Sie sind hier

Der Stern von Siam

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 30

 

Der Stern von Siam.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

1. Kapitel.

Borderlebnisse.

Die Sirene des „Stern von Siam“ heulte ihren Abschiedsgruß über die Gärten, Häuser und zahllosen Tempel von Bangkok hin. Schwerfällig setzte sich dann der alte klapperige Raddampfer in Bewegung, der den prahlerischen Namen „Stern von Siam“ wahrlich nicht verdiente.

Wir standen neben dem Eigentümer und Kapitän dieses altehrwürdigen Transportmittels, dem rotnasigen Engländer Tompson, auf der Kommandobrücke. Tompson fühlte sich sehr geehrt, daß zwei so berühmte Leute wie der Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Freund und Privatsekretär Schraut seinen Rattenkasten von Schiff zur Fahrt nach Singapore benutzten. Für gewöhnliche Sterbliche ist die Brücke eines Dampfers verbotenes Gebiet. Uns hatte Tompson sofort gebeten, ihm dort recht oft Gesellschaft zu leisten.

Der Stern von Siam glitt langsam den Menam-Fluß hinab. Erst außerhalb der Stadt durften die Schaufelräder ihre volle Kraft entfalten. Schneller zogen nun die Ufer, die Lastkähne und all die seltsamen Schifflein dieses Weltteils an uns vorüber, manche darunter anzusehen wie die Überbleibsel uralter Schiffbauversuche.

Harst lehnte am Geländer und deutete jetzt auf eine malaiische Prau, die schwerfällig mit ihren großen, vom Winde prall gefüllten Mattensegeln gegen die Strömung sich vorwärtsschob.

„Diese ungefügen hölzernen Riesenkähne segeln besser, als man’s nach ihrer primitiven Takelage annehmen sollte,“ meinte er zu Tompson und mir.

Tompson spie den Saft seines Priems im Bogen in die gelben Wasser des Menam.

„Der Deubel hole alle diese braunen Kerle, die auf so einer Prau hausen,“ knurrte er. „Vor dreißig, nein, zwanzig Jahren trieben die Malaien rund um die Sunda-Inseln ganz offen Seeraub. Jetzt tun sie’s heimlich, wo sie nur sicher sind, nicht abgefaßt zu werden.“

„Na na!“ lachte Harst zweifelnd. „Die Zeiten sind doch wohl vorüber, wo es so etwas wie eine Seeräuber-Romantik gab.“

Tompson schaute Harst beinahe böse an. „Ich rede nichts in den blauen Dunst hinein! In den letzten drei Monaten sind fünf Schiffe von Bangkok ausgelaufen und – spurlos verschwunden. Offiziell sind sie einem Taifun zum Opfer gefallen. Wir Küstenkapitäne wissen es besser. Mein Kollege Perthram hat den Dreimaster „Sphinx“ brennend vor der Menam-Mündung angetroffen, hat ihn in die Luft fliegen sehen und weiter beobachtet, wie eine große Prau sich von der Unfallstelle entfernte. Er hat alles verschwiegen, da er nur Scherereien damit gehabt hätte.“

Ich schaute zufällig gerade jetzt auf Harst. Sein Gesicht veränderte sich für einen Moment. Ein Ausdruck von Spannung, von erhöhter Geistestätigkeit hatte diese Veränderung bewirkt. Als er dann aber sagte: „Ihr Kollege tat Unrecht damit,“ waren Harsts Züge bereits wieder genau so gleichgültig – undurchdringlich wie vorhin.

„Unrecht hin, Unrecht her!“ brummte Tompson. „Endlose Vernehmungen gibt’s dann vor der Polizei! Wer bezahlt einem die versäumte Zeit?!“ Er schwieg eine Weile. „Übrigens, Master Harst, – ich hab mich sehr gewundert, als Sie heute an Bord kamen und eine Kabine bis Singapore belegten. Ich habe im Bangkok-Rekorder die Geschichte von dem Diebstahl im P’hrabat-Kloster gelesen und weiß, daß die Haupttäterin, diese Miß Eugenie Malcapier, mit acht Edelsteinen, darunter drei taubeneigroßen Smaragden von wundervollem Schliff, entkommen ist. Im Rekorder stand aber auch, daß Sie versuchen wollten, der Malcapier die Beute wieder abzujagen. Hm – haben Sie’s aufgegeben, Master Harst? – Entschuldigen Sie schon meine Neugier. Aber ich habe mein Lebelang großes Interesse für alles gehabt, was so mit der Verfolgung von Verbrechern zusammenhängt.“

„Allerdings – aufgegeben!“ nickte Harst. „Wenn Sie mir auf Ihr Wort versprechen, zu schweigen, dann –“

Tompson reichte Harst die Hand. „Ich bin kein altes Weib, Master!“

„Nun gut, – dann will ich Ihnen nur sagen, daß ich’s nicht aufgegeben habe, sondern beabsichtige, in einer Verkleidung von Paknam (Ort am linken Menam-Ufer, eine Meile von der Mündung entfernt) aus nach Bangkok zurückzukehren. In Paknam legt Ihr Dampfer doch hier im Flußgebiet des Menam zum letzten Male an, nicht wahr? – Nun, da könnten Sie mir und meinem Freunde einen Gefallen tun. Wir möchten unbemerkt von Bord. Wie können wir das am besten? Raten Sie uns.“

Tompson dachte nach. Dann fragte er: „Und Ihre Koffer? Sollen die mit an Land?“

„Gewiß, wenn’s sich machen läßt.“

„Na, dann spielen Sie beide am besten ein Paar eingeborene, verräucherte Heizer. Die Kostüme beschaffe ich Ihnen schon. Und dann mengen Sie sich –“

Er schwieg, denn Harst hatte plötzlich sein Fernglas, das ihm am Riemen um die Schulter hing, an die Augen geführt und schaute geradeaus den Fluß hinunter, wo vor uns mehrere Segler die Fahrrinne belebten.

„He – was gibt’s, Master Harst?“ fragte Tompson eifrig. „Sehen Sie was Besonderes?“

„Nein – nichts Besonderes. Mich interessierte nur das Segelmanöver des Schoners dort beim Wenden.“

Harst ließ das Glas sinken, fügte hinzu: „Ich habe mir’s anders überlegt. Wir werden doch nicht in Paknam den Dampfer verlassen, sondern erst in Lakon (Hafenort an der Ostküste der Halbinsel Malakka). – Entschuldigen Sie uns jetzt, Käp’ten. Wir wollen uns in unserer Kabine etwas einrichten.“

Wir stiegen die Brückentreppe hinab. Unsere Kabine lag im Mittelaufbau rechter Hand, also nach Steuerbord hinaus, und war eine der sogenannten Luxuskabinen. Das „sogenannt“ muß man unterstreichen, denn der Luxus bestand lediglich in etwas breiteren Kojenbetten und einem Rohrsofa.

Harst setzte sich auf dieses Sofa, holte sein Zigarettenetui hervor und rauchte dann schweigend ein paar Züge seiner Spezialmarke Mirakulum.

„Mein lieber Alter,“ meinte er nun und blickte mich sehr ernst an, „der Gang zum Postamt in Bangkok gestern abend hat sich gelohnt. Ich sagte Dir, ich wollte nur einen Brief an meine Mutter als Eilbrief aufgeben. Ich tat das auch. Nebenbei aber stellte ich mich dem Postdirektor vor und erkundigte mich, ob Eugenie Malcapier vielleicht regeren Briefwechsel irgendwohin unterhalten habe. Er fragte dann bei den Unterbeamten nach, und so erfuhr ich, daß sie seit drei Monaten etwa sehr häufig Depeschen nach Paknam an einen chinesischen Kneipwirt namens Ling-Tuan sende und auch Telegramme von Paknam erhalte – alle sehr harmlosen Inhalts. Das wichtigste aber: gestern nachmittag 2 Uhr, also kurz nachdem sie sich für uns unsichtbar machte, hat sie wieder an Ling-Tuan depeschiert. Ich habe mir das Telegramm abgeschrieben. Bitte – hier ist diese Abschrift.“

Er reichte mir einen Zettel. Ich las folgendes:

Bei klarem Sternhimmel heute Mond genau beobachten und Bewölkung abwarten. – Eumalca.

Ich konnte zu diesem Telegramm nur den Kopf schütteln. „Das verstehe ein anderer,“ meinte ich.

„Ein anderer?! Nein – Du sollst es verstehen. Denn es ist zu verstehen!“

„Bedauere: ich soll, aber ich kann nicht.“

„Deine Denkbequemlichkeit ist haarsträubend! Du willst mein Freund und Gehilfe sein! Schäme Dich! Du übersiehst zum Beispiel ganz, daß die Malcapier ihre Jugend auf einem Schmugglerschiff verlebt hat, das ihrem Vater gehörte. Beachte die Vererbungstheorie!“

„Das tue ich. – Ihr Vater war eine Abenteurernatur. Die Tochter wurde Diebin und Anführerin einer Erpresserbande. Das wissen wir alles, das ist erwiesen. Du meinst nun noch, sie sei auch Schmugglerin, nicht wahr?“

Er antwortete nicht. Er lauschte. Draußen auf Deck hörten wir lauten Lärm. Plötzlich sprang Harst auf und lief hinaus, winkte mir noch zu, ihm zu folgen.

Auf dem Vorschiff hatten einige zwanzig chinesische Kulis sich gelagert, die nach Lakon wollten und unter denen jetzt Streit entstanden war. Gerade als wir das Vorschiff betraten, begann eine allgemeine Prügelei. Dann – warfen zwei der Kulis einen dritten über die Reling in den Fluß. Aber der Kerl schwamm vorzüglich und hielt jetzt auch auf eine malaiische Prau zu, die dicht vor dem Stern von Siam sich befand.

Wir konnten beobachten, wie der Kuli die Schiffsleiter der Prau emporkletterte und von der Besatzung beinahe wieder in den Strom gestoßen wurde.

Kapitän Tompson fluchte jetzt in allen Tonarten auf die gelbe Vorschiff-Bande und drohte, sie in Paknam von Bord zu weisen, wenn sie nicht Frieden hielten.

Inzwischen war der Dampfer längst an der Prau vorüber, auf die der Kuli sich geflüchtet hatte. Paknam war in Sicht gekommen, und Harst und ich stiegen wieder auf die Brücke, um einen besseren Ausblick zu haben. –

So geringfügig diese kleinen, soeben geschilderten Begebnisse zu sein scheinen: der Leser tut gut, sie sich einzuprägen. Sie enthalten die Erklärung für all das, was weiter geschah.

Und – es geschah recht viel und recht Aufregendes.

Der Raddampfer hatte in Paknam neue Fracht aufgenommen und dazu fast anderthalb Stunden gebraucht. Harst war mit einem Male verschwunden. Ich sah ihn erst wieder, als die Sirene zum dritten Male heulte. Er kam den Hafenkai entlang und trug ein großes Paket. Als ich ihn fragte, was er denn in Paknam eingekauft habe, erwiderte er:

„Das, was wir sehr bald brauchen werden.“

Der Stern von Siam dampfte weiter. Wir standen wieder auf der Brücke.

„Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Käp’ten?“ fragte Harst.

Tompson nickte. „Für [Sie][1] immer.“

„Gut – kommen Sie dann nach einer Weile in unsere Kabine. Aber lassen Sie sich vor den chinesischen Kulis nicht sehen.“

„Na nu – was soll das?“ meinte Tompson und blickte Harst forschend an.

„Nachher! – Auf Wiedersehen.“ –

Tompson mußte dann auf dem Rohrsofa Platz nehmen.

„Einige Fragen,“ begann Harst. „Ist Ihre Besatzung zuverlässig? Und wie stark ist sie?“

„Zuverlässig – hm! Von den 18 Mann traue ich nur der Hälfte. Die anderen sind Gesindel.“

„Also neun Mann, dazu wir drei und noch vier männliche Fahrgäste – macht sechzehn Leute. Das genügt. – Was haben Sie an Waffen an Bord?“

„Waffen?! – Einen Revolver besitze ich, und mein erster Steuermann und der Maschinist haben auch noch so ’nen sechsschüssigen Bulldogg. – Aber, zum Teufel, weshalb fragen Sie so merkwürdige –“

Harst hatte schon das Paket geöffnet, das er vorhin mitgebracht hatte. Es war ein Pappkarton, und darin lagen – etwa fünfzehn Revolver verschiedenster Systeme nebst Patronenschachteln.

„Verdammt!“ brummte Tompson bei diesem Anblick. „Ich ahne was. Sie fürchten, mein alter Kasten könnte überfallen werden, Master Harst.“

„Er wird überfallen werden. – Hören Sie mal zu, Tompson. Die Sache ist die. Als Sie vorhin von Ihrem Kollegen Perthram und den Schiffen erzählten, die in den letzten drei Monaten verschollen sind, fiel mir ein, daß ich auf der Post in Bangkok erfahren hatte, Eugenie Malcapier hätte gerade im letzten Vierteljahr sehr häufig Depeschen mit einem Chinesen namens Ling-Tuan in Paknam gewechselt.“

„Was Teufel!“ rief Tompson jetzt, „gerade mit diesem fragwürdigen Halunken, von dem man behauptet, er sei früher Pirat gewesen.“

„Ja – mit dem! – Da nun weiter der Vater der Malcapier Schmuggler war und sie ihre Jugend auf dessen Schiff verbracht hat, dürfte ihr die Neigung für Meer, Wasser und Seeverbrechen, wie man alle mit der Schiffahrt zusammenhängenden Vergehen wohl bezeichnet, im Blute stecken – Vererbungstheorie! – In den letzten drei Monaten verschwinden Schiffe, und genau so lange hat die Malcapier mit Ling-Tuan allerlei Heimlichkeiten! Das und die Vererbungstheorie genügten mir zu dem schwachen Argwohn, die Malcapier könnte nicht nur die Anführerin der Bangkoker Räubergilde, der sogenannten Menam-Brüder, gewesen sein, sondern eben auch sich als – Pirat betätigen. – Diese Gedanken erwog ich oben auf der Brücke. Und – ein Zufall war’s! –, da gewahrte ich auf dem Vorschiff an der Reling stehend einen der Kulis, einen jungen Burschen, der an einem Bambusstock einen roten Lappen befestigt hatte und damit scheinbar spielend herumfuchtelte. Scheinbar! – Ich merkte bald, daß die Bewegungen dieser primitiven Fahne eine gewisse Regelmäßigkeit zeigten –“

„Aha – Winksignale!“ rief Tompson.

„Ja – und deshalb riß ich das Fernglas an die Augen und schaute nach vorwärts, erkannte so, daß von Bord einer großen Prau mit zwei hohen Masten gleichfalls gewinkt wurde.“

„Verdammt verdächtig!“ knurrte Tompson.

„Ich habe Sie und Schraut also etwas beschwindelt, als ich erklärte, die Segelmanöver des Schoners interessierten mich. – Als ich das Glas absetzte, drehte sich der Chinese mit der Flagge gerade um, bemerkte mich und zuckte leicht zusammen. Das genügte mir jetzt vollauf: Diese chinesischen Kulis waren nicht harmlos! – Ich überlegte, was ich tun sollte, besprach mit Schraut in unserer Kabine den Depeschenwechsel der Malcapier und hörte plötzlich den Lärm auf dem Vorschiff. – Ich will mich kurz fassen: die Balgerei des gelben Gelichters war Komödie, denn – gerade der junge Bursche, der signalisiert hatte, wurde über Bord geworfen und schwamm nach der Prau hinüber, wo man ihn nur zum Schein unhöflich aufnahm. Dieser Bursche wollte lediglich unauffällig den Dampfer verlassen, – unauffällig insofern, als es nicht so aussehen sollte, daß er vor mir floh! Aber – es war eine Flucht, nur eine geschickt verhüllte. Und der Bursche war kein anderer als –“

„Eugenie Malcapier!“ platzte ich heraus.

 

2. Kapitel.

Der Dampfkessel.

Harst nickte ernst. „Sie war’s! – Nun noch etwas sehr Wichtiges, Käp’ten. Die Malcapier schickte gestern an den Chinesen nach Paknam folgende Depesche:

Bei klarem Sternhimmel heute Mond genau beobachten und Bewölkung abwarten – Eumalca.“

„Blödsinn!“ brummte Tompson. „Ganz sinnloses Zeug.“

„O nein, bester Tompson. Durchaus nicht sinnlos. Ich erfuhr vorhin in Paknam, daß Ling-Tuan eine Prau besitzt, mit der er Handel nach Borneo hinüber betreibt. Sie heißt –“

„Der Mond – oder Tschi Makra[2], Gestirn der Nacht,“ vollendete Tompson schnell. „Nun geht mir ein Licht auf! Die Depesche enthält in versteckter Form Anweisungen für den heutigen Tag –“

„Ganz recht. Mit Sternhimmel ist fraglos Ihr Dampfer gemeint, Käp’ten, und „Mond“ ist eben die Prau. Ich behaupte, das Telegramm ist nichts anderes als der Befehl zum Überfall auf den Stern von Siam, und die chinesischen Kulis auf dem Vorschiff wieder sind – Piraten! – Weil ich dies alles als sicher annahm, kaufte ich schnell in Paknam diese Revolver nebst Munition ein. Ich rate nun zu folgendem: wir weihen in aller Stille sofort Ihre zuverlässigen Leute ein, ebenso die vier männlichen Passagiere, verteilen die Revolver und die Patronen, umzingeln die Kulis und durchsuchen ihre Bündel. Finden wir bei ihnen Waffen, so ist das Beweis genug, daß die Schufte uns gemeinsam mit der Prau an den Kragen wollten. Die Prau selbst dürfte uns in dem Hauptmündungsarm des Menam erwarten, wo ja das Gewirr der Deltakanäle mit ihren undurchdringlichen Mangrovendickichten hunderte von Schlupfwinkeln bieten. Doch – davon später! Nun vorwärts, Tompson, wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Der Käp’ten eilte davon. – Der Stern von Siam hatte inzwischen schon das Gebiet jener seltsamen Uferbewaldung erreicht, die sich in den Menam bis fünf Kilometer oberhalb der Mündung hinzieht. Diese Mangrovenwälder mit ihren oft zwei Meter hohen Luftwurzeln, aus denen dann der eigentliche Stamm hervorwächst, bieten einen merkwürdigen Anblick dar, etwa wie Bäume, die man auf ein Gerüst gestellt hat. – Die Fahrrinne des Stromes lief jetzt dicht am Westufer hin. Harst und ich waren wieder auf die Brücke gegangen, wo Harald nun nach der Prau mit dem Glase ausspähte. Es war jedoch nichts von ihr zu bemerken.

