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Eine leere Streichholzschachtel

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 31

 

Eine leere Streichholzschachtel

 

In die Zeit unseres Aufenthaltes in der hinterindischen Hafenstadt Singapore fällt auch unser Abenteuer mit der leeren Zündholzschachtel. Ich will es an dieser Stelle einfügen, obwohl es mit unserem Kampfe gegen Eugenie Malcapier, unsere rotblonde Feindin, nur lose zusammenhängt. Immerhin beleuchtet es die verbrecherische Vielseitigkeit dieses schönen Weibes noch heller und gibt dem Leser eine interessante Ergänzung des Charakterbildes dieser fraglos hochintelligenten Frau.

Daß wir in Singapore im Raffles-Hotel abgestiegen waren, habe ich bereits im vorigen Abenteuer erwähnt. Nach der Verhaftung Eugenie Malcapiers im Parke des Admirals Stevenpole saßen wir abends im Speisesaale des Hotels mit Detektivinspektor Jobster zusammen und feierten ein wenig unseren „Sieg“ über unsere schlaue Gegnerin.

Harst hatte Sekt bestellt. Als der Kellner die eisgefüllten silbernen Kühler und den dazugehörigen Dreifuß brachte, reichte er Harst gleichzeitig eine Visitenkarte und erklärte:

„Master Boorstetten läßt höflich anfragen, ob –“

Harst winkte schon ab.

„Sagen Sie Master Boorstetten, ich würde mich freuen, ihm helfen zu können.“

Der eingeborene Kellner verbeugte sich stumm und verschwand.

Harst wandte sich an Jobster, der ihn etwas erstaunt ansah.

„Ich kenne diesen Boorstetten noch nicht persönlich, hörte auch seinen Namen soeben zum ersten Male. Trotzdem weiß ich, daß es ein Mann in den Sechzigern mit leicht ergrautem Vollbart und von schlanker Figur ist, etwas über Mittelgröße und ein leidenschaftlicher Zigarettenraucher – wie ich. Er lebt in sehr guten Verhältnissen, gibt viel auf tadellose Kleidung und hat irgend etwas auf dem Herzen, das er mir vortragen möchte.“

Jobster nickte. „Mit dieser Beschreibung Boorstettens haben Sie recht. Ich möchte aber gern wissen –“

„– woher ich all diese Weisheit geschöpft habe,“ vollendete Harst lächelnd. „Nun, sehr einfach. Boorstetten, der übrigens Holländer von Geburt sein dürfte, saß bis vor drei Minuten etwa noch drüben an einem kleinen Tischchen, das Sie, bester Jobster, und Freund Schraut jedoch von Ihren Plätzen nicht sehen können. Er schaute nun so häufig hier zu mir hinüber und tat dies in einer so diskreten und doch auch wieder so versonnen-unbewußt-aufdringlichen Art, daß es wirklich nicht schwer war, in ihm einen Klienten zu wittern, der sich mit seinem Anliegen nicht so recht an mich herantraute. Er rauchte sechzehn Zigaretten in nervöser Hast und trank sich ebenso hastig Mut zu. Dann erhob er sich schnell und ging unserem Kellner nach. Es war daher wirklich nicht schwer, auf die Vermutung zu kommen, er würde dem Kellner eine Visitenkarte oder einen Brief mitgeben. Die Karte kam mir also keineswegs überraschend. – Kennen Sie Boorstetten persönlich, lieber Jobster?“

„Nein. Er lebt sehr zurückgezogen, besonders nach dem Tod seiner Frau, die er unendlich geliebt haben soll. Sein hiesiges Exportgeschäft hat er schon vor Jahren verkauft. Er soll vielfacher Millionär sein. Seine Besitzung auf der Blakang-Insel sei das reine Paradies, hat man mir erzählt.“

„Hat er einen Sohn?“ fragte Harst so überstürzt, daß ich erstaunt aufblickte.

„Nicht daß ich wüßte,“ erwiderte Jobster.

Diese Frage Harsts, ganz besonders aber die hastige Art, in der er sie stellte, fiel mir auf. – Wie kam er gerade auf die Frage? Hätte er sich erkundigt, ob Kinder vorhanden seien, dann wäre mir dies in keiner Weise aufgestoßen. Aber – was interessierte es ihn, ob Boorstetten einen Sohn hatte?!

Ich konnte diesen Gedanken jetzt nicht weiter nachhängen, denn der Erwartete trat bereits an unseren Tisch heran.

Wir standen auf. Nachdem die gegenseitige Vorstellung erledigt war und wir wieder Platz genommen hatten, begann der Holländer leicht verlegen:

„Ich muß Sie zunächst um etwas Nachsicht bitten, Master Harst. Ich behellige Sie hier vielleicht mit etwas so Geringfügigem, daß Sie –“

Harst unterbrach ihn aufs liebenswürdigste.

„Oh, da seien Sie ganz außer Sorge, Master Boorstetten. Ich helfe jedem gern. Wer wie ich aus Liebhaberei Detektiv ist, übernimmt jeden Fall. Außerdem – ob etwas, das in mein Fach schlägt, geringfügig ist, kann man auf den ersten Blick nie sagen. – Darf ich Ihnen ein Glas Sekt einschenken? Ihre Nerven sind recht angegriffen, Master Boorstetten. Wenn ich mir einen wohlgemeinten Rat erlauben darf: Rauchen Sie weniger Zigaretten! Das nervöse Flattern Ihrer Augenlider und Hände hat bereits einen bedrohlichen Grad erreicht. Auch Ihre Gesichtsfarbe sollte Sie warnen.“

Der Holländer nickte. „Ja, ich bin mit den Nerven völlig herunter. Doch daran sind nicht die Zigaretten schuld. Vor einem halben Jahre –“ – seine Stimme vibrierte – „starb meine Frau, mit der ich überaus glücklich lebte. Seitdem geht es mit mir bergab.“

Er seufzte und starrte vor sich hin. Ich bemerkte, daß selbst seine Wangenmuskeln dauernd zuckten.

Wir schwiegen. Boorstetten seufzte abermals, nahm seinen Sektkelch und trank uns mit einer Verbeugung zu.

„Es handelt sich um meine Frau,“ erklärte er dann, indem er wieder auf das Tischtuch stierte. „Sie starb an Herzschwäche. Ich ließ sie im Parke meiner Besitzung auf der Blakang-Insel in einem uralten, aber noch gut erhaltenen kleinen Hindu-Tempel bestatten. Der Sarg, aus einem der Fäulnis nicht ausgesetzten Holze gefertigt, hat im Deckel ein Glasfenster gerade über dem Kopfe der mir so teuren Toten. Ich bin so oft dort in jenem Tempel. Man kann das Gesicht durch die Glasscheibe ganz deutlich erkennen. Und – dieses Gesicht –“ – wieder zitterte seine Stimme vor innerer Bewegung – „ist noch völlig unverändert, obwohl doch hier in Indien, besonders noch auf einem vom Meere umspülten Inselchen, jede Leiche sehr schnell der Verwesung anheimfällt.“

Harst beugte sich etwas über den Tisch und fragte leise:

„Sie glauben, Ihre Gattin sei keines natürlichen Todes gestorben?“

Boorstetten erwiderte zögernd:

„Wer sollte an ihrem Tode wohl ein Interesse gehabt haben?! Sie war die Güte selbst. Unsere Dienerschaft hing an ihr mit rührendster Treue. Sie hatte überall nur Liebe – überall.“

„Bitte – seien Sie ganz offen, Master Boorstetten,“ meinte Harst eindringlich. „Sie hegen doch fraglos irgend einen Verdacht.“

„Verdacht?! – Das ist zu viel gesagt. Nur – nur, meine Frau war so gesund, ist nie krank gewesen. Sie ist in den Tropen geboren. Sie war die einzige Tochter des Majors Chartring von der indischen Kolonialarmee. – Und dann, – eben weil sich die Leiche so unverändert hält. Man findet dies hier in unserem Seeklima so selten –“ Er schaute Harst jetzt frei an. „Wirklich – von Verdacht will ich nicht sprechen, obwohl –“

„Gut – ich verstehe Sie schon, Master Boorstetten,“ sagte Harst freundlich. „Sie halten es trotz aller Unwahrscheinlichkeit für möglich, daß Ihre Gattin an einer Vergiftung gestorben ist und daß gerade dieses Gift den Leichnam konserviert.“

Der Holländer nickte schwach. „Ja – zuweilen kommen mir solche Gedanken.“

„Deren Berechtigung ich nachprüfen werde,“ erklärte Harst nun weit lebhafter als bisher. „Deshalb auch einige Fragen, Master Boorstetten. – Wollen Sie mir bitte angeben, welche Personen zu Ihrem Haushalt gehörten, als Ihre Gattin starb?“

„Unser Heim liegt, wie ich schon erklärte, auf einer Insel, Master Harst. Auf dieser gibt es außer einem kleinen Fischerdörfchen an der Südküste nur noch eine einzige Besitzung, die einem Europäer gehört. Der größte Teil des Inselchens ist mein Eigentum. Unsere Dienerschaft besteht aus zehn Indern. Diese sind seit vielen Jahren bei uns gewesen. Für jeden einzelnen sage ich gut. Im übrigen waren meine Frau und ich allein. Kinder haben wir nie gehabt.“

Ich bemerkte jetzt, daß Harst den Holländer auffallend scharf, wenn auch ganz heimlich, beobachtete.

Der niederländische Volksstamm zeichnete sich ja durch ein gewisses Phlegma aus. Man findet selten einen Holländer, der einen nervösen Eindruck macht. Eine behagliche Bedächtigkeit in allem, ganz verschieden von der kühlen Gemessenheit des Engländers, läßt die Niederländer mit Recht als angenehme Gesellschafter gelten.

Boorstetten dagegen wirkte auf jeden, der mit ihm zusammen war, notwendig aufregend. Sein fahriges Wesen, das nervöse Spiel seiner Hände, der unruhige Blick und das Gesichtszucken steckten mit der Zeit fast an. Unwillkürlich wurde man dadurch selbst nervös und mußte sich gewaltsam dazu zwingen, nicht ebenfalls in dieselbe krankhafte Aufgeregtheit zu verfallen.

Ich konnte nur vermuten, daß Harst Grund zu haben glaubte, Boorstetten irgendwie zu mißtrauen. Dieser wurde daher auch von mir jetzt mit einer Aufmerksamkeit bedacht, die, wenn der Holländer sie gespürt hätte, ihn fraglos veranlaßt haben würde, sich mehr zusammenzunehmen. Gerade durch dieses Belauern Boorstettens kam mir dann sehr bald der Gedanke, daß ein Mann durch die Trauer um den Verlust seiner Frau wohl in den seltensten Fällen so außerordentlich nervös werden dürfte. Man erwartet nach einem solchen Verlust doch weit mehr eine tiefe Niedergeschlagenheit und müde Gleichgültigkeit. – Sollte es etwa das Gewissen sein, das den Holländer derart beunruhigte?! Sollte gar er selbst an dem Tode seiner Gattin irgendwie die Schuld tragen?! – Mir erschien dies aus dem sehr einfachen Grunde undenkbar, weil Boorstetten dann doch niemals gerade einen Harald Harst darauf aufmerksam gemacht haben würde, daß die Leiche merkwürdiger Weise nicht in Verwesung überging. Weshalb wohl sollte er sich überhaupt an Harald gewandt haben, wenn er wirklich dessen feines Spürtalent zu fürchten hatte?! Das wäre ja geradezu widersinnig gewesen!

Anders hätte die Sache gelegen, wenn hier in Singapore etwa Gerüchte aufgetaucht wären, daß bei dem Tode der Frau Boorstetten nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Dann hätte Boorstetten vielleicht dies Gerede dadurch zum Schweigen bringen wollen, daß er sozusagen durch Harst feststellen ließ, diese Gerüchte entbehren jeder Begründung, wobei er eben fest darauf baute, auch Harst würde nichts Neues über diesen Todesfall ermitteln.

Da jedoch von einem solchen Gerede Inspektor Jobster doch fraglos Kenntnis gehabt hätte und da Jobster wieder nichts derartiges uns gegenüber angedeutet hatte, mußte man diese Annahme fallen lassen.

Es blieb mithin die unerklärliche Tatsache bestehen: Ein Mann, dessen Benehmen sehr seltsam war und auf ein schuldbeladenes Gewissen hindeutete, rief Harst um Hilfe an und zwar in derselben Angelegenheit, die allein dieses Mannes Schuldbewußtsein veranlaßt haben konnte. –

All dies war mir blitzschnell durch den Kopf geschossen. Ich als Privatsekretär und Freund Harald Harsts hatte mir im Laufe der Jahre unseres Beisammenseins nun doch eine gewisse Denkfertigkeit angeeignet. Es gibt ja auch ein Training des Gehirns, wie es ein solches des Körpers gibt.

Inzwischen hatte Harst an den Holländer die nächste Frage gerichtet.

„Master Boorstetten, wird der zum Mausoleum jetzt umgewandelte Hindu-Tempel in Ihrem Parke stets verschlossen gehalten?“

„Ich habe für den Tempel ein schmiedeeisernes Tor mit einem Kunstschloß anfertigen lassen. Dieses Tor ist nur mit dem Schlüssel zu öffnen, den ich in Verwahrung habe. Einen zweiten Zugang gibt es nicht. Der Tempel ist aus dicken Steinquadern errichtet, während eine vorspringende Felsenkanzel eines schroffen Abhangs, an den das kleine Heiligtum sich anlehnt, das Dach bildet. Das ganze Bauwerk ist sehr eigenartig und ebenso stimmungsvoll in seiner Gesamtwirkung.“

„Danke. – Dann werden Sie noch heute nach Ihrer Heimkehr, wenn ich bitten darf, den Schlüssel unter einen Stein gerade vor den Eingang des Tempels legen, Master Boorstetten. Ich habe nämlich die Absicht, entweder schon in dieser oder doch in der folgenden Nacht den Tempel zu besichtigen. Ich könnte dies ja auch ganz offen in Ihrer Gegenwart tun. Aber bei einem noch so völlig ungeklärten Fall wie diesem, wo man noch nicht einmal weiß, ob es wirklich etwas zu untersuchen gibt, bin ich stets vorsichtig und arbeite lieber in aller Heimlichkeit. Deshalb wäre es auch gut, wenn Sie jedermann gegenüber verschweigen wollten, was wir soeben vereinbart haben und noch vereinbaren werden. – Zunächst eine weitere Frage. Kann man den Sarg Ihrer Gattin ohne Werkzeuge öffnen?“

„Ja. Der Deckel wird nur durch kunstvolle Flügelschrauben festgehalten. – Aber – wollen Sie etwa die Leiche näher untersuchen, Master Harst?“

„Nur, wenn es unbedingt nötig ist.“

Boorstettens Hände flatterten jetzt vor Nervosität.

„Aber – aber, läßt sich das denn nicht vermeiden,“ stammelte er. „Der Gedanke ist mir so unendlich peinvoll, daß fremde Hände das Teuerste berühren, was ich auf Erden besaß.“

Aha, dachte ich, er beginnt nun doch Haralds Einmischung zu fürchten! Er hat sich den Verlauf dieser Hilfsaktion harmloser vorgestellt.

„Ich verspreche Ihnen, den Inhalt des Sarges nicht zu berühren,“ hatte Harst bereits erwidert.

Der Holländer atmete erleichtert auf. Harald aber warf mir heimlich einen Blick zu und fuhr fort: „Sprechen wir jetzt von harmloseren Dingen. Sie rauchen nun schon die zwölfte Zigarette, Master Boorstetten. Seien Sie doch verständig. Sie ruinieren sich Ihre Nerven ja auf diese Weise in kurzem gänzlich.“

Boorstetten zuckte die Achseln. „Was liegt daran?! Ich betäube mich noch am leichtesten durch den Rauch dieser leicht parfümierten Zigarettensorte, mich und meinen Schmerz um den Verlust Ellinors. Ach – Sie haben keine Ellinor zum Weibe besessen, Master Harst! Wenn ein Mann von über fünfzig Jahren das große Glück gehabt hat, ein so engelhaft schönes Wesen wie Ellinor Chartring heimführen zu dürfen, wenn dann –“ Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Er war scheinbar wieder ganz in seine trüben Erinnerungen versunken und stierte aufs neue düster vor sich hin. – Ich jedoch glaubte dieser Trübsal nicht mehr. Dieser Mensch war ein abgefeimter Heuchler, nichts weiter!

Bereits eine Viertelstunde später verabschiedete sich Boorstetten. – „Ich darf meinen Motorbootführer nicht länger warten lassen,“ meinte er. „Der brave Hindu ist nicht daran gewöhnt, daß ich so unsolide hin. Es ist bereits zehn Uhr, und bevor ich daheim bin, vergeht noch eine Stunde. Wann sehe ich Sie wieder, Master Harst?“

„Das hängt von den Umständen ab. – Gute Nacht. Glückliche Heimfahrt.“

– – – – – – – –

Wir waren mit Inspektor Jobster allein am Tische. Boorstettens schlanke Gestalt verschwand gerade hinter der Pendeltür des Speisesaales.

Jobster schaute Harst erwartungsvoll an.

„Was halten Sie von der Geschichte und von diesem untröstlichen Ehemanne?“ fragte er mit ironischer Betonung des „untröstlichen“.

Harst lehnte sich in seinem Korbsessel weit zurück und rauchte langsam die ersten Züge der Zigarette, die der Holländer ihm vorhin angeboten hatte.

„Dreierlei ist möglich,“ meinte er. „Ich glaube, diese Möglichkeiten schweben auch Ihnen vor, bester Jobster.“

„Möglichkeiten?! Hm –! Nein – ich habe mich bereits auf eine ganz bestimme Ansicht festgelegt.“

„So so – etwas rasch! – Und diese Ansicht wäre?“

„Boorstetten hat ein recht schwer belastetes Gewissen!“ platzte der Inspektor heraus.

„Bravo!“ rief ich leise. „Genau meine Meinung! Er heuchelt den Seelenschmerz nur. Er –“

Ich konnte nicht weitersprechen. Harst hatte mir den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht geblasen. Ich mußte husten. Der Hustenanfall wollte gar nicht nachlassen.

Harald entschuldigte sich bei mir. „Verzeih’, mein Alter. – Das – war die eine Möglichkeit,“ sagte er, und dieser Nachsatz machte mich sofort aufmerksam.

„Ich stehe hier also jedenfalls mit meiner Ansicht allein da,“ erklärte Harald weiter und rückte näher an den Tisch heran. „Es kann folgendes vorliegen. Erstens: Boorstetten hat ein reines Gewissen, was den Tod seiner Frau anbetrifft, und –“

Er schwieg plötzlich, lehnte sich wieder zurück, streifte das Feuer von der erst halb aufgerauchten Zigarette und legte deren Rest unauffällig in sein Taschentuch. Dann wandte er sich an Jobster.

