträucher hinein.
Der Lichtkegel bestrahlte eine am Boden liegende Gestalt, einen abgerissenen, schäbigen Chinesen.
Wir hoben ihn hoch. Er war auf das Gesicht gefallen.
Und – unter ihm lag ein – gespannter Revolver.
„Er ist niedergeschlagen worden,“ flüsterte Harald. „Da – sein Strohhut ist ganz eingedrückt. Merkwürdig! Der Kerl wollte uns niederknallen, und ein Anderer verhinderte das, der ihm ebenfalls nachgeschlichen war. Was bedeutet das nun wieder?!“
Wir trugen den kleinen, stämmigen Chinesen auf die Bank. Ich mußte dann nach einem Polizisten suchen.
Als der Chinese zur nächsten Polizeiwache geschafft worden war, wo man uns mit größter Höflichkeit behandelte, durchsuchte Harald den noch immer Bewußtlosen. – Er hatte in einem Beutel auf der Brust eine Zehnpfundnote und ein Stück Blech bei sich, das die Form eines Schiffes mit hohen Aufbauten am Bug und Heck hatte. Es war mehrfach durchlöchert.
Dieses Stück Blech ließ Harald sehr geschickt verschwinden.
Der Chinese kam wieder zu sich. Aber – es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er wurde in eine leere Zelle eingesperrt.
Wir verließen die Polizeiwache und schritten unserem Hotel zu.
Im Vorraum des Hotels reichte der Portier Harald einen Brief.
„Ist soeben abgegeben worden,“ sagte der Portier.
In unserem Wohnsalon wog Harst den noch uneröffneten Brief prüfend in der Hand, gab ihn mir dann und meinte:
„Ich glaube, das zweite Schiff –“
Ich befühlte den Umschlag, dessen Adresse mit Bleistift sehr undeutlich gekritzelt war.
„Ja – es ist ein Stückchen Blech darin,“ nickte ich und riß den Umschlag auf.
Es stimmte: er enthielt nichts als genau so ein Blechstück in Schiffsform mit Löchern, wie dasjenige, welches Harald so schnell in die Tasche geschoben hatte.
Die Handschrift der Adresse war wie die eines Kindes. Sie besagte nichts.
Wir setzten uns an den Tisch. Harald legte die beiden Blechschiffe aufeinander.
Die Größe war genau dieselbe: die Löcher saßen auch an derselben Stelle. Es war ziemlich starkes Zinkblech. Das eine, größte Loch war besonders gekennzeichnet.
Das Ganze sah etwa so aus, als hätte eine Kinderhand es ungeschickt aus Blech geschnitten. Aber – die fünf Löcher, drei davon kleiner, waren nicht gebohrt, sondern ausgestanzt, hatten glatte Ränder und keine zackige Ausbuchtung. Das größte Loch unten in der Mitte zeigte vier Striche.
„Interessant!“ meinte Harald. „Zunächst – wer war unser Beschützer, der den Chinesen niederschlug? Wer gab den Brief hier ab? Der Portier sagte, es sei ein Matrose gewesen mit rotem Vollbart. – Ich tappe hier völlig im Dunkeln. Man könnte an Saalborg denken. Aber der ist sicher schon in Kanton. Außerdem: der rotbärtige Matrose war klein und dick. Und Saalborg hat meine Figur.“ – Er gähnte. „Geh’ schlafen, mein Alter. Morgen fahren wir nach Kanton. Nicht mit der Atlanta. Nein – inkognito.“
„Eine Frage noch,“ bat ich. „Was hältst Du von dem Untergang der Brigg?“
„Wie – siehst Du da noch nicht klar?! Ich denke, die Sache ist leicht zu durchschauen. Die Sweaborg hat in der Bucht geankert. Dann hat man Kapitän Svendsen, seine Tochter und den Steuermann betäubt – durch den Tee, den sie zum Abendbrot tranken. Die Brigg hatte in Singapore einen chinesischen Koch bekommen, da der andere desertiert war. Das erzählte Ingeborg auf dem Wege zur Atlanta auf meine Fragen hin. Die Sweaborg hatte elf Mann Besatzung. Davon war nur der neue Koch Asiate. Ich wette, der Kerl hat auch die anderen Leute der Brigg einschlafen lassen. Dann kamen Chinesen an Bord, die Verbündeten des Kochs. Die Brigg wurde von dieser Bande an das Kap gebracht, wo man die Männer über Bord warf. Nur das Mädchen ließ man in der Kajüte, weil sie dann als Überlebende den Schurkenstreich sozusagen verheimlichen half – unbewußt! Niemand vermutete die Wahrheit. Es war ja eine Zeugin vorhanden, die aussagen konnte, daß nicht etwa Piraten die Brigg gekapert hätten. – Die Bande hat die Uhr angehalten und zurückgestellt, als die Brigg bereits auf die Riffe gelenkt war und dort festsaß. Ingeborgs Aussage, sie hätte nur fünf Minuten geschlafen, sollte darauf hinweisen, daß sie alles nur geträumt oder sich in ihrer Todesangst eingebildet hätte. Es sollte eben ein Widerspruch konstruiert werden. Die Brigg konnte doch nicht in fünf Minuten vom Ankerplatz in der Bucht auf die Riffe geraten sein! Um halb zwölf sollte nach Ingeborgs Angaben die Müdigkeit sie überwältigt und schon fünf Minuten drauf die Brigg in der Brandung festgesessen haben! Das war ein Unding! Das hat allen, denen Ingeborg dies mitteilte, notwendig den Gedanken eingegeben, das Mädchen glaube fälschlich, die Brigg wäre vor Anker gegangen.“
„Ich verstehe. Und man nahm Ingeborg die Taschenuhr weg, damit sie über die Zeit im unklaren bliebe.“
„Allerdings! Und die Höllendschunke wollte das Mädchen im letzten Augenblick retten, lag in der Bucht dazu bereit. Anderseits wollte Kypang Ingeborg aber lieber an Bord behalten, um – sie erst mal darüber auszuhorchen, ob sie irgendwie Verdacht geschöpft hätte.“
„Weshalb wurde die Brigg vernichtet?“
„Ja – vielleicht war sie vorher ausgeplündert worden – vielleicht! Zeit genug hatten die Schufte dazu. Ingeborg erwachte auf den Riffen, und sehr bald graute der Morgen. Mithin konnte die Höllendschunke etwa drei Stunden lang die Fracht der Brigg selbst an Bord nehmen. Vom Kap Tschi-Lao bis zum geschütztesten Winkel der Bucht sind und es kaum anderthalb Meilen – kaum, wie Banfy uns auf der Seekarte zeigte. – Ein hübsches Problem, mein Alter! Wer weiß, was zum Schluß dabei herauskommt. – Gute Nacht!“
Ich ging in mein Schlafzimmer das rechts vom Salon lag. –
Als ich morgens um sieben aufwachte, hörte ich im Salon jemand auf und ab gehen. Ich steckte den Kopf durch die Tür.