Zehn Minuten drauf kam Tompson und meldete, daß alles zur Überrumpelung der Chinesen bereit sei.

Ich will diese Entwaffnung der gelben Bande nicht eingehender schildern. Sie spielt hier nur eine Nebenrolle. Die Hauptereignisse traten erst weit später ein.

Die Kulis, völlig umzingelt und überrascht, wagten keinen Widerstand und wurden sämtlich in einen leeren Verschlag eingesperrt, vor dessen Tür abwechselnd zwei der Matrosen dann Wache hielten.

In ihren Bündeln fanden wir für jeden von ihnen einen Revolver, Patronen, Dolche und – das Belastendste – vier sog. Stinkbomben, in deren Herstellung die Chinesen Meister sind.

Es war mithin ganz klar, daß man es hier nicht mit harmlosen Arbeitern, sondern recht gefährlichem Gesindel zu tun hatte. –

Der Raddampfer näherte sich jetzt dem eigentlichen Mündungsdelta. Der Hauptarm des Menam floß, kaum noch 150 Meter breit, zwischen Mangrovenwänden hin. Nun eine Biegung, dann eine weite, gerade Strecke. Nur ein Fahrzeug belebte den Fluß – weit vor uns eine Prau mit zwei sehr hohen Masten! Sie kam uns entgegen, plump, scheinbar schwerfällig, mit hohen Heck- und Bugaufbauten.

Auf dem Raddampfer wußte bereits jeder, was uns bevorstand: ein Kampf mit der Besatzung jener Prau!

Die Spannung an Bord nahm zu. Jetzt war die Prau nur noch 200 Meter entfernt – nur noch 150, – 120 –

Da – urplötzlich sanken ihre mächtigen Mattensegel herab; ihr Bug wandte sich dem Ufer zu, wo ein Nebenarm in der Mangrovenmauer eine breite Öffnung freigab.

Und – seltsam: auch ohne Segel entwickelte die Prau eine überraschende Schnelligkeit, die der des Stern von Siam zum mindesten gleichkam.

„Sie flieht!“ rief Harst. „Da, Käp’ten, – sehen Sie das schäumende Kielwasser! Sie führt einen starken Benzinmotor und eine Schraube!“

„Die Pest!“ fluchte Tompson. „Weshalb gibt der Pirat Fersengeld?! Wir hätten doch so gern zwischen die Halunken gepfeffert!“

„Weshalb? – Nun, sehr einfach: die Leute der Prau hatten mit den Kulis hier fraglos ein Signal vereinbart, das anzeigen sollte, alles stehe gut. Das Signal ist ausgeblieben. Also zieht die Prau sich zurück! – Daran habe ich leider nicht gedacht, daß die Bande ein Signal verabredet hatte. Jetzt beweisen Sie der Prau mal, Käp’ten, daß sie was gegen uns im Schilde führte! Wird Ihnen schwerfallen! Ja – die Halunken sind vorsichtig gewesen. Man kann ihnen unter diesen Umständen nichts anhaben. Unsere Kulis leugnen ja jede Gemeinschaft mit irgend welchen Piraten. Und die Beweise, die wir gegen die Prau haben, dürften keinem Gericht genügen.“

Tompson zuckte die Achseln. „Das ist mir alles sehr gleichgültig. Ich werde die Sache in Lakon melden und dort auch die Chinesen der Behörde übergeben. Dann mögen die hohen Herren machen, was sie wollen.“

Harst stimmte zu. – Der Raddampfer lief gleich darauf in den Golf von Siam hinaus und fuhr mit südlichem Kurs weiter. Es gab an Bord viele enttäuschte Gesichter. So ein kleiner Strauß mit Seeräubern wäre doch mal eine Abwechslung gewesen.

Als wir dann in unserer Kabine waren, fragte ich Harald:

„Weshalb rietest Du Tompson nicht, die Prau zu verfolgen und anzuhalten. Wir hätten dann vielleicht die Malcapier fangen können.“

Er lachte kopfschüttelnd. „Lieber Alter – so leicht ist dieses Weib doch nicht zu greifen! Nun – wir werden sie schon erwischen. In Lakon verlassen wir den Dampfer und kehren nach – Paknam zurück. Dort werden wir zum mindesten die Fährte unserer Feindin aufnehmen können.“

Am dritten Abend waren wir in Lakon. Wir hatten uns schon von Tompson vorher verabschiedet, da dieser ja auf der Brücke beim Anlegen zu tun hatte.

Der armselige Hafen wirkte bei bedecktem Himmel und gelegentlichen Regengüssen noch trister und unfreundlicher. Wir standen mit unseren Koffern an der Relingpforte, um sogleich über die Laufplanke eilen zu können. – Der Dampfer lag jetzt still; die Trossen waren an den Kaipfählen befestigt. Zwei elektrische Bogenlampen beleuchteten die Anlegestelle. Wir traten beiseite. Die Matrosen schoben die Laufplanke aus. Kaum lag sie unten auf dem Bollwerk, als ein älterer Europäer hinaufeilte, sich vor uns verbeugte und fragte, ob eine Kabine frei wäre; er müsse seinen schwerkranken Sohn nach Singapore bringen, wo dieser operiert werden solle. Dabei deutete er auf eine Krankenbahre, die an dem Kai stand.

Harst erwiderte, daß unsere Kabine jetzt leer sei, faßte an die Mütze und schritt die Laufplanke hinab. Ich folgte ihm. Neben der dicht verhüllten Krankenbahre standen zwei hagere irdische Diener. Ein paar Schritte weiter zurück lag auf dem Bollwerk ein großer Dampfkessel. Zu meinem Erstaunen blieb Harst plötzlich stehen, zog mich hinter den Kessel und flüsterte: „Still – vorhin, als wir uns der Anlegestelle näherten, kroch ein Mensch oben durch das große Reinigungsloch in den Kessel hinein! Der Kerl ist nicht wieder herausgeklettert, wie ich genau beobachtet habe, vielmehr hat ein zweiter Bursche, ein Chinese, sehr hastig die Verschlußschrauben des Deckels etwas angezogen. Wenn der Kessel etwa auf den Stern von Siam verladen wird, dann –“

Er vollendete den Satz nicht, drückte das Ohr dicht an die Kesselwandung und lauschte.

Wir standen hier im Schatten, so daß niemand beobachten konnte, was wir trieben.

Harst flüsterte jetzt: „Verschwinden wir! Der Chinese, der den Deckel zuschraubte, könnte Verdacht schöpfen. Übrigens brannte nur jene Bogenlampe dort, als der Mensch in den Kessel kroch. Die farbigen Kaiarbeiter hielten sich alle drüben an jenem Schuppen auf, wo sie etwas Schutz vor dem Regen hatten.“

Wir gingen ein Stück weiter, bis wir zwischen Stapeln von Fässern genügend gedeckt waren. Hier blieben wir und beobachteten, was unten an der Landungsstelle vorging.

Es regnete wieder. Zum Glück hatten wir unsere Gummimäntel an. Eine Stunde verstrich. Dann wurde der Kessel näher an das Vorschiff des Raddampfers herangerollt; die Dampfwinde kreischte; die Kaiarbeiter brüllten, und der Kessel schwebte langsam hoch, wurde dann auf das Deck niedergelassen.

„Also doch!“ flüsterte Harst. „Der Stern vom Siam dürfte jetzt Eugenie Malcapier beherbergen – und mit ihr fünf kostbare Diamanten und drei noch kostbarere Smaragde!“

Diese Annahme erschien mir denn doch etwas sehr kühn. Ich erlaubte mir auch, meine Zweifel offen zu äußern.

„Bitte,“ meinte Harst, „wenn Du nur folgendes berücksichtigst, dann wird Dir diese Art der Flucht der Malcapier durchaus nicht mehr so unwahrscheinlich vorkommen: Erstens – sie hat nicht gewußt, daß wir mit dem Stern von Siam damals morgens Bangkok verlassen würden; sie hat sich also, als Kuli verkleidet, nur an Bord begeben, um zunächst mal aus Bangkok hinauszukommen und Anschluß an ihren Vertrauten Ling-Tuan zu finden; gleichzeitig hat sie aber auch, verführt durch eine Habgier, die ein hervorstechender Zug ihres Charakters ist, den Stern von Siam mit seiner reichen Ladung, deren Wert mir Tompson auf zwei Millionen angab, kapern wollen. Unser Erscheinen auf dem Dampfer kam ihr überraschend. Nie hätte sie gewagt, dieses Schiff zu benutzen, wenn sie uns an Bord gewußt hätte. – Zweitens: Trotzdem sie uns dann bemerkt hatte, mußte sie der Prau, wie durch Depesche vereinbart, bestimmte Signale geben. Aber sie beobachtete mich, als sie es tat, sah, daß ich auf sie aufmerksam geworden, und entweicht durch die Komödie der Schlägerei unter den Gelben. – Drittens: Die Prau gibt dann die Absicht eines Überfalles auf den Stern von Siam auf, verrät dabei, daß sie über einen Motor verfügt, der ihr meiner Überzeugung nach eine große Geschwindigkeit zu geben vermag. Die Prau kann unseren Dampfer also sehr gut überholt haben, kann die Malcapier mit ein paar Vertrauten hier ausgebootet haben, wo diese dann sich nach einer Gelegenheit umsahen, das Weib unbemerkt an Bord zu schmuggeln. Der Kessel, der zur Reparatur fraglos nach Singapore verschickt wird, erschien der Malcapier für ihre Pläne – ich betone Pläne! – geeignet. Daß niemand sich die Mühe machen würde, ihn auf dem Dampfer innen zu durchsuchen, konnte das Weib mit voller Gewißheit annehmen. Sie darf sich darin also ganz sicher fühlen. Und sie kann – gib acht! – mit Hilfe dieses Verstecks auch denen ans Leben, denen sie ewige Rache geschworen: uns beiden! Sie ahnte nicht, daß wir hier in Lakon den Dampfer verlassen würden. Nun sitzt sie dort an Bord in ihrem Kessel fest und würde sehr – würde sehr enttäuscht sein, wenn sie uns nicht mehr auf dem Stern von Siam fände! Aber – sie wird uns finden, oder besser – wir sie! – Bist Du von dieser Ergänzung meiner Schlüsse, die ich vorhin Tompson entwickelte, befriedigt?“

„Ja – bis auf einen Punkt: die Malcapier muß an Bord des Raddampfers doch mindestens einen Vertrauten haben, der ihr, wenn nötig, den Verschluß des großen Deckels öffnet.“

„Aber natürlich macht ein guter Freund von ihr die Reise mit – natürlich! – Wir werden uns jetzt einen Nachen suchen und von der Wasserseite aus an den Stern von Siam heranschleichen. Der Regen begünstigt dieses Vorhaben. Tompson wird sehr erstaunt sein, wenn wir ganz heimlich bei ihm in seiner Kajüte die Fahrt mitmachen wollen. Noch erstaunter aber dürfte die Kesselreisende sein! Ich freue mich schon auf die – Brillanten und die drei Smaragde und auf das Gesicht unserer rotblonden Feindin, wenn wir den Kessel uns näher ansehen werden!“

Nun – die Überraschten waren diesmal wir! Alles kam ganz, ganz anders, als wir es uns so schön zurechtgelegt hatten.

 

3. Kapitel.

Der Kesselreisende.

Wir fanden einen plumpen Kahn, ketteten ihn los und ruderten in großem Bogen an den Stern von Siam heran. Harst kletterte dann zuerst allein auf Deck, wobei er sich der beiden Ruder als Kletterstangen bediente. Nach drei Minuten etwa warf er mir ein Tau zu, hißte mich nach oben und ebenso unsere Koffer. Hier auf dem Achterdeck war es bei dem unfreundlichen Wetter völlig leer. Wir schlichen bis zum Mittelaufbau, wo nach Backbord hinaus Tompsons geräumige Kajüte nebst Schlafkabine lag. Sie war unverschlossen. Wir huschten hinein und setzten uns nebenan in die Schlafkammer auf das Bett. In der Kajüte selbst hatte Licht gebrannt. Wir befanden uns im Dunkeln. Nach einer Viertelstunde etwa hörten wir Tompson eintreten, dann seine Stimme:

„Verdammt, soll ich die gelbe Bande denn bis Singapore verpflegen!“ Er brüllte dies offenbar in heller Wut.

„Die Unkosten werden Ihnen ja ersetzt werden,“ erwiderte jemand ebenfalls in englischer Sprache.

„Hol’ der Deubel die Scherereien, die das wieder gibt! – Ich will’s von Ihnen schriftlich haben, daß mir die Verpflegung der Halunken erstattet wird, oder ich jage die Brut hier einfach an Land!“

„Aber gewiß, – bitte, ich schreibe diese Zusicherung sofort.“

Dann Stille. – Harst flüsterte jetzt: „Der andere ist ein Polizeibeamter von hier. Tompson hat ihm die gefangenen Kulis überantworten wollen, soll sie nun aber mit nach Singapore nehmen. Das kostet ihm natürlich ’ne Menge Proviant, und deshalb –“

Da – abermals Tompsons Grogbaß nebenan:

„Gut denn. Ich bin zufrieden. ’n Abend, Master Primarieux.“

Wir hörten die Tür öffnen und schließen. Dann kam Tompson in die Schlafkabine, warf aber nur seinen nassen Ölmantel in eine Ecke und wollte wieder verschwinden.

„He – Tompson!“ flüsterte Harst. „Wir sind’s, Harst und Schraut.“

„Alle guten Geister! Wie sind Sie denn wieder an Bord gelangt?!“

„Schreien Sie nicht so, Käp’ten[3]. Wir wollen hier die blinden Passagiere spielen. Wir haben uns von Ihnen nicht trennen können. Sie fluchen so eigenartig, daß ich einiges davon lernen möchte.“

Tompson hatte die kleine Tür jetzt ins Schloß gedrückt.

„He – he, Sie scheinen ja bei Laune zu sein, bester Harst! – Na, zunächst mal: herzlich willkommen! Verdammte Finsternis – ich finde Ihre Hand nicht und möchte sie Ihnen doch gern drücken! – Schade, Ihre Kabine ist belegt. Ein Plantagenbesitzer mit seinem kranken Sohn, ein Baron de Saint-Lauchere, hat –“

„Wissen wir schon, Tompson. Wir wollen ja hier bei Ihnen bleiben. Kein Mensch darf ahnen, daß wir an Bord sind. Also lassen Sie auch den Steward hier nie hinein. Ein Paar Hängematten genügen uns als Betten.“

„Was hat Sie denn eigentlich wieder hergeführt? Ich bin mächtig gespannt darauf.“

„Nachher, Tompson. Jetzt schließen Sie uns bitte hier ein und erfinden Sie eine Ausrede gegenüber dem Steward, weshalb ihm dieser Raum versperrt bleibt. Sagen Sie, daß Sie hier wertvolle Post für Singapore aufbewahren, die Ihnen ein hiesiger Kaufmann übergeben hätte.“

„Wird gemacht. Werde auch für ’n Abendessen für Sie beide sorgen – unauffällig! Um elf Uhr gehen wir wieder in See. Sobald Lakon hinter uns liegt, verhänge ich die Kajütenfenster, und dann feiern wir in aller Stille Wiedersehen.“ –

Es war jetzt so weit: Tompson schloß die Verbindungstür auf und ließ uns in die behagliche Kajüte ein. Der runde Tisch war schon gedeckt. Ein Spirituskocher stand darauf. Der Kessel dampfte.

Tompson reichte uns die Hand, flüsterte: „Also nochmals willkommen! Setzen wir uns!“

Harst hatte Mitleid mit des Kapitäns wohlberechtigter Neugier und erzählte ihm sehr bald die Geschichte von dem Menschen, der in Lakon in den Kessel geklettert war.

„Großartig – verdammt großartig!“ meinte Tompson schmunzelnd. „Dann haben wir das Weibsbild also fest!“

Wir taten den kalten Speisen alle Ehre an. Erst um ein Uhr dachten wir ans Zubettgehen. Nachdem die beiden Hängematten für uns im Schlafraum gespannt waren, begannen Tompson und ich uns zu entkleiden. Harst meinte: „Ich will noch eine Weile aufs Vorschiff. Ich möchte den Kessel beobachten. Vielleicht zeigt sich der Verbündete der Malcapier dort. Sie sagten doch vorhin, daß zwölf neue Passagiere in Lakon an Bord gekommen sind. Aus diesen möchte ich den richtigen herausfinden – eben den Freund der Malcapier. Vielleicht sind’s auch mehrere Freunde. Unter den zwölf befinden sich ja fünf Chinesen Ihrer Angabe nach.“

Harst verschwand, nachdem Tompson ihn noch gewarnt hatte, sich vor der Wache nicht sehen zu lassen.

Er kehrte erst zurück, als ich es schon aufgeben wollte, bis zu seinem Wiedererscheinen munter zu bleiben. Tompson schnarchte längst.

In dem Schlafraum brannte nur eine kleine Petroleumpendellampe. Trotzdem bemerkte ich, daß Haralds Gesicht auffallend nachdenklich aussah.