„Wissen Sie, ob es hier in der Stadt jemand gibt, der mit dem Ehepaare näher bekannt war?“

Jobster dachte nach. „Hm – da wäre der Nachbar der Boorstettens, der frühere Hauptmann Plavarston. Doch nein – Plavarston wurde mit Boorstetten erst nach dem Tode der Frau intimer. – Ja – dann bliebe nur der alte Rechtsanwalt Templetey übrig. Der mag mit –“

„Templetey?“ fiel Harst ein. „Ob man den jetzt daheim antrifft? Wo wohnt er denn?“

Jobster lachte, stand auf und überschaute den Saal, der sich schon etwas geleert hatte.

„Ah – richtig, dort sitzt er!“ meinte er nun. „Man findet ihn leicht heraus. Er hat neben sich stets einen Berg Zeitungen liegen und raucht nur aus einer malaiischen Tabakspfeife mit armlangem Rohr.“

Harst verließ uns jetzt ohne weiteres. Wir sahen, daß er sich einem alten, grauköpfigen Herrn mit knallroter Nase vorstellte und dann an dessen Tische Platz nahm. –

Jobster seufzte und setzte sich wieder.

„Aus Harst wird man schwer klug,“ sagte er etwas ärgerlich. „Man muß sich an seine Art erst sehr gewöhnen. Was sollte zum Beispiel vorhin seine Äußerung: „Das – war die eine Möglichkeit“ –?“

„Keine Ahnung!“ erklärte ich. „Sie sind also offenbar meiner Ansicht, nicht wahr? Sie halten den Holländer für alles andere als ein Unschuldslamm.“

„Ich habe noch keinen Ehemann gesehen, dessen Betrübnis sich so äußert wie bei ihm!“

„Stimmt. – Eine Frage: Gehen hier in der Stadt irgend welche Gerüchte um, daß Boorstettens Frau vielleicht ein anderes Ende gefunden hätte, als die Öffentlichkeit erfuhr?“

„Hm – das wohl nicht. Man sprach nur darüber, daß die junge Frau in letzter Zeit vor ihrem Tode so furchtbar elend ausgesehen hätte.“

„Junge Frau? – Ich schätze Boorstetten auf etwa sechzig Jahre, genau wie auch Harst dies tat. Da kann man doch nicht mehr von einer „jungen“ Frau sprechen.“

„Doch. Boorstetten war 32 Jahre älter als sie, so weit ich weiß. Und eine verheiratete Frau Ende der Zwanziger ist jung.“

„Allerdings –“ Ich sagte das sehr zerstreut. Meine Gedanken reihten diese neue Tatsache in das bisherige Material ein. – Also 32 Jahre älter! Ob da nicht womöglich ein – Eifersuchtsdrama vorlag?!

Jobster erriet diesen neuen Verdacht, legte mir die Hand auf die Schulter und meinte: „Bester Master Schraut, – das Motiv schalten Sie nur völlig aus! Diese Ehe war fraglos bis zur letzten Sekunde ein völlig ungetrübtes Glück. Das weiß ganz Singapore; das kann hier jeder beschwören.“

Harst war neben uns erschienen, warf sich in seinen Sessel und rief lachend: „Dieser Advokat ist ein Original. Er hat mir anvertraut, daß auch er zu den Unzähligen gehörte, die in die engelsschöne Ellinor Boorstetten bis zum Wahnsinn verliebt waren, ohne daß es auch nur einem dieser Unzähligen geglückt wäre, einen freundlicheren Blick aus den Engelsaugen zu erbetteln.“

Dann gähnte er hinter der vorgehaltenen Hand, fügte hinzu: „Der Sekt hat mich müde gemacht. Ich werde erst morgen nacht Boorstettens Mausoleum besuchen.“

Jobster war feinfühlig genug, jetzt sofort aufzubrechen. Harst bezahlte unsere Rechnung, und gemeinsam gingen wir bis in die Vorhalle, sagten hier dem Inspektor gute Nacht und begaben uns auf unsere Zimmer.

In unserem Wohnsalon blieb Harst unter der elektrischen Krone stehen, kniff das linke Auge zu und fragte:

„Nun –?!“

Das hieß: „Breite nun Deine Weisheit über unser neues Problem gefälligst vor mir aus!“

Ich tat es mit kurzen Worten. Ich tat es aber sehr ungern. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich mit meiner Ansicht, Boorstetten leide unter Gewissensqualen – und so weiter, auf dem Holzwege sei.

Harst unterbrach mich mit keinem Wort, keinem Wimperzucken. Als ich nun fertig war, meinte er:

„Ich habe eine halbe Stunde lang dasselbe geargwöhnt. Aber – jetzt ist eins gewiß: dieser Fall läßt sich vorläufig überhaupt nicht übersehen. Es spielen da so viele Einzelheiten mit, die keinen Vers ergeben, daß wir zu allererst nachprüfen müssen, ob nicht in dem Sarge – eine tadellos gearbeitete Wachspuppe liegt, deren Gesichtszüge eben denen Ellinor Boorstettens völlig gleichen.“

Ich war nur einen Moment überrascht über diese Vermutung Haralds.

„Ah – daher bleibt das Gesicht der Leiche so unverändert,“ flüsterte ich ganz begeistert über diesem Gedanken Harsts. „Daher also –! Du, das ist eine Idee! Das kann sehr gut zutreffen. Und – ist es so, dann hat der Engel Ellinor doch einen Sündenfall hinter sich und ist dem um 32 Jahre älteren Gatten mit einem Liebhaber durchgebrannt, nachdem das Pärchen eine Sterbekomödie mit bestem Erfolge inszeniert hatte.“

„Ja – wenn!“ nickte Harald gedankenvoll. „Wenn –! – Und – wenn nun im Sarge eine echte Tote liegt?!“

„Dann – kommen wir wieder auf den ersten Verdacht zurück: Boorstetten ist ein Wolf im Schafskleide!“

„Laß hier die Schafe aus dem Spiel!“ lächelte Harald. „Ganz aus dem Spiel, mein Alter! Ganz! Ich denke, Du hast nach der Zigarette gerade genug gehustet, um – Doch nein – davon später! – Machen wir uns für den nächsten Ausflug fertig. Ich will Gewißheit haben: Wachsfigur oder echte Tote?“ –

Im Süden von Singapore gibt es eine Unmenge felsiger Inseln, von denen die größten, Pulo-Brani und Blakang-Mati, von den Engländern stark befestigt worden sind.

Das Felseneiland Blakang fand der Segelbootsbesitzer, dessen Fahrzeug wir am Hafen der Stadt für die Nacht gemietet hatten, trotz der tiefen Dunkelheit sehr sicher aus den benachbarten Inselchen heraus. Es war genau Mitternacht, als wir an der Nordküste von Blakang in einer winzigen Bucht landeten. Das Boot sollte hier auf uns bis vier Uhr morgens warten. Waren wir bis dahin nicht wieder erschienen, konnte der Malaie, dem es gehörte, nach der Stadt zurückkehren. – So befahl Harst dem braunen Burschen, der sich während der einstündigen Fahrt die größte Mühe gegeben hatte, aus den weißen Sahibs herauszulocken, was sie eigentlich zu dieser späten Stunde auf dem Eiland wollten. Harst hatte ihm gutgelaunt einen mächtigen Bären aufgebunden – von einer Wette und so weiter, und ich hatte mir nur schwer das Lachen verbeißen können.

Wir kletterten nun das felsige Ufer hinan und verschwanden sofort auf unseren Tennisschuhen lautlos in einer wahren Wildnis von Felsbrocken und riesigen, stachligen Sikandra-Sträuchern, deren blauschwarze Blüten sich nur nachts öffnen und dann ihre ekelhaft nach verwesenden Tierkadavern riechenden Duftwellen weithin verbreiten.

Harald hatte sich im Hotel noch schnell eine Spezialkarte der Insel besorgt. Mit Hilfe des Kompasses und der Karte gelangten wir bereits nach zehn Minuten an die hohe Steinmauer des Parkes Boorstettens und nach weiteren fünf Minuten an einen steilen Abhang, von dem sich undeutlich die Umrisse eines kleinen Tempels mit Säulenvorbau abhoben.

Wir standen jetzt auf einem sauber gepflegten, mit Muschelgrand bestreuten Parkwege dem Tempel gerade gegenüber. Harst schaute zum Himmel empor. Das bisher gleichmäßige schwarze Gewölk zeigte einige lichtere Stellen. Es hatte sich etwas Wind erhoben, und wir durften damit rechnen, daß der Mond sehr bald hervortreten würde.

Harald flüsterte mir zu: „Beeilen wir uns. Es ist besser, wir sind drinnen, bevor der Mond uns beleuchtet. Man kann nie wissen, ob nicht –“

Da huschte er bereits wieder vorwärts. Ich blieb dicht hinter ihm. Zu dem Säulenvorbau führten vier Steinstufen empor. Wir erkannten jetzt auch die eiserne Flügeltür, die Boorstetten hatte anbringen lassen.

Harst bückte sich und tastete den Boden nach dem Steine ab, unter dem der Holländer hatte den Schlüssel verbergen sollen. Ich half Harald.

Hier so dicht vor dem Tempel gab es nur nackten unebenen Fels anstatt des Muschelgrands. Ein Stein war daher nur schwer zu sehen.

Meine Hand berührte plötzlich einen kleinen, kantigen Gegenstand. Ich hob ihn auf. Er war federleicht. Ich drückte etwas, befühlte das Ding. Es war ein kleines Schächtelchen – eine Streichholzschachtel. Ich schüttelte sie. Sie war leer. Schon wollte ich sie wegwerfen, als Harald fragte, was ich denn da in der Hand hätte.

„Nichts als eine leere Streichholzschachtel,“ flüsterte ich.

„So –?! – Her damit!“

Er steckte sie in die Tasche. Und – damit war das Schicksal des Schuldigen besiegelt –!

Gleich darauf fand Harst auch den Schlüssel.

„So,“ meinte er, „nun werden wir ja gleich feststellen können, ob Wachsfigur oder Leiche. Boorstetten hat Wort gehalten. Ich fürchtete schon, er hätte mich falsch verstanden und den Schlüssel allzu gut versteckt.“

Obwohl ich vor allen indischen Tempeln – und nach unseren bisherigen Abenteuern mit Recht! – eine Scheu hatte, die ehrlich gesagt mit Furcht nahe verwandt war, trat ich nun doch mit ein, nachdem Harst den einen Flügel der Tür lautlos geöffnet hatte.

Harst schloß hinter uns wieder ab und ließ den Schlüssel stecken. Wir holten unsere Taschenlampen hervor, und deren weiße Lichtkegel irrten nun langsam über eine Kuppelhalle hin, in deren Mitte auf einem Postament von weißem Marmor ein mit frischen Kränzen geschmückter Sarg stand.

Im übrigen war die quadratische Halle völlig leer. Sie hatte keine Fenster, keine Luftöffnungen. Die Wände waren mit buntem Steinmosaik bedeckt. Den Fußboden bildeten länglich-viereckige rötliche Marmorplatten.

Harst verhielt sich regungslos. Nur seine rechte Hand mit der Taschenlampe bewegte sich.

„Riechst Du’s auch?“ fragte er dann leise.

Ich hatte sofort beim Eintritt einen ähnlich scheußlichen Geruch wahrgenommen, wie ihn die Sikandra-Blüten nachts ausströmen.

„Ja, – der Sarg kann nicht dicht sein, und es muß auch eine Leiche darin liegen, denn –“

„Muß?!“ meinte Harst schnell. „Muß?! – Dieser Geruch hier ist zu intensiv für einen lediglich undichten Sarg, der einen Toten oder eine Tote enthält.“

Er glitt vorwärts, stieg auf das Postament. Seine Taschenlampe senkte sich. Er beleuchtete das Glasfenster des Deckels.

Dann winkte er mir. Ich trat zögernd neben ihn. Und ich sah im Sarge – nichts als ein seidenes Kopfkissen unterhalb des Fensterchens – nichts weiter!

„Hiermit allerdings hatte ich nicht gerechnet!“ flüsterte Harst. „Daß die Leiche weggeschafft sein könnte, daran dachte ich erst, als ich hier in der Halle den Verwesungsgeruch spürte, der nur davon herrühren konnte, daß man den Sarg vor kurzem – eben in dieser Nacht – geöffnet und die Tote – beseitigt hat.“

Er griff nach einer der Flügelschrauben.

„Ah – nicht einmal wieder zugeschraubt! – Heben wir den Deckel ab.“

Wir taten’s. Aber es war ein mühseliges Stück Arbeit. Der Deckel war fast zu schwer für unsere Kräfte.

Ja – der Sarg war leer. In den Seidenkissen zeigten sich noch die Eindrücke, wo die Tote gelegen hatte.

Harst stieg von dem Postament herab.

„Lassen wir den Sarg offen,“ meinte er. „Wenn ich nicht den Beweis bei mir trüge, daß Boorstetten hier als Leichendieb nicht in Betracht kommt, würde ich sagen: Nur er kann die Tote fortgeschafft haben, um es uns unmöglich zu machen, ihm ein Verbrechen nachzuweisen.“

Er wollte offenbar noch etwas hinzufügen. Sein Kopf schnellte jedoch plötzlich nach der Tür herum.

Dann sah ich, wie er sich zum Sprunge zusammenduckte.

Aber – der Sprung selbst unterblieb.

Ein leises Klirren von der Tür her schien ihn an denselben Fleck zu bannen. Irgend etwas war dort auf die Marmorfliesen gefallen.

Irgend etwas –? – Die weißen Kegel unserer Taschenlampen vereinten sich jetzt auf demselben Fleck. Und dort – dort lag der Schlüssel des Kunstschlosses der eisernen Tempelpforte. Er war’s gewesen, der das Klirren hervorgerufen hatte.

Harsts noch immer zusammengeduckter Körper entspannte sich jetzt gleichsam. Er richtete sich wieder auf, wandte sich um, nickte mir zu.

„Also doch!“ flüsterte er. „Auch das ist eingetreten! Ich hatte mit irgend etwas Ähnlichem gerechnet.“

Er war mir in dieser Minute unverständlicher denn je! Weshalb lächelte er zu seinen Worten so befriedigt?! Weshalb schenkte er der gewiß auffallenden Tatsache, daß der Schlüssel aus dem Schloß gestoßen worden war (denn von selbst hätte der Schlüssel niemals aus dem Schloß gleiten können!), keinerlei Beachtung?! Dachte er gar nicht daran, daß jemand nur von außen einen anderen Schlüssel ins Schloß zu zwängen brauchte, um uns hier einzuschließen?!

„Harald,“ stieß ich hervor, „vielleicht will man uns hier zu Gefangenen machen!“

„Will – will, mein Alter?! Sage ruhig: man hat es getan! Probiere doch mal, ob der Schlüssel noch in das Schlüsselloch einzuführen ist!“

Ich eilte schon hin, hob den langen Schlüssel mit dem doppelten, vielfach gezackten Bart auf und – fand meinen Argwohn bestätigt: der Schlüssel ging nicht mehr in das Schloß hinein!

Ich bückte mich und leuchtete das Schlüsselloch ab. Tatsächlich: da war von draußen her eine gewöhnliche, große Eisenschraube als Hindernis ganz fest, aber auch ganz lautlos und schnell angebracht worden.

Und diese für den Zweck tadellos passende Schraube verriet, daß dieser Anschlag gegen uns keine Augenblickssache, sondern genügend vorbereitet war.

– – – – – – – –

Mir war jetzt recht beklommen zumute. Wenn Harald uns auch schon aus weit bedrohlicheren Lagen befreit hatte, als diese hier es zu sein schien, so bereitete mir der Gedanke, in einer Art Mausoleum eingesperrt zu sein, wohl mit Recht einiges Unbehagen.

Ich drehte mich um. Ich sah Harst nicht gleich. Er hatte seine Taschenlampe ausgeschaltet. Aber der Lichtkegel der meinen fand ihn bald. Er hatte sich auf den Sargdeckel gesetzt, der etwas im Hintergrunde auf dem Steinboden stand. Eine andere Sitzgelegenheit gab es hier nicht.

Ich ging auf den Fußspitzen zu ihm hin. Jeder laute Schritt hallte in diesem Raume so nervenaufregend wider.

„Eine Schraube hat man[1] im Schlüsselloch festgekeilt,“ erklärte ich leise. „Wer in aller Welt aber kann’s getan haben?“

„Zunächst spare die Kraft Deiner Batterie und knipse Deine Lampe aus, mein Alter,“ erwiderte er, und da erst sah ich, daß er eine leicht qualmende Zigarette zwischen den Fingern hielt. Beneidenswerte Gemütsruhe. Er rauchte, und ich – hatte Angst vor dem, was sich für uns hier noch weiter ereignen würde.

„So – und nun nimm neben mir Platz,“ fuhr er fort. „Ich hoffe, wir werden bald wissen, woran wir sind!“

Ich verzichtete auf die Sargdeckelbank.

„Was heißt das: woran wir sind?“ meinte ich noch mehr beunruhigt.

„Ich bitte Dich, das kann doch nur eins heißen: der, der uns hier einsperrte, wird sich doch damit fraglos nicht begnügen. Wir beide sind doch keine so leicht zu nehmenden Gegner, die man lediglich einkerkert! Damit wäre dem Attentäter wenig geholfen. Diese Schraube im Schlüsselloch ist nur das Vorspiel. Das eigentliche Drama wird erst noch beginnen.“

„Und – das sagst Du so gelassen, als ob –“

„Gelassen?! – Was sollen wir denn tun?! Wie sollen wir aus diesem Steinkasten heraus?! – Wir müssen abwarten. – So setz’ Dich doch! Du machst die Sache ja ungemütlich.“

Harst bediente sich jetzt eines Flüstertones, bei dem man die Worte nur gerade noch versteht, wenn man dicht vor dem Flüsternden sich befindet. – Auch diese Vorsicht, die Stimme so weit zu dämpfen, erhöhte meine Stimmung keineswegs.

„Ich bin nicht müde,“ lehnte ich den Sitz neben ihm abermals ab. „Wer ist denn nun der Attentäter? Und – was hältst Du überhaupt von dieser ganzen Geschichte?“

Wir hatten bisher keine Gelegenheit gehabt, den Fall Boorstetten durchzusprechen. Und ich hatte Harst doch eine Menge Fragen vorzulegen, so zum Beispiel, weshalb er von Jobster hatte wissen wollen, ob der Holländer einen Sohn besäße, – weiter dann, was es mit der halb aufgerauchten Zigarette für eine Bewandtnis hätte, die er in seine Brieftasche gelegt hatte, – und noch anderes mehr.

„Hm – kannst Du es Dir nicht selbst sagen, wer der Attentäter ist,“ erwiderte er nun. „Wenn Du auf alles, was sich im Hotel Raffles zutrug – auf alles! –, genau geachtet hättest, müßtest Du –“ Er führte den Satz nicht zu Ende, meinte lebhafter: „Beleuchte mal die Streichholzschachtel, während ich sie genauer untersuche. Es ist ratsam, dies sofort zu tun und sie dann verschwinden zu lassen.“

Ich schaltete meine Lampe ein. Harst hatte seine weiche, graue Reisemütze abgenommen und sie sich in den Schoß gelegt. Die Streichholzschachtel besichtigte er nun, indem er sie stets im Innern der Mütze wie in einem Beutel hielt.