Der Salon war dick voll Zigarettenrauch. Harald schritt wie im Nebel hin und her.
„Wie – bist Du gar nicht schlafen gegangen?!“ rief ich ärgerlich.
„Nein – zum Glück nicht! Es war eine Nacht klaren Denkens, Schraut. Ich habe die Bedeutung der Löcher herausgeklügelt und auch das Geheimnis, weshalb die Brigg mit Mann und Maus außer Ingeborg verschwinden mußte. – Schnell, zieh’ Dich an. Ich nehme nur noch ein Bad. Dann – auf nach Kanton!“
Harald verschwand in seinem Schlafzimmer, zu dem auch ein kleines Badezimmer gehörte.
Ich überlegte. – Die Bedeutung der Löcher?! Das Geheimnis des Unterganges der Brigg?! All das hatte er herausgeklügelt?! Wie – wie hatte er das fertiggebracht?! – Ich kleidete mich an. Als ich halb fertig war, fiel mir ein, daß Harald in der Nacht von „inkognito“, also in Maske reisen, gesprochen hatte. Ich ging daher in sein Schlafzimmer hinüber. Er kam gerade im Bademantel aus der Wanne.
„Maske?! Nein, lieber Alter. Es ist nicht nötig,“ erklärte er. „Wenigstens jetzt noch nicht. Später vielleicht. Für den Italiener genügt unser ehrliches Angesicht.“
Als wir dann um ½8 am Frühstückstisch im Salon saßen, brachte der Kellner eine Visitenkarte:
Emanuelo Silvano
Kanton
Factory-Street 2
Englische Kolonie.
Auf der Rückseite stand mit Bleistift in deutscher Sprache:
Bittet höflichst um eine Unterredung in einer sehr dringenden Angelegenheit.
„Ich lasse bitten,“ gab Harst dem Kellner Bescheid. –
„Silvano?!“ sagte Harald dann leise. „Hm – es wird wohl eine Falle werden.“ Er lächelte beinahe rachsüchtig.
„Warte, Bursche! Du sollst entlarvt werden!“ fügte er hinzu. –
Silvano trat ein: etwa vierzig Jahre alt, Durchschnittsgesicht mit schwarzem Spitzbart, tadellos angezogen, auf den ersten Blick nichts Unsympathisches.
Er kam nicht allein. Er hatte den Chef der Kantoner Geheimpolizei, einen Amerikaner namens Boosney, mitgebracht.
Der Grund des Erscheinens der beiden Herren war folgender:
Gestern vormittag hatte Silvano seinen Kontordiener nach der Filiale der Kommerz-Bank geschickt, um einen Betrag von 40 000 Pfund abzuholen. Der Kontordiener trug das Geld in einer ledernen, verschlossenen Tasche, die ihm am Riemen um die Schulter hing, nach Silvanos Geschäft, begegnete aber unterwegs dem Prokuristen der Firma Albert Tobler, einem älteren, etwas wunderlichen Herrn. Tobler war seit drei Tagen krank und nicht ins Geschäft gekommen. Der Kontordiener wunderte sich, daß er Tobler, einen buckligen, pockennarbigen Mann mit stets stark entzündeten Augen, auf der Straße traf. Tobler sagte ihm mit heiserer, belegter Stimme, Silvano hätte ihn dem Kontordiener entgegengeschickt, damit bei der Firma Housterson sofort ein größerer Betrag bezahlt wurde.
Der ahnungslose Diener, der das etwas veränderte Aussehen Toblers dessen Krankheit zuschrieb, begleitete ihn bis vor die Tür des Geschäftshauses der anderen Firma, wo Tobler ihm die Tasche mit dem Bemerken abnahm, er solle nur auf ihn warten. Tobler verschwand in dem Hause. Dem Diener fiel schon nach ein paar Sekunden ein, daß er dem Prokuristen den Schlüssel zu der Ledertasche nicht ausgehändigt hatte. Er folgte Tobler also in den Kassenraum. Bevor er diesen erreichte, mußte er noch die Toreinfahrt, einen Flur und ein Vorzimmer durchschreiten.
Doch – Tobler war nirgends zu sehen. Der Diener schöpfte noch immer keinerlei Argwohn, sondern fragte den Kassierer, ob nicht Master Tobler hier gewesen und wo er geblieben sei. Der Kassierer hatte von Tobler nichts gesehen. Da wurde der Diener doch stutzig, beruhigte sich aber in dem Gedanken, der Gesuchte würde wohl direkt zu dem Chef der Firma gegangen sein. Auch dies stellte sich als eitle Hoffnung heraus. Tobler hatte sich offenbar mit der Tasche durch den zweiten Ausgang nach der Nebenstraße hin aus dem Staube gemacht.
Der Diener eilte zu Silvano und berichtete alles haarklein. Silvano ließ sich mit Toblers Privatwohnung verbinden. Tobler meldete sich am Telephon und erklärte, er habe seine kleine Villa noch gar nicht verlassen. Er habe jedenfalls die Straße heute nicht betreten und verbitte sich derartige Scherze. Er sei krank, und es sei eine Rücksichtslosigkeit, ihn solcher Albernheiten wegen aus dem Bett ans Telephon zu locken.
Worauf Silvano Master Boosney zu sich bat. Aber alle Nachforschungen der Geheimpolizei blieben erfolglos.