„Nun?“ fragte ich. „Erfolg gehabt?“

„Ja, mein Alter,“ flüsterte er zurück. „Trotzdem bin ich etwas enttäuscht oder besser beunruhigt, denn der Helfershelfer der Kesselreisenden ist ein – Weib! – Ich kam unbemerkt hinter den Kessel und schmiegte mich neben das eine der Balkenstücke, auf denen er liegt. Nach einer halben Stunde hörte ich ein schwaches Geräusch über mir. Zu sehen war nichts. Es ist draußen völlig finster. Ich richtete mich auf. Ich vernahm weitere Geräusche: Der Deckel wurde losgeschraubt, dann eine weibliche Stimme, die auf englisch in den Kessel hineinfragte:

„Wie geht’s Dir?“

Die Antwort konnte ich nicht hören, aber die Frau, die oben auf dem Kessel lang ausgestreckt liegen mußte, flüsterte nun:

„Gut, ich verschwinde sofort wieder. Hier hast Du eine Flasche Trinkwasser. – Auf Wiedersehen. Es wird schon alles gut enden.“ –

Das war das ganze Gespräch, mein Alter. Ich paßte nun scharf auf, als die Frau vom Kessel herabstieg und konnte so feststellen, daß sie recht klein ist. Es muß eine Europäerin sein, eine Engländerin.“

„Hm – und Du bist jetzt nicht mehr so fest davon überzeugt, daß die Person im Kessel die Malcapier ist?“ meinte ich gespannt.

„Wer soll es sonst sein?! – Morgen muß Tompson diese Weiße herausfinden, die ich vorhin belauschte. Sie kann ja nur in Lakon zugestiegen sein. Wissen wir erst, wer sie ist, dann –“

Er beendete den Satz nicht, begann sich auszuziehen und flüsterte nachher nur noch ein leises „Gute Nacht – sehr bequem ist diese Lagerstätte nicht!“ –

Gegen Morgen wurde Tompson geweckt. Der erste Offizier meldete, daß im Hinterschiff Brandgeruch zu spüren sei.

Tompson fuhr fluchend in die Kleider und eilte davon. Draußen goß es noch immer in Strömen. Fahl und düster lag das Meer im Regennebel da. Harst und ich standen an dem kleinen Fenster der Schlafkabine, das wir geöffnet hatten, und atmeten die kühle Luft tief ein.

Es wurde heller und heller draußen. Tompson kam für ein paar Sekunden zu uns und erzählte, daß im Laderaum ein paar Baumwollballen durch Selbsterhitzung in Brand geraten seien. Die Sache sei nicht weiter gefährlich, mache aber Arbeit. Alle Mann seien jetzt beim Löschen beschäftigt.

Dann ging er wieder.

Vielleicht zehn Minuten später plötzlich Lärm an Deck; jetzt auch Schüsse, Geschrei.

Harst hatte meinen Arm mit hartem Griff gepackt.

„Du – die Kulis! Ich wette, man hat die Wachen beseitigt und die Bande herausgelassen! – Da – wieder Schüsse –!“

„Man? – Wer denn?!“

„Bitte – der Kesselreisende oder besser: die Kesselreisende!“

Ich begriff alles, nickte. „Ja – es sind ja die Verbündeten der Malcapier! Sie wird die gelbe Bande –“

Abermals draußen jetzt ein wahnwitziges Geheul und Gebrüll, als wären dort alle Teufel der Hölle zum Stelldichein zusammengekommen.

„Es ist früher passiert als ich dachte,“ murmelte Harst, als es etwas ruhiger geworden war. „Denn ich habe mit dieser Teufelei gerechnet, glaubte allerdings, sie rechtzeitig verhindern zu können. Es lag ja so nahe, daß die Malcapier versuchen würde, die Kulis für ihre Zwecke weiter zu benutzen. Sie dürfte jetzt Herrin des Raddampfers sein. Der Lärm draußen ist verstummt. Hoffentlich ist nicht zu viel Blut geflossen. Wir wären der Besatzung natürlich zu Hilfe geeilt, aber Tompson hat uns hier ja eingeschlossen. Und die Tür einer Kapitänskajüte ohne Axt aufzusprengen, ist unmöglich.“

Er hatte immer langsamer gesprochen. Offenbar waren seine Gedanken seinen Worten weit voraus.

Jetzt eine kurze Pause. Dann sehr hastig: „Schraut – ein Gedanke! Wir dürfen der Malcapier nicht in die Hände fallen, wenn wir uns und auch den Dampfer retten wollen. Bleiben wir hier in Tompsons Schlafkabine, sind wir in spätestens einer halben Stunde die Gefangenen dieses Weibes, von dem wir fraglos keine Schonung zu erwarten haben. – Schnell – raus mit allem aus unseren Koffern, was darauf hindeutet, daß sie uns gehören! In die See damit. Was wir in den Taschen bergen können, nehmen wir mit!“

„Aber – wir können hier doch nicht hinaus!“ wandte ich ein.

„Wir müssen! Tompson hat fraglos in seinem Schreibtisch noch einen Reserveschlüssel zur Tür verwahrt. Ich werde ihn schon finden. – Da – ein neuer Platzregen! Der kommt uns wie gerufen! – Fix, mein Alter, nur fix!“

Er verschwand in der Wohnkajüte. Drei Minuten später bereits erschien er wieder.

„Ich habe den Schlüssel! – Schnell – packen wir noch die Reste der gestrigen Abendmahlzeit zusammen. Wir werden’s in unserem Versteck brauchen können.“

„Und dieses Versteck?“

„Ist – der Kessel, mein Alter! Er ist jetzt ja leer. Die Malcapier hat dieses Quartier aufgegeben.“

Häufig rannten Leute draußen in dem Kajütengang auf und ab. Jetzt wurde an der Tür gerüttelt. Eine quäkende Chinesenstimme verlangte in miserablem Englisch, daß geöffnet würde.

Wir rührten uns nicht, und der Kerl verschwand.

„Vorwärts!“ meinte Harst. „Ein Va Banque-Spiel bleibt’s ja, sich hier herauszuwagen. Aber es geht nicht anders! Wir müssen’s riskieren. Da – der Regen ist noch stärker geworden.“

Er schloß auf, öffnete die Tür ein wenig, lugte hinaus und winkte mir. Man konnte in dieser Sintflut keine drei Schritt weit sehen. Wir krochen auf allen Vieren dem Vorschiff zu. Harst immer ein paar Meter voraus.

Da – ein Chinese war über Harst gestolpert, schlug lang hin.

Harst hatte ihn schon an der Kehle. Ein Hieb mit dem Pistolenkolben, und der Kerl war bewußtlos.

Weiter ging’s. Endlich vor uns etwas Dunkles, Massiges, Langgestrecktes: der Dampfkessel!

Wir kauerten uns darunter. Dann schwang sich Harst auf das zwei Meter hohe Ungetüm hinauf. Auch ich kam glücklich nach oben, streckte mich im Reitsitz lang hin, um nicht mit dem Oberkörper zu deutlich sichtbar zu sein.

Harst arbeitete an den Schrauben des Deckelverschlusses herum. Mein Kopf lag dicht vor dem Deckel. Auf der anderen Seite befand sich der Harsts, so daß wir bequem uns etwas zuflüstern konnten.

„So – offen!“ meinte Harald. Er hob den schweren, ovalen Eisendeckel hoch, schlug ihn zurück.

„Zuerst Du!“ raunte er mir jetzt aufatmend zu. „Wir haben’s geschafft! Wir sind in Sicherheit!“

Ich ließ die Beine in das Loch gleiten, rutschte tiefer und tiefer, hielt mich am Rande noch fest, sprang dann die kurze Strecke hinab, hatte auch bald Boden unter den Füßen.

Aber – da kam die Überraschung!

Ein Paar Hände glitten mir an Brust und Rücken entlang, suchten meinen Hals.

Ich wollte schreien, Harst warnen.

Zu spät! Mit einer Kraft, die selbst für einen Athleten genügt hätte, wurde mir die Kehle zugedrückt. Dann riß mich der Unsichtbare zur Seite. Ich schlug mit dem Hinterkopf an die Kesselwand, verlor das Bewußtsein.

Harst hatte infolge des Geräusches, das der Platzregen verursachte, das Dröhnen des Kessels bei diesem Anprall meines Schädels nur ganz undeutlich gehört, jedenfalls keinerlei Argwohn geschöpft, wie er mir später sagte.

Ihm erging es dann genau so wie mir. Auch er war kaum mit den Füßen auf dem Kesselboden, als er einen Hieb gegen die Schläfe bekam, der ihn besinnungslos niederstreckte.

Meine Bewußtlosigkeit war nur von kurzer Dauer. Ich kam zu mir, erinnerte mich sofort an die letzten Vorgänge und schlug die Augen auf.

Ich lag halb aufrecht da, mit der gewölbten Kesselwand als Rückenlehne. Es gelang mir auch, meine Gedanken rasch auf das zu vereinen, was um mich her vorging. Ich sah, daß auf einem kleinen Koffer eine elektrische Lampe jener größeren Art stand, deren Batterie bis zu 50 Stunden Brenndauer hat. Weiter sah ich im Lichtkegel dieser Lampe Harst lang auf dem Boden liegen. Neben ihm kniete mit dem Rücken nach mir hin ein breitschultriger, europäisch gekleideter Kerl mit dunkler Reisemütze auf dem Kopf. Von dem Gesicht konnte ich nichts wahrnehmen. Der Fremde hatte gerade Harsts Brieftasche in der Hand, blätterte darin, zog dies und das von Papieren heraus, brummte allerlei vor sich hin und leuchtete dann Harst ins Gesicht.

Nun verstand ich, was der Mensch im Selbstgespräch murmelte:

„Teufel – ob’s wirklich der deutsche Detektiv ist?! Na – dann hätte ich ja einem Kollegen übel mitgespielt! Wer konnte aber auch denken, daß gerade –“

Das weitere konnte ich nicht mehr verstehen. Der Mann hatte sich der englischen Sprache bedient.

Und – Kollege hatte er gesagt!

Da – jetzt wandte er den Kopf nach links; jetzt sah ich ein scharfgeschnittenes Profil, ein bartloses, hageres Gesicht mit kühner, leicht gebogener Nase und breiter, massiger Kinnpartie.

Das – war niemals etwa die verkleidete Eugenie Malcapier, niemals. Das war ein Detektiv, dessen Schauspielergesicht schon seinen Beruf verriet.

Inzwischen war mir auch zum Bewußtsein gekommen, daß ich gefesselt war. Die Handgelenke waren übereinander gebunden, lagen in meinem Schoß, und ein Strick hielt sie mir am Leibe fest, der hinten im Rücken verknotet sein mußte.

Ich hielt es nun doch für angebracht, mich zu melden.

„Einen Augenblick, Master,“ sagte ich leise auf englisch.

Der Mann drehte sich um, ganz gemächlich. Die Laterne hatte er noch in der Linken, beleuchtete mich nun, wollte etwas sprechen, kam jedoch nicht dazu, denn Harst, der sich nur ohnmächtig gestellt hatte und bereits vor Minuten das Bewußtsein wiedererlangt hatte, meldete sich jetzt.

„Hier scheint ein großer Irrtum obzuwalten,“ erklärte er und richtete sich halb auf, obwohl er gleichfalls gefesselt war. „Mein Name ist Harald Harst. Und weil Sie, Master, soeben den Ausdruck Kollege im Selbstgespräch fallen ließen, dürfte es zweckmäßig sein, daß wir die Sachlage schnell klären.“

Er setzte sich völlig aufrecht.

Der Fremde stellte erst die Laterne weg, faßte dann leicht an die Mütze, sagte:

„Detektivinspektor Jobster aus Singapore. – Es tut mir sehr leid, daß ich die Herren so grob behandelt habe. Ich kann nur um Entschuldigung bitten. Die Sachlage ist schon geklärt.“

Er löste unsere Fesseln. Harst reichte ihm die Hand.

„Ihren Namen kenne ich, Master Jobster. Vor zwei Monaten haben Sie in Singapore den Mörder des Admirals Stevenpole entdeckt. Es stand in den Zeitungen. Der Fall lag sehr merkwürdig.“

Jobster seufzte und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Master Harst – ich hatte damals den Falschen gefaßt. Wir mußten den Kerl wieder laufen lassen. Der wahre Mörder ist noch nicht herausgefunden. – Aber – wir setzen uns jetzt wohl besser bequem hin und besprechen alles in Ruhe. Darf ich den Herren etwas anbieten? Zigarren, Zigaretten, Kognak, etwas Eßbares – ich bin mit allem versehen!“

Harst hatte gegen einen Kognak nichts einzuwenden.

„Sie haben sich ja tadellos verproviantiert,“ meinte er gutgelaunt.

„Das mußte ich wohl. Ich wollte ja unter Umständen bis Singapore in diesem Versteck bleiben.“

 

4. Kapitel.

Unser Versteck.

Wir hatten es nun verhältnismäßig behaglich. Wir saßen eng beieinander, rauchten und hatten auch nicht über Mangel an frischer Luft zu klagen, denn Jobster ließ den Deckel des Kesselloches unbesorgt etwas offen.

„Daß in diesem Eisenzylinder jemand steckt, darauf kommt so leicht niemand,“ erklärte er. – Wir erfuhren nun auch, weshalb er auf dem Stern von Siam als blinder Passagier reiste.

Jobster spürte noch immer dem Mörder des Admirals Stevenpole, des Hafenkommandanten von Singapore, nach. Er hatte jetzt Verdacht gegen einen der Stewards des Raddampfers geschöpft, einen übelbeleumundeten Franzosen namens Pegrier, der nebenbei ein sehr gerissener Bursche sein sollte. Jobster hatte sich an Pegrier bereits dreimal in einer Verkleidung herangemacht, jedoch stets die Enttäuschung erlebt, daß der Franzose ihn sehr bald erkannte und ihm höhnisch bedeutete, ihn nicht weiter zu belästigen.

Deshalb hatte Jobster sich entschlossen, unbemerkt sich an Bord des Dampfers zu schleichen, um bei Nacht Pegrier beobachten und belauschen zu können, von dem er annahm, daß er noch Mitschuldige an der Ermordung Stevenpoles unter der Besatzung hätte. Er war nach Lakon gereist, hatte den Dampfer erwartet und dann die gute Gelegenheit benutzt, den Kessel für seine Zwecke zu benutzen, der einem Zuckerfabrikbesitzer in der Nähe von Lakon gehöre. Er hatte für dieses Unternehmen zwei Begleiter mitgenommen, seine Frau und einen Chinesen, der der Polizei in Singapore Spitzeldienste leistete, aber zuverlässig war. –

Diesen Chinesen hatten wir ja in Lakon am Hafen beobachtet. Und die Frau, die Harst in der vergangenen Nacht auf dem Kessel belauscht hatte, war natürlich Jobsters Gattin gewesen.

Jobster teilte uns dann noch mit, daß, als wir vorhin in den Kessel hinabgestiegen waren, er notwendig hatte annehmen müssen, es mit Pegrier und einem von dessen Helfershelfern zu tun zu haben. –

Hierauf begann Harst zu erzählen, was wir in Bangkok alles erlebt hatten, wobei er damit den Anfang machte, was ich in dem vorletzten Bande dieser Sammlung veröffentlicht habe.

Jobster lauschte mit steigender Spannung. „Donner – das ist ja ein ganzer Roman!“ meinte er, als Harst fertig war. „Was nun, Master Harst?! Natürlich habe auch ich die Schüsse und das Geschrei gehört. Wir befinden uns also jetzt auf einem Dampfer, der sich in der Gewalt chinesischer Piraten befindet.“

„Allerdings,“ meinte Harst plötzlich zerstreut und starrte in das Licht der Lampe, ohne sich zu bewegen. „Allerdings,“ wiederholte er ganz geistesabwesend. „In der Gewalt der Kulis. Aber – wer hat diese Kulis befreit?! Wer hat die beiden Wachen überwältigt, die vor deren Gefängnis Posten standen?! Ich habe mir den Raum angesehen gehabt. Die Tür war mit Blech benagelt, hatte ein Schloß und zwei Riegel. Die Wachen hatte Kapitän Tompson so ausgesucht, daß sie absolut zuverlässig waren. Sie können also nur hinterlistig überwältigt worden sein. Wer tat dies – wer?!“

Jobster und ich schwiegen.

Es gibt Momente, in denen Harsts Gesicht einen so durchgeistigten Ausdruck zeigt, wo es so ganz intensivste Geistesarbeit verrät, daß man sich scheut, ihn in seinen Gedanken durch eine vielleicht unzutreffende, ihn ablenkende Bemerkung zu stören.

Wir schwiegen und warteten. – Ohne seine Stellung zu verändern, in der Tat wie ein Automat, mit fast ungelenken Bewegungen nahm er jetzt sein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche und schob eine Mirakulum zwischen die Lippen.

Jobster reichte ihm ein brennendes Zündholz. Er langte danach. Aber – die Hand sank plötzlich herab. Ebenso fiel ihm die Zigarette aus dem Munde. Er murmelte nun – und es klang, obwohl halb geflüstert, mit jedem neuen Wort lebhafter und bestimmter:

„So kann es nur sein! Nicht kann – es muß so sein! Ich hätte mir gleich sagen sollen, daß nichts so geeignet war, dieses Spiel hier weiter zu treiben, als dieser Trick!“

Wir lauschten. Aber Harst fügte nichts mehr hinzu, schien nun zu erwachen, strich sich über die Stirn, beugte sich vor, hob die Zigarette aus seinem Schoße auf und bat Jobster um ein neues Zündholz.

Nach den ersten Zügen, nach den ersten tadellosen Rauchringen schaute er uns dann mit kaum merklichem Lächeln an und sagte:

„Bitte entschuldigen Sie meine Geistesabwesenheit. Ich habe soeben Eugenie Malcapier nachgespürt und bin ihr wieder auf die Spur gekommen. Wir werden noch sehr aufregende Stunden hier an Bord erleben.“

Eine kurze Pause. Wieder einige Rauchringe. Dann:

„Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß der Stern von Siam sehr bald der Prau des Chinesen Ling-Tuan, dem Tschi Makra, dem Monde begegnen wird. Es handelt sich hier um ein neues Räuberstück der Malcapier. Nachdem der Überfall auf unseren Dampfer im Menam-Delta mißglückt war, hat dieses Weib es jetzt verstanden, mit Hilfe der Kulis sich zur Herrin dieses Schiffes zu machen und hat vorher natürlich dem Tschi Makra genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben. Ich wette, daß schon in der –“

Ich konnte nicht anders, ich unterbrach Harst.