Dies bewies mir, daß er ohne Zweifel fürchtete, wir könnten beobachtet – und belauscht werden! Deshalb auch sein Flüstern!

Ich beugte mich ganz tief über ihn, so daß ich die Streichholzschachtel genau so gut betrachten konnte wie er.

Es war eine Schachtel von schwedischen Zündhölzern. Das gelbe Papierschildchen auf der Oberseite hatte den gewöhnlichen Aufdruck. Sonst vermochte ich an diesem leeren Schächtelchen nichts zu bemerken, was als Besonderheit anzusprechen gewesen wäre.

Harst zog jetzt die Schachtel auf und prüfte den Einschub. Er tat es er gewissenhaft, murmelte irgend etwas vor sich, brachte den Einschub wieder an Ort und Stelle und riß das Futter seiner Mütze ein Stückchen auf, sagte dann:

„Licht aus!“

Um uns her lauerte nun wieder beängstigend tiefste Finsternis.

Harst schien die Streichholzschachtel nun im Mützenfutter versteckt zu haben. Ich hörte, daß er sich bewegte. Dann sog er an seiner Zigarette. Mich umschwebten die süßlichen Wölkchen seiner Spezialmarke Mirakulum.

Dann erklärte Harald plötzlich weit lauter als bisher:

„Es ist eine ganz verteufelte Lage, in der wir uns befinden! Wir können hier umgebracht und unsere Leichen irgend wo verscharrt werden, ohne daß man den Mördern je auf die Spur kommen könnte. Verwünscht, wie unvorsichtig waren wir nur.“

Ich hatte mich nur im ersten Moment täuschen lassen. Ich wußte: diese Sätze waren nicht für mich, sondern für den Lauscher bestimmt! Mithin mußte Harst soeben etwas gehört haben, das ihm angedeutet hatte, dieser Lauscher sei nun in größerer Nähe.

Wenn der geneigte Leser nur ein wenig Phantasie hat, wird er begreifen, daß mir jetzt in dieser uns umgebenden Finsternis noch unbehaglicher wurde. Ich ahnte, daß das, was Harst vorhin „das eigentliche Drama“ genannt hatte, nahe bevorstand. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Was – was wohl würde sich ereignen?!

Unwillkürlich langte ich mit der Rechten nach der Schlüsseltasche meiner Beinkleider. Dort steckte die so harmlos aussehende, kleine, neunschüssige Clement-Repetier-Pistole[2], die auch Harst seit einiger Zeit anstelle des früheren, umfangreicheren Systems benutzte. – Ich wußte: nichts beruhigte meine Nerven so sehr, als wenn ich diesen kugelspeienden Freund so angenehm kühl in der Hand fühlte.

Aber – jetzt Harsts Stimme wie ein Hauch: „Laß das Ding, wo es ist!“

Er hatte also trotz der Dunkelheit gemerkt, daß ich nach der Waffe langte. Allerdings: die Kofferschlüssel in derselben Tasche hatten ganz leise geklirrt! Und das hatte Harald natürlich genügt.

Kaum hatte ich die Hand wieder in die Außentasche meiner grauen Sportjoppe versenkt, als – der Vorhang zu dem „eigentlichen Drama“ sich auch schon hob. Beinahe war’s ja wirklich so, als ob ein Vorhang mit einem Male hochflog und eine für uns bis dahin verborgene Lichtquelle enthüllte.

Einer der Mitwirkenden begann auch in demselben Moment zu sprechen – ganz wie im Theater.

Es war der breite Lichtkegel einer großen Acetylenlaterne, der uns urplötzlich im Rücken Harsts beleuchtete; und es war eine rauhe, offenbar verstellte Stimme, die gleichzeitig drohend krächzte:

„Keine Bewegung! Ich schieße sofort. Und – ich schieße nie vorbei – nie!“

Der Lichtstrahl, der mich von vorn traf, blendete mich so, daß ich die Augen schloß. Aber nur für Sekunden.

Ich öffnete die Lider. Sehen konnte ich nichts. Nur das eine, daß ein einzelner Mann dort an der Wand stand, in der linken die Laterne, in der Rechten eine lange, recht klobige Pistole.

Dann auch schon ein neuer Befehl:

„Arme hoch! Stellt Euch nebeneinander!“

Der Mann sprach das Englische mit ganz leichtem Akzent.

Harst erhob sich von seinem Sitz und trat mit hochgereckten Armen neben mich.

Der Mann kam näher, stellte die Laterne so auf den Sargdeckel, daß ihr Schein nun ihn und uns fast gleichmäßig traf. Der Sargdeckel stand zwischen uns.

Nun konnte ich den Menschen ganz genau betrachten. Er war schlank, trug einen großkarierten, hellen Sportanzug mit Gürtel, dazu einen breitrandigen Strohhut und hatte sich einen schwarzen Seidenlappen mit eingeschnittenen Löchern für die Augen um das Gesicht gebunden. Aber diese Maske hatte sich verschoben. Ein grauer Vollbart war darunter zu unterscheiden – ziemlich spitz geschnitten, so, wie Boorstetten ihn trug. Und – der Mann war ebenfalls übernervös, konnte die Arme nicht stillhalten, bewegte auch dauernd die Finger, die den Kolben der klobigen Pistole umspannten.

Boorstetten! – Das war in der Tat eine Überraschung! Und für Harst eine noch größere als für mich, denn Harald hatte ja so bestimmt erklärt, daß der Holländer mit der Wegschaffung der Leiche und mit allem andern nichts zu tun hätte! – Ein schöner Reinfall für ihn!

Da begann die krächzende Stimme abermals:

„Ich warne Sie! Begehen Sie keine Torheit, indem Sie mich zu überrumpeln suchen! Ich werde Ihnen beweisen, daß und – wie ich schieße!“

Die Pistole mit dem langen Lauf bewegte sich nicht mehr. Nun ein schwaches Geräusch, kaum als Knall zu bezeichnen, und – Harsts Reisemütze flog ihm vom Kopf und fiel hinter ihm auf die Marmorfliesen.

Ah – also eine Luftpistole! Und eine mit starker Schußwirkung!

„Heben Sie die Mütze auf, Schraut!“ kommandierte der Schütze schon. „Reichen Sie sie mir. – So – nun wieder Arme hoch!“

Ich hatte sie ihm gegeben. Er wühlte mit der Linken im Futter herum. Also wußte er, daß Harst dort die Streichholzschachtel verborgen hatte! Das war Pech! Der Kerl hatte uns in der Tat genau beobachtet!

Nun ließ er die Mütze fallen. Und in der Linken hielt er nur noch ein zusammengelegtes Stück Papier, meinte nun ironisch:

„Aha – also dies Papier war’s, das Sie beide vorhin so genau betrachteten!“

Er faltete es – immer nur mit der linken Hand auseinander, hielt es gegen das Licht, sagte dabei:

„Rühren Sie sich nicht! Diese Pistole ist ein Selbstlader, amerikanische Erfindung, fünfschüssig!“

Er überflog den Zettel. – Ich atmete auf. Harst hatte hier einmal wieder gezeigt, wie sehr er stets alles fein berechnete. Natürlich hatte er die ihm wertvolle Streichholzschachtel anderswo versteckt und den Lauscher genasführt!

Der Holländer machte jetzt ein enttäuschtes Gesicht.

„Wie – nur ein Brief, unterzeichnet „Deine Mutter“?“ sagte er verblüfft.

„Allerdings. Ein Brief meiner Mutter,“ erklärte Harst. „Ich sah voraus, daß man uns hier alles wegnehmen würde. Ein Brief meiner Mutter ist mir mehr wert als mein Portefeuille.“

Boorstetten lachte heiser auf, knüllte den Brief zusammen und warf ihn Harst vor die Füße.

„So – das wäre also erledigt,“ meinte er. „Nun zur Hauptsache. Sie beide haben sich hier in eine Angelegenheit eingemischt, die niemals in ihren wahren Ursachen und Wirkungen aufgehellt werden darf. Wenn ich wollte, könnte ich Sie beide für alle Zeit unschädlich machen und verschwinden lassen. Ich will jedoch großmütig sein. Ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Wenn Sie beide mir ehrenwörtlich zusichern, sich mit dem Ableben der Gattin Boorstettens in keiner Weise mehr zu befassen, sollen Sie heute früh frei sein. – Wie stellen Sie sich dazu, Master Harst?“

Ich war sehr gespannt auf Haralds Antwort.

„Gut,“ sagte er nach einer Weile. „Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich der Ursache des Todes der Frau Boorstetten nicht weiter nachspüren werde.“

Ich war überrascht über Harsts schnelle Bereitwilligkeit, sich auf diese Weise aus dieser Falle zu befreien. Auch dem Holländer kam dies wohl genau so unerwartet. Er wurde dadurch mißtrauisch.

„Ich wundere mich über Ihre Nachgiebigkeit,“ sagte er zögernd. „Ich kann mich doch wohl auf Ihr Wort verlassen?“

„Unbedingt!“ meinte Harald. „Der Fall „Frau Ellinor Boorstetten“ ist bereits völlig aufgeklärt. Ich brauchte mich damit nicht weiter zu beschäftigen. Ich könnte den Schuldigen festnehmen. Ich ziehe es aber vor, mich hier nicht niederschießen zu lassen, denn ich hoffe, der Menschheit noch gelegentlich im Kampfe gegen das Verbrechertum so etwas nützen zu können.“

Der Holländer lachte höhnisch auf. „Aufgeklärt?! So – so! Na – der Glaube macht selig! – Ich habe also Ihr Wort. – Und Sie, Master Schraut?“

Ich gab dieselbe Versicherung ab, indem ich sagte: „Ich verspreche genau dasselbe wie Harst.“

Da ließ er die Pistole sinken.

„So – noch eins. – Sie werden sich jetzt dort an die Rückwand des Tempelraumes, Gesicht nach der Wand, stellen und sich nicht eher umdrehen, bis ich es Ihnen gestatte. Dies gehört mit zu Ihrer ehrenwörtlichen Versicherung. – Einverstanden?“

„Ja warum nicht?“ meinte Harst und schritt dem Hintergrunde des Mausoleums zu. – Ich folgte ihm.

Der Lichtschein erlosch sehr bald. Wir hörten verschiedene leise Geräusche. Dann blieb es wohl fünf Minuten ganz still. Nun tauchte der Lichtschein wieder auf. Ich unterschied abermals allerhand Geräusche. Knistern, Keuchen, als ob jemand eine schwere Last schleppe. Dann – ein dumpfer Ton, ein Knarren von Holz!

Jetzt die krächzende Stimme hinter uns:

„Leben Sie wohl, meine Herren! – Und Sie, Master Harst, merken Sie sich’s: Es gibt doch noch klügere Leute als so ein Liebhaberdetektiv!“

Dann verschwand der Lichtschein und der Holländer rief uns irgendwoher zu: „Sie sind frei!“

– – – – – – – –

Dieses „Sie sind frei“ war kaum verklungen, als auch schon mit dumpfem Dröhnen die Eisentür des Mausoleums zufiel. Auf dieses Dröhnen folgte sofort Harsts ironische Bemerkung:

„Wir sind frei! – Kolossal gütig. Und das Ganze kolossal dämlich!“

Harst gebrauchte sehr selten nicht recht salonfähige Ausdrücke. Wenn er es tat, mußte schon eine ganz besondere Veranlassung vorliegen.

Seine Taschenlampe blitzte auf. Er trat schnell an den Sarg heran, der tatsächlich wieder durch den Deckel verschlossen war. Er beugte sich über das kleine Fenster.

„Ah – also deshalb!“ hörte ich ihn murmeln.

Ich war schon neben ihm. Der Lichtkegel seiner Lampe zeigte mir das noch im Tode liebreizende Antlitz einer jungen Frau. Es konnte nur Ellinor Boorstetten sein. Der Holländer hatte also die Leiche wieder in den Sarg gelegt. Mußte der Mann Nerven und – Körperkräfte haben! Eine Tote, die bereits so lange eingesargt war, und einen Sargdeckel von solcher Schwere ganz allein zu bewältigen, – das machte Boorstetten so leicht keiner nach!

„Jetzt, wo er weiß, daß wir ihm nicht mehr gefährlich sind, hat er die Leiche zurückgebracht,“ flüsterte ich Harald zu.

Er antwortete nur mit einem „Hm – beinahe!“ Diese Äußerung begriff ich nicht. – War es etwa gar keine Leiche? War es – eine Wachsfigur, ein Wachskopf?

Harst bat mich um den Türschlüssel, den ich eingesteckt hatte. Ich gab ihn ihm. Er ging zur Tür und schloß auf, drückte den Türflügel aber wieder zu und wandte sich nach mir um.

„Merkst Du nichts?“ fragte er ganz leise.

„Was soll ich denn merken?“

„Die fehlende Luftveränderung,“ erklärte er flüsternd. „Vergiß dies nicht für später. – Gehen wir jetzt. Der Fall Ellinor Boorstetten ist ja für uns erledigt.“

Wir schlossen das Mausoleum ab und schauten uns dann draußen um. Der neue Tag dämmerte im Osten schon herauf. Ein fahles Zwielicht lagerte über dem weiten, hügeligen Parke.

„Was nun?“ meinte ich. Ich kam mir vor wie ein Kind, dem das Tun und Lassen eines Erwachsenen völlig unverständlich ist. Ich konnte es einfach nicht fassen, daß Harst sich zur Abgabe dieses ehrenwörtlichen Versprechens hatte zwingen lassen.

„Oh – was nun?! – Es gibt für uns noch sehr viel zu tun. Sehr viel, mein Alter.“

Er schritt einem breiten Hauptweg zu. Ich blieb neben ihm.

„Und unsere Zusage, mit diesem Fall uns nicht weiter zu beschäftigen?!“ mahnte ich vorsichtig.

„Es ist selbstverständlich, daß wir diese Zusage halten. Ich hätte mich niemals zu einem Verzicht auf die Weiterverfolgung dieser Angelegenheit verstanden, wenn sie für mich nicht wirklich bereits erledigt wäre. Den Ausschlag dabei gab die leere Streichholzschachtel, die übrigens – nicht leer war. Streichhölzer enthielt sie nicht. Aber etwas anderes.“

„So? Etwas anderes? Dann muß ich ja geradezu blind gewesen sein. Ich habe doch auch hineingeschaut.“

„Tröste Dich. Diese Blindheit ist zu verstehen. Das, was das papierbeklebte Holzschächtelchen enthielt, war nur schwer zu bemerken. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, mußte den winzigen Gegenstand übersehen, zumal dieser fast durchsichtig war.“

„Wo hast Du denn die Streichholzschachtel verborgen?“ fragte ich schnell. „In der Mütze war sie nicht. – Hast Du sie bei Dir? Dann gib sie mir.“

Er bückte sich und streifte das Beinkleid hoch. Er hatte das Schächtelchen in den Strumpf gesteckt.

Zu meinem Erstaunen begann er es jetzt sofort zu zerbrechen. Er warf die einzelnen Stücke hier und dort in die Büsche.

„Was soll das?“ rief ich ärgerlich. „Du –“

„– ja, Du mein lieber Alter, wolltest soeben Dein Wort brechen! Die Streichholzschachtel gehört zum Material von Fall Nummer eins. Also dürfen wir uns mit ihr nicht weiter abgeben.“

Es wurde wahrhaftig immer verwickelter, dieses Boorstetten-Problem! – Fall Nummer eins?! Es gab mithin noch einen Fall Nummer zwei!

Harst schob jetzt seinen Arm in den meinen. „Zerbrich Dir nicht den Kopf. Die Sache ist ziemlich kompliziert. Wir werden jetzt Boorstetten besuchen. Dort hinten steht schon der prachtvolle Bungalow. Fürwahr – ein reines Schloß! Der Holländer muß reicher sein als jemand ahnt. Ein Marmorbau – und scheinbar altindischer Baustil nachgeahmt!“

Ich fragte nichts mehr. Wir wollten Boorstetten besuchen?! Was sollte das nun wieder?! Wo sollte ich mit Fragen beginnen?! Ich tappte[3] ja völlig im Dunkeln. Und – das Dunkel wurde nur noch dichter!

Auch Harald schwieg jetzt. Nur meinen Arm drückte er sanft an sich. Als ich ihn dann von der Seite prüfend musterte, erschrak ich fast über diesen Ausdruck rücksichtslosester Energie in seinem Gesicht. Daß diese Veränderung seiner Züge nur mit dem „Fall Nummer zwei“ zusammenhängen konnte, war mir sofort klar. Ebenso klar war mir aber auch, daß es sich hier um ein Verbrechen von ganz besonderer Heimtücke handeln müsse. Denn der Gesichtsausdruck Harsts war für gewöhnlich kaum der Veränderung unterworfen. Eine so drohende, schärfste Willens- und Geistesanspannung verratende Miene mußte eben eine außerordentliche Ursache haben.

„Wir werden den Feind zum Losschlagen zwingen,“ sagte Harald dann rasch. „Wir werden nicht warten, bis es ihm paßt, das Ende herbeizuführen. Boorstetten wird und muß einverstanden sein.“

Boorstetten – einverstanden?! – Was hieß das nun wieder?!

Ein Inder kam uns entgegen. Er trug eine Harke und einen Spaten über der Schulter.

Es war Boorstettens Gärtner. Harst schickte ihn voraus in den Bungalow. Boorstetten sollte sofort geweckt werden. Der Mann bekam Harsts Visitenkarte mit.

Als er davongeeilt war, meinte ich ironisch:

„Das Wecken wird nicht nötig sein. Der „Feind“ dürfte kaum Schlaf finden nach dieser Nacht.“

„Mag sein. Der Feind nicht. Aber Boorstetten wird vielleicht noch schlummern.“

Ich blieb stehen. „Harald, ist denn Boorstetten nicht der – Feind?“ fragte ich schnell.

„Wie man’s nimmt. „Feind“ ist er auch. Aber nicht der, den Du meinst, mein Alter.“

„Also nicht der Maskierte mit der Luftpistole?“

„Er wollte es sein! – Aber laß das alles jetzt. – Schau nur, ist das nicht ein fürstlicher Wohnsitz? Diese Terrasse da vor dem Haupteingang und die Korbmöbel darauf laden zum Ausruhen ein.“

Wir setzten uns auf die Terrasse und rauchten schweigend unsere Zigaretten. Nach kaum zehn Minuten erschien der Holländer in einem bastseidenen Hausanzug, begrüßte uns überaus liebenswürdig und völlig harmlos tuend, lud uns zum Frühstück ein und gab sich in allem tatsächlich so zwanglos und natürlich, daß meine Annahme, der Maskierte müßte Boorstetten gewesen sein, arg ins Wanken kam.