Abends fand Silvano in der Kantoner englischen Handelszeitung einen Bericht über die Aushebung der Drywater-Spielhölle und so auch den Hochstapler Vincent Saalborg erwähnt. Boosney, der ihn gleich darauf besuchte, war überzeugt, daß Saalborg in Kanton als Tobler aufgetreten sei, und riet Silvano, sich an Harst zu wenden, der in jenem Artikel ebenfalls genannt war. Die beiden Herren waren dann mit Silvanos Motorkutter gegen elf Uhr von Kanton aufgebrochen. Die 280 Kilometer lange Strecke hatte der Kutter in genau acht Stunden geschafft. –
Diesen Tatbestand erzählten uns Silvano und Boosney abwechselnd. Der Italiener tat es sehr temperamentvoll[8], der Amerikaner mit abgeklärter Ruhe. Jedenfalls war an diesem Diebstahl nicht zu zweifeln. Er war unmöglich von Silvano inszeniert worden, um etwa Harst nach Kanton zu locken. Der falsche Tobler war auf der Straße von Bekannten gesehen und gegrüßt worden, als er mit dem Kontordiener gesprochen hatte.
„Sie werden begreifen, Herr Harst,“ sagte Silvano jetzt mit hochrotem Gesicht, „daß ich alles versuchen muß, daß Geld zurückzuerhalten. Es handelt sich um 800 000 Mk. nach deutschem Gelde! Das ist für mich ein Schlag, der mich ruinieren kann.“
Harald hatte ohne sonderliche Teilnahme zugehört.
„Ob Saalborg diesen Streich verübt hat, kann man doch nur vermuten,“ meinte er jetzt. „Sie nehmen das als so bestimmt an. Ich habe meine Gründe, dies noch zu bezweifeln. Wann ereignete sich die Sache?“
„Um ½9 vormittags,“ erwiderte Silvano, der genauso wie Boosney das Deutsche ganz gut beherrschte.
„So – halb neun. Das wäre etwas anderes. Wir, Schraut und ich sollten nämlich gestern abend in den Anlagen am Hafen ermordet werden – gegen halb elf etwa. Der Chinese, der hierzu gedungen war, kann nur ein Werkzeug Saalborgs gewesen sein. Ich glaube Saalborg auch in einer Verkleidung in der Nähe bemerkt zu haben. Von halb neun vormittags bis halb elf abends konnte er Hongkong sehr bequem wieder erreicht haben. Übrigens wurden wir nur dadurch gerettet, daß ein anderer chinesischer Raufbold den Attentäter niederschlug.“
Harald erzählte hier etwas, das er bereits auf der Polizeiwache in dieser Verdrehung zu Protokoll gegeben hatte.
Dann fuhr er ohne Pause fort: „Dieses Attentat ist mir im übrigen ziemlich gleichgültig. Wir sind an solche Scherze schon gewöhnt. – Eine Frage, Herr Silvano. Dieser Saalborg pflegt seinen Opfern nach geglücktem Streich stets ironische Briefe zuzuschicken. Haben Sie vielleicht ebenfalls ein solches Schreiben erhalten?“
„Nein – nichts!“ sagte der Italiener sehr hastig. Aber – es war die Hast der Unaufrichtigkeit. Ich fühlte: er log!
„So –, na, Saalborg wird dazu keine Zeit mehr in Kanton gehabt haben,“ meinte Harald gelassen. „Ich bin gern bereit, mit Ihnen nach Kanton zu kommen, Herr Silvano. Könnten wir in einer Stunde mit Ihrem Kutter abfahren?“
„Gewiß. Der Kutter liegt am Klubhause des Sportvereins am Viktoria-Kai.“ –
Die beiden Herren verabschiedeten sich.
Harald belegte ein Rostbrötchen mit Kaviar und blinzelte mir zu.
„Der Mensch sieht ganz sympathisch aus,“ sagte er kauend. „Und – ist doch ein Lump. Bitte – da liegt die Kantoner Handelszeitung von gestern abend. Boosney hat sie hier vergessen. Ich habe den Artikel über den Drywater-Salon vorhin nur flüchtig durchgesehen. Darin steht nichts von dem Namen des Hochstaplers, der den Gouverneur gemimt und uns angeführt hat. Nein – es heißt hier nur: „– ein berüchtigter Hochstapler –“ – Wie ist Silvano also auf Vincent Saalborg gekommen? Hier in China hat Saalborg noch keine Gastrollen gegeben und ist ziemlich unbekannt. – Boosney hat dies ebenfalls nicht beachtet, – daß Silvano den berüchtigten Hochstapler auch gleich bei Namen nannte. Die Erklärung hierfür ist einfach genug. Saalborg hat Silvano einen Brief geschickt und diesen Brief mit seinem Namen unterzeichnet. Silvano leugnet den Brief ab. Mithin steht etwas darin, das er uns verheimlichen wollte. Sonst hätte er uns den Brief gezeigt.“
„Genau dasselbe nehme ich an.“
„Gut – Packen wir unsere Handtaschen. Unsere Koffer lassen wir hier. Ich denke –“
In demselben Moment klopfte es kurz. Dann flog die Tür auf.
Banfy stürmte herein – ganz verstört, rief:
„Das – das Mädchen ist weg. Ich war nur drei Minuten im nächsten Tabakladen. Als ich zur Jacht zurückkehrte, sagte mir Morris, der Steuermann, daß Sie einen Hoteldiener geschickt hätten, der Miß Ingeborg hier nach dem Miramare begleiten solle. Der Mann war ein Mischling und trug an der Mütze das Band mit der Goldinschrift: Hotel Miramare – ich ahnte sofort Schlimmes und rannte den beiden nach, die nach Morris Aussage die Bowery Street hinaufgegangen waren. Ich hätte sie einholen müssen. Nichts – nichts –“
Er sank in einen Sessel. Harald goß ihm ein Glas Malagawein ein.