„Verzeih’ – eine Frage: die Malcapier ist also doch hier an Bord?“

„Ja, mein Alter! Sie ist an Bord! Sie war’s, die die Wachen überwältigte, als der Brand der Baumwollballen die Besatzung in Atem hielt! Sie wird diesen Brand angelegt haben, damit sich ihr Gelegenheit bot, die Chinesen zu befreien. – Doch weiter, – zurück zu meinen Ausführungen. Ich wette, daß schon in der kommenden Nacht – denn am Tage wird die Piratenprau sich aus Angst, von einem anderen Schiffe beobachtet zu werden, nicht an den Stern von Siam herantrauen! – der Tschi Makra neben dem Dampfer erscheint, dessen Ladung übernimmt und ihn dann samt den noch darauf befindlichen Passagieren und Schiffsmannschaften – versenkt.“

Jobster nickte. „Ganz meine Meinung, Master Harst. Diese Schufte von Piraten tun ganze Arbeit, lassen keinen einzigen Zeugen am Leben.“

„Nun – diesmal werden sie sich verrechnet haben!“ stieß Harst drohend hervor. „Sehr verrechnet! Wir drei genügen, es mit diesem gelben Gesindel aufzunehmen. Übrigens: ob nicht dieser Steward Pegrier vielleicht mit den Chinesen unter einer Decke steckt?! – Nun – auch das werden wir herausbekommen.“

„Wie ist die Malcapier denn hier an Bord gelangt?“ fragte Jobster nun. „Doch wohl unter den Passagieren, die in Lakon sich neu einschifften, und natürlich verkleidet.“

„Hm – diese Verkleidung hätte – und das sagte sie sich selbst – ihr meinen Augen gegenüber nicht viel genützt. Sie wußte ja, daß ich auf dem Stern von Siam war und sie wird nachher sehr enttäuscht gewesen sein, als sie uns nicht mehr antraf.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, Master Harst,“ meinte Jobster nachdenklich. „Keine Verkleidung?! Dann müßte das Weib ja –“

„Oh – lassen wir das jetzt!“ winkte Harst ab. „Sie müssen sich schon an meine Eigentümlichkeiten gewöhnen. Ich verspare mir mindestens eine Überraschung stets bis zur – Katastrophe auf! Jedenfalls: die Malcapier ist an Bord! Und ebenso sicher soll der Stern von Siam, in der kommenden Nacht vielleicht schon, ausgeplündert und als Massengrab in die Tiefe geschickt werden. Jetzt denke ich, schlafen wir erst einmal Vorrat. Ein Frühstück vorher könnte uns nichts schaden.“

Wir aßen dann mit gutem Appetit und streckten uns nachher lang hin, indem wir unsere Jacken als Kopfkissen benutzten. Diese Betten waren recht hart, aber – was half’s!

Ich konnte nicht einschlafen. Der Regen hatte aufgehört. Mich störte der Lärm auf dem Vorschiff. Die Kulis liefen jetzt hin und her und riefen sich allerlei zu. Ich wurde die Angst nicht los, daß es einem von ihnen doch einfallen könnte, auch mal den großen Dampfkessel von innen zu besichtigen. Gewiß: Jobster hatte den Deckel wieder ganz herabgeklappt. Aber dieser war jetzt ja durch keine Schraube verschlossen, lag nur lose auf. Jeder konnte ihn anheben, konnte in den Kessel hineinleuchten.

Aber – es geschah nichts, und schließlich senkte sich auch auf meine Lider erquickender Schlummer.

Ich erwachte dann infolge des stärkeren Stampfens des Schiffes. Der Wind mußte zugenommen haben, und der alte Raddampfer tauchte seinen Bug oft recht tief in die Wogen. Wir hörten schwere Brecher auf das Deck platschen. Auch Harst und Jobster waren fast gleichzeitig mit mir munter geworden.

Es war jetzt 2 Uhr nachmittags. Die Stunden schlichen entsetzlich langsam hin. Wir aßen wieder und Jobster erzählte uns nun ganz genau, wie Admiral Stevenpole ermordet worden war. Ich bemerke schon an dieser Stelle, daß dieser Mord uns in Singapore nachher rege beschäftigte. Ich habe dieses in vieler Beziehung äußerst merkwürdige Problem im folgenden Heft geschildert.

Der Wind wurde zum Sturm, flaute aber gegen Abend wieder ab. Wir kamen wieder in einen sogenannten Regenstrich hinein. Von 8 Uhr ab goß es wie mit Eimern, dazu war es draußen so finster, daß wir den Kesseldeckel ein ganzes Stück öffneten und daß Harst verschiedentlich auf Jobsters Schultern stieg und hinausblickte.

Es war jedoch noch immer zu lebhaft auf Deck, um irgend etwas unternehmen zu können.

So wurde es 10 Uhr. Abermals hatte Harst Ausschau gehalten. Es regnete schwächer. Doch die Finsternis blieb.

„Der Stern von Siam führt nur eine Laterne,“ meldete Harst. „Ein rotes Licht auf der Brücke. Also ein Signal wohl für die Prau, daß der Streich hier geglückt ist. Ich werde jetzt einmal versuchen festzustellen, was aus der Besatzung und den Passagieren geworden ist und wie die Dinge hier überhaupt liegen. Bisher wissen wir ja so gut wie nichts, eben nur, daß die Chinesen Herren des Dampfers sind. – Jobster, haben Sie in Ihrem Koffer einen Leinenkittel mit, damit ich mich so etwas als Chinese herausstaffieren kann?“

Der Detektivinspektor bejahte. Harst hatte sich in kurzem so tadellos herausgeputzt, daß er vollständig einem Chinesen glich. Er verschwand dann aus unserem Versteck. Wir beide blieben in großer Sorge um ihn zurück. Jobster meinte, Harst wage bei dieser Rekognoszierung sein Leben und setze die durch uns beabsichtigte Rettung des Dampfers aufs Spiel. – Ich konnte ihm nur recht geben. „Die gelbe Bande ist noch immer so überaus lebhaft!“ sagte ich. „Wie leicht kann er da erwischt werden.“

Wir warteten und warteten. Zwanzig Minuten waren bereits verstrichen. Jobster hatte wiederholt von meinen Schultern aus durch das Kesselloch geschaut. Jetzt stand er wieder oben, bückte sich und rief mir leise zu: „Keine Seele ist auf dem Vorschiff. Aber vom Achterdeck schallt undeutlich wüster Lärm herüber. Ich höre auch die Töne eines Klaviers aus dem Speisesaal herüberklingen. Weiß der Himmel, was die Halunken treiben. Vielleicht haben sie Harst erwischt und feiern seine Gefangennah…“

Der Rest des Wortes blieb unausgesprochen. Über Jobsters Kopf hinweg von außen her Harsts Stimme:

„Von Gefangennahme ist keine Rede! – Machen Sie Platz, Jobster. Ich habe Eile!“

 

5. Kapitel.

Der Trick der Malcapier.

Wir drei standen nun dicht beieinander im Kessel. Harst berichtete im Depeschenstil:

„Noch eine Viertelstunde haben wir Zeit für die Ausführung meines Planes. Die Prau ist nämlich schon in Sicht, wenigstens ihre Positionslaternen. Aber ein anderer Dampfer kommt uns mit Kurs auf Lakon entgegen. Den müssen die Piraten erst vorüberlassen. – Die Sachlage ist folgende: Der größere Teil der Besatzung ist im hinteren Laderaum von den Chinesen eingesperrt worden, die die beiden Ausgänge verrammelt haben. Wieviel Opfer der Kampf gefordert hat, kann ich nicht sagen. Die Passagiere sind in ihre Kabinen eingeschlossen. Zur Zeit sind die sämtlichen Chinesen bis auf drei im Speisesaal dabei, ein Rumfaß zu leeren. Ich vermute, man macht sie absichtlich betrunken. Man will sie eben als lästige Teilhaber an der Beute nachher, wenn sie sich bis zur Bewußtlosigkeit betrunken haben, mit dem Dampfer in die Tiefe schicken. Eine andere Erklärung gibt es für dies Gelage kaum. Die Maschinen dürften von dem bisherigen Personal bedient werden, das man mit der Waffe dazu zwingt. Ich nehme an, die drei im Speisesaal fehlenden Chinesen spielen im Maschinenraum die Wachen. Auf der Brücke des Stern von Siam befinden sich als Kapitän der Steward Pegrier und als seine Gehilfen zwei Matrosen des Dampfers, zwei Siamesen, die also seine Verbündeten sind!“

„Und die Malcapier?“ warf Jobster hastig ein.

„Ja – da bin ich doch auf dem Holzwege gewesen,“ meinte Harst sehr langsam und mit jenem zerstreuten Gesichtsausdruck, der bewies, daß seine Gedanken anderswo weilten. „Die Malcapier ist jedenfalls völlig unsichtbar. Aber –“ eine kurze Pause – „an Bord befindet sie sich bestimmt. Sie hält sich nur zurück –“

„Was heißt das?“ fragte ich achselzuckend. „Wenn sie hier sozusagen die Oberleitung hat, denn –“

„Oh – ihr Spiel ist vielleicht sehr – sehr fein!“ fiel mir Harald ins Wort. „Nun – das wird sich ja bald zeigen, ob ich recht habe, ob sie nämlich wirklich so überaus vorsichtig ist, daß sie –“

Er machte eine kurze Handbewegung, fügte hinzu: „Lassen wir all die überflüssigen Worte. Wir müssen ans Werk.“

Wir verließen gleich darauf unser Versteck. Der Dampfer führte jetzt die vorschriftsmäßigen Laternen, um bei dem ihm entgegenkommenden Schiffe keinen Verdacht zu erregen. Wir krochen einer hinter dem anderen auf die Treppe der Brücke zu. Vom Achterdeck her ertönte aus dem Speisesaal das Johlen der trunkenen Chinesen. Jobster als Amtsperson hatte jetzt den Vortritt. Er und Harst hatten sich mit dicken Holzenden bewaffnet, die dem Kessel als Stützen gedient hatten. Die Schußwaffen trugen sie in der Linken.

Die Überrumpelung der drei Leute auf der Brücke gelang vollkommen. Allerdings machte Jobster dabei weiter keine Umstände, schlug Pegrier und einen Siamesen nieder, daß sie sofort umsanken. Der Siamese starb sehr bald. Der Hieb war doch zu kräftig gewesen. Harst hatte den Dritten erledigt. Im Nu waren ihnen Arme und Beine gebunden. Wir warfen sie einfach in das Steuerhäuschen. Dann blieb Jobster, der von uns am meisten vom Seemannshandwerk verstand, als Steuermann am Rade zurück. Wir beide eilten nun zunächst hinab ins Vorschiff und entfernten die Barrikade, die die Kulis vor der einen Tür des Laderaums aus vollen Ölfässern errichtet hatten.

Neun Mann der Besatzung kamen uns entgegen, darunter auch Kapitän Tompson, der eine Revolverkugel in den linken Oberarm erhalten hatte. Bei dem Kampfe waren vier Leute getötet worden. Die anderen hatten sich dann vor den Revolverschüssen der gelben Bande in den Laderaum zurückziehen müssen.

Die Leute waren ungeheuer erbittert. Harst konnte sie nur mit Mühe von Unüberlegtheiten zurückhalten.

Ich will die nächsten Ereignisse hier nur kurz streifen. Es kommt mir nicht darauf an, abenteuerliche Szenen zu schildern, sondern mehr die feine geistige Arbeit Harald Harsts zu beleuchten.

Die im Speisesaal um das Rumfaß versammelten Kulis waren nicht mehr fähig, sich zur Wehr zu setzen. Diese zwölf Chinesen lernten nun sehr nachdrücklich die Wirkung von Handspeichen kennen. Vier von ihnen vergaßen überhaupt das Aufstehen. Dann wurden auch die Wächter des Maschinenraums unschädlich gemacht. Der Stern von Siam befand sich nun wieder in der Gewalt der rechtmäßigen Besatzung.

Auf Harsts Befehl, dem Tompson alle Anordnungen überließ, wurden die Passagiere noch in den Kabinen gelassen mit Ausnahme der Frau Jobster und des Chinesen Schang – so hieß der Polizeispitzel, der den Inspektor begleitet hatte. – Die Besatzung verfügte nun wieder über so viele Revolver, daß jeder Mann sich mit zweien bewaffnen konnte.

Der fremde Dampfer war inzwischen vorüber gerauscht. Jetzt wurde bei uns wieder nur die eine rote Laterne gezeigt. Schräg vorwärts auf der Backbordseite schimmerte das grüne Licht der Prau.

Harst hatte soeben zwei Matrosen leise einen Befehl erteilt. Sie verschwanden im Mittelschiff, wo unter der Brücke die Maatskabinen lagen, von denen wir ja vorher Nr. 1 innegehabt hatten.

Dann steuerte der Stern von Siam der Prau entgegen. Alles war bereit. Jobster als englischer Staatsdetektiv war ganz damit einverstanden gewesen, daß wir die Prau, mit deren Besatzung wir uns auf einen Kampf nicht einlassen wollten, rammen sollten. Piraten schont man nirgends. Das internationale Seerecht bestraft Seeräuberei mit dem Tode.

Tompson stand oben auf der Brücke am Maschinentelegraphen. Der erste Steuermann bediente das Rad. Die Besatzung war hinter der Reling des Vorschiffes so verteilt, daß sie ein Hinüberentern der Leute der Prau leicht verhindern konnte.

Wir drei, – Jobster, Harst und ich – beobachteten gleichfalls von der Brücke das nun folgende Schlußdrama für das Piratenschiff.

Die beiden Fahrzeuge näherten sich schnell. Die See ging nur wenig hoch.

Noch 200 Meter – 100 Meter –, da beschrieb der Stern von Siam einen kurzen Bogen. Tompson hatte das Manöver tadellos berechnet. Mit voller Maschinenkraft rannte der Dampfer nun auf die Prau zu. Dort mochte man Unrat wittern, wollte dem drohenden Verhängnis noch ausweichen. Es war zu spät.

Wir klammerten uns am Geländer der Brücke fest; ein furchtbarer Krach: der Stern von Siam hatte die Prau mittschiffs getroffen; seine Räder schlugen jetzt rückwärts; gleichzeitig feuerten die Matrosen unablässig auf die dunklen Gestalten, die sich auf Deck des Piraten zeigten.

Ein wildes Gebrüll scholl von dort her, wo jetzt die Prau mit einem Riesenleck schnell voll Wasser lief. In drei Minuten sackte sie weg. Tompson ließ jetzt mit dem Scheinwerfer die See ableuchten. Fünfzehn Mann fischten wir noch heraus. Ling-Tuan war nicht dabei; er war mit dem Tschi Makra in die Tiefe gegangen. –

Und nun endlich bewies Harst, daß Eugenie Malcapier wirklich an Bord war. Jobster und Tompson mußten mitkommen. Harst führte uns vor die Kabine Nr. 1, klopfte. Es öffnete einer der beiden Matrosen, denen Harst vorhin so leise einen Befehl gegeben hatte.

Wir traten ein. In der Kabine brannte die Deckenlampe. Im rechten Kojenbett lag der kranke Sohn des Plantagenbesitzers Barons von Saint-Lauchere, ein blasser, schwarzhaariger Mensch mit dunklem Schnurrbart. Der Vater saß neben seinem Bett. Der zweite Matrose, den Revolver in der Hand, stand neben der Tür.

Der alte Baron sprang sofort auf, rief Tompson erregt zu: „Kapitän, weshalb werden wir hier wie die Verbrecher bewacht?! Ich werde –“

„Weil Sie Verbrecher sind!“ schnitt Harst ihm schon das Wort ab. Dann trat er auf das Bett zu, riß dem Kranken die schwarze Scheitelperücke ab.

Eine Fülle rotblondes Haar löste sich jetzt, umrieselte das Gesicht des angeblich Schwerleidenden, der nun auch plötzlich schnurrbartlos war.

„Eugenie Malcapier!“ sagte Harst. „Ich kann Ihnen nur meine Hochachtung aussprechen: Sie hätten beinahe das Spiel gewonnen. Sie waren sehr vorsichtig. Als Sie an Bord kamen, ahnte nicht mal Ihr Verbündeter Pegrier, daß der junge Baron von Saint-Lauchere ein Weib war. Ich habe Pegrier soeben kurz verhört. Er sagte mir, er hätte alle Befehle auf sehr geheimnisvolle Weise hier an Bord durch Zettel mit Ihrer Handschrift erhalten; er wüßte nicht, wo Sie hier steckten und welche Verkleidung Sie trügen. Ja – sehr vorsichtig waren Sie. Sie wollten erst wieder gesund werden, sich dann erst Ihren Genossen als Eugenie Malcapier zeigen, wenn dieser Anschlag gegen den Stern von Siam vollständig geglückt sein würde; Sie fürchteten Zwischenfälle, vielleicht – fürchteten Sie mich, den Sie doch in Lakon hatten von Bord gehen sehen! – Als ich Sie hier nicht als Herrin des Schiffes fand, wie ich angenommen hatte, als ich Pegrier als den Führer der Piraten hier feststellte und Sie unsichtbar waren, da ging ich in Gedanken die Ereignisse bei der Landung in Lakon nochmals durch, und da – hatte ich Sie entdeckt: nur der junge kranke Baron konnte Eugenie Malcapier sein, nur Ihr erfinderisches Hirn konnte diese schlaue Krankenkomödie ersonnen haben! Es mußte eine Komödie sein, wie ich mir gleichzeitig überlegte, denn welcher Vater wird einen schwerkranken Sohn von Lakon nach Singapore zur Operation bringen, wo er doch in dem bequemer und schneller zu erreichenden Bangkok genau so gute Ärzte findet! – Dieser Umstand, eben daß der Kranke gerade nach Singapore geschafft wurde, machte mich stutzig. Und von diesem ersten Argwohn bis zu völligen Gewißheit war nur ein Schritt!“

Dann wandte Harst sich an den angeblichen Vater.

„Ich erkenne Sie wieder, Charles Malcapier!“ sagte er rasch. „Sie müssen aus dem Bangkoker Gefängnis entwichen sein, wobei wohl Bestechung Ihre Flucht erleichtert hat.“

Der graubärtige Herr senkte den Kopf und schwieg. –

Jobster verhaftete die beiden. Bei der Durchsuchung ihres Gepäcks wurden auch die acht Edelsteine gefunden, die jetzt wieder den Baldachin der Buddha-Statue des P’hrabat-Klosters schmücken.