Harst nahm die Einladung an. Wir saßen zuerst abseits an einem kleinen Tischchen. Die eingeborenen Diener deckten geräuschlos und gewandt die Frühstückstafel. Die Unterhaltung drehte sich um den Park und das vornehme Heim des Holländers. Dieser fragte dann erst, als wir schon am Frühstückstisch Platz genommen hatten:

„Waren Sie im Mausoleum, Master Harst? Ich hatte den Schlüssel wie verabredet unter einen Stein gelegt.“

„Ja. Wir waren dort. – Nicht wahr, der Tempel hat noch einen geheimen Zugang durch die rechte Wand?“

Boorstetten nickte zögernd. „Es ist so. Aber das Geheimnis kennt außer mir nur noch einer meiner Freunde.“

„Oh – es interessiert mich jetzt nicht mehr. Die Sache ist nämlich erledigt. Es sind leider gewisse Umstände eingetreten, die mich zwingen, diesen Fall nicht weiter zu untersuchen. Welcher Art diese Umstände sind, darf ich nicht angeben. Schraut und ich sind da eine besondere Verpflichtung eingegangen.“

Ich beobachtete Boorstetten unauffällig, aber scharf. Er machte jetzt ein sehr enttäuschtes Gesicht und blickte Harst unsicher an.

„So so, eine Verpflichtung. – Nun, ich muß mich damit zufrieden geben,“ sagte er nachdenklich.

„Zufrieden geben?!“ flüsterte Harst und lächelte ganz wenig. „Das brauchten Sie nicht, bester Boorstetten, wenn Sie wörtlich und aufs genaueste befolgen wollten, was ich Ihnen raten möchte. Sie dürfen aber auch niemandem, sei es, wer es sei, mitteilen, was wir jetzt verhandeln – niemandem, und mag’s Ihr bester Freund sein. Wollen Sie mir dies versprechen?“

„Ich wäre töricht, wenn ich’s einem Manne wie Ihnen gegenüber nicht täte. Sie haben mein Versprechen.“

Harst schaute sich wie zufällig um. Hinter uns neben der ins Innere des Hauses führenden Tür stand kerzengerade der indische Diener, der bei Tisch bediente. Es war ein großer, hagerer Mensch mit einem prächtigen schwarzen Vollbart.

Harst erzählte plötzlich eine scherzhafte Episode. Boorstetten merkte, daß dies wohl einen besonderen Grund hätte, und lachte mit, wenn auch etwas gezwungen.

Dann flüsterte Harst, und er bewegte dabei kaum die Lippen:

„Schicken Sie den Inder nach einem Gegenstand, den er nicht sofort findet.“

Boorstetten benahm sich recht gewandt und erledigte dies ganz unauffällig, so daß der Mann nicht ahnen konnte, er sei absichtlich entfernt worden.

„Was haben Sie gegen Prangar-Singh, Master Harst?“ fragte Boorstetten sogleich.

Harst deutete auf die Nickelteekanne, die gerade vor ihm stand und die eine eigenartige Form mit vielen ebenen Flächen hatte. „Diese zeigte mir infolge ihrer besonderen Form die Gestalt des Dieners recht deutlich. Der Mann versuchte zu lauschen, als wir leise sprachen. Er beugte sich weit vor. – Ist dieser Prangar-Singh zuverlässig?“

„Unbedingt. Es ist mein Kammerdiener und ein in jeder Hinsicht pflichttreuer Mensch, dabei intelligent und gebildet.“

„Nun gut!“ nickte Harst. „Etwas anderes, Boorstetten. Haben Sie Ihres Nervenleidens wegen bereits einen Arzt konsultiert? Ich kann mir jedenfalls nicht denken, daß Sie dieser Nervosität gegenüber völlig gleichgültig sind.“

Der Holländer krauste die Stirn[4]. „Ich halte von Ärzten nichts. Aber – ich habe mich zweimal untersuchen lassen, allerdings lediglich auf Drängen meines Freundes und Nachbars, des früheren Hauptmanns Edward Plavarston. Beide Ärzte verordneten mir Mixturen, die auch nicht die Spur halfen!“

„Sehr schlau!“ meinte Harst zerstreut und legte sich etwas Kaviar auf.

Boorstetten warf mir einen hilflosen Blick zu. Ich zuckte die Achseln. Auch ich wußte nicht, was dieses „Sehr schlau!“ bedeuten sollte.

Harsts Gesicht verlor den grüblerischen Ausdruck. „Sie werden übermorgen verreisen – nach Europa,“ sagte er hastig. „Natürlich nur zum Schein. Sie tun aber jedermann gegenüber so, als ob es Ihnen mit der Reise ernst wäre, belegen eine Dampferkabine, lassen Ihre Koffer packen und so weiter. Sie werden neugierigen Fragern erklären, Sie könnten hier über den Verlust Ihrer Gattin nicht hinwegkommen und wollten Singapore für ein Jahr den Rücken kehren.“

Boorstettens verblüfftes Gesicht war zu verstehen. Ehe er noch etwas erwidern konnte, fuhr Harst fort: „Morgen abend geben Sie ein kleines Abschiedsessen, zu dem Sie auch uns und den Advokaten Templetey einladen. Bis dahin – und beachten Sie das sehr genau, Boorstetten! – trinken und essen Sie nur in Singapore in irgend einem Hotel ganz allein. Sie verstehen mich wohl: Sie sollen Ihre Mahlzeiten außerhalb Ihres Hauses und allein einnehmen, auch jede Einladung zu einer Mahlzeit oder einem Imbiß unter einem Vorwand ablehnen – jede! Wenn Sie dies nicht genau befolgen, kann ich Ihnen nicht die Hilfe angedeihen lassen, die ich Ihnen zu leisten versprach.“

Boorstetten schüttelte den Kopf. Er sah vollständig verstört aus. Sein ganzer Körper zuckte, seine Hände flatterten, als er nun hervorstieß:

„Hilfe leisten?! – Sie haben doch vorhin gesagt, Sie könnten sich mit meiner Angelegenheit leider nicht weiter beschäftigen?!“

„Das habe ich nicht gesagt. Es handelte sich da lediglich um die Leiche Ihrer Gattin und was damit zusammenhängt. – Wollen Sie meine Vorschläge berücksichtigen – ja oder nein?“

„Ja – ja! – Sie machen ja auch ein Gesicht, als ob –“

„Pst – der Diener!“ warnte Harst. –

Wir blieben bis elf Uhr vormittags noch auf Boorstettens Besitzung. Was noch zwischen uns gesprochen wurde, war durchaus harmlos.

Am nächsten Morgen erhielten wir Boorstettens schriftliche Einladungen zu einem „einfachen Herrendiner“ für 9 Uhr abends.

Harst machte es auch diesmal mit mir wie immer: Er ließ mich über das, was er vorhatte, genau so im unklaren wie über den Zusammenhang all dieser mir bisher gänzlich unverständlichen Ereignisse und Tatsachen. Als die Katastrophe dann eintrat, war ich davon nicht minder überrascht als Boorstettens andere Gäste mit zwei Ausnahmen: Harst und – „der Feind“!

– – – – – – – –

Der Speisesaal in Boorstettens Marmorpalais beherbergte am nächsten Abend eine Gesellschaft von zwölf Herren. Die Stimmung bei Tisch war von vornherein dank Harsts glänzender Laune und dank Rechtsanwalt Templeteys beißendem Witz die allerbeste. Templeteys Nase glühte in allen Farben. Er liebte einen guten Tropfen. – Außer dem Advokaten, Hauptmann Plavarston und uns waren noch ein paar Großkaufleute und vier ältere Offiziere der Garnison Singapore anwesend.

Harst saß links neben Boorstetten. Ihnen gegenüber hatten Templetey, ich und Plavarston ihre Plätze. Plavarston war ein stattlicher, hübscher Mann. Ich schätzte ihn auf kaum dreißig Jahre. Er und Advokat Templetey schienen sich nicht zu lieben. Wenn sie miteinander sprachen, geschah es stets in spitzen, ironischen Redewendungen. Plavarston hielt sehr viel auf sein Äußeres. Templeteys Frack (wir trugen sämtlich dieses lästige Ding nach englischer Sitte) war ehrwürdig alt und blankgescheuert.

Einmal sagte Templetey zu dem früheren Hauptmann.

„Sie polieren die Fingernägel nicht sondern lackieren sie. Welchen Lack benutzen Sie?“

Plavarston sah irgend eine „Anödung“ voraus und entgegnete kurz:

„Schuhlack, lieber Templetey!“

Worauf natürlich allgemeines Gelächter folgte. Als dies verstummt war, erklärte der trinkfeste Advokat:

„Schuhlack?! Glaub’ ich gern. Wohl von zartrosa Damenschuhen, Plavarston, der Ihnen als gewohnheitsmäßigem Don Juan stets zur Verfügung stehen dürfte.“

Abermaliges Gelächter. – Die Diener reichten jetzt Zigarren und Zigaretten, dazu kleine silberne, altertümliche Lämpchen zum Anzünden.

Harst hielt seine Zigarette zwischen den Fingern und fragte laut:

„Hat einer der Herren vielleicht Streichhölzer da? – Ich zünde mir eine Zigarette stets nur an einem Zündholzflämmchen an. Ich bilde mir ein, die Zigarette verliert sonst an Geschmack.“

Plavarston griff schon in die Tasche. „Bitte – hier sind sogar echte Schweden, Master Harst. Ich bin genau wie Sie: Feuerzeuge und dergleichen sind für mich nicht vorhanden.“

Harst nahm die Zündholzschachtel entgegen und bedankte sich. Mir hatte ein Blick auf das Schildchen der Schachtel genügt: es war von knallgelber Farbe und zeigte dieselbe Fabrikmarke wie jenes leere Schächtelchen, das ich vor dem Mausoleum gefunden hatte!

Mit einem Male war mir da dieser Hauptmann Plavarston die interessanteste Person der Tischgesellschaft. Ich hatte eigentlich geglaubt, daß Harst es heute abend hier auf Templetey abgesehen hätte. Jetzt sank ein Teil der Schleier, die mir diesen Fall bisher verhüllt hatten. Ich wußte: Plavarston war der „Feind“. Denn Harst hatte ihn ja soeben absichtlich zur Hergabe der Zündholzschachtel veranlaßt!

Nun folgten die Vorzeichen der Katastrophe Schlag auf Schlag. Ich beobachtete all das mit atemloser Spannung. Ich allein. Harst führte ja diese Vorzeichen herbei. Und von den anderen Gästen konnte niemand ahnen, was sich hier vorbereitete. –

Plavarston erhob sich. „Ich werde meine Fertigkeit im Mischen von Likören aufs neue beweisen,“ meinte er lachend.

„Bravo!“ rief Templetey. „Es ist das Ihre einzige Fertigkeit, die meine Anerkennung findet.“

Unter heiterem Gelächter trat Plavarston an das große Büfett heran und sagte mit dem Rücken nach uns hin: „Ich kenne so ziemlich Ihre Geschmäcker, meine Herren. Jedem mische ich, was ihm am besten behagt.“

Er hantierte mit allerlei Flaschen herum, die schon in Eiskühlern bereitgestanden hatten.

„Master Harst,“ krächzte Templetey. „Plavarstons Mischungen sind berühmt. Er verrät sie niemandem. Wenn’s ihm mal schlecht geht, kann er Mixer in einer Bar werden.“

Plavarston kam mit einem länglichen Nickeltablett, worauf zwölf hohe feingeschliffene Gläser standen, an den Tisch zurück. Er stellte vor jeden von uns eins der Gläser hin. Als letztes behielt er das für ihn selbst bestimmte in der Hand.

Templetey sprang auf. „Meine Herren – trinken wir auf das Wohl des liebenswürdigen Gastgebers!“

Da – Harsts Stimme sofort hinterdrein:

„Halt – noch einen Augenblick!“ Er wandte sich an Plavarston.

„Wie wär’s, wenn Sie mit Ihrem Freunde Boorstetten die Gläser tauschten, Herr Hauptmann?“ In seiner Stimme lag etwas, das alle Gesichter plötzlich ernst werden ließ.

Plavarston hatte sich deutlich verfärbt. Er preßte die Lippen zusammen – nur einen Moment, lächelte dann und meinte:

„Oh – Boorstetten liebt ganz süße Mischungen, die ich verabscheue. – Nicht wahr, Boorstetten?“

„Allerdings –!“ erklärte der Holländer zögernd.

„Trotzdem muß ich darauf bestehen, daß die beiden Herren die Gläser wechseln,“ sagte Harst scharf und befehlend. „Dieses Diner ist auf meinen Wunsch veranstaltet worden, und ich bin verantwortlich für das, was hier geschieht. Wenn Sie, Hauptmann Plavarston, nicht sofort den für Boorstetten von Ihrer Hand hergerichteten Likör trinken, dann – behaupte ich, daß dieser Likör – vergiftet ist!“

In dem strahlend hellen Saale war’s totenstill.

Plavarstons Antlitz hatte jede Spur von Farbe verloren.

„Sind Sie – wahnsinnig!“ brauste er auf.

„Nein – ich bin ein leidlich bekannter Liebhaberdetektiv, wie Sie alle wissen,“ erwiderte Harst kalt. „Und wenn ich behaupte, der Likör –“

Da hatte Plavarston bereits mit einem ironischen Auflachen das Glas Boorstettens ergriffen und – ich glaubte, er würde es wie durch Ungeschick fallen lassen! – und trank es leer.

Dann rief er Boorstetten zu: „Sie gestatten, daß ich mich entferne. Ich bin hier aufs gröblichste beleidigt worden. Master Harst wird morgen weiter von mir hören.“ Er verbeugte sich, wollte zur Tür, prallte jedoch zurück. An den drei Saaltüren waren je zwei Polizeibeamte aufgetaucht. Und jetzt erschien auch Detektivinspektor Jobster, ging auf Harst zu und fragte: „Wen soll ich hier verhaften? – Sie sehen, ich habe Ihre brieflichen Anordnungen genau befolgt.“

Plavarston stand jetzt da und musterte Harst mit Augen, die vor ohnmächtiger Wut fast ganz zugekniffen waren.

Harst nickte Jobster zu und meinte gleichmütig: „Setzen wir uns wieder, meine Herren. Auch Sie, Hauptmann Plavarston. Sie sehen ja, das Spiel ist aus. Sie wollten jetzt schleunigst ins Freie, um den Likör schnell wieder aus Ihrem Magen zu entleeren. Es ist ja so leicht, künstlich ein Erbrechen hervorzurufen. Wenn Sie Ihre Schandtaten eingestehen wollen, können Sie sich noch retten. Sie dürfen dann in Begleitung von ein paar Polizisten hinaus.“

Plavarston trat der dicke Schweiß auf die Stirn. Aber er murmelte nur: „Sie sind verrückt!“ und nahm mit gemachter Nachlässigkeit am Tische Platz.

„Wie Sie wollen!“ meinte Harst und stellte sich hinter seinen Stuhl, auf dessen Lehne er sich mit den Händen stützte. „Ich möchte Sie dann weiter fragen, ob Sie Schraut und mir das Ihnen verpfändete Ehrenwort zurückgeben wollen? – Sie zucken die Achseln. Nun, Sie haben ein kurzes Gedächtnis. Wir versprachen Ihnen im Mausoleum, den Fall Ellinor Boorstetten nicht weiter zu untersuchen. Wir haben das auch nicht getan, da ich bereits vollständig Bescheid wußte.“

„Lassen Sie doch die albernen Witze!“ rief der Hauptmann jetzt, aber sein Gesicht war dabei zur Fratze verzerrt.

„Es handelt sich hier[5] nicht um Witze, sondern um einen Mord und einen Mordversuch,“ erklärte Harst ruhig und sachlich. „Im Speisesaale des Raffles-Hotels vorgestern abend saß ich so, daß ich zwei Herren beobachten konnte, die allein einen Tisch für sich hatten. Es waren Boorstetten und Sie, Hauptmann Plavarston. Boorstetten schaute immer wieder nach unserem Tisch hin, und Sie redeten in einer Weise auf ihn ein, daß ich den Eindruck gewann, der ältere Herr, eben Boorstetten, wollte mich in irgend einer Sache zu Rate ziehen, während der Jüngere – ich glaubte erst, dies sei der Sohn des Älteren – ihm dies auszureden suchte. Ich beobachtete weiter, daß der Jüngere seine Zigaretten stets mit einem Streichholz anzündete. Die Streichholzschachtel hatte ein grellgelbes Schildchen. Dann kam Boorstetten an unseren Tisch. Plavarston blieb noch eine Weile allein sitzen und blickte heimlich immer wieder zu uns hinüber. Darauf verließ er den Saal. Jedenfalls war mir sein Benehmen etwas auffällig vorgekommen. – Boorstetten bot mir nachher eine seiner Zigaretten an. Ich merkte sofort, daß deren Tabak mit irgend etwas getränkt war – einem scharfen Nervenreizmittel. Boorstettens krankhafte Nervosität war fraglos eine Folge dieser Zigaretten. Ich rauchte die Zigarette nur halb auf. Mein Freund Schraut bekam von dem Rauch einen bösen Hustenanfall. Boorstetten hatte so ganz nebenbei erwähnt, daß ein guter Bekannter von ihm diese Zigaretten aus England besorge. Der Bekannte war Plavarston. – Darauf stellte ich mich Master Templetey vor. Er erzählte mir, daß Frau Boorstetten ein eigenes Vermögen von sechs Millionen besessen und ein Testament hinterlassen hätte, das erst nach dem Tode ihres Gatten geöffnet werden sollte. Bis dahin hatte dieser nur den Nießbrauch ihres Vermögens. Templetey erzählte mir weiter, daß er Plavarston, Boorstettens Freund, für einen großen Schurken hielte. Seine Andeutungen liefen darauf hinaus, daß er an einen natürlichen Tod Ellinor Boorstettens nicht glauben könne. Mehr sagte er jedoch nicht. – Schraut fand dann vor dem Mausoleum eine leere Streichholzschachtel. Der Sarg im Mausoleum war leer. Aber der Leichengeruch bewies, daß die Tote soeben erst fortgeschafft worden war. Ich dachte sogleich an Plavarston hierbei, der eine Sektion der Leiche befürchtet haben mochte und so – eine Feststellung von Gift im Körper. Dann wurden wir dort eingesperrt. Ich hatte damit gerechnet. Mir kam also auch die scheinbare Überrumpelung durch Sie, Plavarston, nicht unerwartet. Sie hatten sich als Boorstetten herausgeputzt – durch einen falschen Bart. Sie wollten mich glauben machen, Boorstetten sei der Maskierte. Vorher hatte ich in der leeren Streichholzschachtel ein winziges Stückchen Nagellack, der ja leicht sich ablöst, wenn man zum Beispiel oben an den Schachtelrand stößt, entdeckt. Und Templetey hatte mir gesagt, dieser eitle Weiberheld von Plavarston lackiere sich sogar die Nägel. – Die leere Streichholzschachtel, vor dem Mausoleum[6] gefunden und fraglos doch Plavarstons Eigentum gewesen, benahm mir den letzten Zweifel, wer die Leiche weggeschafft hatte. Nachher, als wir dem Maskierten unser Wort gegeben, wurde die Tote scheinbar wieder in den Sarg gelegt. Aber – es befindet sich nur deren Kopf jetzt im Sarge. Den Leib hat Plavarston mit seinem Genossen, dem Diener Prangar-Singh (denn ein einzelner Mann konnte den Sargdeckel nicht heben) beseitigt, immer noch aus Furcht vor einer Sektion.“