„Da, alter Banfy, trinken Sie! Sie können nichts dafür –“
Ich fand, daß Harst diese Entführung recht leicht nahm. Er sah meinen erstaunten Blick, zuckte die Achseln und sagte:
„Es paßt ganz gut zu allem anderen – und auch in meinen Kram!“ Dann vollendete er den vorhin begonnenen Satz:
„Ich denke, wir werden in Kanton nicht allzu lange bleiben. Ich möchte für die Fahrt dorthin aber noch einige Vorbereitungen treffen.“
Er klingelte nach dem Kellner. Als dieser erschien, bestellte er zwei weitere Flaschen Malaga, die er nachher in sein Schlafzimmer mitnahm. „Ich werde sie in meine Reisetasche einpacken. In Kanton herrscht etwas die Cholera. Man tut gut, sich darauf etwas zu präparieren.“ –
Banfy begleitete uns dann bis zum Klubhaus, wo Silvanos Kutter lag.
Der Kutter war mehr eine elegante Jacht. Banfy verabschiedete sich. Harald flüsterte ihm noch zu: „Halten Sie die Atlanta reisefertig, Käpten. Nehmen Sie für zehn Tage Proviant und Wasser mit und wechseln Sie die Liegestelle. Am besten ist, Sie bringen die Atlanta –“
Das weitere verstand ich nicht, da Silvano uns vom Achterdeck des Kutters aus begrüßte.
Silvano entschuldigte sich wortreich, daß er zu seinem unendlichen Bedauern nicht sofort mitkommen könne. Er habe hier in Hongkong noch zu tun, würde aber den Tourdampfer um 12 Uhr benutzen. Auch Boosney würde erst mittags mit ihm zusammen zurückkehren. Wir sollten uns dadurch aber nicht abhalten lassen den Kutter sofort zu benutzen. Er würde uns einen Brief an seinen ersten Buchhalter mitgeben, und dieser wisse mit allem genau Bescheid.
So traten wir denn allein die achtstündige Fahrt den Kanton-Fluß hinauf an.
Ich kannte China noch nicht. Wer China bereist, sollte diese Tour von Hongkong nach Kanton nie versäumen.
Nachdem wir die Ostspitze der Tai kok lau-Insel hinter uns hatten, traten die Ufer dichter zusammen. Es gibt keinen zweiten Strom, der so belebt ist wie dieser. Daß hier hunderttausende von Chinesen auf Hausbooten wohnen, merkte man. Und daß die Kinder in China zahlreicher als in Deutschland sind, stellte ich gleichfalls fest. Dampfer, Segler, Dschunken, malaiische Praus mit Mattensegeln, große und kleine Sampans (Ruderboote) durchfurchten die gelben Wasser des Flusses. An den Ufern Hütten auf Pfählen, Reisfelder, Tempel und hie und da eine europäische, hübsche Villa.
Wir saßen auf dem Achterdeck in Liegestühlen und schauten nur. Die Besatzung des Kutters bestand aus fünf Chinesen, die überaus kriecherisch waren.
Links kam die Gifit-Insel in Sicht. Ich hatte eine Karte des Flusses auf den Knien, in der auch die winzigste Sandbank vermerkt war.
Dann erschien einer der sauber gekleideten Matrosen und meldete, daß das Mittagessen bereit stünde.
„Gut,“ nickte Harst. „Kann ich mir mal vorher den Kutter ansehen? Er muß sehr kräftige Motoren und große Laderäume haben.“
Der Chinese bücklingte. „Bitte Master. Der Kutter gehört Euch. Ihr seid hier die Herren –“
Wir schritten nach vorn, wo eine zweite Kajüte lag. – Haralds Besichtigung des Kutters kam mir mehr wie eine Durchsuchung vor.
Wir betraten wieder das Achterdeck. Zwischen unseren Liegestühlen stand ein länglicher Bambustisch.
„Es soll hier serviert werden,“ befahl Harst dem Matrosen. – Der eklige Kerl verschwand.
„Sie ist nicht an Bord,“ meinte Harald leise.
„Wer?! Etwa Ingeborg?“
„Ja. Ingeborg. Falls sie nicht in der großen Kiste unten im Laderaum steckt, was immerhin möglich ist.“
„Das wäre eine unglaubliche Frechheit!“
„Wieso, mein Alter? Wir beide werden ja Kanton nie zu sehen kriegen. Davon darfst Du überzeugt sein. Deine Flußkarte ist schon verschwunden. Wir sollen nicht kontrollieren können, ob die Burschen nicht die Hauptfahrrinne verlassen.“
„Wahrhaftig – die Karte lag hier auf dem[9] Tisch!"
„Der Wind wird sie in den Fluß geweht haben!“ Und Harald lächelte dazu.
Der Matrose erschien mit einem Riesentablett.
„Wir hatten hier eine Karte,“ sagte Harst so nebenbei.
„Oh – sie ging gleich unter, Master. Wir fischten noch mit dem Bootshaken danach. Ein Windstoß nahm sie mit. –“
„Schadet nichts –“
Wir aßen. Es war eine wahre Schlemmermahlzeit.
„Iß schnell und wenig,“ flüstere Harald. – Er steckte mir ein weißes Kügelchen unauffällig zu. „Da – verschlucke es, – für alle Fälle. Die Schurken haben die Gifit-Insel links umrundet statt rechts. Natürlich der Anfang irgend einer Büberei. Dir wird nachher schlecht werden. Geh’ rechtzeitig in den Toilettenraum.“
Ich verstand: das Genossene sollte schleunigst wieder aus dem Magen heraus, ohne daß diese schlitzäugigen Eigelbgesichter argwöhnisch würden.
Mir wurde wirklich sehr übel. Der Matrose hatte soeben das Geschirr abgeräumt. Als ich wieder an Deck kam, stieg Harald hinab. Auch er hatte ein Kügelchen genommen.
Der Kutter fuhr durch einen engen Kanal zwischen zwei Inseln hindurch. Auch hier an den Ufern einzelne Hausboote, Reisfelder und Pfahlwohnungen und in jedem Sampan ein paar kleine Rangen.
Mit einem Male arbeiteten die Motoren unregelmäßig. Harald erschien, setzte sich, rauchte sich eine Zigarette an und meinte:
„Es geht los!“
„Und Du bist so ruhig?“
„Ich bin doppelt vorbereitet – auf alles?“
Die Motoren schwiegen. Der Maschinist kam angelaufen.