Fünf Tage später waren wir in Singapore. Hier nun beschäftigte sich Harst mit der Aufklärung des Mordes an Admiral Stevenpole. Was dabei herauskam, mag erzählt werden in:

 

Die Matsoa-Spinne.

 

 

Die Matsoa-Spinne.

 

1. Kapitel.

Das gelbe Auto.

„Und nun, bester Jobster, erzählen Sie uns nochmals ganz genau alles, was mit dem an Admiral Stevenpole verübten Morde zusammenhängt,“ sagte Harst zu dem bartlosen, untersetzten Detektivinspektor.

Wir drei saßen auf dem zu unseren Zimmern gehörigen Balkon des Raffles-Hotel und genossen die frische Seebrise, die von Osten her über die Reede von Singapore strich, in langen Zügen nach diesem glutheißen, erschlaffenden Tage, genossen weiter ein köstliches, eisgekühltes Getränk und ein paar vorzügliche Zigarren.

Am Morgen waren wir in Singapore eingetroffen, hatten uns von Fred Jobster und seiner Gattin verabschiedet, mit ihm aber eine Zusammenkunft für 6 Uhr nachmittags verabredet, denn Harst war ja bereits unterwegs auf dem Stern von Siam geradezu erpicht gewesen auf diesen Mord mit all seinen geheimnisvollen Begleitumständen.

Der Detektivinspektor und Leiter der Detektivpolizei der bekannten hinterindischen Hafenstadt lehnte sich in seinem Korbsessel bequemer zurück und begann:

„Daß Admiral Percy Stevenpole Hafenkommandant von Singapore war, wissen Sie bereits, Master Harst. Er war Junggeselle und trotz seiner 55 Jahre dem Aussehen und Auftreten nach kaum ein Vierziger. Er genoß sein Leben! Er gehörte nicht zu den Duckmäusern! Im Gegenteil, er kannte die Vergnügungsstätten des Chinesenviertels, die feinen Opiumhöhlen, die teuren Singspielhallen und anderes ähnliche besser als wir von der Polizei. Er besaß neben seiner Wohnung im Gouverneurpalast noch eine zweite, so einen kleinen reizenden Bungalow mit fünf gemütlichen Räumen und Garten an der Westseite des Sophia-Hügels. Diesen Bungalow beaufsichtigte ein alter Maat der Kriegsflotte, der mal bei dem Admiral Bursche gewesen war. Sie werden diesen Tom Barbaley ja noch kennenlernen. Ein Original ist’s – mit nur einem Bein. – Aber trotz des Stelzfußes fix wie ein Wiesel und dabei treuer als ein Pudel. Dieser Tom Barbaley spielte also in dem Bungalow den Hausmeister. Außerdem waren da noch drei chinesische Diener vorhanden, – besser, sind vorhanden, denn in dem Bungalow ist seit dem Tode Stevenpoles auf meinen Befehl nichts verändert worden. Nun kennen Sie also den Schauplatz, und jetzt komme ich zu interessanteren Einzelheiten. – Am 30. Oktober des Vorjahres morgens gegen 7 Uhr betrat Tom Barbaley das Billardzimmer des Bungalows beim morgendlichen Rundgang durch das Haus. Der Admiral hatte sich dort seit zwei Tagen nicht sehen lassen. Er war leidenschaftlicher Verehrer des sog. amerikanischen Billards, jener Art, in der man die Kugeln in Löcher hineindirigieren muß.

Tom sah nun sofort bei seinem Eintritt seinen Herrn quer über dem unteren Teile des Billards liegen, mit herabhängendem Kopf, während Arme und Beine an den Leib wie im Krampf angezogen waren.

Weiter aber bemerkte er gleichzeitig noch etwas: eine Spinne aus der Familie der Kreuzspinnen, die die Eingeborenen hier Matsoa nennen, was etwa „Hausgeist“ bedeutet. Die Matsoa wird bis zu 2½ cm lang und hält sich mit großer Vorliebe in bewohnten Häusern auf. Ihr Biß ist giftig, aber merkwürdigerweise hat sie noch niemals einen Menschen mit ihren Beißkiefern angegriffen, im Gegenteil, sie hält die Wohnungen geradezu frei von allem anderen Ungeziefer. Kein Eingeborener wird daher eine Matsoa töten. Es soll davon zwei Arten geben, – soll! – Diese Kreuzspinne nun, die Barbaley bemerkte, hing an einem langen Spinnwebfaden von der Decke herab und zwar so, daß sie regungslos etwa eine Handbreit über der Kehle Stevenpoles schwebte. Tom hat mir dies wiederholt genau beschrieben und auch dieselben Angaben als Zeuge beschworen.

Kaum hatte der Hausmeister durch einen schnellen Blick in das starre Antlitz und die weit aufgerissenen Augen seines Herrn festgestellt, daß dieser tot war, als er auch schon hinaus und an das Telephon eilte und mich benachrichtigte. Er bekam auch bald Anschluß, und eine halbe Stunde nach der Auffindung des Toten durch Tom langte ich in dem Bungalow an. Inzwischen war Barbaley nicht wieder in dem Billardzimmer gewesen.“

„Eine Frage,“ warf Harst hier ein, „ahnte Tom denn, daß ein Mord geschehen war?“

„Ja – denn er hatte am Halse seines Herrn eine kleine blutige Wunde gesehen. Außerdem hatte das Gesicht Stevenpoles auch einen Ausdruck so wilden Entsetzens noch im Tode beibehalten, daß Barbaley an eine natürliche Todesursache kaum denken konnte. – Nun beginnt das Merkwürdige. Tom, mein Untergebener Galling und ich betraten das Billardzimmer. Tom hatte mir schon von der Matsoa erzählt. Aber – wir fanden sie nicht mehr. Nicht einmal unter der Decke war sie aufzustöbern. Wir nahmen Leitern, suchten mit aller Sorgfalt: die Spinne war und blieb verschwunden.“

„Hatte Tom schon früher einmal eine Matsoa im Billardzimmer gesehen?“ fragte Harst wieder.

„Nein – nie! Er hat dies mit aller Bestimmtheit versichert. – Bald nach mir traf unser Polizeiarzt Dartmoore ein. Er untersuchte die Wunde. Es handelte sich um eine Hautwunde mit zackigen Rändern, etwa 3 Zentimeter lang, die sich quer über die Luftröhre unterhalb des Kehlkopfes hinzog. Doktor Dartmoore erklärte, die Wunde sei etwa fünf Stunden alt, aber der Tod sei soeben erst eingetreten.“

Jobster machte eine kurze Pause.

„Nun das sonderbarste,“ fuhr er fort. „Bei der Obduktion der Leiche wurde festgestellt, daß Stevenpole durch ein tierisches Gift umgekommen war, dessen Wirkungen denen einer besonders starken Menge des Giftes der Matsoa-Spinne entsprachen. Dartmoore hat Versuche mit Tieren angestellt, um herauszufinden, ob zum Beispiel ein Füllen, dessen Gewicht dem eines erwachsenen Menschen gleichkommt, durch Matsoa-Gift[4] getötet werden könnte. Er hat drei Füllen die Haut der Kehle in derselben Weise eingeritzt, wie wir dies bei Stevenpole fanden, und das Spinnengift in drei verschieden starken Dosierungen in die frische Wunde gestrichen. Zwei Füllen verendeten, eins davon nach zwei Tagen, das andere unter Lähmungserscheinungen nach sechs Stunden. Dieses hatte die größte Giftdosis erhalten. – Dadurch war nachgewiesen, daß eine Vergiftung mit Todesfolge durch Matsoa-Gift bei einem Menschen nur möglich ist, wenn man das Gift von etwa zehn ausgewachsenen Spinnen in das Blut einführt. – Dies wäre die Todesursache. Daß Stevenpole sich nicht selbst auf diese Weise entleibt hatte, war uns sofort klar. Also: Mord, und zwar ein so seltsamer Mord, wie ich ihn in meiner Praxis noch nicht erlebt habe. Wir waren nun sehr vorsichtig und ließen die Öffentlichkeit völlig im Unklaren über die Todesursache. Wir verbreiteten das Gerücht, Stevenpole sei mit einem vergifteten Dolch getötet worden. Auch Barbaley schwieg, so daß kein Mensch etwas von der Matsoa ahnt. – Ich kann mich mit den übrigen Einzelheiten kürzer fassen. Wir ermittelten folgendes. Stevenpole war damals bis Mitternacht im Cricket-Klubhaus gewesen und hatte dies allein verlassen. Weiter haben wir nichts – gar nichts herausbringen können. Ich behaupte nun, daß der Admiral in jener Nacht noch im Chinesenviertel gewesen ist und wahrscheinlich in Begleitung dann nach dem Bungalow ging. Diese Person, die ihn begleitete, hat ihn ermordet. – Sie wissen ja, Master Harst, ich hatte erst gegen den Dampfersteward Pegrier Verdacht geschöpft. Aber Pegrier konnte heute ein durchaus einwandfreies Alibi für jene Nacht nachweisen. – Ich will noch bemerken, daß wir in den Zimmern des Bungalows nirgends etwas fanden, das für die Ermittlungen wertvoll gewesen wäre. Stevenpole trug auch noch alles bei sich: Ringe, Uhr, Brieftasche mit 480 Pfund in Banknoten. Es war also kein Raubmord. – So – mehr vermag ich nicht anzugeben.“

Harst warf seine halb aufgerauchte Zigarre in den Aschbecher und langte nach seinem Zigarettenetui.

Ich kannte das schon: nur bei den süßlichen Rauchwölkchen seiner Spezialmarke Mirakulum ging er im Geiste den Spuren eines Verbrechens nach.

Eine ganze Weile herrschte nun Schweigen. Fred Jobster schaute Harst fragend an. Aber Harst blickte mit halb zugekniffenen Augen an ihm vorüber auf das Meer, das jetzt beim Sonnenuntergang zartrosa schimmerte.

Dann sagte er plötzlich: „Der Mord liegt drei Monate zurück. Das ist eine sehr lange Zeit. Viele feine Spuren, die der Täter ja fraglos am Tatort zurückgelassen hatte, sind nun gänzlich verwischt.“

„Gestatten Sie,“ fiel Jobster ein. „Es waren keine „feinen Spuren“ da! Nichts von Spuren war vorhanden!“

Harst beobachtete den Einwurf nicht.

„Es ist schwer, nach einem Vierteljahr noch Licht in das Dunkel eines Mordes wie diesen[5] zu bringen,“ fügte er hinzu. „Immerhin will ich’s versuchen. Morgen früh werden wir uns im Bungalow Stevenpoles um 7 Uhr einfinden. Bitte, erwarten Sie uns dort, Jobster. Und besorgen Sie zu morgen früh auch drei Matsoa-Spinnen. Ich möchte ein kleines Experiment anstellen.“

Der Inspektor beugte sich interessiert vor.

„Experiment? Welcher Art?“

Bevor Harst noch etwas erwidern konnte, erschien in der Balkontür ein farbiger Kellner und meldete den Detektiv Galling in sehr dringender Angelegenheit.

Jobster sprang auf, meinte: „Galling wußte, daß ich hier bin. Was mag nur passiert sein.“

Da trat Galling auch schon ein. Er war klein und mager und sah ganz wie ein Jockey aus. Er verbeugte sich kurz.

„Master,“ wandte er sich dann erregt an Jobster. „Eugenie Malcapier ist vor einer halben Stunde aus dem Gerichtsgefängnis entflohen.“

Diese Nachricht wirkte auch auf Harst und mich wie eine Bombe.

Dem Leser dürfte Eugenie Malcapier noch bekannt sein aus den letzten Bänden dieser Sammlung. Wir hatten ihr auf dem Dampfer Stern von Siam die in Bangkok geraubten Edelsteine abgenommen und glaubten sie hier in Singapore nun in sicherem Gewahrsam. Sie hatte Harst und mir Rache geschworen, und wenn sie sich nun wieder in Freiheit befand, so bedeutete dies für uns eine ständige Bedrohung.

Galling berichtete dann über die Flucht dieser rotblonden, sehr anziehenden und sehr schlauen und tatkräftigen Verbrecherin folgendes:

Der Untersuchungsrichter Divingstone hatte sich die Malcapier zum Verhör durch einen Aufseher vorführen lassen. Der Aufseher mußte draußen im Vorraum des Verhörzimmers warten. Es war ein Inder, ein früherer Unteroffizier der Kolonialarmee. Als Richter Divingstone nachher den Aufseher hereinrief, damit dieser die Malcapier in die Zelle zurückführe, trat statt des ersten Aufsehers ein anderer ein und meldete, er habe den Kollegen ablösen sollen. Dieser zweite Aufseher war nun ein Verbündeter der Malcapier, wie sehr bald sich herausstellte. Er hatte dem Weibe zur Flucht verholfen, verschwand mit ihr in einem Auto von dunkelgelber Farbe, das vor dem Gebäude schon eine gute Stunde gewartet hatte und von einem chinesischen Chauffeur gelenkt wurde. –

Hier warf Harst die Frage ein: „Es war also wohl überhaupt kein Gefangenaufseher, dieser zweite Mann, sondern jemand, der die Dienstabzeichen dieser Beamten trug, nicht wahr?“

Galling bejahte. „So ist’s, Master Harst. Den anderen Aufseher fand man dann in einem großen Aktenschranke des Vorraums bewußtlos auf. Der Mann hatte eine furchtbare Wunde am Hinterkopf, ist also wohl hinterrücks niedergeschlagen worden!“

„Ah – welche Frechheit!“ rief Jobster. „Man denke – im Vorraum des Verhörzimmers!“

„Wer hat das Auto gesehen?“ wollte Harst wissen. „War es ein geschlossener Wagen?“

„Das Auto wurde von vielen bemerkt, auch von zwei Kollegen von mir. Aber niemand kümmerte sich darum. Die Kinder des Pförtners des Polizeigebäudes sprachen sogar mit dem Chauffeur und drückten spielend die Hupe.“

„Weshalb erwähnen Sie gerade diese Kinder?“ meinte Harst. „Kinder sind doch als Zeugen kaum brauchbar. Man sollte sie nie in einem ernsthaften Verfahren als Zeugen vernehmen. Ihre Beobachtungsgabe und ihr Gedächtnis sind ungeschult und unzuverlässig.“

Der Detektiv Galling lächelte ein wenig. „Oh, Master Harst, die Kleinen hatten sich nur die Hände und mit diesen wieder die Gesichter durch den noch nicht ganz trockenen Anstrich des Autos beschmutzt und sahen mit den gelben Flecken auf den Backen recht komisch aus.“

Harst warf mir unauffällig einen Blick zu. Dann fragte er Galling:

„Es muß wohl ein Wagen mit Leinenverdeck gewesen sein, nicht wahr? Denn geschlossene Autos findet man hier im Orient kaum.“

„Ganz recht – mit Leinenverdeck, anschnallbar. – Der falsche Aufseher hat die Malcapier sehr rasch an der Pförtnerloge vorbeigeführt. Beide stiegen ein, und in demselben Augenblick raste das Auto auch schon davon. Die Kinder haben dies mitangesehen.“

„Dies geschah vor einer halben Stunde?“ meinte der Detektivinspektor.

„Ja. Man hat nämlich den echten Aufseher in dem Aktenschrank erst vor etwa zehn Minuten gefunden. Da erst wurde die Flucht der Malcapier offenbar. Ich bin dann sofort hierher geeilt, nachdem ich die nötigen Befehle an sämtliche Polizeireviere und auch nach außerhalb gegeben hatte.“

„Recht so!“ nickte Jobster. „Wir werden das Auto schon fassen. Die gelbe Farbe ist ja so selten und fällt sicher auf. – Entschuldigen Sie schon, Master Harst. Ich muß mich jetzt verabschieden. Ich hoffe, daß wir das Weib in ein paar Stunden haben. Unsere Polizei hier ist gut organisiert. Das erfordert schon der riesige Hafenbetrieb.“

Die beiden Detektive verließen uns.

Harst hatte sie bis in den Hotelflur begleitet, kam nun auf den Balkon zurück, setzte sich und sagte:

„Ich beneide Jobster um seine Hoffnungsfreudigkeit. Was er sich wohl so von der Malcapier und deren Verbündeten denkt?!“ Er lachte leise auf. „Eine Frau wie diese, eine großzügige Verbrecherin, läßt sich so leicht nicht in einer Stadt wie Singapore aufspüren. Ich kenne Singapore von[6] früher her. Das Chinesenviertel hat Straßen, in die sich nachts die Polizei nur mit großem Aufgebot hineintraut; hier gibt es Schlupfwinkel, die kein Polizeiauge entdeckt; hier verschwinden Menschen auf Nimmerwiedersehen zu Dutzenden; hier gibt sich die Elite aller farbigen und weißen Schurken des Ostens ein Stelldichein. Als ich das erste Mal zehn Tage hier weilte – das liegt nun sechs Jahre zurück –, wurden gerade fünfzehn Chinesen und Malaien zum Tode verurteilt und aufgeknüpft. Sie hatten hier im Hafen eines Nachts einen Dampfer mit unheimlicher Geräuschlosigkeit ausgeplündert, nachdem sie die Besatzung im Schlafe ermordet hatten. Das ist so eines der „Nachtstücke“ aus Singapore.“

 

2. Kapitel.

Ein Wiedersehen mit Eugenie Malcapier.

Er nahm eine neue Mirakulum.

„Weshalb schautest du mich vorhin so bedeutungsvoll an?“ fragte ich nun.

„Weshalb?! – Lieber Alter, wenn der brave Jobster ein gelbes Auto sucht, so kann er bis zu seinem seligen Ende suchen!“

„Was heißt das?“

„Nun – die gelbe Farbe, mit denen die Kinder sich das Gesicht beschmierten, weil sie so frisch war, dürfte kaum mehr das Auto zieren.“

Ich verstand sofort.