Harst machte seine kleine Pause. „Lieber Boorstetten,“ fuhr er dann leiser fort, „ich bedauere sehr, Ihnen sagen zu müssen, daß Ihre Gattin Sie mit Ihrem Nachbar Plavarston betrogen und daß dieser sie dazu zu bewegen verstand, ein Testament zu seinen Gunsten zu errichten. Es ist das jenes Testament, welches nach Ihrem Tode eröffnet werden soll. Dann hat Plavarston Ihrer Gattin Nervensystem auf irgend eine Weise zerrüttet und ihr schließlich ein Gift beigebracht, des erst nach vielen Stunden eine Herzlähmung herbeiführte. Genau so ging er darauf gegen Sie vor. Die Zigaretten machten sie krankhaft nervös, und heute mußte er dann schnell vor Ihrer Abreise den Hauptschlag vorbereiten. Hätten Sie den Likör getrunken, dann wären Sie übermorgen an Herzschwäche verschieden. – Jobster – verhaften Sie Plavarston! Sein Gesichtsausdruck spricht deutlicher als ein Geständnis.“

Ich habe nicht mehr viel hinzuzufügen. Wenn der Leser jetzt all das, was Harald Harst bei Erledigung dieses doppelten Falles getan, gesprochen und angedeutet hat, mit dieser Lösung vergleicht, wird er leicht erkennen, wie mein Freund Schritt für Schritt der Lösung näherrückte und wie glänzend einmal wieder seine Kombinationen waren. –

Plavarston war nicht mehr zu retten. Er starb am folgenden Abend, nachdem er zu Protokoll gegeben hatte, daß seine Geliebte, die vor kurzem verhaftete Eugenie Malcapier, den Plan zu diesen beiden Verbrechen entworfen und ihn veranlaßt hatte, sich auf der Insel Blakang anzusiedeln, um so Ellinor Boorstetten umgarnen zu können, die ja so bedeutend jünger als ihr Gatte war. –

Mithin wiederum zwei Verbrechen, die auf Eugenie Malcapiers Rechnung kamen! – Was wir dann noch weiter mit dieser unserer rotblonden, schönen Feindin erlebten, schildere ich im nächsten Band in

 

Der Schatz der „Christine.“

 

 

Der Schatz der „Christine.“

 

Im Speisesaale des Raffles-Hotels in Singapore spielte die ungarische Kapelle gerade den Walzer „Wenn die Liebe stirbt –“

Harald Harst summte die Melodie leise mit. Dann sagte er ganz unvermittelt zu mir:

„Was meinst Du zu einem Abstecher nach der Insel Borneo hinüber? Es gibt da die berüchtigten Dajaks, die Kopfjäger, und manches andere Interessante. Eine Expedition ins Innere könnte mich reizen.“

Er wollte noch mehr hinzufügen. Der Kellner brachte jedoch gerade den zweiten Dinergang, und Harst machte für die Platte mit den gebratenen jungen Hühnchen auf dem Tische etwas Platz.

Dann sprach er weiter über Borneo. „Ich möchte mich eben mal ausruhen, mein Alter. Unser letztes Abenteuer ist mir stark auf die Nerven gegangen. Der arme Boorstetten! Er hatte so fest an die Treue seiner Frau geglaubt! Und an alledem ist lediglich nur diese Eugenie Malcapier schuld, die man jetzt hier hoffentlich bald aufknüpfen wird. Sie verdient es reichlich. Dieses schone Weib bedeutet, so lange sie lebt, eine ständige Bedrohung für die –“

Er schwieg, rief dann leise: „Ah – mein Hühnchen hat fürwahr eine seltsame Füllung. Schau – ein Glasröhrchen, darin – wirklich – ein zusammengerollter Zettel.“

Er breitete diesen auseinander, überflog die mit Bleistift geschriebenen Zeilen und reichte ihn mir dann hin.

„Nette Überraschung! Adieu Borneo!“ sagte er dazu.

Ich las:

„Harald Harst!

Auch das Gefängnis in Singapore ist für mich nicht fest genug. Ich bin frei, und ich werde diese Freiheit dazu benutzen, zunächst meine Kasse etwas aufzufüllen, dann aber Sie zu bestrafen! Sie haben mir nicht nur den Bruder, sondern auch den Geliebten getötet. Sie sollen es büßen. In acht Tagen habe ich die jetzige „Sache“ erledigt, und es beginnt der Kampf gegen Sie! Hüten Sie sich!

Eugenie Malcapier.“

„Na?!“ meinte Harst, als ich nun den Zettel sinken ließ. „Der Inhalt ist reichlich unvorsichtig, nicht wahr?“

„Weil sie Dir offen mit Rache droht?“

„Nein. Aus einem anderen Grunde. – Ich rate Dir übrigens, auf diese Hühnchen zu verzichten. In dem meinen befand sich das Glasröhrchen, und – das Deine kann auch vergiftet sein. Wer Gelegenheit hat, mir auf diese Weise erneut den Krieg zu erklären, der hat auch ebenso leicht Gift in diese Brathühnchen tun können. – Sieh da, Jobster kommt auf uns zu. Er sieht total verstört aus. Die Flucht der schönen Eugenie muß ihm ja auch sehr unangenehm sein. Nun soll er als hiesiger Detektivinspektor sie wieder einfangen.“

Harst stand auf und reichte unserem alten Bekannten die Hand.

„Tag, lieber Jobster. Wie hat die Malcapier denn eigentlich entwischen können?“

„Wie – Sie wissen schon?!“

Harst reichte ihm den Zettel.

„Welche Frechheit!“ platzte Jobster heraus. „Das Weib hat den Teufel im Leibe!“

„Den Zettel hatte mein Brathühnchen im Leibe, und[7] das ist wichtiger. – Gehen wir mal in den Vorraum, wo der Speisenaufzug sich befindet. Vielleicht erfahren wir dort etwas, denn nur dort kann die Malcapier das Glasröhrchen mit diesem Briefchen in das Hühnchen getan haben.“ –

Im sogenannten Anrichteraum hatte Harst dann nach fünf Minuten durch Befragen des Personals festgestellt, daß ein junger europäischer Koch in weißer Schürze, den niemand bisher kannte, sich vorhin hier herumgedrückt hatte.

Harst genügte das. Wir holten aus unseren Zimmern unsere Hüte und unser gewöhnliches „Handwerkszeug“ und bestiegen dann Jobsters vor dem Hotel wartendes Dienstauto.

„Polizeilazarett,“ befahl der Inspektor dem Chauffeur. Wir fuhren in schnellstem Tempo davon.

„Die Malcapier dürfte vor etwa drei Stunden, also etwa um ½7 Uhr, ausgekniffen sein,“ begann Harst und zündete sich eine seiner Mirakulum an.

„Woher wissen Sie denn auch das?“ meinte Jobster. „Es stimmt nämlich so ziemlich. Um ¾7 entfloh sie aus dem Polizeilazarett, wo sie wegen hochgradigen Fiebers am Nachmittag, etwa um ½6, eingeliefert worden war.“

Harst lachte auf. „Fieber?! Na, das wird wohl nur ein künstliches Fieber gewesen sein.“

„Leider! Der Arzt hat sich täuschen lassen.“

„Sie entwich natürlich in der Tracht der Untersuchungsgefangenen. Sie erzählten ja vorgestern, daß man ihr absichtlich ihre Kleider weggenommen hätte, um ihre Flucht zu erschweren. Sie muß also zunächst sich irgendwo andere Kleidungsstücke verschafft haben. Dann aber muß sie, wahrscheinlich im Männerkostüm, mindestens seit ¼9 Uhr in unserer Nähe im Speisesaal des Raffles-Hotels gesessen haben. Denn gegen ¼9 stellte ich nach der Speisekarte für Schraut und mich das Menü zusammen und befahl dem Kellner, um ¼10 mit dem Servieren zu beginnen. Sie muß gewußt haben, daß wir Hühnchen bestellten, saß also sicher an einem Nachbartisch.“

Jobster schaute zum Fenster hinaus. „Wir sind sofort im Polizeilazarett. – Man hat mir das Entweichen der schönen Eugenie auch erst vor einer halben Stunde gemeldet. Ich hatte dienstlich im Hafenviertel zu tun. Wir sollten die Überführung einer sehr wertvollen Ladung an Bord eines Motorschoners überwachen. Anstatt mich nun sofort vom Hafen zurückzuholen, hat der leitende Arzt des Polizeilazaretts meinen jüngeren Kollegen Krellbram mit der Verfolgung betraut. Zu Krellbrams Revier gehört freilich das Lazarett. Aber – er ist ganz unter uns gesagt ein kompletter Idiot.“

„Donnerwetter, Jobster, so giftig sind Sie auf diesen Kollegen,“ lachte Harst.

„Mit Recht. Der Mensch ist eitel, ehrgeizig und hat Konnexionen. Sonst hat er nichts, jedenfalls nichts von – Geist oder Verstand. – Weiß der Teufel, wo er jetzt steckt.“

Das Auto hielt. Jobster sprang heraus. Wir folgten ebenso eilig. Der Chefarzt führte uns dann in eine winzige Krankenzelle, wo ein Bett, ein Tisch und ein paar andere Bambusmöbel standen. Das Bett war zerwühlt. Es war von Eugenie Malcapier benutzt worden.

Das große Milchglasfenster hatte außen ein starkes Eisengitter und innen ein festes Drahtgeflecht. Die rechte Scheibe war als Luftfenster eingerichtet. Dort fehlte das Drahtgeflecht. Aber diese viereckige Öffnung war zu eng, um einen erwachsenen Menschen, selbst eine schlanke Frau, hindurchzulassen. Außerdem schien auch das Eisengitter draußen unversehrt zu sein.

Harst kletterte auf das Fensterbrett, griff durch die Luftscheibe hindurch und rüttelte an dem Gitter. Dann hatte er plötzlich ein Stück eines der Eisenstäbe in Händen. Es war vielleicht vierzig Zentimeter lang. Er reichte es mir zu, gleich darauf ein zweites Stück.

Diese Stücke waren durch keilförmige Schnitte mit einer Stahlsäge so herausgeschnitten, daß sie, wieder eingefügt, nur nach der Seite sich herausschieben ließen.

„Das Drahtgeflecht ist nach innen zurückgebogen gewesen,“ meldete Harst weiter. „Man hat es dann wieder in die alte Lage zurückgebracht. Die Malcapier vermochte das sehr gut. Daß sie tadellos trainiert und kräftig ist, wissen wir ja. – Hier an dem einen Eisenstabe hängt auch noch ein Endchen Stoff des Gefangenenkleides. Die schöne Eugenie ist also auf diesem Wege entkommen.“

Er sprang vom Fensterkopf herab und sah sich in der Zelle um. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen mehrere Zeitungen. Harst blätterte die einzelnen Nummern durch.

Harst durchsuchte die Zelle weiter. – „Sei so gut und hilf mir, das Bett ein wenig abzurücken,“ sagte er dann zu mir. Diese Bitte war nur eine Finte. Er wollte mir lediglich zuraunen, daß ich die Zeitungen unbemerkt an mich nehmen solle. Zum Schein schaute er nun zwischen Bett und Wand, und wir brachten ersteres wieder an die alte Stelle.

Hierauf begann er, auch das Bett sehr genau zu besichtigen, warf die Kissen und die Decken auf die Erde, kippte die Matratze hoch und schob sie so herum, daß sie den Stuhl, auf dem die Zeitungen lagen, verdeckte. Er rief Jobster, der mit den anderen an der Tür stand, zu, diese zu schließen. „Es zieht hier,“ meinte er. „Das ist nicht gerade angenehm.“

So verschaffte er mir Gelegenheit, die Zeitungen unter den Rock zu schieben.

Nach einer Weile erklärte Harst dann: „Ich möchte gern ein kleines Experiment machen. Ich bitte, genau drei Minuten das elektrische Licht hier auszuschalten. Der Schalter befindet sich ja wohl im Flur. Die Oberaufseherin könnte dies tun.“

Die starkknochige Person entfernte sich, und die an der Zellendecke angebrachte Birne erlosch.

Es war jetzt völlig dunkel in dem schmalen, länglichen Raum. Nur das Fenster zeichnete sich als graues Viereck ein wenig ab, nachdem die Augen sich an die Finsternis mehr gewöhnt hatten.

Ich lehnte an der Wand neben dem Bett. Harst hatte mehr nach dem Fenster zu gestanden. Ich vernahm ein polterndes Geräusch. Dann nichts mehr. Jetzt war es mir, als ob ein Schatten über das graue Viereck des Fensters hinweghuschte.

Das Licht flammte wieder auf. Harst befand sich nicht mehr in der Zelle.

„Ah – er hat denselben Weg wie die Malcapier genommen,“ meinte Inspektor Jobster.

Die Oberaufseherin trat ein. „Es waren genau drei Minuten, Master Harst. Ich habe nach der Uhr gesehen,“ sagte sie wichtig. – Da bemerkte sie, daß Harst fehlte. Der Chefarzt deutete lächelnd auf die Luftscheibe. Man erkannte, daß das Drahtgeflecht vor der Luftscheibe weit zurückgebogen war.

Jobster schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht gedacht, daß ein Mann dort hindurchkönnte. Das Experiment war also sehr lehrreich. Aber – weshalb Harst gerade im Dunkeln hinausklettern wollte, ist mir nicht ganz klar.“ Die letzten Worte galten[8] mir. Ich konnte nur die Achseln zucken. Ich sah auch nicht recht ein, warum das Licht ausgeschaltet werden mußte.

In demselben Moment erschien Harst in der Tür. Er blieb jedoch im Flur stehen und meinte:

„So, ich wäre hier nun fertig, wir können gehen.“

Der Chefarzt begleitete uns bis zum Auto. Als Harst schon den Fuß auf dem Trittbrett hatte, wandte er sich nochmals an den Arzt, der inzwischen sehr weitschweifig berichtet hatte, wie man Eugenie Malcapiers Flucht sehr bald entdeckt hätte.

„Sie haben doch Inspektor Krellbram telephonisch von dem Vorgefallenen verständigt,“ sagte Harst so nebenbei. „Krellbram hat sich dann wohl sofort die Zelle angesehen?“

„Nein – eben nicht!“ erklärte der Doktor eifrig. „Das war überhaupt eine merkwürdige Geschichte mit diesem Telephongespräch, Master Harst. Ich hatte Krellbram kaum erst zur Hälfte das Nötige mitgeteilt, und er zeigte sich auch außerordentlich interessiert, was seine Zwischenfragen bewiesen, als ich plötzlich dann überhaupt keine Antwort mehr bekam. Er hatte offenbar aus irgend einem Grunde abgehängt. Ich rief ihn noch dreimal an, aber ganz umsonst.“

„Hörten Sie vielleicht durch den Apparat von Krellbrams Wohnung her noch ein anderes Geräusch oder sonst etwas?“ fragte Harst ziemlich gleichgültig. „Vielleicht wurde er bei dem Gespräch mit Ihnen gestört.“

„Hm – jetzt besinne ich mich: er stieß plötzlich einen Ruf aus, der offenbar nicht mir galt. Ja – ich möchte behaupten, es war ein Ausruf freudiger Überraschung. Dann blieb alles still.“

„Danke. Guten Abend.“ Harst sprang vollends ins Auto. – Jobster hatte dem Chauffeur die Polizeidirektion als Ziel angegeben. Kaum war der Kraftwagen ordentlich in Fahrt, als der Inspektor fragte:

„Nun, bester Harst, wie denken Sie über diese Flucht? Was werden wir jetzt tun?“

„Über diese Flucht?! – Genau wie Sie und Schraut denke ich darüber. Die Malcapier hat Verbündete gehabt, die ihr halfen. Woher zum Beispiel die Stahlsäge, mit der das Gitter durchschnitten war?! – Sie wurde doch bei der Einlieferung ins Polizeilazarett genau durchsucht. Das hat der Chefarzt besonders betont.“

„Sehr richtig. Diese Helfershelfer müssen vorhanden sein,“ meinte Jobster. „Darauf mußte man notwendig kommen.“

„Haben die Zeitungen denn eine solche Bedeutung?“ fragte Jobster gespannt.

„Das kann Ihnen Freund Schraut beantworten.“

„Allerdings. Ich mußte sie heimlich stehlen,“ lachte ich.

„Es sind die sechs letzten Morgenausgaben der Singapore-Post,“ sagte Harst mit besonderer Betonung. „Und dieselbe Annonce, die fraglos für unsere Eugenie bestimmt ist. – Wir wollen übrigens lieber ins Raffles-Hotel fahren. Geben Sie dem Chauffeur Bescheid, Jobster.“

Eine weitere Aussprache zwischen uns fand nicht statt. Harst erklärte, wir könnten uns nachher in unserem Wohnsalon über den Fall unterhalten.

– – – – – – – –

Als wir im Raffles-Hotel angelangt waren, verschwand Harst mit einem: „Bitte mich eine Stunde zu entschuldigen“ in seinem Schlafzimmer. Dieses lag rechts neben dem Wohnsalon; das meinige links davon. Die Schlafzimmer hatten noch besondere Ausgänge nach dem Flur.

Jobster und ich setzten uns. Wir hatten beide noch nicht zu Abend gegessen. Ich läutete nach der Bedienung und bestellte eine kalte Platte und Getränke.

„Harst ist natürlich noch ausgegangen,“ meinte Jobster.

„Fraglos. – Ich denke, wir sehen uns mal die Zeitungen an.“

Wir fanden die betreffende Anzeige nur dadurch heraus, daß sie sich gleichlautend in den sechs Blättern wiederholte.

Wir lasen sie durch, lasen sie nochmals, schauten uns an und brachen in ein herzliches Lachen aus.

„Wie – das soll für die Malcapier bestimmt sein?“ sagte Jobster dann und prustete wieder los. „Das hat ein biederer Seemann eingerückt, der sich nach seiner Flamme sehnt.“

Die Anzeige lautete, ins Deutsche übertragen:

„Erwarte Dich am 16. d. Monats ganz bestimmt, da Schiff am 17. morgens abfahrtbereit. Muß Dich unbedingt sprechen. – Es unterliegt ganz einwandfrei nicht im einzelnen dem geringsten Zweifel, daß Du abkömmlich bist. Ich sehne mich sehr nach Dir. In alter Treue – X Y Z.“ –

Ich war jetzt plötzlich nachdenklich geworden.