„Master – wir müssen ans Ufer!“ winselte er, als ob er sich schuldig fühlte ob dieser Verzögerung. „In zehn Minuten ist der Schaden behoben, Master –“
Er rannte zurück. Der Kutter schoß in kurzem Bogen dem Ufer zu. Die Vorwärtsbewegung ließ erst in einer engen, von Gestrüpp umwucherten Bachmündung nach.
Der Kutter wurde an einem Baumstumpf festgemacht.
„Schlaue Bande! Rundum alles einsam!“ sagte Harald und tat, als ob er lediglich die Zeitung studierte.
Im Maschinenraum wurde geklopft und gehämmert.
Haralds Zeitung glitt zur Erde. Er schien eingeschlafen zu sein. Ich spielte das gleiche Spiel, legte meine Zigarette weg und zog die Mütze tiefer über die Augen.
Aber durch die Wimpern blinzelte ich doch vorsichtig hindurch. Erinnerungen tauchten in mir auf.
Wo war es nur gewesen, als wir eine ähnliche Situation durchgemacht hatten? War’s nicht in Siam? – Richtig – in Siam, auf dem Menam-Fluß, wo wir auch einen Hochstapler jagten, aber einen weiblichen – die schöne Eugenie Malcapier. „Der Stern von Siam“ – so habe ich jenes Abenteuer betitelt. – Doch – Eugenie Malcapier war ja eine harmlose Anfängerin diesem Vincent Saalborg gegenüber.
Ah – und mein Gedankenfaden zerriß jäh – da nahte ja ein langer Sampan mit fünf zerlumpten Chinesen darin.
Wir schliefen weiter – zum Schein.
Von unseren Kutterleuten war nur einer an Deck. Er rief den Sampan an.
Dann kam die Komödie.
Blitzschnell hatten die fünf Strolche sich an Deck geschwungen. Einer schlug den Matrosen nieder – mit einer Art Keule. Der Matrose plumste[10] auffallend schnell nach vorn auf das Gesicht. Dann stürmten die Kerle auf uns zu, packten uns. Im Nu hatten sie uns die Arme auf den Rücken gefesselt.
Da tauchten aus der Maschinenraumluke zwei andere Kutterleute auf.
Der eine Strolch feuerte mit einem Revolver. Einer der Matrosen brüllte, als wäre er getroffen. Beider Köpfe verschwanden. Die Luke wurde von den Flußpiraten zugeschlagen.
Zwei rannten in die Kajüte, kehrten mit unseren Handtaschen zurück. Man stieß uns in den Sampan, der sofort den Bach aufwärts davonfuhr. Drei Strolche ruderten. Der vierte, der mit dem Revolver, saß uns gegenüber. Der fünfte steuerte.
Rechts bog ein Bewässerungskanal ab. Zu beiden Seiten lagen Reisfelder. Wir steuerten diesen Kanal entlang. Dann begann ein weites Sumpfgebiet. Mitten darin stand eine verfallene Pagode mit drei Schirmdächern.
Der Sampan wand sich durch den Sumpf hindurch, legte am Fuße des Pagodenhügels an. Die Kerle führten uns in die halb mit Trümmern angefüllte Tempelhalle. Bisher hatten sie geschwiegen. Sie durchsuchten uns jetzt die Taschen, nahmen uns alles weg, kramten unsere Brieftaschen durch, teilten die Banknoten, befühlten unsere Rocksäume.
Offenbar suchten sie nach einem ganz bestimmten Gegenstand. Dann lachte der eine Strolch heiser auf.
Er hatte in der Mittelrückennaht von Harsts Sportjacke ein kleines, offenes Messer entdeckt, hielt es Harald vor die Augen, grinste und meinte:
„Master – wir wissen Bescheid.“
Und trotzdem suchten sie weiter. Sogar die Schuhe zogen sie uns aus. Sie fanden nichts mehr.
Sie fesselten uns auch die Füße und deuteten auf ein paar Steintrümmer. Wir setzten uns.
Nun kamen unsere Handtaschen heran.
Die Malagaflaschen mit den silbernen Stanniolkapseln riefen ein freudiges Gelächter hervor. Für unsere Reiseutensilien zeigten die Kerle geringere Teilnahme. Immerhin – sie durchstöberten alles sehr sorgsam, befühlten das Leder, das Futter der Taschen und flüsterten miteinander. Dann nahm uns einer die Mützen ab, befühlte auch diese.
Der Anführer der fünf war ein hagerer Kerl, dessen herabgekämmter Schnurrbart doch die Goldplomben in den Zähnen nicht ganz verdecken konnte.
Goldplomben! Und der lange Gelbe hatte auch so gepflegte Hände!
Jetzt trat er vor uns hin.
„Wo habt Ihr das Stück Blech gelassen, das Ihr dem Manne auf der Polizeiwache gestern abnahmt?“ fragte er und spannte seinen Revolver.
Aha – das Zinkblechschiffchen!
Harald schaute den Langen ruhig an. „Weggeworfen. Was sollen wir damit?“ erklärte er. „Hatte es denn Wert oder eine besondere Bedeutung? Es war ein Schiffchen, denke ich, wohl ein Amulett oder dergleichen.“
Die Kerle hatten nach dem Schiffchen gesucht – das war jetzt klar.
Der Hagere blickte zur Seite. „Ein Amulett – ja, ein Amulett,“ murmelte er.
Die vier anderen Banditen hatten die Stanniolkapseln gelöst und die Flaschen entkorkt.
Der schöne Cholerawein! Ich hätte so gern einen Schluck davon getrunken. Nach der energischen Magenentleerung war mir noch ganz weh in den Eingeweiden.
„Werdet Ihr zahlen?“ fragte der Lange dann.
„Wieviel?“ meinte Harst.
„Du bist sehr reich. –“
„Gut – 1000 Pfund –“
„20 000!“ erklärte der Kerl und hielt den Revolver wagerecht.