„Du meinst also, daß der Kraftwagen nur gelb angestrichen wurde, damit er –“

„– ja – nur angestrichen für diese Entführung der Malcapier,“ fiel Harst mir ins Wort. „Es ist also zwecklos, nach einem gelben Auto zu forschen. Man muß die Sache anders anpacken, um Erfolg zu haben. Machen wir uns zum Ausgehen fertig. Ich möchte mal die Pförtnersgattin sprechen, um herauszubringen, ob sie sehr viel Mühe mit dem Reinigen ihrer Kleinen gehabt hat. Lack oder Ölfarbe ist schwerer zu entfernen als Wasserfarbe. Es wird Wasserfarbe gewesen sein. Die kann man zum Beispiel mit einer Gartenspritze leicht und restlos wieder von einem Auto abwaschen.“

Ich habe es schon oft bei der Niederschrift dieser unserer Abenteuer als Liebhaberdetektive bedauert, daß ich den Leser nicht auf jede Feinheit der Geistesarbeit meines Freundes hinzuweisen vermag. Ich möchte aber schon an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, daß Harald Harsts scheinbar so selbstverständliche Erörterung der Frage, welche Art von Farbe für den frischen Anstrich benutzt war, für die weitere Entwicklung der Dinge von außerordentlicher Bedeutung war. –

Wir verließen das Riesenhotel und wandten uns dem nördlichen Stadtteil zu, wo auch der Polizeipalast liegt.

Nur ganz kurz hier einiges unbedingt Notwendige über Singapore. – Am Südende der Halbinsel Malakka, des schmalen Ausläufer von Hinterindien, gibt es eine Anzahl Inseln, von denen die größte Singapore ist. An deren Südostspitze zieht sich die gleichnamige, teilweise ganz modern gebaute Hafenstadt 10 Kilometer weit am Meeresstrande hin. Die Einwohnerzahl beträgt etwa 230 000, darunter nur etwa 4000 Europäer. Der Rest sind Chinesen, Malaien und Inder. Die Stadt ist, wie der ganze Südteil Malakkas, englischer Kolonialbesitz. Singapore ist fraglos der belebteste Hafen des ganzen Ostens, ist die Durchgangstation nach China, Japan, den Südseeinseln und weiter nach den westamerikanischen Häfen. Straßenbahn, elektrisches Licht, riesige Dockanlagen, Riesenhotels, prächtige Parke und dazu der tollste Völkermischmasch der ganzen Erde: Das ist Singapore! –

Es war gegen 8 Uhr abends, als wir vor dem Polizeigebäude einen hellhäutigen Eurasier (Mischling zwischen Europäer und Asiaten) ansprachen, der eine Art Uniform trug. Wir hatten Glück. Es war der Pförtner, der sehr stolz auf seinen englischen Namen Jones zu sein schien.

Harst fragte nach Jobster – zum Schein natürlich. Jones erwiderte, der Inspektor sei soeben im Polizeiauto nach Siglay (Ort nordöstlich von Singapore) gefahren, weil dort ein Kraftwagen gesehen worden sei.

Er lächelte dazu geheimnisvoll, so daß Harst ebenfalls lächelnd und in vertraulichem Tone sagte:

„Also hinter der Malcapier her?!“

Jones trat einen Schritt zurück, musterte uns, grüßte jetzt nochmals und flüsterte pfiffig:

„Master Harald Harst, nicht wahr?“

Harst nickte. „Harst und Schraut, bester Jones. Es steht wohl schon in einer hiesigen Abendzeitung, daß wir in Singapore sind?“

„Freilich – die ganze Geschichte vom Stern von Siam und der Piratenprau habe ich vorhin gelesen.“

„So so. – Sie wissen also, mit wem Sie es zu tun haben, Jones. Ich verpflichte Sie im Namen Inspektor Jobsters zur Verschwiegenheit. – Nur eine Frage: Ihre Kinder haben sich heute mit der frischen Farbe des gelben Autos beschmutzt. War es nur Wasserfarbe?“

„Ja – zum Glück. Sonst hätte meine Frau noch mehr Seife beim Abrubbeln der Rangen verbraucht.“

„Danke, Jones. – Noch etwas: Über diese Farbe sprechen Sie zu niemandem, auch zu Jobster nicht, es sei denn, daß er Sie geradezu fragte.“

„Well, well, Master Harst. Auf mich ist Verlaß.“

Harst reichte ihm eine Banknote. „Da – nehmen Sie nur, Jones. Kaufen Sie dafür neue Seife ein.“

Der Pförtner grinste und wir gingen davon.

„So,“ meinte Harst, „der Anfang wäre gemacht. Jetzt werden wir irgendwo zu Abend essen und dann kommt die nächste Programmnummer.“

„Und die wäre?“

„Hm, was wohl?! – Mein Alter, es wird ein kleiner Einbruch werden – oder so ähnlich, zwecks Besichtigung des Schauplatzes eines Verbrechens, das jetzt alle meine Gedanken in Anspruch nimmt.“

„Ah – der Bungalow Stevenpoles!“

„Ganz recht – derselbe! – Hier in der Nähe muß es eine gemütliche kleine Kneipe geben, wie mir jetzt einfällt. Sie gehört einem Holländer. Dort verkehren zumeist allerhand Originale: Schiffskapitäne, Händler und so weiter: Ich werde die Straße schon finden.“

Sehr bald saßen wir nun in einer verräucherten Gaststube an einem blendend weiß gescheuerten Tisch. Über uns an der Decke hingen eine[7] Menge Schiffsmodelle, die bei jedem Luftzug an ihren Bindfäden lautlos hin und her pendelten.

Jan ten Hoorn, ein Holländer von gut 2½ Zentner Gewicht, bediente uns persönlich, empfahl uns das „echte Nürnberger“ und ebenso ein warmes Abendgericht. Essen und Getränke waren tadellos.

Rechts von uns stand ein großer, runder Tisch: ein Stammtisch, besetzt mit einem Dutzend Europäer, die bereits sehr fidel waren, zumeist Schiffskapitäne. Nach einer Viertelstunde öffnete sich die Tür und stampfend trat ein neuer Gast ein, ein älterer Mann mit fuchsigem Schifferbart, ein Paar vergnügten Schweinsäuglein und – einem Stelzfuß.

Der Stammtisch empfing ihn mit einem förmlichen Geheul.

„He, Tom, – hierher – zu mir!“

Jeder wollte ihn neben sich haben, diesen Tom. Er erfreute sich offenbar großer Beliebtheit.

„Tom Barbaley, der Hausmeister,“ flüsterte Harst.

Ich hatte es mir schon gedacht.

Tom war aber offenbar sehr schlechter Laune, schritt zunächst zum Schanktisch und goß ein halbes Wasserglas Whisky auf einen Zug hinunter. Dann erst kam er an den Stammtisch, setzte sich und knurrte bissig:

„Die Pest! Man hat mich heute von mittag an schön herumgehetzt! Verdammter Witz das! Wenn ich nur den Anstifter wüßte! Einer von Euch ist’s – gebt’s nur zu!“

Allgemeine Stille. Die Kapitäne schauten sich fragend an. Dann meinte einer:

„Tom – was für ’n verdammter Witz war’s denn?“

„Na – die Depesche, die mich nach Bokokang[8] (Stadt an der Bahnlinie Singapore–Johore) rief.“

Tom merkte bald, daß die Stammtischbrüder diese Depesche nicht veranlaßt hatten. Aber er zeigte sich trotzdem sehr zugeknöpft, sagte nur: „Wenn Ihr’s nicht wart, dann geht Euch die Geschichte auch nichts an. Jedenfalls – kriege ich den Kerl raus, der mich so gefoppt hat, dann dreh’ ich ihm das Genick um.“

Das Gespräch am Stammtisch wurde wieder lärmender. Tom war ein großer Zecher vor dem Herrn. Einmal nur hörten wir noch, wie einer der Kapitäne sich nach dem Stande der Ermittlungen über den Mord an Admiral Stevenpole erkundigte und wie Tom erwiderte, indem er verächtlich auflachte:

„Ermittlungen? Die Polizei wird nie einen Schritt vorwärtskommen, wenn sie nicht das beachtet, was ich immer aufs neue behaupte: der Mord muß eine ganz besondere Veranlassung gehabt haben! – Inspektor Jobster hat sich in die Idee verrannt, mein Herr hätte damals nachts sich aus dem Chinesenviertel ’ne galante Begleitung mitgebracht. Alles Unsinn! Wär’s so, dann würde man den Admiral doch wohl beraubt haben! – Ich denke immer, mein Herr wird, wie er das so gern tat, auf eigene Faust am Hafen irgend eine Lumperei aufgedeckt haben, und da werden die, die sich durch ihn in ihrer Sicherheit bedroht fühlten, kurzen Prozeß gemacht haben.“

Der dicke Wirt Jan ten Hoorn stand jetzt gleichfalls am Stammtisch.

„Na – Jobster hat nun ja Unterstützung mitgebracht,“ meinte er. „So ’n Paar deutsche Herren – Gelegenheitsdetektive. Der eine hat ’n berühmten Namen –“

„Harst,“ sagte Tom Barbaley schnell. „In der Abendzeitung steht’s, daß Harst und – Schraut – richtig, Schraut heißt der andere – im Raffles-Hotel abgestiegen sind. Ich halte nichts von den Deutschen, gar nichts!“

Harst beugte sich zu mir hin und flüsterte wieder:

„Tom Barbaley hat mir soeben einen wichtigen Fingerzeig gegeben.“

„Fingerzeig? Wodurch denn?!“ fragte ich ehrlich erstaunt.

„Nachher. – Wir wollen zahlen und verschwinden.“ –

Es war genau 10 Uhr, als wir dann vor der Gartenpforte des Bungalows Stevenpoles angelangt waren.

Das von einer Backsteinmauer umgebene Grundstück lag für sich allein an den Abhängen des Sophia-Hügels, hatte einen großen Garten mit vielen alten Bäumen und zog sich in Terrassen bis in ein Palmenwäldchen hinein. Auf der zweiten Terrasse stand der weiß gestrichene, niedrige Bungalow mit der üblichen, rings um das Haus herum sich erstreckenden, überdachten, offenen Veranda.

Der Mond enthüllte uns genug Einzelheiten der Örtlichkeit, um danach einen Schlachtplan entwerfen zu können. Wir pirschten uns an die hintere Gartenmauer heran, überkletterten sie und schlichen nun auf die beiden rechts an der Mauer auf derselben Terrasse liegenden Wirtschaftsgebäude zu. Zwischen diesen und dem Bungalow lief ein Fahrweg ziemlich abschüssig zur Hauptpforte hinunter. Er war mit weißem Muschelgrand bestreut und endete vor einem schuppenartigen Holzbau. Weiter nach der Straße zu stand das zweite Wirtschaftsgebäude, in dem wohl die chinesischen Diener wohnten. Wir sahen, daß zwei Fenster erleuchtet waren.

Plötzlich erlosch dieser Lichtschein. Harst hatte mich soeben auf einen großen, dunklen Fleck am Boden des Vorplatzes des Schuppens aufmerksam gemacht.

Wir knieten hinter einer großen Tonne, deren Schatten uns genügend verbarg. Die Umgebung war in helles Mondlicht getaucht. Der dunkle Fleck da vor uns hatte merkwürdigerweise ungefähr Ringform. Weshalb Harst ihm irgendwelche Bedeutung beimaß, wußte ich nicht. Ich wollte gerade fragen, als die Tür des Dienerhauses sich öffnete und ein Chinese in weißem Leinenkittel heraustrat, zum Himmel emporblickte und langsam, sich beständig scheu umblickend, auf den Schuppen zu schlenderte. Sein Verhalten verriet, daß er kein reines Gewissen hatte. Dann öffnete er die breite Flügeltür, verschwand im Innern und polterte eine Weile dort herum. Nachher machte er die Tür nur halb zu und ging wieder nach dem Dienerhause zurück, so recht ängstlich und hastig, als ob er soeben etwas Unrechtes getan hätte.

Zehn Minuten verstrichen. Harst hatte sich ganz regungslos verhalten. Jetzt flüsterte er:

„Ich denke, wir wagen’s. Ich möchte mal dort in den Schuppen hinein.“

„Wozu das?!“ warnte ich. „Ich denke, wir wollten das Billardzimmer in Augenschein nehmen.“

„Billardzimmer?! Davon habe ich kein Wort gesagt. Ich erklärte nur: den Schauplatz eines Verbrechens wollte ich besuchen. An den Mord dachte ich dabei nicht, nur an die Entführung der Eugenie Malcapier.“

„Wie – und da suchst Du hier bei Stevenpole nach Spuren?!“

„Allerdings. Und Du würdest es auch getan haben, wenn Du das beobachtet hättest, was Du leider nicht beachtet hast: Tom Barbaleys Äußerungen in der Kneipe! – Strenge Dein Hirn jetzt aber nicht weiter an, mein Alter. Ich sehe schon, Du kommst doch nicht auf das Richtige. – Pirschen wir uns im Bogen von der Seite an den Schuppen heran.“

Dies war nicht schwer. Harst zog jetzt den nur angelehnten Torflügel mit einem Ruck weiter auf.

„Warte hier,“ befahl er kurz. „Kommt jemand, so tritt gleichfalls ein. Aber nur dann, wenn der Betreffende hierher will.“

Er verschwand. Ich lehnte mich an den geschlossenen Torflügel und behielt das Dienerhaus scharf im Auge. Dort waren jetzt wieder zwei Fenster hell.

Die Nacht war köstlich. Gerade vor mir jenseits des Vorplatzes des Schuppens ragte der Riesenstumpf eines vom Blitz getroffenen Rasamala-Baumes über die tropischen Büsche hinweg. Diese Reste des Urwaldriesen waren gut 30 Meter hoch und hatten eine mächtige Dicke. Der Baum mußte unten gut vier Meter Durchmesser haben. Zarte Düfte all jener Tropenpflanzen, die nur nachts ihre Kelche öffnen und ihre Duftwellen ausschicken, umschmeichelten meine Geruchsnerven. Eine Bul-Bul, die indische Nachtigall, schluchzte ganz tief am Boden in den Sträuchern. Frieden und Ruhe atmete die ganze Natur. Oh – man muß indische Nächte kennen, um sie zu lieben.

Da – aus meiner träumerischen Stimmung schreckte mich ein besonderer Ton hinter mir auf.

Ich wurde aufmerksam – mehr noch, wurde mißtrauisch. Das Geräusch war aus dem Schuppen gekommen. – War’s als Geräusch zu bezeichnen? Hatte es nicht vielmehr wie ein unterdrücktes Stöhnen geklungen? Ja – es war kein einzelner Ton gewesen, besann ich mich jetzt, – es waren mehrere ganz besondere.

Unwillkürlich hatte ich bei diesen Gedanken den Kopf nach links gedreht, schaute halb zurückgewandt nun in das Dunkel des Schuppens hinein.

Jäh riß diese Gedankenreihe da ab. Ich konnte jenen Satz nicht zu Ende denken. Ein Neues sprang in meinem Hirn auf, ein Name, hervorgerufen durch das, was jetzt aus der Finsternis da vor mir langsam herauswuchs, erst nur ein heller Fleck, dann ein menschliches Antlitz, – dann das ironisch lächelnde Gesicht Eugenie Malcapiers, matt beschienen von dem eigenartigen Widerschein, den das Mondlicht auf dem weißen Muschelgrand des Vorplatzes hervorrief.

Und – rechts vor diesem hohngetränkten Frauenantlitz etwas Mattblinkendes in Schulterhöhe: ein Revolver, dessen Mündung mir mit dem schwarzen runden Auge der Lauföffnung drohend entgegengrinste.

„Guten Abend, Herr Schraut,“ sagte das rotblonde Weib in etwas gebrochenem Deutsch. „Ich freue mich, Sie hier wiederzusehen. Sie merken wohl schon, daß wir auf Ihre Ankunft vorbereitet waren. Wollen Sie jetzt die Hände auf dem Rücken zusammenlegen – sofort! Es sollte mir leid tun, wenn ich mit dem Finger den Abzug berühren müßte. Ich habe Harst und Ihnen einen weniger angenehmen Tod zugedacht – entsprechend Ihrer unerhört frechen und folgenschweren Einmischung in Dinge, die Sie beide nichts angingen. – Bitte – gehorchen Sie, ohne sich umzudrehen. Ich zähle bis drei –“

Ich wartete nicht einmal das „Eins“ ab. Ich hatte ja keine Wahl. Wir waren hier eben in eine böse Falle geraten.

Im Nu wurden mir dann die Hände von einem unsichtbaren Gegner gefesselt, von dem ich nur den Schatten auf der Tür bemerkte, der sich hin und her bewegte. Gefesselt! – aber auf jene satanische Art, wie ich’s schon recht oft erlebt hatte, nämlich mit dünnem Draht!

Ich war wehrlos. Man warf mir nun eine schwere Decke über den Kopf, führte mich davon. Unter meinen Füßen knirschte der Muschelkies. Ich gab genau acht, wohin man mich brachte. Ich hatte von Harst doch mancherlei gelernt. So entging es mir denn nicht, daß man mich offenbar täuschen wollte. Ich wurde hinten im Park kreuz und quer geführt, sollte wohl glauben, man lege mit mir eine weite Strecke zurück. Wohl eine halbe Stunde dauerte dieser Marsch, der dann irgendwo vor einer Holztreppe endete, deren Zugang nur durch eine einzelne Tür verschlossen gewesen sein konnte.

Die Treppe hatte 18 Stufen. Je tiefer ich stieg, desto deutlicher spürte ich einen feuchten, dumpfen Erdgeruch. Dann – nahm man mir das Tuch ab; dann starrte ich in das blendende Licht einer großen Azetylenlaterne hinein, die auf einem niedrigen Schrank an einer kahlen Bretterwand stand.

 

3. Kapitel.

Ein seltsamer Handel.

Meine Augen vermochten nun die Umgebung mit allen Einzelheiten zu erfassen.

Es war ein niedriger, mit rohen Brettern ausgeschlagener quadratischer Raum von etwa fünf Meter Seitenlänge. Durch ein viereckiges Loch in der Decke lief die schmale Holzstiege hinab. Ein Tisch, drei Holzstühle, ein Bambussessel, der schon erwähnte Schrank und ein Bett hinter einem hohen Wandschirm machten das Mobiliar[9] aus.

Was mir aber weit wichtiger war als all das: dort in dem Bambussessel saß Harst, dem man die Beine mit Draht an die Sesselfüße gebunden hatte.