„Hm, lieber Jobster, – heute ist der sechzehnte!“ meinte ich. „Und heute ist Eugenie Malcapier mit Hilfe guter Freunde ausgekniffen!“

„Donnerwetter,“ entfuhr es dem Inspektor. „Das stimmt!“ – Er überflog die Anzeige abermals, fügte hinzu: „Dieser „16.“ wird auch Harst aufgefallen sein. Und wer weiß, was er sonst noch aus der Anzeige herausgefunden hat! Er findet ja stets mehr als andere.“

Der Kellner brachte das bestellte Essen. – Mittlerweile war es ½12 geworden. Die Zeit verstrich. Das Gespräch zwischen Jobster und mir stockte immer mehr. Harst war jetzt bereits anderthalb Stunden fort.

„Wo mag er nur stecken? Es ist genau Mitternacht,“ meinte der Inspektor und ließ seine goldene Uhr repetieren. Kaum war der letzte Ton des Schlagwerks verhallt, als Harsts Stimme vom Balkon her befahl:

„Schaltet für einen Moment das Licht aus.“

Der Wohnsalon besaß einen breiten Balkon nach dem Meere hinaus. Die Flügeltüren standen offen.

Wir waren mit den Köpfen herumgefahren. Von Harst war nichts zu sehen. Ich stand auf und drehte das Licht aus. Ich hörte dann Harsts Schlafstubentür klappen, schaltete die Krone wieder ein und setzte mich.

Jobster warf mir einen fragenden Blick zu. Auch ich konnte mir nicht erklären, wie Harst auf den Balkon gelangt war und was das alles bedeutete.

Kaum vier Minuten drauf trat er schnell ein, nahm am Tische Platz und langte nach Messer und Gabel. Ich hatte vorhin gleich drei Gedecke bestellt gehabt.

„Bitte – eßt noch etwas,“ sagte er hastig und legte sich Fischsalat auf. „Los doch!“ mahnte er ungeduldig.

Wir gehorchten. – Harst begann über die Flucht der Malcapier zu sprechen.

„Es wird schwer halten, dieses raffinierte Weib wieder zu fangen. Wir kennen sie ja. Hier im Chinesenviertel hat sie überall Freunde. Denkt nur an den Stern von Siam und die Piraten. Ich möchte –“

Es klopfte sehr stark. Harst rief „Herein!“

Ein junger Herr, sehr elegant gekleidet, stürzte förmlich ins Zimmer.

„Entschuldigen Sie. Ich suche meinen Kollegen Jobster. Krellbram ist mein Name – Jones Krellbram.“

Wir beide kannten Krellbram noch nicht. Nachdem Jobster uns seinem Kollegen vorgestellt hatte, nahmen wir alle wieder Platz. Ich sah, daß Harst sehr geschickt die sechs Zeitungen, die zu einem Päckchen zusammengelegt waren, vom Tische verschwinden ließ und sich auf sie hinaufsetzte.

Krellbram war ganz außer Atem. „Ich hätte mit Ihnen etwas Dienstliches zu besprechen,“ sagte er zu Jobster.

„Oh – genieren Sie sich nicht. Vor diesen Herren habe ich keine Geheimnisse,“ meinte Jobster unfreundlich.

Ich merkte, daß Krellbrams Augen immer wieder über Harst hinglitten.

„Sie kommen wohl der Malcapier wegen?“ fragte Harst. „Ja, auch wir sitzen hier nun schon fast zwei Stunden und beraten, wie man ihrer wieder habhaft werden könnte.“

Jobster und ich tauschten einen Blick. Wir verstanden. Harst wollte nicht, daß Krellbram erfuhr, daß er inzwischen sich entfernt hatte. – Die Sache wurde interessant. Die Rolle, die Krellbram hier spielte, erschien mir etwas fragwürdig.

„Ja,“ meinte Jobster. „Zwei Stunden reden wir, und nichts ist dabei herausgekommen.“

Krellbrams Gesicht zeigte für einen Moment ein zufriedenes Lächeln.

„Da kann ich den Herren helfen,“ sagte er wichtig. „Ich habe Glück gehabt. Ein Inder sah die Malcapier über die Mauer des Lazarettgartens klettern. Auf der Straße wartete eine Rikscha (zweiräderiger Wagen) auf sie, außerdem ein dicker Chinese. Dem Chinesen konnte der Inder auf den Fersen bleiben, denn die Malcapier sauste in der Rikscha davon. So konnte mein Mann später feststellen, daß der Chinese für das Weib auf dem Bahnhof eine Fahrkarte nach Johore löste und daß die Malcapier als Mann verkleidet den 10 Uhr-Abendzug nach der Hauptstadt des Fürstentums benutzte. Ich habe bereits telegraphisch Anweisung gegeben, daß sie verhaftet wird. Sie wird Johore nicht erreichen.“

Jobster schüttelte den Kopf. „Nein – haben Sie nur Glück gehabt, Krellbram! Daß auch gerade Sie die Malcapier wieder einfangen können!“ Das war so offenbare Ironie, daß Krellbram giftig hervorstieß:

„Sind Sie neidisch Jobster?!“

„Keineswegs. Ich freue mich, daß Sie auch mal etwas geleistet haben.“

Krellbram wurde bleich vor Wut. „Ich verbitte mir diesen höhnischen Ton,“ sagte er ganz heiser und stand schnell auf.

Er verbeugte sich, nahm seinen Hut und eilte hinaus.

Jobster saß mit gerunzelter Stirn da. „Ich hätte meine Zunge besser im Zaume haben sollen,“ sagte er ärgerlich.

Harst reichte Jobster die Hand. „Seine Exzellenz wird Ihnen nichts anhaben, nichts! Verlassen Sie sich nur auf mich.“ Er schwieg ein paar Sekunden. Dann:

„Krellbram hat gelogen! Eugenie Malcapier ist niemals mit der Eisenbahn geflüchtet. Ich weiß, wo sie ist. Ich könnte sie jeden Augenblick verhaften lassen. Aber ich will damit warten, bis ich das, was sie vorhat, genau durchschaue. – Hören Sie nun zu, Jobster. Sie reichen noch heute nacht Urlaub für 2 Wochen ein. Dann mieten Sie morgen in aller Frühe einen seetüchtigen, schnellen Motorkutter, ohne daß dies jedoch bekannt wird. Mit diesem Kutter fahren Sie dann stets so hinter dem Motorschoner Christine –“

„Christine?!“ rief Jobster da. „Christine – das ist ja das Schiff, das ich nachmittags[9] bewachen mußte, weil –“

„– auf den Schoner für sechs Millionen Pfund Goldbarren verladen wurden, die für die indische Kolonialregierung nach Kalkutta abgehen, ganz recht!“

„Sechs Millionen Pfund!“ stammelte ich. „Das – das sind ja 120 Millionen Mark etwa!“

„Mithin ein recht lohnender Fang,“ lächelte Harst. „Doch weiter. – Sie bleiben also mit dem Kutter stets außer Sicht der Christine. Nehmen Sie drei bis vier Ihrer Leute mit, die verschwiegen und zuverlässig sind, außerdem reichlich Schußwaffen und ein sehr gutes Fernrohr. Nachts nähern Sie sich dem Schoner so weit, daß Sie bequem ein Signal, von dortaus gegeben, erkennen. Sobald am Heck der Christine ein grünes, dann ein rotes und wieder ein grünes Licht erscheint, kommen Sie vollends heran und handeln den Umständen nach. Die Miete für den Kutter bezahle ich. – Sie wissen nun Bescheid. Leider muß ich Sie nun hinauskomplimentieren, denn Schraut und ich wollen noch ein paar Stunden schlafen. Wir haben anstrengende Tage vor uns.“

Wir drückten Jobster die Hand. Dann verließ er uns. – Es war jetzt gerade 1 Uhr morgens.

„Gehen wir schlafen – zum Schein!“ meinte Harst. „Wir müssen sehr vorsichtig sein. Wir werden fraglos ständig beobachtet.“

„Von wem denn?“ Ich wollte nun endlich wissen, woran ich war. Harst pflegte mich ja zumeist mit Andeutungen abzuspeisen. Damit sollte er heute kein Glück haben.

„Von der Polizei,“ antwortete er und suchte im Salon alles an Sachen zusammen, was uns gehörte.

Ich war sprachlos. – Von der Polizei?! Das konnte doch nur ein Scherz sein.

„Wir packen unsere Koffer fix und fertig, lassen Geld und einen Brief für den Hoteldirektor zurück und empfehlen uns über das Dach!“ sagte Harst nun, wieder in gedämpftem Tone wie vorhin. „Hilf mir, wir müssen um 3 Uhr morgens am Albert Dock sein. Dort erwartet uns Kapitän Schubert mit einem Boot. Schubert ist gleichzeitig auch der Eigentümer des Motorschoners Christine. Dieser Landsmann erleichtert uns die Sache wesentlich.“

Wir packten zunächst Harsts Koffer. Dann den meinen. Unser dritter Koffer blieb noch offen. Er enthielt unser Handwerkszeug: allerlei Kostüme, Perücken, Bärte, Schminken, Hautfärbemittel und ähnliches.

Inzwischen hatte Harst mir folgendes mitgeteilt:

Als er in der Zelle des[10] Polizeilazaretts die Zeitungen flüchtig durchsah, war er, da er ja stets den Anzeigen unter Vermischtes besondere Beachtung schenkte, auf jene Annonce aufmerksam geworden, die sich in jeder Nummer wiederholte. Diese harmlose Anzeige war für die Malcapier bestimmt. Die Worte „Es unterliegt ganz einwandfrei nicht im einzelnen“ waren absichtlich so merkwürdig gewählt. Ihre Anfangsbuchstaben enthielten den Namen „Eugenie“. Harst war hierauf sofort durch den eigenartigen, scheinbar ungeschickten Text gekommen. Weiter hatte er dann den Inhalt so gedeutet, daß die Malcapier am 16. befreit werden würde. Die Worte „daß Du abkömmlich bist“ waren im Verein mit der Tatsache, daß die Gefangene am 16. auch flüchtete, nur so zu deuten. Schließlich hatte Harst aus dem Satz: „da Schiff am 17. morgens abfahrtbereit“ und aus der Bemerkung in dem Drohbrief, daß die Malcapier „zunächst ihre Kasse auffüllen“ wolle, geschlossen, daß zwischen diesem Schiff und diesem von der Malcapier doch offenbar geplanten neuen Verbrechen ein Zusammenhang bestehen müsse. Gleichzeitig war ihm Jobsters Äußerung eingefallen, der uns erzählt hatte, er hätte nachmittags die Überführung einer kostbaren Ladung an Bord eines Motorschoners beaufsichtigen müssen. Er hatte sich dann in seinem Schlafzimmer schnell in einen Chinesen verwandelt, war zum Hafen hinabgeeilt und suchte hier eine Matrosenkneipe auf, wo er aus den Gesprächen der Seeleute alles Nötige sich zusammenstellte. Der Goldtransport im Werte von 6 Millionen Pfund bildete das allgemeine Unterhaltungsthema. So erfuhr er den Namen und Ankerplatz des Schoners, erfuhr auch, daß sechs Polizeibeamte die Goldladung bis Kalkutta begleiteten und daß Kapitän Schubert sich hatte verpflichten müssen, keine Passagiere auf dieser Reise mitzunehmen.

Er war dann nach dem Restaurant Tivoli gegangen, wo lediglich Kapitäne und Steuerleute verkehrten. Er hoffte, dort auch Kapitän Schubert anzutreffen. Im Tivoli sagte man ihm jedoch, Schubert sei verheiratet und besäße in der Nähe der Klydes Terrasse im Nordwesten der Stadt ein eigenes Haus. Als er das Tivoli verließ, merkte er, daß ihm jemand nachschlich.

„Es war ein gutgekleideter Mann, ein Europäer,“ hatte er mir erklärt. „Ich suchte ihn loszuwerden, aber der Mensch war ebenso schlau wie ich. Erst in der Nähe des Hauses des Kapitäns entwischte ich ihm – scheinbar! – Ich weckte Schubert. Als er meinen Namen hörte, ging er sofort auf meine Vorschläge ein. Ich fragte ihn dann noch nach vielerlei, bis ich in allem klar sah. Abends um zehn Uhr, teilte er mir mit, hatte ein Chinese noch drei Ballen Seide als Fracht für die Christine nach Kalkutta angemeldet und durch seine Leute auch gleich im Laderaum des Schoners verstauen lassen. Der Chinese heißt Kung Fo und gehört zu den größten Exporthändlern Singapores. – Ich wette nun: in einem der Ballen steckt die Malcapier! Daß diese Fracht erst so spät abends angemeldet wurde, sagt genug! – Als ich Schuberts Haus dann verließ, tauchte der Verfolger abermals auf. Der Kerl war zäh, war nicht abzuschütteln. Ich mußte schließlich durch einen der Wirtschaftseingänge ins Hotel schlüpfen und gelangte bis auf den Boden, wo ich eine Wäscheleine fand, an der ich vom Dache und dann von Balkon zu Balkon herabkletterte. Angenehm war dies nicht, und ob der Verfolger mich dabei bemerkt hat, weiß ich nicht recht. Er stand jedenfalls unten vor dem Hotel. Deshalb wollte ich auch im Dunkeln ins Zimmer schlüpfen.“

So weit war ich nun in alles eingeweiht. Dann begannen wir uns in zwei schmierige chinesische Kulis zu verwandeln, eine Maske, die wir schon recht oft angelegt hatten. Als Harst mir das Gesicht gelb färbte, fragte ich:

„Würdest Du diesen Europäer, der so großes Interesse für Dich hatte, wiedererkennen?“

„Natürlich! Du kennst ihn übrigens seit heute abend persönlich. Er kam zu uns, um festzustellen, ob ich der Chinese gewesen sei, der im Tivoli sich nach Schubert erkundigt hatte. Er war noch ganz atemlos –“

„Ah – Inspektor Krellbram!“ rief ich leise.

„Derselbe!“

Ich starrte Harst ganz hilflos an.

„Weswegen mag er Dich aber nur verfolgt haben?!“ meinte ich unsicher.

„Hm – weißt Du das wirklich nicht, mein Alter? Du müßtest es wissen, wenn Du heute seit unserer Fahrt zum Lazarett auf alles genau geachtet hättest. – Frage nichts weiter. Diese Einzelheit will ich doch noch für mich behalten.“

„Und die Geschichte mit den Goldbarren?“

„Sehr einfach: der Schoner wird irgendwo überfallen werden. Die Malcapier kennen wir ja bereits als die geistige Leiterin einer Piratenbande von Bangkok her. Der Chinese Kung Fo steht mit ihr im Bunde und wird das Schiff ausgerüstet haben, das die Christine kapern soll. Daß die Goldbarren nach Kalkutta transportiert werden sollten, ist ja hier in Singapore schon seit Wochen bekannt. Und Kung Fo und die Malcapier hatten diesen Anschlag auf den Goldtransport fraglos lange vor der Verhaftung unserer Feindin verabredet. Das beweist ja zur Genüge die Anzeige.“

Dies war aber auch das letzte, was Harst aus sich herauslocken ließ.

– – – – – – – –

Ich will das Folgende[11] nur kurz streifen. Schubert hatte sich sofort nach der Unterredung mit Harst an Bord seines Schoners begeben, hatte hier unter einem Vorwand zwei seiner chinesischen Matrosen entlassen, für die wir dann den Ersatz bildeten. Die Besatzung des neuen, blitzsauberen Schiffes bestand aus 12 Leuten. Außer uns „imitierten“ Kulis war kein Farbiger an Bord. Da europäische Seeleute ungern mit Farbigen das Mannschaftslogis teilen, hatten wir im Vorschiff eine kleine Kammer für uns allein. Im übrigen kümmerten sich unsere weißen Kollegen auch so gut wie gar nicht um uns. Wir wurden nur zu den niedrigsten Arbeiten an Bord verwandt, und es gehörte schon etwas dazu, diese Behandlung und diese Anstrengungen zu ertragen, denn Landsmann Schubert sollte ja auf uns nicht die geringste Rücksicht nehmen, damit wir nicht vorzeitig durchschaut würden.

Die Christine hatte in Singapore um 7 Uhr morgens die Anker gelichtet. Zwei Tage drauf verließ der Schoner die Straße von Malakka und steuerte ins offene Meer, in den Indischen Ozean, hinaus. Am Abend des dritten Tages – wir hatten am Nachmittag das Achterdeck scheuern müssen – lag ich halbtot vor Übermüdung in meiner Koje und schaute Harst zu, der sich rasierte und dann sein Gesicht frisch chinesisch färbte. Bisher hatten wir hier nichts unternommen, und es war auch nicht das geringste geschehen.

Harst hatte gerade das Färben beendet, als es klopfte und dann die Tür unserer Kammer aufgerissen wurde. Es war der Schiffsjunge, ein Neffe Kapitän Schuberts, der uns nun zurief:

„Ihr sollt zum Käp’ten kommen. Eilt Euch, faules Gesindel!“

Wir zogen unsere Leinenkittel über und standen gleich darauf in Schuberts Kajüte. Er schloß hinter uns die Tür ab. Die Fenster hatte er bereits dicht verhängt.

„Meine Herren,“ sagte er dann, „nehmen Sie Platz. – Ich möchte Ihnen vorschlagen, jetzt sofort mit mir den Laderaum zu durchsuchen, ganz besonders aber die drei Ballen Seide einmal zu revidieren, ob wirklich in dem einen jenes Weib verborgen ist. Ich kann es nicht glauben. – Sie müssen doch selbst zugeben, Herr Harst, daß wir jetzt kaum mehr einen Überfall durch Piraten zu befürchten haben. Wir befinden uns auf offener See. Der Schoner läuft so schnell, daß wir jeder Begegnung mit einem fremden Schiffe ausweichen können. In der Straße von Malakka wäre ein Angriff möglich gewesen. Hier halte ich ihn für ausgeschlossen. Weshalb wollen Sie also noch weiter Ihre erniedrigende Rolle spielen?“

Harst merkte, daß Schubert nicht weiter mit sich verhandeln ließ. Wir nahmen also gleichfalls Laternen und folgten dem Kapitän in den hinteren Laderaum.

Hier standen zwischen Kisten und Fässern die fast 2 Meter hohen, viereckigen Ballen, die zum Schutz gegen die Seefeuchtigkeit in Ölleinwand eingenäht waren.

Schubert stieß plötzlich einen Ruf der Überraschung aus.

„Zum Donner – hier – hier!“ Und dabei riß er von der Seitenwand des mittleren der Ballen ein Stück der Ölleinwand ab, die nur mit losen Stichen befestigt war.

Es zeigte sich, daß dieser Ballen lediglich eine Attrappe war. Innen hohl, konnte ein Mensch darin bequem Platz finden. Die eine Seitenwand war sozusagen als Tür eingerichtet. Schubert war auf diesen Ballen nur deshalb aufmerksam geworden, weil die aufgetrennte Naht der „Tür“, die aus gepolsterten, dicken Brettern bestand, so oberflächlich mit den anderen Kanten des Ballons vernäht worden war.

Aber – der Ballen war leer! Daß jedoch jemand ihn als Versteck benutzt hatte, bewiesen ein paar Konservenbüchsen und eine große Blechflasche, die noch einen Rest Wasser enthielt.