Harald brüllte wie in höchster Wut. „20 000?! Du bist verrückt!“
„Dann werdet Ihr sterben. Für jeden 20 000!“
„Niemals!“
Der Schuft grinste satanisch. „Ihr werdet zahlen! Ihr werdet sonst nach Tai-ku-gen gebracht, auf die Lepra-Insel, wo nur die Aussätzigen wohnen –“
Er drehte sich zu seinen Genossen um, rief ihnen[11] etwas zu, – offenbar eine Warnung, nicht zu viel zu trinken. –
Harald schien zu erschrecken. „Tai-ku-gen?! – Hm – 5000 für jeden von uns!“ sagte er zaghaft.
„20 000!“ kreischte der Lange. „20 000! Du wirst an Lord Bickport schreiben, daß er die 40 000 Pfund Dir leiht und sie durch einen einzelnen Mann in einem Boot von Hongkong nach Kaulun[12] bringen läßt. Wenn der Lord das Boot beobachten läßt, werdet Ihr getötet. Das Boot soll ohne Aufsicht bleiben.“
„Ich verstehe,“ meinte Harald. Seine Augen glitten blitzschnell über die vier Banditen hin, die vorn am Eingang der Pagode sich lang hingelegt hatten und Haralds Zigaretten rauchten. „Mach’ mir den rechten Arm frei,“ fügte er hinzu. „Ich werde schreiben. Gib mir meine Brieftasche und den Füllfederhalter.“
Der Hagere legte beides Harald in den Schoß. Dann sagte er: „Wenn Du etwa hoffst, Dich befreien zu können – ich schieße sofort. Wir kennen Dich!“
„Ich werde mich hüten! Lieber 40 000 Pfund als eine Kugel,“ meinte Harst achselzuckend.
„Versichere, daß Du nichts im Schilde führst!“ rief der Lange, bei dem plötzlich wieder der Argwohn erwacht war.
„Ich führte etwas im Schilde. Das versichere ich Dir. Es ist schon vorbei,“ war die unklare Antwort. „Wir sind in Eurer Gewalt. Aber – wer bürgt uns dafür, daß Ihr uns nicht ermordet, sobald Ihr das Geld habt?“
„Ihr werdet übermorgen frei sein. Das schwöre ich Dir bei meinen Ahnen. Ich bin aus vornehmer Familie. Ich halte diesen Schwur.“
Wieder glitt Haralds Blick nach dem Eingang hin.
„Also dann – binde mir den Arm los!“ meinte er! „Ich werde Dich nicht zu töten versuchen. Ich halte mein Wort.“
Der Hagere war beruhigt. „Ich weiß, Du bist ein Gentleman!“ Sein Englisch verriet den gebildeten Chinesen.
„Ja – ich töte Dich nicht!“ nickte Harald.
Der Kerl legte den Revolver auf den Boden. Man hatte uns jeden Arm einzeln durch einen um die Hüften laufenden Strick festgebunden. –
Harald hatte die rechte Hand frei, bewegte die Finger, da der Strick das Blut abgesperrt hatte.
Der Lange stand zwei Schritt vor ihm, den Zeigefinger am Revolverabzug.
Harst riß eine leere Seite aus seinem Notizbuch, zog mit den Zähnen die Kapsel von dem Füllfederhalter, spritzte ihn erst aus und probierte zu schreiben. Die Feder gab nicht an.
Er spritzte den Halter abermals aus. Dabei ließ er ihn fallen, bückte sich und –
Ich ahnte, was kommen würde.
Der sich senkende Arm fuhr empor. Die geballte Faust traf den Revolver.
Der Schuß ging los. Die Kugel klatschte in die Decke.
Ein zweiter Fausthieb gerade gegen des Langen Herzgrube streckte den Kerl auf die Steinfliesen.
Ich schaute ängstlich nach den vier anderen aus.
Harald lachte. „Der Malaga war nicht ganz rein, obwohl die Flaschen unberührt schienen. Die Schufte schlafen, wie Du siehst. Und nicht mal ein Kanonenschuß würde sie wecken.“
Er stand aufrecht, wollte gerade dem Bewußtlosen das Messer aus dem Ledergurt ziehen, als vom Eingang her eine heisere Stimme: „Halt – oder –!“ brüllte.
Dort –, das war der Signore Emanuelo Silvano.
Sein roter Schlips mit der Perle darin leuchtete. Sein Leinenanzug hatte in den Beinkleidern noch dieselben scharfen Bügelfalten.
Er zielte auf Harst. Das Tageslicht ließ den Revolver matt blinken.
„Setzen Sie sich wieder!“ befahl er, ohne näher zu kommen. „In Ihrer Lage gehorcht man, Herr Harst! Sonst läuft man Gefahr, daß – na, Sie können sich den Rest des Satzes selbst ergänzen. Los – schreiben Sie an Lord Bickport. In drei Minuten muß der Brief fertig sein –“
Der Lange mit den Goldplomben kam zu sich, setzte sich aufrecht, stierte nach Luft ringend Silvano an, murmelte ganz fassungslos:
„Du – Du hier?!“
„Da – trink!“ sagte Silvano und reichte ihm die eine erst halb geleerte Weinflasche.
Der Lange führte sie an den Mund.
Harst schrieb hastig, hielt Silvano das Blatt dann hin.
Der nahm es nicht. „Falten Sie es zusammen und werfen Sie es mir zu!“ befahl er. –
Er hob es auf und las, nickte befriedigt und schritt schnell hinaus. –
Der Lange hatte seinen Revolver schon wieder in den Fingern, beobachtete uns mit tückischen Blicken. Er saß mit dem Rücken nach dem Eingang hin, rief nun fragend:
„Was wird jetzt? Hast Du Deine Absichten geändert?“
Er glaubte, Silvano befände sich noch in der Halle.
„Dein Spießgeselle ist fort,“ meinte Harald gemütlich. „Silvano sollte sich also eigentlich hier nicht zeigen, wie?“
Der Hagere starrte unruhig Harst ins Gesicht. Ich sah, daß sein Kopf ihm schwer zu werden begann, daß sein Oberkörper hin und her schwankte. Seine Augen wurden glasig, ausdruckslos. Der Revolver sank auf seinen Schenkel. Langsam fiel der Kerl zur Seite. –
„Fein, was?!“ meinte Harst. „Trotzdem – ich begreife die Geschichte nicht! Silvano wollte doch ganz aus dem Spiele bleiben – selbstredend!“
Er hatte des Langen Messer in der Hand, schnitt meine Stricke durch, dann die seinen. Wir holten unsere Pistolen, steckten alles wieder zu uns.