Er sah matt und verfallen aus, saß ganz zusammengesunken da, hielt den Kopf kraftlos gesenkt. Jetzt begegneten sich unsere Blicke.

Ah – in seinen Augen lag anderes, als er vorzutäuschen suchte! Nur für Sekunden hatte ich in diesen grauen, großen Augen lesen können. Aber diese Sekunden hatten schon genügt! Ich wußte jetzt: Harst war nicht etwa mutlos! Nein – es hatte mir sogar geschienen, als ob sein Blick wie in ironischem Triumph aufleuchtete.

Doch – ich hatte mich in dieser Beziehung wohl geirrt. Zum Triumphieren lag hier wahrlich keine Veranlassung vor. Im Gegenteil: ich hielt unser Leben für ernstlich bedroht! Und – hätten mir Haralds Augen nicht Mut gemacht, so wäre ich wohl fraglos recht niedergeschlagen gewesen, auch innerlich sozusagen, denn äußerlich gab ich mich jetzt genau so wie Harst und spielte den Bedrückten, Ängstlichen und um mein Leben Besorgten.

Außer uns befand sich nur noch unsere Feindin in diesem muffigen, fensterlosen Gelaß. Sie stand leicht gegen den Tisch gelehnt da und legte nun ihren Revolver neben sich auf die Tischplatte. Dann winkte sie mir mit gebieterischer Handbewegung zu.

„Setzen Sie sich dort neben Harst auf den Holzstuhl,“ sagte sie weder freundlich noch unfreundlich, eher mit gemachter Gleichgültigkeit.

Sie trug ein grüngraues Sportkostüm mit fußfreiem Rock, das ihre tadellose Figur voll zur Geltung brachte, und sah sehr fesch aus, was selbst ich anerkannte.

Ich gehorchte. Sie nahm aus einer Glasdose eine Zigarette und rauchte ein paar Züge, schaute dabei nachdenklich vor sich hin. Dann wandte sie sich an Harst:

„Ich brauche wohl nicht mehr zu betonen, daß Sie beide diesen Raum nicht mehr lebend verlassen werden. Ich drohe nie umsonst – nie! Wer so leichtfertig ist, mir hindernd und mich schädigend in den Weg zu treten, tut es auf eigene Gefahr hin. Sie beide sind von mir sogar gewarnt worden. Trotzdem hat jetzt durch Ihre Schuld meines Verbündeten schnelles Schiff, das uns so wertvoll war, (– aha – sie meinte die Piratenprau!) den Untergang gefunden, während mein Bruder gleichfalls durch Sie dem Richter überliefert wurde. Es ist also höchste Zeit, daß so lästige Menschen beseitigt werden.“

Kurze Pause. – Sie schaute uns prüfend an, wollte den Eindruck ihrer Worte feststellen.

Ich blickte nicht auf, tat ganz so, als ob ich uns beide für verloren hielte.

„Ich liebe nun aber meinen Bruder Charles so sehr,“ fuhr die Malcapier lebhafter fort, „daß ich bereit wäre, ihn sozusagen gegen Sie beide auszutauschen.“

Ich hörte neben mir eine Bewegung. Harst hatte sich aufgerichtet. Ich schaute hin. Dann begann er schon zu sprechen.

„Auszutauschen?“ fragte er mit heiserer, belegter Stimme. „Ich kann diesen Vorschlag nur so deuten, daß Schraut und ich Ihren Bruder befreien sollen.“

„Ganz recht,“ nickte die Rotblonde. „Ihnen beiden wird es gelingen, Charles zur Flucht zu verhelfen, der jetzt nach meinem Entweichen doppelt scharf bewacht wird.“

„Und Sie glauben, ich würde auf diesen Vorschlag eingehen?“ meinte Harst scheinbar empört. „Ich bin kein Verbrecher, Eugenie Malcapier, sondern einer, der Verbrecher bekämpft!“

„Oh – Sie werden darauf eingehen! Ich habe ja Zeit. Ich werde Sie hungern und dürsten lassen, und schließlich werden Sie mir doch Ihr Ehrenwort geben, alle meine Bedingungen getreulich zu erfüllen.“

Harst erwiderte nichts.

Die Malcapier langte nach einer neuen Zigarette und rauchte offenbar mit Behagen. Sie kostete das Gefühl voll aus, daß wir uns wehrlos in ihrer Gewalt befanden. So sehr sie sich auch zu beherrschen suchte: in den Tiefen ihrer dunklen Augen schillerten doch der verborgene Haß und die Gier nach Rache.

Ich hatte zuerst nicht richtig zu hören geglaubt, als Harst soeben von diesem merkwürdigen Austausch gesprochen hatte. – Wir sollten Charles Malcapier befreien – wir?! Das war wirklich das tollste, was mir bisher begegnet war! Harst – ausgerechnet Harald Harst sollte einem Menschen zur Flucht verhelfen, der als Genosse von Piraten dem Galgen verfallen war?!

Kein Wunder, daß ich mehr als gespannt darauf war, wie die Erörterung dieses seltsamen „Geschäftes“ sich fortspinnen würde.

Da – die Malcapier fragte jetzt kurz:

„Nun, Herr Harst?“

„Sie unterschätzen uns beide,“ erklärte Harst verächtlich. „Sogar sehr! Eher verhungern wir, als daß wir uns auf einen solchen Handel einlassen.“

Die Malcapier drehte sich um, griff nach einer kleinen Tischglocke und klingelte. Der dünne, schrille Ton des Glöckchens war für meine überreizten Nerven furchtbar. Es gibt Töne, die uns in bestimmter Lage geradezu körperliche Schmerzen verursachen.

Lautlos glitt ein Chinese die Treppe hinab, ein langer, dürrer Mensch in hellgrauem Flanellanzug von europäischem Schnitt. Der Kerl hat das richtige Galgenvogelgesicht. Um seine dünnen Lippen lag ein scheußliches Grinsen wie festgefroren.

Die Malcapier sagte nichts mehr. Der Gelbe hatte offenbar schon vorher genaue Anweisungen erhalten. Er trat auf mich zu, fesselte mir die Unterschenkel an die Stuhlbeine, schnürte mir auch den Oberkörper an die Lehne fest, schob dann Harsts Bambussessel mit einer Kraft, die ich dem Burschen gar nicht zugetraut hätte, hinter meinen Stuhl, so daß wir nun Rücken an Rücken saßen, umschlang unsere Hälse noch mehrfach so eng mit Draht, daß wir die Köpfe zurückbiegen mußten, und rückte den plumpen Holztisch dann so neben die Stühle, daß er nun, nachdem er hinaufgestiegen war, über uns an der Decke irgendetwas befestigen konnte, das die Malcapier ihm in einem Holzkästchen gereicht hatte.

All das spielte sich völlig wortlos ab, wirkte aber gerade deshalb um so bedrohlicher.

Die Malcapier hielt den Blick jetzt dauernd zur Decke emporgerichtet und beobachtete, was der Chinese tat. Plötzlich rief sie dann – jetzt in englischer Sprache:

„Sei vorsichtig! Du weißt, die scheußlichen Tiere sind – geladen!“

Der Chinese hatte vorhin in die Tasche gelangt und einen dicken Lederhandschuh hervorgeholt. Als er nun Malcapier das Kästchen zurückreichte, sah ich, daß er den Handschuh über die rechte Hand gestreift hatte. Er zog ihn jetzt wieder ab.

Da – zufällig hatte ich den Kopf noch mehr zurückgebogen. Meine Augen blieben starr auf etwas haften, das eine Handbreit vor meiner Stirn schwebte.

Es war eine Spinne, gut 2 Zentimeter lang, auf der Unterseite gelb, oben schwarz, mit deutlich sichtbaren Beißkiefern und großen, runden Augen.

Sie hing an einem Zwirnfaden, der ihr um den Einschnitt zwischen Vorder- und Hinterleib geschlungen war. Damit sie an dem Faden nicht hochklettern konnte, war dieser durch ein Loch in ein rundes Glasstück geführt, das durch ein Streichholz am Tieferrutschen gehindert wurde. Diese Glasplatte war nur klein, hatte nur 1½ Zentimeter Durchmesser, so daß der Spinnenleib ein wenig darunter hinwegragte.

Ich ahnte sofort: es konnte nur eine Matsoa-Spinne sein! – An den Bewegungen des Tierchens merkte ich, daß es sich mit aller Kraft zu befreien suchte und sich deshalb in Wut befand. Der Faden pendelte hin und her, zum Glück nicht so weit, daß die Matsoa meine Stirn berührte.

Ich gebe zu: ich habe stets eine heftige Abneigung gerade gegen Spinnen gehabt, eine fast krankhafte Abneigung! Der Gedanke, daß diese giftige Matsoa sich an meiner Stirnhaut festklammern und mich beißen könnte, trieb mir jeden Tropfen Blut aus dem Gesicht. Neben einem ungeheuren Ekel schnürte mir aber auch die Angst die Kehle zu. Gewiß – der Biß der Matsoa sollte für Menschen nicht tödlich sein, aber immerhin leichte Krampfanfälle hervorrufen. Trotzdem trat mir jetzt der kalte Schweiß auf die Stirn. Unwillkürlich bog ich den Kopf noch weiter zurück und – spürte nun Harsts Hinterhaupt: wir saßen nun Kopf an Kopf da! Für mich hatte diese Berührung etwas Beruhigendes. Sie erinnerte mich an Harsts Nähe und daran, daß er uns schon aus weit bedrohlicheren Situationen befreit hatte.

Da – die Malcapier sprach:

„Sie beide dürften diese Spinnen kaum kennen. Man nennt sie hier zu Lande Matsoa. Aber die wenigsten wissen, daß es zwei Arten davon gibt: die eine, die menschliche Wohnungen bevorzugt; die andere, mit gelblicher Unterseite, die hohle Bäume, sumpfige Dickichte und ähnliche düstere Orte liebt. Die Gelehrten kennen nur die harmlosere Haus-Matsoa, da die „gelbe“ Matsoa sehr selten ist. Die gelbe ist aber auch die weitaus giftigere. – Damit Sie beide nun sich selbst davon überzeugen können, wie giftig sie ist, – schauen Sie her!“

Sie nahm den Faden hoch, an dem die für Harst bestimmte Matsoa hing, trat zurück, so daß wir beide nun, die Köpfe etwas wendend, mitansahen, wie sie ein Zicklein, das der Chinese schnell irgendwoher geholt hatte, durch die Matsoa in die Nase beißen ließ. –

Das Zicklein strampelte, schlackerte mit dem Kopf. Aber die Matsoa hielt fest. Schon nach kurzer Zeit – vielleicht einer halben Minute – zuckte das gepeinigte Tier ein paarmal wie im Krampf zusammen, wurde matter und matter und verendete unter schrecklichen Zuckungen.

„Genug!“ sagte Harst da ganz unvermittelt. „Ich bin soeben um vieles klüger geworden! Nennen Sie Ihre Bedingungen, Eugenie Malcapier! Mein Leben ist denn doch wertvoller als das Ihres Bruders!“

Das rotblonde Weib lachte auf.

„Ah – also doch bekehrt, Herr Harst! Ich wußte, daß Sie zu besserer Einsicht gelangen würden!“

„Und wie sehr bin ich dazu gelangt!“ hörte ich Harst antworten, während der Chinese schon die Fäden abriß und die Spinnen wieder in das Kästchen tat.

Dann entfernte der Gelbe auch den Draht von unseren Hälsen und rückte die Stühle so, daß wir wieder nebeneinander saßen.

 

4. Kapitel.

Die „geladene“ Matsoa.

Harsts letzte Bemerkung hatte mich stutzig gemacht, obwohl er sie keineswegs in besonderem Tonfall ausgesprochen hatte. Wer ihn und seine Art aber so gut kennt wie ich, wer Gelegenheit gehabt, sein zumeist so undurchdringliches Gesicht in all den kaum merklichen Veränderungen des Ausdrucks zu studieren, der hätte genau wie ich sofort gesagt, das hinter diesem „Und wie sehr bin ich dazu gelangt!“ mehr steckte, als der Inhalt an sich vermuten ließ, der wäre auch durch jene Spannung der Backenmuskulatur, die Harsts Gesicht noch schmaler machte, aufmerksam geworden.

Ich hatte so den ganz bestimmten Eindruck erhalten, daß Harald hier wieder einmal einen jener fein ausgeklügelten Schachzüge vorbereitete, der den Gegner unbedingt matt setzen mußte. Ich gab daher auch schärfer als bisher auf alles acht, was nun weiter geschah.

Die Malcapier lehnte wieder in nachlässig-sicherer Haltung am Tisch, winkte nun dem langen Chinesen, der denn auch sofort die Treppe hinaufeilte.

Dann begann sie:

„Meine Bedingungen sind folgende: Sie beide geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie erstens: Niemandem verraten, hier überfallen worden zu sein; zweitens: mich und meine Genossen fernerhin ganz unbehelligt lassen; drittens: meinen Bruder Charles möglichst bald und ohne daß auf Sie Verdacht fällt, befreien und ihn genau so wenig verfolgen wie mich. – Das wären meine Bedingungen.“

Harst nickte. „Gut – angenommen, nur mit Ausnahme eines Punktes. Es ist ausgeschlossen, daß ich jetzt, wo ich doch Inspektor Jobster meinen Beistand zugesagt habe, plötzlich mein Versprechen zurücknehme. Dies würde Jobster unbedingt auffallen. Er würde mißtrauisch werden, und die weiteren Folgen sind gar nicht abzusehen. Es liegt also im Interesse beider Teile, daß Sie damit einverstanden sind, daß der Waffenstillstand zwischen Ihnen, Ihrem Bruder, Ihren Verbündeten und uns etwa zwei bis drei Stunden nach der Befreiung Ihres Bruders aufhört. Selbstverständlich verpflichte ich mich auch, inzwischen nicht das Geringste zu Ihrer Verfolgung vorzubereiten. Ich halte mein Wort. Darauf können Sie sich verlassen. – Also – sagen wir drei Stunden nach der Befreiung Ihres Bruders der jetzige Zustand des Kampfes – einverstanden?“

Eugenie Malcapier überlegte lange und schaute Harst wiederholt argwöhnisch an. Aber die Liebe zu ihrem Bruder siegte.

„Nun denn – einverstanden!“ sagte sie endlich. „Ich traue Ihnen, denn ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, Herr Harst.“

Harst und ich gaben nun die verlangte Versicherung ab. Dann löste die Malcapier mit eigener Hand unsere Fesseln.

Wir rieben uns die Handgelenke, standen auf.

„Um etwas noch,“ meinte da unsere rotblonde Feindin. „Sie müssen sich von hier mit verhülltem Kopf wieder wegführen lassen.“

„Gewiß – warum nicht?!“ erklärte Harst.

„Haben Sie schon einen Plan bereit, Charles zu befreien?“ fragte die Malcapier.

Harst lächelte liebenswürdig.

„Gewiß. Die Sache ist ja so einfach. Morgen mittag Punkt 12 Uhr wird Ihr Bruder frei sein. Und von 3 Uhr nachmittags an sind wir wieder Gegner, die sich bis zur Entscheidung bekämpfen.“

Die Malcapier zuckte leicht die Achseln. „In drei Stunden kann man gerade hier in Singapore spurlos verschwinden.“

„Hm,“ machte Harst. „Sie glaubten auch, jetzt spurlos verschwunden zu sein. Aber Sie irrten sich. Ich wußte, daß die chinesischen Diener des toten Admirals Stevenpole Sie entführt hatten, eben mit Stevenpoles Auto, das in dem Schuppen des Bungalows steht und das mit Wasserfarbe gelb angepinselt worden war.“

Die Malcapier hob den Kopf höher. „Ah – sehr interessant! Das ahnte ich doch nicht, daß Sie diesen Trick durchschaut hätten.“

„Ja – ich kann darüber jetzt getrost sprechen – erst wußte ich freilich nur, daß irgend ein Auto gelb angestrichen worden war. Daß es das Stevenpolesche vielleicht sein könnte, erfuhr ich dann aus einem Gespräch in einer Kneipe. – Nicht wahr, Sie haben aus Bokokang an den Hausmeister – wie heißt er doch gleich –?“

„Barbaley – Tom Barbaley!“ half die Malcapier.

„Richtig – also an diesen Barbaley eine Depesche senden lassen, oder aber Ihre Freunde taten dies aus sich selbst heraus, – jedenfalls eine Depesche, die den Hausmeister nach Bokokang lockte, damit Ihre Verbündeten hier über das Auto verfügen konnten. Barbaley äußerte sich sehr empört über diese Fopperei, da er den ganzen Nachmittag in Bokokang nutzlos umherlaufen mußte.“

Die Malcapier lachte. „Ja – es war ein feiner Gedanke! Der Erfinder bin jedoch nicht ich.“

„Ja – deshalb kam ich dann nach dem Bungalow Stevenpoles. Ich wollte das Auto suchen. Ich fand aber die Bestätigung meiner Annahme schon auf dem Vorplatz des Schuppens in Gestalt des ringförmigen nassen Flecks. Dort hat man nämlich das Auto wieder von der gelben Farbe gereinigt.“

„Nein – wie schnell Sie das Richtige herausfinden!“ rief die Malcapier ebenso erstaunt wie beunruhigt. „Sie sind wirklich ein gefährlicher Gegner!“

„Für Leute wie Sie allerdings. – Darf ich mir eine Frage gestatten? – Ich vermute, Sie haben Schraut und mich beobachten lassen und wußten daher, daß wir über die Hintermauer in den Park eindrangen. Deshalb auch die Falle in dem Autoschuppen; deshalb der Chinese, der die Tür halb offen ließ; deshalb dort drinnen die beiden Leute, die mich dann beinahe erwürgten, wobei Sie noch halfen. Sehr zart ging man mit mir nicht um.“

„Hätten Sie sich zur Wehr gesetzt, würde man Sie sofort niedergestochen haben,“ sagte die Malcapier schnell.

„Das ahnte ich. – Der Chinese sollte uns durch sein scheues Benehmen in den Schuppen locken, nicht wahr?“

„Allerdings.“

Damit war diese merkwürdige Unterhaltung abgeschlossen.