„Verdammt – wo ist das Weib geblieben?!“ fauchte Kapitän Schubert erregt. „Hätte ich mich nur nicht auf diese ganze Geschichte eingelassen! Nun können wir das Schiff umkrempeln, bis wir diese Kanaille finden. Sonst –“

Harst hatte nochmals in das Innere der Attrappe hineingeleuchtet und dabei einen Zettel entdeckt, der an der einen Wand mit einer Stecknadel befestigt war.

„Beruhigen Sie sich,“ unterbrach er den Kapitän „Eugenie Malcapier befindet sich nicht mehr an Bord. – Lesen Sie –“

Ich schaute dem Kapitän über die Schulter. Da stand in deutscher Sprache:

19. d. M., an Bord der Christine

Harald Harst! Bei meinen nächtlichen Schleichgängen durch den Schoner gelangte ich heute auch in das Vorschiff vor die Brettertür einer Kammer, in der Licht brannte. Durch die Spalten sah ich einen Chinesen auf seinem Kojenbett sitzen und – Zigaretten rauchen. Ich kenne den Duft Ihrer Spezialmarke Mirakulum. Wir beide haben ja schon des öfteren miteinander zu tun gehabt. Die Zigarette verriet mir, daß Sie dieser Chinese waren und der zweite, schlafende, Ihr Freund Schraut. Unter diesen Umständen will ich doch besser auf die Goldbarren verzichten. Ich kann Ihnen nur meine Anerkennung aussprechen: beinahe hätten Sie mich auch dieses Mal erwischt! – Ich verlasse kurz nach Mitternacht das Schiff. Ich habe eine Schwimmweste und alles andere mit. Meine Freunde, die in der Nähe sind, werden mich aufnehmen. – Auf Wiedersehen – sehr bald! – Eugenie Malcapier.

„Das Weib ist fraglos nicht mehr an Bord,“ sagte Harst jetzt. „Sie haben eben eingesehen, daß ihr Plan scheitern muß, weil wir uns nicht überrumpeln lassen. Trotzdem rate ich Ihnen, Landsmann, den Maschinenraum diese Nacht scharf überwachen zu lassen, – für alle Fälle. Morgen früh können wir dann das Schiff durchsuchen. Bis dahin werden wir beide auch die chinesischen Kulis bleiben.“

Zehn Minuten drauf waren wir wieder in unserer Kammer. Harst war sehr verstimmt, sprach kein Wort, warf sich auf sein Bett und sagte nur: „Gute Nacht, mein Alter! – Ein schöner Reinfall! Nun können wir zusehen, wie wir die Malcapier wiederfinden, – aber wo?!“

Ich drehte die elektrische Birne aus und legte mich gleichfalls schlafen. Harald atmete sehr bald tief und ruhig. Ich dachte noch über diese letzten Ereignisse nach. Ich verstand es sehr wohl, daß Harst sich Vorwürfe machte, weil er diese Sache etwas zu großzügig angepackt hatte. Daß die Malcapier jetzt abermals entkommen war, würde man Harst zur Last legen, der doch schon in Singapore die Möglichkeit gehabt hatte, sie aus ihrem Versteck hervorzuholen. Die Öffentlichkeit würde ihn beschuldigen, lediglich aus Abenteuerlust und aus einem Gefühl der Überlegenheit die Verhaftung hinausgeschoben zu haben. Und ich selbst mußte mir ja gleichfalls sagen, daß Harald hier wieder wie so oft den Gegner hatte glauben machen wollen, der Erfolg eines verbrecherischen Unternehmens sei schon gewiß, und daß er abermals erst im letzten Augenblick den Plan hatte vereiteln wollen. Doch – diesmal war er der – Betrogene! Und das würde er so leicht nicht verwinden.

Ich schlief dann ein. Ich besinne mich, daß plötzlich grauenvolle Träume mich ängstigten. Irgend ein Ungeheuer kniete auf meiner Brust; ich rang nach Atem. Das Ungetüm fesselte mir die Hände, die Füße.

Da erwachte ich. Aber nicht aus tiefem Schlaf, sondern aus einer kurzen Betäubung. Ich wurde sehr schnell wieder Herr über meine Sinne.

Ich lag noch auf meinem Bett, doch – ganz eng gefesselt. Die elektrische Birne an der Decke brannte. Vor der Tür hing eine große Decke. Es sollte wohl kein Lichtstrahl durch die Ritzen nach draußen fallen. Über Harsts Bett gebeugt stand eine schlanke Männergestalt in einem dunkelgrauen Flanellanzug. Unter der weichen Reisemütze sah ich rötliches, kurz geschnittenes Haar.

Eugenie Malcapier! – Blitzartig kam mir die Erkenntnis.

In ihrer Linken blitzte die lange Klinge eines malaiischen Dolches.

„Mund auf!“ flüsterte sie. „Oder – ich stoße zu!“

Ich gehorchte mechanisch, und sie schob mir einen Knebel zwischen die Zähne, band ihn im Genick fest. Dann nahm sie eine Schwimmweste vom Boden auf, schnallte sie mir um die Brust und noch eine zweite darüber. Ich hatte mich hierzu aufrecht setzen müssen. Ich sah jetzt, daß Harst bereits in derselben Weise für eine längere Schwimmpartie ausgerüstet worden war. Auch er war gefesselt und geknebelt.

Unsere Blicke trafen sich. – Und – seine Augen strahlten einen Moment wie im Triumph auf. Dann schaute er wieder zur Seite.

Die Malcapier stand jetzt mitten in der Kammer, flüsterte:

„Ich lag unter Ihrem Bett, Harald Harst, als Sie und Schraut aus dem Laderaum zurückkehrten. Es war von mir ein gewagtes Spiel. Aber – ich gewann es! Ich hatte ein Betäubungsmittel bereit. Ich hätte Sie beide töten können. Aber – Sie sollen leben bis – nun, bis es Zeit für Sie ist, zu sterben. Wir drei werden jetzt den Schoner verlassen. Wenn Sie mir versprechen, keinen Lärm zu machen, löse ich Ihre Fußfesseln.“

Sie sagte das alles mit so ruhiger Selbstverständlichkeit, daß sie mir wirklich so etwas imponierte. Harald hatte ja schon stets behauptet: „Das ist keine Verbrecherin gewöhnlichen Schlages! Das ist ein reizvolles Weib mit der geistigen Veranlagung eines klugen Schurken größten Stils!“ – Er hatte recht gehabt. Was dieses junge Weib wagte und durchführte, überragte weit den Durchschnitt gewöhnlicher Schandtaten.

Harst hatte sich gleichfalls aufgerichtet und nickte der Malcapier als Antwort nun eifrig zu. Ich tat dasselbe.

„Gut denn,“ flüsterte sie wieder, „ich weiß, daß ich es mit Gentlemen zu tun habe.“

Sie löste unsere Fußfesseln, steckte die geteerten, starken Bindfäden in ihre Tasche. Dann schnallte auch sie sich zwei Korkwesten um, befestigte sich auf dem Rücken eine große Blechbüchse, an der Ösen für zwei Riemen angelötet waren, entfernte die Decke von der Tür, schob den Riegel zurück, öffnete sie eine Handbreit und lauschte hinaus.

Sie zog nun eine elektrische Taschenlampe hervor, schaltete die Birne an der Decke aus und befahl uns, ihr leise zu folgen.

Ich ging als letzter, schob die Tür wieder zu und blieb dicht hinter Harst. Wir trugen zu unserem Chinesenkostüm Bastschuhe, die unsere Schritte unhörbar machten.

Die Malcapier fand sich gut zurecht. Nach wenigen Minuten standen wir im vordersten Laderaum an der Steuerbordladeluke. Unsere Feindin öffnete die Riegel, die den Lukenverschluß oben festhielten, und klappte die viereckige Eisenplatte nach unten.

Der Schoner lief ruhige Fahrt. Die See war nur wenig bewegt. Der Himmel mußte bewölkt sein, denn über dem Meere lastete schwärzeste Finsternis.

„Springen Sie recht weit vom Schiffe weg,“ sagte die Malcapier jetzt. „Die Wellen kommen von Nordwest und werden uns dann aus dem Bereich der Schraubenstrudel tragen. – Zuerst Sie, Master Harst!“

Harst kletterte auf den unteren Rand der Lukenöffnung, wobei die Malcapier ihm half. Dann tat er den Sprung und verschwand. Ich folgte sofort. Die Luke lag kaum 2½ Meter über dem Wasserspiegel. Ich versank, tauchte aber sogleich wieder auf. Die Korkwesten trugen mich so gut, daß ich nur bis zu den Achselhöhlen im Wasser lag.

Wie ein Schatten glitt der Schoner an mir vorüber. Ich sah die Hecklichter kleiner und kleiner werden. Plötzlich packte mich die Angst. Wie – wenn nun die Malcapier uns hier den Wogen überließ?! Wenn sie uns auf diese Weise umkommen lassen wollte, die wir doch ein Spielball der Wellen waren?!

Da – aus der Ferne irgendwoher ein Ruf – eine helle Stimme.

Nochmals der Ruf. – Er kam aus der Fahrtrichtung des Schoners, und es konnte nur unsere Feindin sein, die uns anzeigen wollte, wo sie sich befand.

Ich begann mit den Beinen Schwimmstöße zu machen. Der Ruf wiederholte sich:

„Hallo – Hallo!“

Und – ich näherte mich langsam der Stelle, woher dieses lockende Hallo erklang. Zu sehen war nichts als die weißlichen, phosphoreszierenden Wellenkämme.

Nun mußte ich ganz dicht bei der Malcapier sein; nun nochmals der Ruf, noch ein paar Schwimmstöße. Dann gewahrte ich vor mir im Wasser zwei menschliche Köpfe.

Harst war also schon zur Stelle.

„Ah – endlich!“ rief er mir zu. „Die Siegerin ist großmütig gewesen und hat mir den Knebel abgenommen.“

„Irren Sie sich nicht. Ich bin nicht großmütig,“ sagte das junge Weib drohend. Dann entfernte sie auch meinen Knebel.

„Und nun?“ fragte Harst, während uns die Wellen wie einen Klumpen auf und ab schaukelten.

„Es wird noch alles früh genug kommen!“ meinte die Malcapier, und das war abermals eine versteckte Drohung.

Dann schnallte sie die große Blechbüchse los, befestigte sie sich vor der Brust und hob mit einiger Mühe den Deckel ab, entnahm der Büchse einen länglichen Gegenstand, schraubte an der einen Seite einen Verschluß ab und warf das spindelförmige Ding einige Meter von uns ins Wasser.

„Ein bengalisches Feuer, nicht wahr?“ meinte Harst.

Die Malcapier schwieg und brachte die Büchse wieder an die alte Stelle auf den Rücken.

Wir hielten uns durch gelegentliche Schwimmstöße mit den Füßen stets neben ihr. Im übrigen war diese ganze Situation mehr eigenartig als aufregend. Wir hingen, getragen durch die Korkwesten, senkrecht im Wasser und konnten das Weitere ohne Anstrengung abwarten. Freilich – was nachher mit uns geschehen würde, das stand auf einem anderen Blatt! –

Harsts Vermutung stimmte: die Spindel war der Behälter für eine hellgrün leuchtende Masse gewesen, deren Licht jetzt plötzlich aufflammte, vielleicht fünfzehn Sekunden brannte und dann erlosch.

– – – – – – – –

Zehn Minuten verstrichen. Harst hatte mit mir während dessen über die oft wechselnde Wassertemperatur gesprochen, die wir durch die nassen Kleidungsstücke deutlich spürten. Dieser Wechsel wurde durch Tiefenströmungen herbeigeführt, erklärte Harst in aller Seelenruhe, als ob weit und breit für uns nicht die geringste Gefahr vorhanden sei.

Unsere rotblonde Feindin verhielt sich still. Jetzt aber riß ihr doch der Geduldfaden. Sie ärgerte sich offenbar über Harsts Gleichgültigkeit.

„Schweigen Sie!“ rief sie barsch. „Sie wollen ja doch nur Ihre innere Unruhe durch dieses gelehrte Gewäsch bemänteln.“

„Ich wage nicht zu widersprechen,“ meinte Harald sehr höflich. „Wenn es Ihnen recht ist, Miß Malcapier, sprechen wir über Ihre Flucht aus dem Lazarett. Inspektor Krellbram hat Ihnen die Stahlsäge und auch die Schere geliefert, mit der Sie schon in der Zelle Ihr Haar kürzten. Ich fand das abgeschnittene Haar in der Emaillewasserkanne der Zelle. Ich ließ das Licht dort ausdrehen und steckte das Haar zu mir – als Andenken. Leider warf ich die Kanne um. Das polterte etwas.“

„Weiter!“ sagte die Malcapier ironisch.

„Wie Sie befehlen. – Ich kletterte dann durch die Luftscheibe und gelangte bequem auf den Mauervorsprung, der sich unter den Fenstern des zweiten Stockwerks entlangzieht. Sie müssen denselben Weg genommen haben, denn es war der einzige, der ohne Hilfsmittel zu beschreiten war. Man kann auf dem Mauervorsprung bequem bis zur Mauerecke gelangen. Dort fand ich ein unvergittertes Fenster, dessen einer Flügel nur angelehnt war. Das kleine Zimmer, zu dem das Fenster gehörte, war das Verhörzimmer des Lazaretts, zu dem auch Krellbram einen Schlüssel besitzen wird, da das Lazarett ja in seinem Revier liegt. Die Mauer war weiß getüncht, und Sie hatten daher auf dem Fußboden dieses Zimmers geringe Fußspuren zurückgelassen. Die Tür war offen. Der Schlüssel steckte jedoch nicht im Schloß. Krellbram wird am Nachmittag Ihrer Flucht – denn er war um 5 Uhr im Lazarett, wie der Chefarzt erwähnte – die Tür absichtlich unverschlossen gelassen haben. Sie sind dann auf Umwegen in Krellbrams Wohnung geeilt, nachdem Sie im Verhörzimmer den dort für Sie bereitgelegten Herrenanzug angezogen und das Lazarett so ungehindert durch den Hauptausgang verlassen hatten. Ihr Untersuchungsgefangenenkleid entdeckte ich im Papierkorb unter allerlei Papierfetzen. Als Sie bei Krellbram anlangten, telephonierte dieser gerade mit dem Chefarzt. Krellbram war so erfreut über Ihre geglückte Flucht, daß er einen Ruf freudigster Genugtuung ausstieß und den Hörer sofort weglegte. Sie beide werden sich darauf zärtlich begrüßt haben. Diese Zärtlichkeit oder besser Ihre Reize als Weib haben Krellbram umgarnt. Er hatte Sie im Laufe der Untersuchung gegen Sie viermal vernehmen müssen, wie ich von Jobster erfuhr. Diese vier Verhöre genügten Ihnen, diesen charakterlosen Menschen in Ihre Netze zu locken. Sie beide verabredeten den ganzen Fluchtplan, und Krellbram wird Ihnen auch ein Pulver verschafft haben, durch das ein Fieber bei Ihnen vorgetäuscht wurde. Außerdem haben Sie aber auch auf Krellbrams Geldgier spekuliert und ihn in den Anschlag gegen den Goldschatz der Christine eingeweiht. Sie werden ihm versprochen haben, mit ihm nachher gemeinsam zu fliehen, sobald der Plan geglückt war. Sie waren es ebenfalls, die ihm riet, mich zu überwachen, damit ich nicht hinter Ihre Absichten käme. Ein Zufall führte mich mit Krellbram im Tivoli-Restaurant zusammen. Er schlich mir nach, der Narr! Ein doppelter Narr, denn ich wette, daß Sie ihn nur ausgenutzt haben und nie mit ihm irgendwo als Turteltaubenpärchen gelebt hätten. Dazu eignet sich eine Eugenie Malcapier nicht!“

„Bravo, Master Harst! Bravo! Es ist wirklich schade um Ihr Leben!“ meinte das junge Weib mit einem ironischen Auflachen. „Wenn wir beide gemeinsam der Menschheit den Krieg erklären –“

Sie schwieg plötzlich. Auch ich gewahrte jetzt im Süden in ungewisser Entfernung ein grünes Licht.

Die Malcapier griff in die Innentasche ihrer Jacke, holte einen kleinen Revolver hervor, feuerte dreimal in die Luft, schob die Waffe wieder in die Tasche und sagte:

„Krellbram wird sich freuen, Sie beide wiederzusehen. Es wird für ihn eine nette Überraschung werden, – vielleicht die letzte angenehme, die er erlebt!“

Gleich darauf schoß ein großer, gedeckter Motorkutter heran, stoppte bei uns, beschrieb einen Bogen und lag still.

Laternenschein tanzte über das Wasser und über uns hin. Dann Krellbrams Stimme:

„Den Teufels auch, Eugenie, was bedeutet das alles? Wer sind die beiden Kerle da neben Dir?“

Ich erkannte jetzt auch Krellbrams Gesicht. Er stand neben ein paar Chinesen hinter dem Kajütenaufbau.

„Die Sache ist mißglückt,“ rief die Malcapier. „Harst und Schraut waren an Bord der Christine. Ich bin froh, daß ich entwischen und die beiden mit mir nehmen konnte.“

„Die Pest!“ fluchte Krellbram. „Diese Halunken müßte man sofort ersäufen!“

Wir wurden an Bord des Kutters gezogen. Krellbram versetzte Harst einen Fußtritt.

„Lump – mußt Du Dich denn wirklich überall einmengen!“ Und dann folgte eine Auswahl von Schmähworten, die am besten bewiesen, wie enttäuscht Krellbram über den vereitelten Anschlag auf das Goldschiff war.

„Beherrsche Dich!“ fuhr die Malcapier den Detektivinspektor jetzt grob an. „Dieses Geschimpfe ist ja widerwärtig! – Vorwärts, schafft die beiden in die vordere Kajüte und bindet ihnen auch die Füße. Zwei von Euch bleiben als Wache bei ihnen.“

Dieser Befehl galt den Chinesen, von denen ich sieben Mann zählte. Wir wurden roh gepackt und weggeführt. Man stieß uns in die niedrige Kajüte hinein, in der eine Petroleumlampe an der Decke brannte. Ein schmaler, langer Klapptisch teilte die Kajüte der Länge nach. An den Wänden liefen Polstersofas hin. Und – in der äußersten Ecke links saß ein Mensch, gefesselt wie wir.

„Jobster!“ rief Harst. „Mann – wie kommen –“

Da hatte einer der Gelben ihm schon einen Hieb in die Rippen versetzt.

„Maul halten!“ brüllte der schmierige Hafenkuli.

Man band uns die Füße, schob uns Knebel in den Mund und hieß uns getrennt von einander Platz nehmen. Ich saß Jobster schräg gegenüber. Unser alter Freund sah zum Erbarmen elend aus. Bartstoppeln umwucherten sein schmales, intelligentes Gesicht, und in seinen Augen lag ein Ausdruck trostlosester Verzweiflung.