„Ich begreife das nicht,“ murmelte Harald wieder. „Hier stimmt etwas nicht. – Binden wir die Kerle –“
Wir banden sie immer zu zweien Rücken an Rücken. Den Langen fesselten wir an ein Mauerstück. Sie konnten sich unmöglich frei machen. – Wir nahmen unsere Handtaschen. Der Sampan lag noch am Fuße des Pagodenhügels. Wir stiegen ein und ruderten davon.
Als wir die Bachmündung erreicht hatten, fanden wir zu unserem maßlosen Erstaunen den Motorkutter noch an derselben Stelle.
„Ich sage ja – hier stimmt etwas nicht!“ meinte Harald abermals.
Auf Deck war kein Mensch zu sehen. Wir kletterten an Bord, hatten bald festgestellt, daß die Luke des Maschinenraumes mit Blut bespritzt war, daß – der Kutter leer war. Im Laderaum unten stand noch die große Holzkiste. Auch sie war leer. Der Deckel war nur lose aufgelegt gewesen. – Harald leuchtete hinein, bückte sich. An der einen Wand der Innenseite hingen an dem rissigen Holz zwei – blonde Haare!
„Ingeborg!“ sagte Harst nur. „Fahren wir nach Hongkong zurück. Die Geschichte ist dunkel! Wie konnte Silvano so frech sein und durch sein Erscheinen beweisen, daß er hinter dieser Komödie als Dirigent steckt?!“ –
Dann bediente er die Motoren. Ich steuerte. Bald hatten wir uns durch die Kanäle in den Hauptarm des Flusses zurückgefunden.
Nach einer Viertelstunde kam uns ein weißer, schlanker Dampfer entgegen. Es war jetzt ½4 nachmittags. Es konnte daher der Tourdampfer von Hongkong sein.
„Ran an den Dampfer!“ rief Harst mir zu. – Und als wir winkten und der „Topan Kongi“ stoppte, lehnten an der Reling –
Der Leser errät es wohl, wer dort lehnte:
Silvano und Boosney! –
Silvano stierte uns wie bösen Geistern entgegen. Wir standen dann vor ihm.
„Master Boosney,“ sagte Harald. „Verhaften Sie diesen Menschen!“ Er zeigte auf Silvano. „Er hat uns durch seine Helfershelfer gefangen nehmen lassen, hat zu diesem Zweck eine ganze Komödie, sogar mit echten Blutspuren inszeniert.“
Silvano war aschfahl geworden.
Dann – warf er sich nach rückwärts über die Reling in den Strom, war mit zwei Stößen an unserem Kutter, riß einen Revolver hervor, löste mit der Linken schnell das Tau, das den Kutter an dem Dampfer festhielt.
Boosney war schon aus seiner Erstarrung erwacht. Harald hatte die Clement gezogen. Der Amerikaner griff zu, zielte.
„Ergeben Sie sich, Silvano.“
Der Italiener feuerte, traf nicht. Boosney traf. Silvano schlug rückwärts auf die Deckplanken – mit Stirnschuß.
Wir sprangen auf den Kutter, wir drei. Boosney hob Silvanos Kopf etwas an.
„Tot!“ sagte er dumpf.
Harald rief dem Kapitän des Topan Kongi zu:
„Fahren Sie weiter! Die Sache ist erledigt.“
Der Dampfer rauschte davon.
„Was bedeutet das alles?!“ fragte Boosney kopfschüttelnd.
„Erst etwas anderes, Boosney. – Begegneten Sie vielleicht der Dschunke „Hölle“ des Mischlings Kypang unterwegs? Wechselte Silvano mit dem Kapitän irgendein Zeichen?“
„Ja – die Dschunke fuhr nach Hongkong zu. Und der Kapitän Kypang schwenkte sein rotes Taschentuch. Dieser Kypang ist ein reiner Geck. Aber seine Dschunke segelt vorzüglich.“
Wir setzten die Fahrt fort. Harald berichtete die Vorfälle der letzten Stunden. Boosney rief nun, sich an die Stirn fassend:
„Verdammt – Silvano soll in der Pagode gewesen sein?! Ausgeschlossen.“
„Es war auch nicht Silvano. Es war mein schlimmster Widersacher: Saalborg! Daß er es war, merkte ich erst, als ich den echten Silvano neben Ihnen an der Reling erblickte. Silvano hat die arme Ingeborg Svendsen genau so auf dem Gewissen wie die Brigg Sweaborg und deren Besatzung. Jetzt wird Ingeborg auf der Höllendschunke entführt. Das rote Taschentuch war für Silvano das Signal, daß das Mädchen an Bord und wir beide gefangen seien.“
Er bückte sich und durchsuchte Silvanos Leiche. Der Italiener trug auf der Brust in einem Ledertäschchen genau dasselbe Blechschiff, wie wir davon bereits zwei besaßen, die in Haralds Koffer im Miramare lagen.
„Kennen Sie dies, Boosney? – Nein?!“ meinte Harst. „Ich las gestern in der Hongkonger Zeitung, daß abermals ein Boxer-Aufstand hier in China sich vorzubereiten scheine. Man sei einer großen Verschwörung auf der Spur, könne aber die Hauptmacher nicht fassen. Ich denke, dieses Blechschiffchen wird der geheime Ausweis der Häupter der Verschwörung sein. Der Mann, der uns in den Anlagen erschießen wollte, trug so ein Ding bei sich. Ein zweites schickte mir der genialste Gauner aller Zeiten zu – Saalborg, der also ebenfalls die Bedeutung dieser Blechschiffchen ahnen und eins davon in Kanton einem der Verschwörer gestohlen haben mag. Ingeborg Svendsens Äußerungen über die Nichtversicherung der Brigg und ihrer Ladung Maschinenteile deutete auf den Rest des Geheimnisses hin.“
Boosney besah sich die seltsame Blechmarke. „Hm – vielleicht haben Sie recht –“
Vor uns war eine weiße Motorjacht mit zwei Masten aufgetaucht – die Atlanta, die Harald hierher beordert hatte. –
Wir fanden die Höllendschunke nicht. Von Hongkong aus wurde eine Polizeibarkasse nach der Pagode geschickt, um die fünf Chinesen zu verhaften, die dort gebunden lagen. – Es war zehn Uhr abends, als an Bord der Atlanta, die wieder am Kai festgemacht hatte, Lord Bickport sich einfand. Er brachte einen Brief Saalborgs mit, und in dem Briefe steckte auch das Blatt Papier, das Harst an den Lord in der Pagode geschrieben hatte.