Unsere Gegnerin läutete wieder nach dem langen Chinesen. Man legte uns die Decken über den Kopf, knotete sie um den Hals fest und führte uns dann die Treppe hinauf. Die Malcapier hatte meinen rechten Arm umspannt. Der Marsch dauerte mindestens eine halbe Stunde. Dann nahm man uns die Decken ab. Wir standen in einem buschreichen Tale; vor uns der Chinese und das rotblonde Weib.

„Auf Wiedersehen, Herr Harst!“ sagte die Malcapier. – Überlegenes Sicherheitsgefühl verrieten diese Worte, gleichzeitig auch eine versteckte Drohung.

„Auf Wiedersehen – morgen um 4 Uhr nachmittags,“ erwiderte Harst so höflich, als hätte er eine große Dame vor sich.

Die Malcapier und der Chinese machten kurz kehrt und gingen den Pfad, der das Tal durchschnitt, nach der einen Seite zu entlang, wir nach der anderen. Als wir eine kleine Anhöhe erklommen hatten, sahen wir links von uns die Batterien des Forts Canning liegen, das nordwestlich vom Europäerviertel mit seinen Panzertürmen drohend sich erhebt, mitten in die Stadt eingebettet, richtig wie eine Zwingburg.

Harst hielt mir sein Zigarettenetui hin.

„Bediene Dich. – War ganz interessant, dieser Zwischenfall, oder nicht?!“

Ich konnte nun endlich meine Weisheit an den Mann bringen.

„Harald, wenn die Malcapier auch etwas mit dem Morde an Stevenpole zu tun hätte!“ begann ich hastig. „Als ich die Matsoa-Spinne erblickte, dachte ich sofort an die Spinne im Billardzimmer, die nachher verschwunden war.“

„So – so, also da erst dachtest Du an den Mord?! Hm – ich dachte schon daran, als ich den ringförmigen Fleck sah und als mir klar wurde, daß der Chinese uns in den Autoschuppen locken sollte, denn – das waren ja genug Beweise dafür, daß die chinesischen Diener Stevenpoles die Malcapier gut kannten und entführt hatten. Mithin konnte sie auch vielleicht bei dem Morde die Hand mit im Spiele haben. Um nun diese Frage zu klären, lief ich scheinbar blindlings in die Falle. Ich ahnte, was kommen würde. Aber – es sollte kommen! Und ich tat recht daran, uns der Gefahr auszusetzen, sehr unangenehme Stunden durchzumachen. Daß dieser Handel, dieser Austausch, abgeschlossen werden würde, ahnte ich ebensowenig wie die Bedrohung durch die beiden „geladenen“ gelben Matsoas. Ich wollte die Malcapier im Gespräch so etwas aushorchen. Ich brauchte es nicht: sie verriet sich selbst! – Du weißt ja durch Jobsters Schilderung der Einzelheiten des Mordes, daß die Polizei niemals auch nur das Allergeringste davon, daß eine Matsoa-Spinne und das Gift dieser Tiere bei dem Verbrechen eine bisher unaufgeklärte Rolle spielt, hat in die Öffentlichkeit dringen lassen. Die Zeitungen und das Publikum glauben noch heute die Geschichte von dem vergifteten Dolch oder Messer, die Jobster erfunden hat. Daß auch die Malcapier – und nun gib acht, mein Alter! – ebenfalls in keiner Weise ahnt, daß die Behörden in Wahrheit das Rätsel dieser Matsoa-Spinne, die Tom Barbaley sah und die nachher verschwunden war, zu lösen trachten, dies geht mit aller Bestimmtheit aus der Art hervor, wie man mich zu diesem Handel preßte: eben durch eine gelbe Matsoa. Niemals hätte die Malcapier diese Art gewählt, uns gefügig zu machen, wenn sie vermutete, daß Jobster bei diesem Morde einer von der Decke des Billardzimmers herabhängenden Matsoa eine gewisse Bedeutung beimißt. – Kurz das alles zusammengefaßt: Stevenpoles chinesische Diener sind Vertraute der Malcapier; Stevenpole wird ermordet, und mit dem Morde hängt eine Matsoa oder doch Matsoa-Gift irgendwie zusammen; wir beide aber werden gleichfalls durch Matsoas bedroht. Da ist also nun die Verbindung zwischen der Malcapier und dem Morde gegeben: die Matsoa-Spinne stellt diese Verbindung her!“

Er schwieg sekundenlang. Wir bogen bereits in eine der hell erleuchteten Hauptstraßen ein.

„Und nun das Belastendste für die Malcapier!“ fuhr er fort und schob seinen Arm in den meinen. „Sie sprach von einer „geladenen“ Matsoa, als sie den Chinesen ermahnte, ja vorsichtig zu sein beim Hantieren mit den Spinnen. – Geladene Matsoa! Begreifst Du, was das bedeutet? – Nun, es kann nur eins bedeuten, und dies beweist die ganze Ruchlosigkeit dieses Weibes und auch die Art des Todes des Admirals: Man hat die Beißkiefern der Matsoas noch mit Gift getränkt, eben einem Gift, das ganz dem dieser Spinnen entspricht! – Fürwahr, es ist das eine so ungeheuerliche verbrecherische Erfindungsgabe, wie man sie selten antreffen wird!“

„Also starb der Admiral durch eine geladene Matsoa?“ fragte ich schnell.

„Ja – er starb auf diese Weise. – Damit für heute genug, mein Alter. Fahren wir in unser Hotel und – verschlafen wir dann zum Schein die Verabredung mit Jobster für morgen früh, wo ich doch so ein kleines Experiment anstellen wollte.“

 

5. Kapitel.

Harst’s Blätter-Trick.

Am nächsten Vormittag neun Uhr. Wir und Jobster sitzen wieder auf unserem Balkon. Harst hat sich soeben bei dem Inspektor entschuldigt, weil wir verschlafen haben, und hat hinzugefügt, für das Experiment sei es nun zu spät.

Jobster erzählte nun, daß Stevenpoles drei Chinesen seit gestern abend verschwunden sind; Barbaley hätte sie bei seiner Rückkehr aus der Kneipe nicht mehr angetroffen.

Harst reichte Jobster ein Streichholz zur Zigarette und sagte so nebenbei:

„Ich möchte eigentlich mal dem Charles Malcapier so etwas auf den Zahn fühlen. Vielleicht kennt er das Versteck seiner Schwester, die ja noch in Singapore sein kann; vielleicht kann ich aus ihm wenigstens ein paar unvorsichtige Bemerkungen herauslocken. Ich habe da so eine Idee, die vielleicht zum Ziele führt. Ich werde mich verkleiden, als alter bärtiger Inder, werde dem Gefangenen dann eine gut erfundene Geschichte auftischen, als käme der Inder im Auftrag der Eugenie und als hätte er den Aufseher bestochen. Sie müssen mich also in Malcapiers Zelle hineinlassen und Befehl geben, daß ich ungestört mit dem Gefangenen sprechen kann.“

Jobster war sofort einverstanden, schrieb einen Zettel aus und besorgte nachher auch für Harst ein sehr echt aussehendes Kostüm.

Mittags um ½12 betrat dann ein bärtiger, schmieriger Hindu mit Zottelbart und schmutzigen Turban das Polizeigebäude. Der Pförtner und die Aufseher waren bereits von Jobster eingeweiht worden. Der Inder wurde zu Malcapier in die Zelle eingelassen und dort eingeschlossen.

Ich selbst setzte mich in die Vorhalle auf eine der Bänke und wartete voll Ungeduld auf den Ausgang dieses Abenteuers.

Harst, der einem Verbrecher zur Flucht verhalf! Das war neu, das war unerhört! Und wie würde all das wohl enden?!

Ich befand mich in größter Unruhe. Ja, wenn Harald mir wenigstens erklärt hätte, wie er sich alles Weitere dachte! Aber – kein Wort hatte er darüber geäußert, nur mit einem Siegerlächeln gemeint: „Warte ab – es wird alles gut werden!“

Ich saß wie auf Nadeln. Jobster – der Ahnungslose! … war wieder hinter einem gelben Auto her, das im Hafenviertel gesehen worden war. Er wußte nichts, gar nichts von dem, was wir inzwischen erlebt und daß wir das Auto längst gefunden hatten.

Rechts von mir an der Wand hing eine große runde Uhr mit Schlagwerk. Vorhin hatte sie dreiviertel geschlagen. Jetzt waren’s nur noch zwei Minuten bis zwölf. Würde es Harst gelingen, Charles Malcapier so herauszuputzen, daß der Aufseher diesen für denselben Inder hielt?! Und würde der Beamte nicht merken, daß ein anderer Gefangener in der Zelle zurückblieb?

Da – die Uhr begann zwölf zu schlagen.

Und in demselben Augenblick öffnete sich die große Pendeltür und der Inder erschien, schritt dem Ausgang zu und ging, ohne mich zu beachten, auf die Straße hinaus.

Ich hatte scharf hingeschaut. Ich sah, daß es nicht Harst war. Es war Charles Malcapier, den Harst glänzend zurechtgeschminkt hatte mit den mitgenommenen Hilfsmitteln.

Und wieder schlichen die Minuten. Was würde nun geschehen? –

Halb eins war’s jetzt. Da – ein Beamter stürzte durch die Pendeltür – auf mich zu.

„Master Schraut?“ fragte er.

„Ja. Was ist –“

„Oh – Master Harst will Sie sprechen! Eine ganz verdammte Sache ist da passiert. Kommen Sie –“

Dann traten wir in eine unverschlossene Zelle ein. Harst saß scheinbar sehr matt am Tisch, – in Malcapiers Anzug!

„Schraut,“ sagte er langsam, „der Kerl hat mich plötzlich bei der Kehle gepackt und betäubt, hat dann mein Kostüm angelegt, mich aber hier auf den Stuhl gesetzt und halb über den Tisch gelegt, mit dem Kopf auf den Armen. Der Aufseher glaubte, der Gefangene weine aus Reue. Und – so ist der Lump entwischt.“

Diese Erklärungen waren für jeden schärfer Überlegenden reichlich unklar. Aber die Beamten hatten Harald Harst vor sich und schöpften auch nicht den geringsten Verdacht.

Ich fuhr mit Harst, der noch immer den Halbtoten vortäuschte, ins Hotel zurück, wo er sich ins Bett legte.

Er lachte dabei. „So entgehe ich allen Fragen Jobsters am besten,“ meinte er. „Wenn Jobster kommt, sagst Du, ich hätte gewünscht, vor drei Uhr nicht gestört zu werden. Um drei sollen Jobster und Galling sich hier wieder einfinden.“

Jobster erschien sehr bald. Er war so aufgeregt, daß er mir ordentlich leid tat. Ich tröstete ihn. „Harst wird die Sache schon wieder einrenken. – Also um drei Uhr mit Galling – auf Wiedersehen!“ –

Die beiden Erwarteten erschienen ganz pünktlich. Harst war bereits zum Ausgehen fertig angezogen. Er reichte den Gästen die Hand, sah dann nach der Uhr, sagte:

„So – die Zeit ist abgelaufen. – Ich möchte Ihnen beiden in aller Kürze erklären, was wir gestern abend erlebten und welchen Handel ich einging.“

Jobster und Galling machten sehr ungläubige Gesichter. Der Inspektor rief dann:

„Aber um alles in der Welt, wie konnten Sie sich nur auf diesen Austausch einlassen, Master Harst! Das ist ja Gefangenenbefreiung – ist strafbar! So leid es mir tut – ich muß gegen Sie Anzeige erstatten!“

Harst schlug Jobster leicht auf die Schulter. „Wetten, daß Sie es nicht tun werden?! – Wir werden nämlich beide Malcapiers sogleich festnehmen, denn ich weiß, wo sie sich verborgen halten: dort, wo wir die „geladenen“ Matsoas kennen lernten – in dem muffigen, fensterlosen Keller!“

Diese Bemerkung interessierte mich aufs höchste. Hatte ich mir doch selbst schon wiederholt die Frage vorgelegt, wo sich dieser geheime Raum befinden könnte.

Harst blickte mich jetzt an. „Weißt Du Bescheid, mein Alter?“ fragte er.

„Nein! Ich glaube aber, dieser Raum befindet sich irgendwo im Parke Stevenpoles.“

„Stimmt – und zwar dort, wo ich gestern abend, als wir dorthin geführt wurden, mit den gefesselten Händen von den Sträuchern Blätter abriß und diese erst fallen ließ, als ich merkte, daß man irgend eine Tür oder dergleichen vor mir öffnete. Da, wo die Blätter halb zusammengeballt liegen, ist der Eingang zum Versteck.“

„Verdammt feiner Gedanke!“ brummte Galling. –

Dann brachte ein Auto uns sowie zwei weitere Detektive nach dem Bungalow Stevenpoles. Tom Barbaley zeigte sich wenig liebenswürdig. – „Ich weiß, Sie schätzen die Deutschen nicht sehr!“ lächelte Harst. „Vielleicht lernen Sie anders denken.“

Wir begannen den Park zu durchsuchen. Aber Harst rief uns bald wieder zusammen, führte uns vor den abgestorbenen, der Krone beraubten Rasamala-Baum, deutete auf den Boden, und – da lag ein loser Ballen Blätter.

„Der Baum ist der Zugang,“ flüsterte er. „Er ist hohl, und ein Teil des Stammes bildet die tadellos versteckte Tür.“

Nach einigem Suchen fanden wir sie. In wilder Hast stürzten dann die Detektive die Treppe hinab.

Unten Schüsse – laute Rufe.

Dann kam Jobster zu uns nach oben.

„Charles Malcapier und zwei der Chinesen sind tot. Auch einer von uns hat einen Schulterschuß,“ berichtete er. – Man brachte Eugenie Malcapier mit Handschellen gefesselt herauf, ebenso noch zwei Chinesen.

„Ins Billardzimmer!“ sagte Harst jetzt und schaute das schöne Weib scharf an. – Sie erbleichte auffällig.

Galling mußte dann auf eine Trittleiter vor dem Billard steigen und eine der mitgebrachten Matsoas von der Decke an ihrem eigenen Spinnwebfaden herablassen – so wie man dies wohl mal als Kind mit Spinnen getan hat, die dann immer mehr Faden aus ihrer Drüse hergeben müssen.

Nun stellte Harst Tom Barbaley an die Tür. „Bitte, schauen Sie genau nach der hängenden Spinne hin!“ sagte er. „Besinnen Sie sich ganz genau: sahen Sie damals morgens den Spinnwebfaden deutlicher als jetzt, wo man ihn doch hier von der Tür aus überhaupt nicht wahrnimmt?“

„Ja – ich sah ihn so ganz deutlich!“ erklärte Barbaley sofort.

„So – dann war’s eben kein Spinnwebfaden, sondern ein Zwirnfaden, an dem die Matsoa hing!“ meinte Harst und musterte die Malcapier durchdringend. „Wollen Sie jetzt gestehen, daß Sie den Mord veranlaßt haben?“ fragte er sie.

Sie zuckte nur die Achseln.

Harst kletterte nun auf die Trittleiter, untersuchte die braun lackierte Holzdecke gerade über dem Billard, rief plötzlich: „Ah – ein Astloch, in dem der Ast sich nach oben herausschieben läßt!“

Er kam wieder die Leiter herunter, lehnte sich an das Billard, sagte zur Malcapier: „Ich durchschaue jetzt alles. – Stevenpole pflegte am Hafen herumzuspionieren und wird dabei vielleicht auf die Piratenprau aufmerksam geworden sein, die gerade dort ankerte und die jetzt der Stern von Siam gerammt und zerstört hat. Sie, Eugenie Malcapier, waren die Verbündete des Besitzers der Prau. Das ist ja längst erwiesen. Sie und die Diener des Admirals machten dann gemeinsame Sache. Stevenpole sollte schnell sterben, damit er nichts verriete, aber auf recht geheimnisvolle Art. Ich behaupte nun, daß man ihn hier im Zimmer überfallen, mit einer Decke halb erstickt und dann auf das Billard gelegt hat, worauf man ihm den Hals ritzte, damit das Gift der Matsoa schneller wirkte. Oben vom Hausboden wurde eine „geladene“ Matsoa durch das Astlochs hinabgelassen. Aber ihr Biß mag nicht genügend gewirkt haben. Gegen Morgen regte Stevenpole sich, und da wurde eine zweite Matsoa, auch geladen, noch schnell benutzt, um ihn völlig zu töten. Hierbei überraschte Barbaley die Täter, sah die Spinne, sah das verzerrte Gesicht, eilte davon. Die Matsoa aber wurde schnell hochgezogen und konnte deshalb nirgends gefunden werden. – So erhielt der Tod Stevenpoles etwas Rätselhaftes, etwas geradezu Unerklärliches. – Wollen Sie noch weiter leugnen, Eugenie Malcapier?!“

Sie leugnete. Aber einer der chinesischen Diener gestand nun alles ein. Harsts Kombinationen wurden so in allen Punkten bestätigt. –

Das Geheimnis dieses seltsamen Mordes war kein Geheimnis mehr. – Tom Barbaley drückte Harst die Hand. „Entschuldigen Sie, Master, – ich bin bekehrt jetzt! Sie sind uns Engländern doch über!“ –

Der Leser mag nun selbst entscheiden, ob Harst in diesem Falle nicht wirklich Bewundernswertes geleistet hat. Ich selbst halte dieses Problem für eins der vielseitigsten und merkwürdigsten, das[10] Harald je gelöst hat.

Was aus Eugenie Malcapier wurde, erzähle ich im folgenden Band:

 

Eine leere Streichholzschachtel.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „Sie“ ergänzt.
  2. „Tschi Makra“ / „Tschi-Makra“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Tschi Makra“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Käpten“.
  4. „Matsoa-Gift“ / „Matsoagift“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Matsoa-Gift“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „dieses“.
  6. In der Vorlage steht: „vom“.
  7. In der Vorlage steht: „ein“.
  8. In der Vorlage steht: „Longkonk“. Gemeint ist aber „Bokokang“, wie es auch weiterhin im Text durchgehend verwendet wird. Daher geändert auf „Bokokang“. Longkonk ist übrigens ein Mahagonigewächs mit eßbaren Früchten. Siehe auch Wikipedia: Lansibaum.
  9. In der Vorlage steht: „Mobilar“.
  10. In der Vorlage steht: „daß“.