Der Motor des Kutters begann wieder zu arbeiten. Unaufhaltsam jagte das schlanke Fahrzeug durch die jetzt vom Morgenwinde stärker bewegte See. Die Fenster der Kajüte waren verhängt, aber nicht sorgfältig genug. Ich sah, daß es draußen hell wurde. Fahles Zwielicht breitete sich über dem Meere aus. Dann die ersten Sonnenstrahlen; dann die ersten Vogelschreie über uns.

Ich döste wie im Halbschlaf vor mich hin. – Was würde uns der neue Tag bringen?! Würde es unser letzter sein? – Tausend Fragen quälten mich. Aber ich war zu matt, um sie zu prüfen. Nur eine drängte sich mir immer von neuem auf: Wie kam Jobster hierher?!

Dann – ich schreckte auf.

Vom Heck des Kutters her war ein gellender Schrei erklungen.

Jetzt – ein fast tierisches Wutgeheul. Ich glaubte Krellbrams Stimme zu erkennen.

Das Gebrüll verstummte jäh.

Ich schaute nach Harst hinüber, der in der Nähe der Tür saß. Ihm gegenüber hatten unsere beiden Wächter Platz genommen.

Harst lächelte und nickte mir zu, zog blitzschnell die Augenbrauen hoch.

Das hieß: Achtung!

Da flog auch schon die Tür auf. Zwei dreckige Gelbe zerrten – Inspektor Krellbram hinein. Er war gefesselt und geknebelt. Sie schleuderten ihn neben Harst auf das Sofa, gingen wieder.

Krellbrams Gesicht war vor ohnmächtiger Wut bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Er richtete sich auf, stierte wild um sich, sank dann wie in einem Anfall von Schwäche in sich zusammen.

Mir aber schoß durch den Kopf: „Welch ein Weib!“ – Sie hatte Krellbram in raffiniertester Weise ausgenutzt. Nun – warf sie ihn beiseite! – Wie mochte es jetzt wohl in der Seele dieses Betrogenen aussehen?! –

Und weiter verfolgte der Kutter seine Bahn. Die Sonne stand genau auf Steuerbordseite. Also fuhren wir einen nördlichen Kurs, der uns parallel zur Küste von Unterbirma entlangführte.

Stunden vergingen. Ich schlief zeitweise ein, obwohl meine eng gefesselten Handgelenke, wundgescheuert von den dünnen, geteerten Stricken und zerfressen vom Seewasser, wie Feuer brannten.

Dann machte mich das Verstummen des Motors völlig munter. Ich blickte durch die Spalten der Vorhänge, sah kahle Felsen, ein paar Büsche und Bäume, hörte auf Deck rufen, erkannte der Malcapier helle Stimme.

Wieder wurde der Motor angelassen. Die Backbordwand des Kutters streifte kreischend irgend einen festen Gegenstand; wieder verstummte der Motor. Ich bemerkte, daß der Kutter an einer kleinen Anlegebrücke festgemacht wurde.

Dann betrat ein langer Malaie mit blauen Tätowierungen auf Stirn und Wangen die Kajüte, wechselte mit unseren Wächtern ein paar Worte, verschwand. Die beiden Chinesen stellten Harst auf die Füße, nahmen ihm die Beinfesseln ab, brachten ihn hinaus. Nach einer Weile holten sie mich, führten mich über die roh aus Baumstämmen gezimmerte Brücke an Land, dann durch ein dichtes Gebüsch und eine enge Felsspalte in einen kleinen Talkessel mit schroffen Wänden, in dem zwei halb verfallene Blockhütten standen, davor ein paar kümmerliche Kokospalmen. Nun sah ich Harst wieder. Er war aufrecht an eine der Palmen gebunden. – Vor der größeren Hütte saß Eugenie Malcapier in einem Liegestuhl und rauchte eine Zigarette. Auf einem Klapptisch neben ihr stand ein Teebrett mit allerlei Erfrischungen.

Sie beobachtete, wie man mich an die nächste Palme fesselte. Ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen, – ein Lächeln, vor dem einen das Blut in den Adern gerinnen konnte.

Dann wurden auch Krellbram und Jobster herbeigebracht. Wir vier waren nun so an die Palmen gebunden, daß wir vor Eugenie Malcapier etwa einen Halbkreis bildeten.

Ich sah jetzt, daß die Besatzung des Kutters nicht lediglich aus Chinesen bestanden hatte. Es waren auch fünf Malaien dabei und zwei Siamesen. Die Leute gingen hin und her, rauchten und schwatzten und kümmerten sich kaum um uns.

Die Malcapier warf ihre Zigarette weg, setzte sich aufrecht, rief den langen, tätowierten Malaien herbei und sagte:

„Maukara, wir wollen beginnen –“

Der Malaie eilte in die kleinere Hütte.

Jetzt wandte sie sich an uns vier. „Sie wissen, mein Vater war Besitzer einer Brigg, mit der er lange Jahre Schmuggel trieb. Dies hier ist einer seiner Schlupfwinkel. Wir befinden uns auf der kleinsten und westlichsten der Andrew-Inseln an der Küste von Südbirma. Das Inselchen ist unbewohnt. – Sie vier werden diesen Ort lebend nicht mehr verlassen. Es wäre eine Torheit von mir, Sie zu schonen. Meine Geheimnisse dürfen keine Mitwisser haben – Sie, Master Harst, glaubten damals, als der „Stern von Siam“ das Piratenschiff – mein Schiff! – in die Tiefe schickte, sämtliche meiner Getreuen unschädlich gemacht zu haben. Sie haben sich geirrt. Ich hatte in Singapore noch zahlreiche Verbündete, wie Sie jetzt feststellen können. – Als Master Jobster damals morgens, stets beobachtet von meinen Leuten, einen Motorkutter mietete, hat mein Freund Krellbram“ – sie verzog höhnisch die Lippen – „sofort vermutet, daß der Kutter der Christine folgen solle. Uns kam das sehr gelegen. Wir sparten dadurch die Ausgabe für das Fahrzeug, das, bemannt mit meinen Leuten, den Schoner nachher kapern sollte. Krellbram zeigte sich auch weiter sehr geschickt. Der Kutter Jobsters wurde durch List genommen. Leider konnte ich dann aber meinen Plan, die Christine den Meinen in die Hände zu spielen, indem ich sie leck machte, nicht zur Ausführung bringen. Ich gab das grüne Lichtsignal nicht wie mit Krellbram vereinbart als Zeichen zum Angriff, sondern um mich aus dem Meere auffischen zu lassen. Daran sind Sie schuld, Master Harst. 120 Millionen sind uns verloren gegangen. Ihr Schuldkonto ist also jetzt gefüllt –“ – Der Ton, in dem sie all das sagte, war etwa so, als ob sie in einem Salon eine spannende Geschichte als gänzlich Unbeteiligte erzählte. Sie schwieg jetzt, denn der lange Malaie führte einen Chinesen, dem die Hände auf den Rücken gefesselt waren, herbei, während hinterher ein anderer Chinese schritt, der eines der langen, zweihändigen chinesischen Hauschwerter in der Hand trug.

Der gefesselte Chinese war ein älterer Mann. Er starrte stumpfsinnig vor sich hin.

Die Malcapier befahl, uns die Knebel abzunehmen. Sofort fing Krellbram an, sie aufs gemeinste zu beschimpfen, bis Jobster ihn anbrüllte: „Erbärmlicher Lump, ich sollte nur die Arme frei haben, dann –“

Da war der lange Malaie auch schon zugesprungen und hatte Krellbram mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Krellbrams gespaltene Oberlippe blutete. Aber er beherrschte sich jetzt.

„Kennen Sie den Chinesen da?“ fragte die Malcapier unseren Freund Jobster und deutete auf den Gefesselten, der jetzt in die Knie gesunken war.

Jobster antwortete widerwillig: „Ja – ich glaube ihn zu kennen. Er verschwand vor drei Wochen aus Singapore.“

„Er war ein Polizeispitzel geworden,“ sagte Eugenie Malcapier verächtlich. „Maukara – tu’ Deine Pflicht!“

Hinter dem Liegestuhl stand jetzt die ganze Piratenbande Kopf an Kopf. – Der lange Malaie nahm das Hauschwert und rief dem knienden Opfer einen Befehl zu, worauf der alte Chinese den Hals ganz langreckte.

Ich merkte, wie mir jeder Tropfen Blut aus den Wangen wich. Ich wußte jetzt: der Alte sollte hingerichtet werden, und – wir sollten wohl die nächsten Delinquenten sein! – Ich blickte Harst an. Dessen Augen verfolgten jedoch nur die Bewegungen des Henkers, der jetzt das Schwert mit beiden Händen packte.

„Halt!“ rief Harst plötzlich. „Eugenie Malcapier, ich möchte Ihnen nur einen einzigen Namen ins Ohr flüstern, und – Sie werden sich diese Hinrichtung noch überlegen.“

Die Malcapier schaute Harst prüfend ins Gesicht, erhob sich dann und schritt auf die Palme zu, trat ganz dicht an Harald heran und fragte:

„Nun?!“

– – – – – – – –

Später, als alles glücklich vorüber, hat Harst mir erklärt, daß er noch niemals so stark das Gefühl gehabt hätte, sich auf ein Va Banque-Spiel ums Leben eingelassen zu haben, wie damals auf der kleinen Andrew-Insel inmitten einiger fünfzehn tadellos bewaffneter Piraten. Er wußte nicht, ob seine Vermutung zutraf. Irrte er sich, so waren er und wir anderen, den alten Chinesen miteingerechnet, fraglos verloren.

Der Gedanke, diese lediglich auf Kombinationen gestützte Vermutung als Waffe gegen die Malcapier zu benutzen, war ihm bereits in unserer Kammer an Bord der Christine gekommen. Deshalb auch sein triumphierender Blick, als wir gefesselt auf unseren Betten saßen. Mittlerweile hatte sich diese Vermutung zur halben Gewißheit verstärkt. Er wagte das gefährliche Spiel also, wobei es lediglich darauf ankam, möglichst schnell in den Herzen der Piraten eine Regung des Mißtrauens gegen sie hervorzurufen. Nur er konnte sich etwas derartiges übernehmen, nur er, der ein so feiner Seelenkenner war. –

Auf das fragende „Nun?!“ der Malcapier erwiderte er:

„Der Malaie Maukara ist Ihre rechte Hand, Ihr Vertrauter, nicht wahr?“ Er sprach das sehr laut, so daß Maukara gleichfalls näher trat.

„Was soll das?!“ meinte die Malcapier.

„Nun – Maukara und ein paar Ihrer Leute, die intelligentesten, sollen den Namen gleichfalls hören und – auch das übrige, was ich Ihnen noch vorhalten möchte, Miß Malcapier. Wissen Sie, daß Perlen Tränen, also Kummer, Schmerz, Enttäuschung bedeuten?“

Das junge Weib, das in dem Herrenanzug einen bildhübschen Burschen abgab, erblaßte plötzlich, warf einen scheuen Blick auf den Malaien, rief dann aber schnell gefaßt:

„Er will die Sache nur verzögern! Her mit einem Knebel –“

„Gehorcht ihr nicht!“ übertönte Harsts Stimme die unserer Feindin. „Habt Ihr nicht gemerkt, wie sie erschrak, als ich die Perlen erwähnte?! Sie betrügt Euch Leute, sie –“

Eugenie Malcapier hatte plötzlich ihren Revolver herausgerissen, legte auf Harst an.

Der Malaie schlug zu. – Die Waffe flog ihr aus der Hand, entlud sich dabei.

Zufall oder Schicksalsfügung? –: Die Kugel traf Krellbram von der Seite in die Brust. – Er brüllte auf. Doch niemand beachtete ihn.

Der Malaie hatte Eugenie Malcapiers Handgelenk umklammert, hielt sie fest, sagte ruhig:

„Der berühmte Sahib soll sprechen!“

Die anderen Piraten umdrängten die beiden.

„Ihr seid betrogen worden, Leute!“ begann Harst wieder. „Gebt acht, daß Eure Anführerin mich nicht vor der Zeit stumm macht. Sie fürchtet das, was ich weiß; sie fürchtet die – Perlen!“

Eugenie Malcapier lachte auf.

„Schweigen Sie, Sie Narr! Was für Lügengeschichten hat Ihr erfinderisches Hirn denn nun ersonnen? Ich bin neugierig!“ – Sie suchte eine Gelassenheit vorzutäuschen, die sehr unecht wirkte.

„Erzähle, Sahib,“ sagte Maukara. „Was hat es mit den Perlen auf sich?“

„Wir wollen vorher ein Übereinkommen treffen,“ erklärte Harst jetzt. „Ich werde Euch, wenn Ihr uns freilaßt, Perlen im Werte von einer halben Million Pfund verschaffen und verspreche Euch, daß Ihr von mir dann nicht weiter verfolgt werden sollt. Jeder von Euch ist reich, wenn er seinen Anteil verkauft.“

Abermals wollte die Malcapier sich einmischen. Doch das Murren der Piraten warnte sie.

„Maukara, laß diese Frau in die eine Hütte führen und streng bewachen,“ sagte Harst sehr bestimmt. „Sie wird Euch sonst noch weiter zu schädigen suchen und –“

Eugenie Malcapier hatte sich plötzlich aus der Umklammerung des Malaien befreit und lief dem Ausgange der Schlucht zu. Dies war das törichtste, was sie tun konnte. Sie wurde sehr bald eingeholt und von drei Chinesen in eine der Hütten geschleppt.

„Wollt Ihr also auf meinen Vorschlag eingehen?“ begann Harst abermals. „Ohne mich findet Ihr die Perlen nicht. – Ich lüge nie. Ich händige sie Euch aus, sobald Ihr uns in der Nähe einer Ansiedlung an Land gesetzt habt. Ebenso verlange ich, daß Ihr uns sofort die Fesseln abnehmt.“

Die Piraten traten abseits und berieten. Sie waren bald einig. – Wir wurden losgeschnitten. Nur Krellbram ließ man in den Stricken an der Palme hängen. Er war inzwischen verschieden.

Harst nahm in dem Liegestuhl der Malcapier Platz.

„Die Sache ist folgendermaßen,“ erklärte er nun und rauchte sich aus dem Etui der Malcapier eine Zigarette an. „Der Seidenhändler Kung Fo gehört mit zu Euch. Er und die Malcapier hatten den Plan gefaßt, die Christine zu kapern und das Gold zu rauben. Ihr solltet natürlich jeder Euren Anteil davon erhalten. Aber Kung Fo und Eure Anführerin mußten dann einsehen, daß der Plan undurchführbar war, da die Goldladung zu gut bewacht wurde. Sie ließen Euch jedoch in dem Glauben, der Plan sei durchaus nicht aufgegeben worden, während sie doch inzwischen noch vor der Verhaftung Eurer Anführerin einen anderen, ebenfalls recht gewinnversprechenden entworfen hatten, der Euch verschwiegen wurde. Der Perlenhändler Liu Sing in Singapore, ein guter Freund Kung Fos, wollte nämlich zugleich mit dem Goldtransport für eine halbe Million Pfund auserlesen schöne Perlen nach Kalkutta senden. Er hatte sie für die Überfahrt gegen Verlust durch Schiffbruch oder Diebstahl bei zwei Gesellschaften in Kalkutta mit ihrem vollen Werte versichert. – Dies erfuhr ich in der Nacht vor der Abfahrt der Christine von Kapitän Schubert, der[12] die Perlen in dem Schreibtisch seiner Kajüte in einem Geheimfach damals bereits aufbewahrte. Kung Fo, Liu Sing und die Malcapier beschlossen nun, daß die Malcapier die Perlen stehlen sollte. Sobald ihr dies gelungen, sollte sie den Schoner verlassen, Euren Kutter herbeisignalisieren und Euch vorlügen, sie hätte aus irgend einem Grunde von Bord flüchten müssen. Dann hätte Liu Sing nachher die beiden Gesellschaften um die Versicherungssumme geprellt, und die drei hätten rund ½ Million Pfund verdient gehabt, denn der Dieb der Perlen wäre ja nie entdeckt worden. – Ich selbst bin hinter diese wahre Absicht der Malcapier erst durch einen Zufall gekommen. Ich glaubte zuerst, die Malcapier wüßte nichts von den Perlen in dem Geheimfach. – So, das wäre alles. – Ich möchte Euch nun folgenden neuen Vorschlag machen. Wir vier, die wir hier sterben sollten, fahren jetzt sofort mit dem Kutter nach der nächsten bewohnten Insel. Ein paar von Euch begleiten uns und bringen den Kutter wieder hierher zurück. Vor der Abfahrt übergebe ich Maukara die Perlen. Die Leiche Krellbrams nehmen wir mit. Was Ihr mit Eurer Anführerin macht, ist mir gleichgültig.“

Harst erhob sich. „Gehen wir, Maukara. Ich weiß, Ihr seid einverstanden.“

Die Piraten ließen uns wirklich ungehindert ziehen. An Bord des Kutters suchte Harst nach der Blechbüchse, die die Malcapier sich auf den Rücken geschnallt hatte, bevor wir in die See sprangen. Er fand sie auch. Vor Maukaras Augen schüttete er den Inhalt auf ein Tuch. In Watte verpackt kamen so eine Unmenge prachtvolle Perlen zum Vorschein.

Noch an demselben Tage gegen 1 Uhr mittags landeten wir auf der St. Mathey-Insel. Der Kutter fuhr sofort zurück. Sechs Tage drauf waren wir wieder in Singapore, wo Kung Fo und Liu Sing bei der ersten polizeilichen Vernehmung alles eingestanden.

Inzwischen hatte Kapitän Schubert bereits aus Kalkutta an die Polizei depeschiert, daß wir beide und ebenso die in einer großen Blechbüchse aufbewahrt gewesenen Perlen von Bord der Christine verschwunden seien. –

„Hätte mir Schubert nicht damals mitgeteilt, daß die Perlen sich in seinem Schreibtisch in einer sehr harmlosen Blechbüchse befänden,“ erklärte mir Harst gelegentlich, „so würde ich den ganzen Schwindel nie durchschaut haben. So aber brauchte ich nur die Büchse in unserer Kammer auf dem Schoner im Besitze der Malcapier zu sehen, um mir sofort zu sagen: Dies muß der bewußte Perlenbehälter sein! Ich hütete mich aber, von diesem Behältnis den Piraten gegenüber zu sprechen. Sonst hätten sie ja sofort ohne mich die Perlen gefunden und wir – wären jetzt vielleicht längst auf chinesische Art hingerichtet.“

Was die Piraten auf dem Andrew-Inselchen mit ihrer betrügerischen Anführerin noch erlebten, will ich berichten in:

 

Der sprechende Kopf.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „min“.
  2. In der Vorlage steht: „Klement-Repetier-Pistole“.
  3. In der Vorlage steht: „appte“.
  4. In der Vorlage steht: „Stirun“.
  5. In der Vorlage steht: „hied“.
  6. In der Vorlage steht: „Museum“.
  7. In der Vorlage steht: „nud“.
  8. In der Vorlage steht: „gehalten“.
  9. In der Vorlage steht: „nachmitttags“.
  10. In der Vorlage steht: „der“.
  11. In der Vorlage steht: „Falgende“.
  12. In der Vorlage steht: „die“.