Saalborgs Schreiben lautete: „Sehr geehrter Herr Harst! Die Erpressung war meinerseits nur Bluff. Mir genügen die 40 000 Pfund Silvanos, die ich diesem Schurken abjagte. Leider konnte ich die Entführung des armen Mädels nicht verhindern, weiß auch nicht, wo die Höllendschunke geblieben ist. Ich gebe zu: ich bin ratlos, wie man Ingeborg Svendsen helfen kann. Vielleicht sind Sie mir in diesem Punkte überlegen. Ich hoffe es. Ich schickte Ihnen das Blechstück zu. Es muß eine Bedeutung haben, die mit Silvanos Schandtaten, dem Untergang der Brigg und der moralischen Vernichtung des Mädchens zusammenhängt. Vielleicht sehen wir uns in Benares in Indien nach drei Wochen wieder. Bisher habe ich gesiegt! – Ihr Sie aufrichtig verehrender Vincent Saalborg.“
„Unglaublich!“ rief der Lord. „Zeigen Sie mir doch mal die Blechmarke, Master Harst. – Hm – was soll das Ding mit den Löchern?! Soll eine Dschunke vorstellen – klar! Aber sonst?!“
Harald nahm eine Karte des Südchinesischen Meeres, breitete sie auf dem Tische aus und sagte: „Vielleicht sind die Löcher Inseln, Mylord, eine Inselgruppe. Sie sind verschieden groß und scheinbar willkürlich eingestanzt. – Hier –“ – er tippte auf eine Inselgruppe südöstlich der großen Insel Hainan – „hier fand ich in der verflossenen Nacht fünf Inseln, die Amphitrite-Gruppe, die genau so liegen wie diese Löcher, zwei größere, dazwischen im Bogen drei kleinere. Die südlichste hat auf dem Blech hier ein Kreuz. Sie heißt Chulu Cham, Hölleninsel[13]. Das Wort entstammt dem anamitischen Sprachmischmasch. Ich hoffe, wir werden die Höllendschunke auf der Hölleninsel finden. Ich beabsichtige, morgen früh dorthin in See zu gehen. Ich werde vor der Höllendschunke da sein und sie erwarten.“
„Ich komme mit!“ meinte der Lord. Und Boosney erklärte dasselbe. –
Vier Tage später. – Die Atlanta hatte alle Buchten der Insel abgesucht bis auf eine an der Südseite, deren vorgelagerte Riffe ein Einlaufen sehr gefährlich machten. Wir gingen daher in der benachbarten Bucht vor Anker. – Am nächsten Morgen machten der Lord, Boosney und wir beide uns auf den Weg nach der anderen Bucht. Als wir die felsigen, bewaldeten Hügel hinter uns hatten, sahen wir am Westufer der Bucht eine Dschunke an einer Palme vertäut liegen. Das dicke Hanftau war an der Bugreling um einen Pflock geschlungen, wie wir nach vorsichtigem Näherschleichen wahrnahmen.
Boosney und der Lord blieben auf Haralds Wunsch zurück. Wir krochen auf allen Vieren bis zu der Palme, wo Harald mir auf die Schultern stieg. – „Ein Chinese schläft vorn auf einer Kiste,“ flüsterte er. „Ich werde auf dem Tau hinüberbalanzieren. –“
Er tat es. Ich sah dann, wie er dem schlafenden Chinesen die Faust gegen die Schläfe schmetterte, ihn bei der Kehle packte. – Er winkte mir. Schwitzend turnte ich mit den Händen an dem Tau entlang. Harst half mir an Bord. Wir fesselten und knebelten den Bewußtlosen.
Die Dschunke schien sonst kein lebendes Wesen zu beherbergen. Es war Kypangs Höllendschunke. Der Name stand zu beiden Seiten des Bugs in chinesischen Schriftzeichen inmitten einer Menge phantastischer Untiere.
Sie schien leer zu sein – schien! Bis Harald im Heckaufbau eine Art Geheimverschlag entdeckte. Und – hier fanden wir Ingeborg Svendsen und ihren Bruder Harald, der aus Schweden schon vor Monaten nach China gekommen war, um seine Schwester zu suchen, deren Kabeldepeschen und Briefe offenbar unterschlagen oder gar nicht abgesandt worden waren. Harald Svendsen war von den Verschwörern offenbar beobachtet und gleich nach seiner Landung in Hongkong gefangen genommen worden. – Ich kann mich jetzt ganz kurz fassen. Wir haben damals die zehnköpfige Besatzung der Dschunke samt dem Kapitän Kypang in einem versteckt liegenden Blockhaus der Insel umzingelt. Vier Chinesen wurden dabei erschossen. Die übrigen ergaben sich, nachdem auch Kypang einen Bauchschuß erhalten hatte.
Das Blockhaus war mit Waffen und Munition vollgepfropft. Es war das geheime Waffenlager der Verschwö[rer gewesen. Die Sweaborg hatte ohne Wissen des Kapitäns][14] Waffen als Ladung gehabt, und die Verschworenen, zu denen als einziger Weißer Silvano gehörte, hatten die Waffen ohne Bezahlung an sich bringen und die Besatzung der Sweaborg für alle Zeiten stumm machen wollen. – Der Aufstand wurde so durch unser Eingreifen im Keime erstickt.
Ingeborg Svendsen hat sehr bald den deutschen Steuermann Olfer geheiratet. Auch die an ihn gerichteten Briefe hatten Silvano und die Verschwörer verschwinden lassen. –
Was wir dann in Indien mit Vincent Saalborg erlebten, erzähle ich demnächst.
Nächster Band:
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Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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Band |
108: |
Die Motorjacht ohne Namen. |
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Anmerkungen: