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Eine Bärenjagd in Kaschmir

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 63:

 

Eine Bärenjagd in Kaschmir.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.

 

1. Kapitel.

Vor dem Atlantic-Hotel im Europäerviertel der berühmten, uralten indischen Stadt Lahore hielt ein bestaubtes, großes Reiseauto.

Der Kraftwagen war von einer schlanken Frau in hellem Staubmantel gelenkt worden. Sie war sofort ausgestiegen und hatte den beiden hinten im Wagen sitzenden Personen zugerufen:

„Wartet! Ich frage nur den Hoteldirektor, ob Master Harst noch im Atlantic wohnt.“

Sie verschwand in der Glasvorhalle des prachtvollen Gebäudes, nahm die Autobrille ab und enthüllte so ein schmales, feines Gesicht mit großen, grauen Augen.

Der Hoteldirektor eilte schon herbei.

„Ich bin Lady Glarnstone,“ sagte die Dame kurz. „Ist Master Harst noch hier? Ich meine den deutschen Liebhaberdetektiv –“

„Bedauere, Mylady,“ dienerte der elegante Direktor. „Mr. Harst ist vor zwei Stunden abgereist.“

„Wohin?!“ – Die Dame stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf. „Hat er denn meine Depesche nicht erhalten?! Und – weshalb hat er mir nicht geantwortet?!“

Der Direktor lächelte höflich.

„Mylady – all die Fragen kann ich leider nicht beantworten. Mr. Harst pflegt nur seinen Freund Schraut ins Vertrauen zu ziehen; Hoteldirektoren wohl niemals.“

Die Lady merkte den feinen Spott.

„Sie haben recht!“ rief sie temperamentvoll. „Die Fragen waren töricht –“

In demselben Augenblick erschien ein eingeborener Telegraphenbote in der Vorhalle.

„Eine Depesche für eine Lady Glarnstone,“ sagte er zu dem Direktor. „Wohnt die Dame im Atlantic?“

„Ja – das heißt: ich bin Lady Glarnstone,“ erklärte die junge Frau hastig.

Der bärtige Inder reichte ihr das Telegramm und verschwand wieder.

Evelyn Glarnstone öffnete die Depesche.

Beim Lesen leuchtete es in ihren Augen auf.

„Einen Imbiß – eine halbe Flasche Sekt!“ befahl sie und schritt dem Speisesaale zu.

Der Direktor verbeugte sich. Er wunderte sich über nichts – nichts! Wenn man es mit der Gattin Lord Glarnstones, des Geheimsekretärs des Residenten von Kaschmir, zu tun hatte, mußte man sich das Wundern abgewöhnen. –

Ein Kellner kam und überbrachte dem Chauffeur und der Dienerin den Befehl der Lady, sich ins Hotel auf Nr. 91 zu begeben.

Die beiden gehorchten sofort. Als sie im Fahrstuhl zum dritten Stockwerk emporfuhren, erschienen in der Vorhalle zwei verschleierte Inderinnen. Sie erklärten dem Direktor, Lady Glarnstone hätte ihre Ziege totgefahren, und sie sollten sich hier das Geld für die Ziege abholen.

Der Direktor schickte sie daher gleichfalls nach Nr. 91 nach oben. Dieses Zimmer hatte die Lady soeben für diesen Tag belegt. –

Broosley, der Chauffeur, und Jane, die Zofe, waren wie versteinert, als die Inderinnen dann ihre Gesichtsschleier entfernten und die größere energisch befahl:

„Rasch – Ihr werdet mit uns die Kleider wechseln! Mein Name ist Harst –“ –

Dieser Harst wandte sich dann an die kleinere, etwas korpulente Inderin. Und das war ich, sein Freund und Privatsekretär Schraut.

„Lieber Schraut, – raus mit der Flasche und dem Schwamm. Färbe ihnen die Gesichter!“

Jane wollte protestieren. Aber sie wußte, daß ihre Herrin diesen Master hier treffen wollte und daß mit Mylady nicht zu spaßen war. –

Als Lady Glarnstone eine Viertelstunde später das Zimmer betrat, ging ihr der Chauffeur entgegen und sagte:

„Mylady, ich bin Harald Harst. Wir haben die Verwandlung bereits so vollzogen, wie ich es in der angeblichen Depesche, die ich Ihnen als Telegraphenbote brachte, angedeutet hatte. Hier mein Freund Schraut, Mylady.“

„Ah – Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Herren, ist wahrlich interessant,“ meinte Lady Glarnstone leise und reichte uns nacheinander die Hand. „Wirklich, Sie gleichen Broosley auf ein Haar! Und Ihr Freund kann getrost für Jane gelten, zumal mit der Autobrille!“

Dann winkte sie den beiden verschleierten Inderinnen.

„Jane – Broosley, Ihr werdet morgen mit der Eisenbahn in dieser Verkleidung nach Srinagar zurückkehren,“ flüsterte sie. „Und – daß Ihr mir über die Geschehnisse hier schweigt! Ihr wißt – es geht um Edward! – So – nun verschwindet! Broosley hat ja genug Geld bei sich –“

Die beiden Inderinnen verließen das Zimmer und das Hotel. –

„Und wir?“ fragte die Lady.

„Sie, Mylady, bleiben zum Schein zwei Stunden hier auf Nr. 91 und ruhen sich aus,“ ordnete Harst an. „Schraut und ich werden das Auto in die Anlagen des Stadtparkes bringen und dort auf dem Hauptwege neben der kleinen Tempelruine halten. Sie können überzeugt sein, Mylady, daß Ihnen jemand von Srinagar gefolgt ist und –“

„Ausgeschlossen!“ meinte Lady Evelyn. „Mein Auto holt niemand ein.“

„Oh – darüber sprechen wir später. Jedenfalls dürfte es uns gelungen sein, auf diese Weise ganz unauffällig mit Ihnen in Verbindung zu treten. – Wir waren nur scheinbar abgereist, Mylady. Auf derartige kleine Scherze verstehen wir uns. Ich habe Ihnen auf Ihre Depesche auch absichtlich nicht geantwortet, in der Sie mich hier um eine Unterredung baten und mir über das Verschwinden Ihres einzigen Kindes einige Angaben machten. Ich wußte, daß Sie auch ohne eine Antwort kommen würden. – So, Mylady, jetzt ruhen Sie zwei Stunden aus. Auf Wiedersehen im Park. Sie bemühen sich wohl zu Fuß dorthin.“ –

Gleich darauf saß Harst als Broosley am Steuer des Kraftwagens und ich hinten als Zofe Jane.

Der Park war jetzt um die Mittagstunde infolge der drückenden Hitze leer. Harald lenkte das Auto in den Baumschatten an den Straßenrand und setzte sich dann zu mir, steckte sich eine seiner parfümierten Mirakulum-Zigaretten an und meinte:

„So, wir haben jetzt die beste Zeit, den Fall Glarnstone nochmals durchzusprechen. – Vor drei Tagen erhielt ich morgens die Depesche der Lady, deren Wortlaut ich im Kopfe habe:

„Master Harst, muß Sie auf jeden Fall recht bald sehen. Mein Sohn Edward, fünf Jahre alt, ist seit acht Tagen verschwunden. Detektive aus Bombay haben nichts ausgerichtet. Edward verschwand morgens neun Uhr aus dem Schloßpark, obwohl sein Erzieher Doktor Roobfaast ganz in der Nähe saß. Sachlage läßt Deutung zu, daß Entführung Racheakt gegen meinen Gatten, der als Geheimsekretär des Residenten hier in Kaschmir bei den höchsten Würdenträgern des Maharadscha verhaßt ist. – Mein Mann seit zehn Tagen auf Bärenjagd im Gebirge und unerreichbar. Wollte mit seinem Freunde Sir Steppney drei Wochen wegbleiben. Beide leidenschaftliche Jäger. – Bitte Drahtantwort. Komme auf Wunsch im Rennauto. – Lady Glarnstone, Srinagar.“

So lautete das Telegramm, lieber Schraut. – Weil wir beide nun die Asiaten zur Genüge kennen, hielt ich es für richtig, die Sache von vornherein recht vorsichtig anzupacken. Ich bin überzeugt, daß man die Lady dauernd beobachtet hat. Und wir haben ja auch draußen vor dem Hotel gesehen, daß fünf Minuten nach Eintreffen des Kraftwagens der Lady, ein zweites Auto mit nur zwei Personen von Norden dahergerast kam, kurz vor dem Atlantic abschwenkte – weil dort das Auto der Lady hielt – und in dem Eingeborenenviertel mit seinen engen Gassen schleunigst untertauchte. Also ist die Lady verfolgt worden; also müssen wir, wenn sie nach etwa anderthalb Stunden hier erscheint, die Augen gut offen halten und auf Leute achten, die der Lady nachschleichen. Hier in dem jetzt so stillen Park wird das weiter keine Schwierigkeiten machen. – So – nun werde ich aussteigen und etwas auf und ab schlendern. Unsere beiden Koffer wird der farbige Dienstmann wohl sehr bald bringen. Ich habe den Mann ja hierher bestellt. Sollte ich etwas Verdächtiges wahrnehmen, werde ich dem Dienstmann einen Wink geben, daß er uns nicht durch die Koffer verrät.“

Der Dienstmann kam nach einer Stunde. Ich bezahlte ihn. Harst hatte sich auf eine Bank gesetzt, die hundert Meter weiter nach dem Hotel zu stand, das am Südrande des großen Parkes lag. –

Die Zeit war um. Die Lady hätte längst bei uns sein müssen. Niemand erschien.

Es war jetzt zwei Uhr nachmittags. – Harst wartete noch bis halb drei. Dann fuhren wir langsam nach dem Hotel zurück.

Der Direktor stand in der Vorhalle und trat sofort zu uns heran. Er hielt uns für Broosley und Jane. Wie sollte er auch die Wahrheit ahnen?!

„Sind Sie Mylady nicht begegnet?“ fragte er. „Sie verließ vor anderthalb Stunden das Hotel in Begleitung von zwei verschleierten Inderinnen. Es mögen dieselben Weiber gewesen sein die schon einmal der Ziege wegen hier waren. Sie sehen sich ja mit Gesichtstuch alle gleich, diese mohammedanischen Inderinnen.“

Harst winkte den Direktor ganz dicht heran und flüsterte:

„Bitte – unterdrücken Sie jede Bewegung des Erstaunens: wir sind Harst und Schraut! – Ich fürchte, die Angelegenheit der Lady wird hier noch komplizierter geworden sein. – Ist das Zimmer 91 bereits aufgeräumt worden, nachdem Mylady es verlassen hatte?“

„Nein. – Aber was bedeutet das alles, Mr. Harst?“

„Das sage ich Ihnen oben auf Nr. 91. Gehen Sie voran. Wir kommen nach einer Weile nach.“

 

2. Kapitel.

Der Hoteldirektor lehnte an einem der beiden Fenster von Nr. 91. – Harald kniete auf dem Teppich neben einem Sessel. – Dies war das Bild, das ich auf dem Zimmer vorfand. Im übrigen deutete in dem vornehm eingerichteten Raume nichts auf besondere Vorgänge hin, die sich hier abgespielt haben könnten.

Harst winkte mir zu und wies auf einen Stuhl neben der Tür. Ich setzte mich.

Harald rutschte kniend auf dem Teppich weiter, bis er dessen Rand erreicht hatte, und besichtigte nun die stark gewachsten Dielen, indem er sie mit der eingeschalteten Taschenlampe beleuchtete.

„Die Wachsschicht hat zu viele Spuren angenommen,“ meinte er dann. „Offenbar sind die Dielen heute früh frisch gewachst worden. Ich erkenne undeutlich acht verschiedene Stiefelpaare. Leider aber nicht genügend Einzelheiten, um –“ Das weitere murmelte er leise vor sich hin.

Er war aufgestanden. Der Hoteldirektor näherte sich ihm.

„Es handelt sich doch fraglos um die Entführung des kleinen Edward Glarnstone?“ sagte der Direktor unsicher. „Ist es meine Pflicht, Mr. Harst, der Polizei irgend etwas zu melden?“

„Nein. Vorläufig nicht. Lassen Sie das Auto in der Hotelgarage unterbringen und unsere Koffer hier nach oben schaffen. – Sind die Nebenzimmer frei, Herr Direktor?“

„Jawohl, Nr. 90 und Nr. 92 sind unbelegt.“

„Dann nehme ich sie gleichfalls. Das heißt: ich bezahle sie. Aber benutzen will ich sie nicht. Ich möchte nur die Gewißheit haben, daß wir hier auf Nr. 91 keine Lauscher zu fürchten brauchen.“

Der Direktor lächelte verständnisinnig und verbeugte sich.

„Woher wissen Sie von der Entführung des Kindes?“ fragte Harald nun. „Steht in der heutigen Abendzeitung etwas darüber?“

„So ist’s, Mr. Harst. Und die Zeitung bringt zu dem Fall Glarnstone recht merkwürdige Randbemerkungen.“

„Ich habe mir ein Abendblatt gekauft,“ warf ich ein.

Der Direktor verbeugte sich abermals und wollte das Zimmer verlassen. An der Tür drehte er sich um und meinte: „Mr. Harst, wenn Sie und Mr. Schraut weiter als Chauffeur und als Zofe der Lady Glarnstone gelten wollen, werde ich Zimmer Nr. 92 auf den Namen der Miß Jane schreiben.“

„Nicht nötig!“ erklärte Harald. „Wir sind bereits erkannt.“

„Ah – von wem denn?!“ rief der elegante Direktor. Und auch ich konnte eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken.

„Von – von dem Hotelpersonal,“ erwiderte Harst. „Es hat also keinen Zweck, die Maskerade fortzusetzen. – Auf Wiedersehen.“

Der Direktor zog sich zurück.

Kaum war er draußen, als Harald leise flüsterte: „Du – diese Entführung ist verteufelt ernst – für uns! Komm’ mal her. Geh’ aber im Bogen um diese Stelle der Dielen herum! – So, nun bück’ Dich. Hier hast Du meine Taschenlampe. Lies, was man mit einer Nadel in die Wachsschicht eingekratzt hat!“

Ich fand die Worte sehr bald. Sie lauteten:

Sahib Harst! Wenn Du Dich in diese Angelegenheit einmischen solltest, wirst Du den Tod Lord Glarnstones sterben.

Der Bund der Freiheit.

Diese Worte – besser diese Drohung war in englischer Sprache abgefaßt. – Sie war kurz und bündig und klar. Dieser Bund der Freiheit hatte den Lord also bereits beseitigt. Wahrscheinlich auch dessen Freund Sir Steppney.

Ich richtete mich wieder auf. „Also doch ein politisches Verbrechen!“ meinte ich.

„Scheint so, mein Alter!“ und Harald setzte sich und streckte die Beine weit von sich.

„Hm – etwas unheimlich, diese Gesellschaft!“ sagte ich und nahm in dem zweiten Sessel Platz. –

Unsere Koffer wurden gebracht. Als wir wieder allein waren, schloß Harald sofort unseren Requisitenkoffer auf und meinte: „Wir werden eine Verkleidung wählen müssen, die so tadellos ist, daß selbst der Direktor uns nicht wiedererkennt, wenn wir – Doch davon später! – Am sichersten wären wir als ältere Engländerinnen. Vorwärts also. Schließe die Tür ab. Hänge etwas über das Schlüsselloch –“

Nach einer halben Stunde musterten wir uns gegenseitig. Wir konnten zufrieden sein.

„So,“ flüsterte Harald, „nun kommt es darauf an, daß wir getrennt und unbemerkt ins Freie gelangen. Ich werde für den Direktor einen Zettel zurücklassen, daß wir ausgegangen sind – Du kannst mal vorsichtig die Tür öffnen. Ist der Flur leer, so gehst Du die Seitentreppe hinab in den Hotelpark und wartest auf mich hinten bei den Tennisplätzen.“

Der Flur war leer. Ohne jede Hast schritt ich nun den Korridor entlang. Am Fahrstuhl begegnete ich dem Direktor. Er hatte es sehr eilig. Er trug einen Brief in der Hand und beachtete mich nicht weiter, machte mir nur eine Verbeugung.

Ich mußte bei den Tennisplätzen volle zehn Minuten warten. Dann kam nicht Harst, sondern der Direktor und gab mir einen Brief, erklärte leise und sich scheu umblickend: „Große Gefahr, Mr. Schraut. Bitte lesen Sie!“ – Er ging sogleich wieder von dannen.

Ich riß den Umschlag auf, der nur zugeklebt war und nur die Aufschrift trug: „Für Schraut!“ – Auf dem Bogen Büttenpapier stand oben mit Tinte, die noch frisch war:

Sahib Harst! Ihr beide verkleidet Euch als Frauen! Ihr scheint darauf zu verzichten, noch länger zu leben.

Der Bund der Freiheit.

Darunter hatte Harald geschrieben – mit Bleistift:

„Diese zweite Warnung brachte mir soeben der Direktor. Der Brief war durch einen Inder unten im Hotelbüro für mich abgegeben worden. – Du siehst, daß dieser Bund uns überwachen läßt – und wie! Wir werden der Bande trotzdem entwischen. Komm’ sofort nach der Autogarage. Wir fahren mit Lady Glarnstones Wagen durch die hintere Parkpforte davon. Unsere Koffer nehmen wir mit. Außerhalb der Stadt ergibt sich alles weitere.“

Als ich über den Wirtschaftshof des Hotels schritt und die Garage vor mir sah, hatte Harald, der noch immer als ältere Dame verkleidet war, den Motor bereits angekurbelt. Ich sprang in den Wagen, und dieser setzte sich auch in Bewegung.

Und – nun kam das erste Unheil: die Steuerung funktionierte nicht. Mehr noch: das Auto raste mit Höchstgeschwindigkeit gegen die Mauer, die den Hof von dem Parke trennte. Wir konnten gerade noch im letzten Augenblick abspringen.

Ein furchtbarer Krach.

Das Auto bäumte hoch und überschlug sich. Ein Glück, daß der Motor nicht explodierte.

Im Nu war eine Menge von Hotelangestellten versammelt. Harald jagte sie weg. Der Direktor erschien ebenfalls.

Harst kroch dann – ein trotz der ernsten Situation recht komischer Anblick – unter das Auto und tauchte erst nach einer Viertelstunde wieder auf. Ich sah, daß er mit seiner Taschenlampe am Rade der Steuerung etwas beleuchtete.

Der Direktor ließ darauf den Kraftwagen wieder aufrichten. Wir gingen auf unser Zimmer, wo der Direktor sich dann ebenfalls einfand. Er hatte einen Briefbogen in der Hand und reichte ihn Harald mit ganz verstörter Miene.

Wir lasen:

Das Hotel wird in die Luft gesprengt, falls Sahib Harst es nicht bis 7 Uhr verlassen hat.

Der Bund der Freiheit.

Harald nickte. „Ja – die Leute lassen nicht mit sich spaßen! – Sie möchten uns gern los sein, Direktor, nicht wahr?“

„Oh – es ist für das Atlantic-Hotel gewiß eine große Ehre, Mr. Harst, gerade Sie als Gast –“

Harst lachte laut auf. „Na also! Sie komplimentieren uns hinaus. – Gut! Wir gehen! Es ist jetzt 6 Uhr 15 Minuten. In zehn Minuten tragen wir wieder unsere Sportanzüge und werden also 6 Uhr 28 Minuten unten im Speisesaal soupieren. Lassen Sie unsere Koffer dann in die Vorhalle schaffen. Um 6 Uhr 58 Minuten sagen wir dem Atlantic lebewohl.“

Der Direktor atmete erleichtert auf und eilte davon.

Als wir dann den Speisesaal betraten, wurden wir von sämtlichen Tischen aus neugierig gemustert.

Es war nur noch ein Tisch frei. Und der war für uns belegt. Wir setzten uns. Die Musik begann einen Walzer zu spielen. Das hier versammelte internationale Touristenpublikum legte sich, was sein Interesse für uns betraf, keinerlei Zwang auf.

Kaum hatten wir Platz genommen, als der farbige Kellner auch schon die Suppe servierte.

Harald rührte gedankenvoll mit dem schwer silbernen Löffel darin umher und sagte dann leise:

„Es ist doch sicherer, mein Alter, wir verzichten auf das Menü. Ich habe keine Neigung, mich hier vergiften zu lassen.“

Ich glaube, ich bin in dem Moment etwas blaß geworden.

Harald blickte mich an. „Wir werden die Probe machen,“ fügte er hinzu und winkte einem anderen Kellner.

„Holen Sie mir ein Huhn!“ befahl er.

Der Kellner dienerte und kehrte dann in Begleitung des Direktors mit einem Deckelkorbe zurück. – In dem Korbe befand sich eine indische Zwerghenne.

Harst flößte ihr einen halben Löffel Suppe ein.

Das arme Tierchen wurde sofort sehr lebhaft, schlug mit den Flügeln und bewegte sich dauernd in dem Korbe.

Der Direktor war jetzt aschfahl. – „Begleiten Sie mich in den Anrichteraum,“ sagte Harst zu ihm. „Der Kellner, der uns bedient, wird sich dort befinden.“

Ich blieb allein an unserem Tisch zurück. Nach fünf Minuten kamen Harald und der Direktor, und ersterer hob den Korbdeckel ab.

Das Huhn war tot.

Harst hob es an den Beinen empor. – Die Musik brach plötzlich ab. Die Gäste umringten unseren Tisch.

„Oh – beunruhigen Sie sich nicht, meine Herrschaften,“ sagte Harald sehr laut. „Dieses Gift hat seinen Zweck erfüllt. Das Huhn lebt nicht mehr. Die Sache hat also ihre Richtigkeit!“

Diese kurze Ansprache klang sehr ironisch. Und der Nachsatz desgleichen:

„Sie wissen wer ich bin, meine Herrschaften. Nehmen Sie wieder Platz. Sie können überzeugt sein, daß Ihre Speisen nicht vergiftet sind. Nur mein Teller Suppe enthielt –“

Er schwieg mit einem Mal und drängte sich durch die Leute hindurch, lief hinter einem einzelnen Herrn drein, der gerade der Saaltür zuschritt, und vertrat ihm den Weg.

„Halt, Master!“

In seiner Rechten hielt er jetzt die kleine Clementpistole.

„Halt – ich beschuldige Sie, mir nach dem Leben getrachtet zu haben!“ rief er.

Ich war ihm sofort gefolgt.

Der schlanke, bartlose, sonngebräunte Herr, den er auf diese Weise gestellt hatte, sagte achselzuckend:

„Mr. Harst, Sie irren sich. Mein Name ist Robert Darbington. Ich bin ein durchaus harmloser Vergnügungsreisender. Meine Papiere stehen Ihnen zur Verfügung.“

In demselben Moment tauchten zwei Polizeibeamte und der Detektivinspektor Blooce auf, den wir bereits kannten.

Blooce trat mit Harst beiseite. Dann forderte er Mr. Darbington auf, ihn nach dem Polizeigebäude zu begleiten.

Das Polizeiauto wartete vor dem Hotel. Wir vier – Blooce, Darbington und wir beide – bestiegen das Auto. Unsere Koffer wurden gleichfalls aufgeladen. –

In Blooces Dienstzimmer legte Darbington seine Papiere vor. Er hatte sogar einen Ausweis mit Lichtbild mit. Er war Angestellter einer großen Londoner Versicherungsgesellschaft und befand sich seit drei Wochen in Indien auf einer Urlaubsreise. Sein Benehmen war durchaus einwandfrei.

„Sie beschuldigen Mr. Darbington also, Ihnen Gift in die Suppe im Servierraum geschüttet zu haben?“ fragte Blooce jetzt Harald mit etwas verlegenem Gesicht, da ihm dieser Darbington offenbar ganz harmlos vorkam.

Harald verneinte zu unserem grenzenlosen Erstaunen.

„Durchaus nicht!“ sagte er. „Das Gift habe ich selbst hineingetan.“

Darbington fuhr jetzt wütend auf:

„Mr. Harst, ich werde Sie dieserhalb zur Rechenschaft ziehen! Das ist ja unerhört!“

Harald lehnte am Schreibtisch Blooces.

„Sie sind ein Narr!“ meinte er eisig. „Sie kämpfen hier auf der Gegenseite und haben schon halb verspielt. Sie waren der Mann, der gegen vier Uhr nachmittags dem Hotel gegenüber auf einer Bank im Parke saß – mit falschem blonden Bart und Kneifer! Sie waren dann mit dabei, als zwei als Inderinnen verkleidete Leute Lady Glarnstone aus dem Hotel wegbrachten; Sie waren eine dieser Inderinnen. Und dann haben Sie das Steuer des Autos demoliert, damit wir –“

Darbington hob mit ironischem Lächeln die Schultern und rief dazwischen: „Phantastereien! Nichts weiter!“

„So?!“ sagte Harald überlegen. „Sie tragen zunächst denselben grauen Sportanzug wie der Mann auf der Bank. Und die Fußspur dieses Mannes war in einer frisch gesprengten Stelle des Parkweges genau abgezeichnet. Diese Spur war die von sogenannten Bergstiefeln, von deren Sohlen die Nägel nur entfernt worden waren. – Bitte – heben Sie doch mal einen Ihrer derben Stiefel hoch. – Weshalb zögern Sie?!“

Darbington gehorchte widerwillig. Tatsächlich waren an den Sohlen noch genau die kantigen Vertiefungen der Bergnägel zu sehen.

„Dieselbe Spur,“ fügte Harst rasch hinzu, „fand ich auf den gewachsten Dielen von Nr. 91 und vor der Garage in einem Ölfleck. Ich sah Sie dann bereits, als wir beide, Schraut und ich, den Speisesaal betraten. Sie hatten Ihre Augen schlecht in der Gewalt. Ich rechnete damit, jemand von der „Gegenpartei“ im Speisesaale anzutreffen. Deshalb steckte ich das Gift zu mir, damit ich einen Anlaß hätte, den Mann dann verhaften zu lassen, der mir verdächtig erscheinen sollte.“

„Alberne Hirngespinste!“ meinte Darbington wegwerfend. „Was sollte ich wohl für ein Interesse an Ihrer Person nehmen, Mr. Harst?! Und – was geht mich Lady Glarnstone an?! Ich habe die Dame heute zum ersten Male gesehen. Ich bin erst heute früh in Lahore eingetroffen. Mein Koffer befindet sich noch auf dem Bahnhof. Ich habe Indien bisher nicht gekannt. Jedenfalls verdächtigen Sie mich völlig grundlos, Mr. Harst.“

„Wenn Sie heute früh hier erst angelangt sind, Mr. Darbington, – wo weilten Sie gestern und die letzten Tage überhaupt?“

„Das geht Sie gar nichts an, Mr. Harst. Trotzdem will ich Ihnen antworten. Ich bin gestern den Tag über Eisenbahn gefahren. Ich war von Bombay bis Surat acht Tage zu Fuß gewandert. Von Surat benutzte ich gestern früh die Bahn hierher.“

Jetzt rief auch Detektivinspektor Blooce ärgerlich:

„Herr, das ist doch Schwindel! Welcher Europäer treibt sich eine Woche lang in Indien auf den Landstraßen umher?“

Auch Harst lächelte zweifelnd und meinte: „Die Wahrheit Ihrer Angaben wird sich nachprüfen lassen. Ich –“

In diesem Augenblick betrat ein Polizeibeamter das Zimmer und meldete Blooce:

„Lady Glarnstone wünscht den Sahib Inspektor sofort zu sprechen.“

Ich merkte, wie über Darbingtons Gesicht blitzschnell ein Schimmer höhnischen Triumphes glitt. –

Die Lady erschien. Sie war aschfahl. Ihre Lippen bebten. Ihre Augen flogen über uns hinweg und blieben auf Harst haften.

„Mr. Harst,“ sagte sie mühsam und ganz heiser vor Erregung, „ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich mein Kind zurückerhalten habe. Es handelte sich lediglich um den Racheakt eines von mir entlassenen Dieners. Bemühen Sie sich bitte nicht weiter, Mr. Harst, und herzlichen Dank für die Bereitwilligkeit, mit der Sie –“

Harald hatte eine kurze Handbewegung gemacht, durch die Lady Glarnstone zum Schweigen veranlaßt wurde.

„Geben Sie sich keine Mühe, Mylady, den Sachverhalt noch mehr zu verwirren,“ sagte er dann. „Einem Harald Harst gegenüber sind solche Versuche zwecklos.“

Die Lady starrte Harst mit geradezu verzweifeltem Gesicht an.

„Wollen Sie die Angelegenheit trotzdem weiterverfolgen?“ rief sie flehend. – Dann schien sie sich bewußt zu werden daß sich aus diesem angstvollen Ausruf so mancherlei Schlüsse ziehen ließen. Man merkte, wie sie sich plötzlich gewaltsam zusammennahm und ein Lächeln auf ihr Antlitz zwang, das jedoch nur wie eine Grimasse schlecht verhehlter Todesangst wirkte. – „Es spielen hier noch mancherlei Mißverständnisse mit,“ sagte sie dann, recht harmlos tuend. „Ich bin eben eine allzu besorgte Mutter, Mr. Harst. Nicht wahr, die Sache ist damit abgetan.“

„Gewiß, Mylady!“ erklärte Harald. „Ich möchte Sie nur noch bitten mir mitzuteilen, welche Rolle dieser Herr da, der sich Darbington nennt, in dieser Angelegenheit spielt.“

Lady Evelyn Glarnstones Augen schlossen sich für einen Moment. Sie wurde sehr rot. Dann sagte sie, wieder die Unbefangene spielend:

„Master Darbington ist – Detektiv. Ich hatte ihn mir aus Bombay bestellt. Er hat Sie, Mr. Harst, offenbar für einen der – der Gegenspieler gehalten, und deshalb wird er an meinem Auto die Steuerung demoliert haben, um – um –“

Da meldete sich Inspektor Blooce abermals, und zwar in streng dienstlichem Ton:

„Mylady, mag auch Mr. Harst die Sache als erledigt betrachten. Ich als Beamter muß mich einmischen. Setzen Sie sich bitte, Mylady. – Und Sie, Mr. Darbington, verhafte ich hiermit im Namen –“

Er kam nicht weiter.

Darbington hatte mit zwei Sätzen die Tür erreicht, stürmte hinaus. Harst wollte hinterdrein.

Aber die Lady vertrat ihm den Weg, stellte sich vor die Tür, schloß mit dem von innen steckenden Schlüssel blitzschnell ab und warf den Schlüssel zum offenen Fenster geschickt in den Vorgarten hinab.

All das geschah in wenigen Sekunden.

Harst eilte ans Fenster. Das Zimmer lag im ersten Stock. Auch Blooce und ich liefen an das zweite Fenster und beugten uns hinaus.

Unten hielt ein offenes, dunkelgrünes Auto. Darbington sprang hinein. Der Motor war nicht abgestellt worden. Das Auto raste sofort davon. Vorn saß ein Inder mit langem, schwarzem Bart als Chauffeur.

Harst rief uns zu: „Das war ein netter Reinfall!“

Ich nickte nur, trat vom Fenster zurück und drehte mich um. Lady Glarnstone war verschwunden!

„Verdammt!“ entfuhr es Blooce. „Das Weib hat uns doppelt geleimt. Sie hat nur so getan, als hätte sie die Tür abgeschlossen –“

Er rannte in den Flur.

Wir hörten durch die Fenster das rasch sich näherndes Knattern eines Autos.

Und – sahen, wie Lady Glarnstone demselben grünen Auto entgegenlief, das offenbar sofort hinter der Straßenbiegung umgekehrt war; sahen, wie Blooce und drei Beamte ihr dicht auf den Fersen waren, wie sie dann auf das Trittbrett des Kraftwagens sprang, der seine Geschwindigkeit nur für Sekunden verringert hatte, – wie Darbington die Lady festhielt und das Auto weiterjagte.

Blooce mußte die Verfolgung natürlich aufgeben. Er schickte aber einen Beamten mit einem Motorrad dem Kraftwagen nach.

„Zwecklos!“ meinte Harald achselzuckend. „Der gute Blooce hätte sich das sparen können!“

 

3. Kapitel.

Blooce trat ein.

„Mr. Harst, was bedeutet das alles?“ rief er atemlos. „Werden Sie daraus klug?!“

„Bis jetzt nicht,“ erwiderte Harald. „Ich werde mir aber Mühe geben, daraus klug zu werden.“

Er lehnte an Blooces Schreibtisch. „Schraut, gib mir mal die Abendzeitung. Der Hoteldirektor sprach ja von einem längeren Artikel,“ sagte er dann zu mir. –

Er faltete das Blatt auseinander und las halblaut vor:

„Die Entführung des einzigen Kindes und Erben Lord Percy Glarnstones, Geheimsekretärs des Residenten von Kaschmir, hat in Srinagar, der idyllischen Bergstadt, allgemeines Aufsehen erregt, zumal das Ehepaar Glarnstone weit über die Grenzen Kaschmirs hinaus wegen seiner Extravaganzen bekannt geworden ist –“

Es folgte eine kurze Beschreibung der Entführung. Dann hieß es weiter:

„Das Ehepaar Glarnstone hat in letzter Zeit weit mehr von sich reden gemacht, als dem Ansehen des hohen englischen Adels zuträglich ist. Das Verhältnis zwischen den Ehegatten ist sehr schlecht. Dies weiß in Srinagar der letzte, ärmste Kuli. Die Europäer haben sich von Glarnstones ganz zurückgezogen, und es heißt, daß der Lord täglich die Abberufung von seinem verantwortungsvollen Posten erhalten soll. Dies wäre im Interesse aller Briten nur zu wünschen. Ein Spieler gehört nicht auf einen solchen Posten. Und eine Frau, die jeden Tag mit ihren Autos Menschenleben gefährdet, sollte unter Aufsicht gestellt werden.“

So lautete der Artikel. –

Harald meinte kopfschüttelnd: „Das ist ja eine überaus scharfe Sprache, die die Zeitung hier führt. Die Glarnstones müssen es toll getrieben haben!“

Blooce hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und schaute mit gerunzelter Stirn vor sich hin. – „Was soll nun geschehen, Master Harst?“ fragte er seufzend. „Diese Geschichte wird bald in allen Zeitungen stehen. Man kann es gar nicht geheim halten, daß die Lady uns derart geleimt, das heißt, Darbington zur Flucht verholfen hat und dann selbst geflohen ist. – Sie hat sich durch diese Sache doch vollständig unmöglich gemacht. Mehr noch: sie muß wegen Begünstigung der Flucht eines Verhafteten zur Verantwortung gezogen werden –“

„Falls Sie sie fangen, Blooce,“ warf Harst ein. „Depeschieren Sie sofort an alle Städte, die ein von hier flüchtendes Auto passieren könnte –“

„Ist schon geschehen, Mr. Harst.“

„Gut, dann rufen Sie mal die Polizei in Srinagar telephonisch an. Ich möchte den dortigen Polizeichef sprechen. Kennen Sie ihn, Blooce?“

„Ja. Es ist ein Mr. Kollingloof[1], ein sehr befähigter Herr. Wir beide waren früher in Patna bei der dortigen Polizei.“ –

Nach zehn Minuten meldete sich Kollingloof.

„Hier Harald Harst,“ rief dieser zurück. „Ja – allerdings, Harald Harst. Ich wollte fragen, ob sich in der Angelegenheit Glarnstone etwas Neues ereignet hat. – Ah – wirklich?! Tödlich verunglückt? Und Sir Steppney, sein Freund? – Wie – ich verstehe nicht. Bitte nochmals wiederholen. – Danke, nun weiß ich Bescheid.“

Er legte den Hörer weg und sagte zu uns: „Der Lord ist auf der Jagd verunglückt und tot. Seine von einem Bären halb zerfleischte Leiche wurde gestern von Holzfällern aufgefunden und ist heute nach Srinagar gebracht worden. Sir Steppney, der Freund und Jagdgefährte des Lords, ist ebenfalls verwundet und wurde besinnungslos mit fürchterlichen Bißwunden hundert Meter weiter im Dickicht einer Schlucht entdeckt. Er ist nicht vernehmungsfähig, und es erscheint zweifelhaft, ob er mit dem Leben davonkommen wird.“

Blooce und ich starrten Harald ungläubig an. Dann meinte der Inspektor kopfschüttelnd: „Wenn das nur wirklich Bären gewesen sind, Mr. Harst! – Gewiß, der schwarze Kaschmirbär ist eine grimmige Bestie von ungeheurer Stärke und Wildheit. Aber – Sie erzählten mir doch von den Worten auf den gewachsten Dielen von Nr. 91, Mr. Harst! Und da hat doch gestanden: „Dann wirst Du den Tod Lord Glarnstones sterben! – Der Bund der Freiheit.“ – Ob nicht der Lord und Sir Steppney die Opfer eines politischen Attentats geworden sind?“

„Man muß es nach dem Inhalt dieser an mich gerichtet gewesenen Drohung eigentlich annehmen,“ nickte Harald versonnen. „Mr. Kollingloof erklärte mir durch das Telephon, er würde die Leiche Lord Glarnstones nicht eher zur Beerdigung freigeben, bis ich sie mir angesehen hätte. Er bat mich, nach Srinagar zu kommen. – Wie ist’s, Blooce, kann man hier in Lahore ein Rennauto mieten? Ich möchte sofort aufbrechen.“

„Hm – ein Rennauto!“ murmelte der Inspektor. „Halt – der indische Großkaufmann Shandra Sing besitzt einen ganz neuen achtzylindrigen Wagen. Warten Sie, ich rufe ihn mal an. Wir sind gut bekannt miteinander. Er tut mir gern einen Gefallen.“

Blooce telephonierte mit dem indischen Millionär, der uns denn auch versprach, seinen Wagen um neun Uhr bereitzuhalten.

Wir begaben uns jetzt in Blooces nahe Privatwohnung, wo wir zu Abend speisten. Harald war sehr schweigsam. Der Inspektor und ich erörterten den Fall Glarnstone nach allen Seiten hin, ohne eine Lösung für die zahllosen Widersprüche zu finden, die die Geschehnisse hier in Lahore enthielten.

Um halb elf Uhr abends verließen wir Lahore. Die tadellos gepflegte, breite Straße bis Badrawar, das bereits in den Vorbergen des Himalaya liegt, war nachts wenig belebt. Morgens gegen sieben Uhr tauchten die Schneehäupter der Himalaya-Ketten in der Ferne auf. Bisher war uns nichts zugestoßen. Harst saß jetzt am Steuer des langen Wagens, der ruhig und gleichmäßig lief. Nachmittags gegen sechs Uhr begannen die Vorberge. Abends um zehn Uhr waren wir in Badrawar, wo es nur ein einziges modernes Hotel gibt. Wir machten hier zwei Stunden Rast. Der Hotelbesitzer, ein Franzose namens Bestille war ein sehr redseliger Mann. Er erzählte, daß vor drei Tagen zwei Autos von Norden her die Stadt passiert hätten, und zwar sei das erste zwei Stunden vor dem zweiten angelangt; beide hätten vor dem Hotel gehalten, aber nur kurze Zeit. Die Insassen kannte er nicht.

„Was taten die Leute hier während des kurzen Aufenthalts?“ fragte Harald gespannt.

„Es stieg jedes Mal einer der Insassen aus und begab sich zur nahen Post.“

„Können Sie mir sagen, was sie dort wollten?“

„Ja. Der Beamte, der Nachtdienst hatte, hat es mir erzählt. Sie betraten die Telephonzelle. Der Beamte hatte sich mit in die Leitung aus Neugier eingeschaltet, Mr. Harst. Ich würde Ihnen dies nicht anvertrauen, wenn ich nicht wüßte, wen ich vor mir habe. Beide Männer ließen sich mit Srinagar verbinden und fragten eine bestimmte Nummer an, ob „alles in Ordnung“ sei – wörtlich – und erhielten dieselbe Antwort „Alles in Ordnung“. – Die Männer trugen Autobrillen. Der eine war graubärtig, der andere, schlankere, der mit seinem Auto zwei Stunden später eintraf, hatte einen blonden Bart.“

„Schweigen Sie hierüber, Master Bestille,“ bat Harst. „Ich bin einer ungeheuren Schurkerei auf der Spur, in die man mich absichtlich mit hineingezogen hat.“ –

Wir fuhren weiter. Wir hatten Badrawar jedoch erst eben verlassen, als Harst, der vorn neben dem Chauffeur saß, sich zu Blooce und mir umdrehte und rief:

„Tamison (das war der Polizeichauffeur) erzählte mir schon vorhin beim Einsteigen, daß ein großes Reiseauto an dem Hotel vorübergekommen ist, während wir unsere Mahlzeit einnahmen – ein Auto mit drei Personen. Wir haben also allen Grund, recht vorsichtig zu sein.“

Blooce meinte, die Insassen dieses Autos könnten doch nur die Lady und Darbington gewesen sein, worauf Harald nur die Achseln zuckte und sich wieder nach vorn umwandte.

Unsere Scheinwerfer beleuchteten die Bergstraße gut hundert Meter voraus. Ich gebe zu, daß mir jetzt etwas unbehaglich zu Mute war. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, um was für eine ungeheure Schurkerei es sich hier handelte. Aber ich wußte nichts – nichts! Die Rolle, die Lady Glarnstone bei alledem spielte, blieb mir ein Rätsel.

Merkwürdigerweise ereignete sich nichts, was auch nur den Verdacht hätte aufkommen lassen können, daß ein Attentat auf uns beabsichtigt gewesen sei.

Abends gegen neun Uhr trafen wir dann nach einer wundervollen Fahrt durch die großartige Hochgebirgswelt Kaschmirs in Srinagar, der Sommerresidenz des Maharadscha, ein, hielten vor dem Polizeigebäude und wurden zu Mr. Kollingloof geführt, der im ersten Stock des Hauses seine Dienstwohnung hatte.

Der Beamte, der uns drei zu seinem Chef brachte, erklärte, als wir die Treppe emporstiegen:

„Lady Glarnstone ist vor zwei Stunden wieder in Srinagar angelangt und befindet sich bei Mr. Kollingloof.“

Das war ja eine ungeahnte Überraschung! Die Lady bei dem Polizeichef! Was bedeutete das[2] nun wieder?!

Harst warf mir einen besonderen Blick zu. Und Blooce meinte leise: „Aus der Geschichte mag der Teufel klug werden!“

Kollingloof kam uns dann bis in den Flur entgegen. Er war ein hagerer, kleiner, nervöser Mann. Er drückte uns die Hände und flüsterte:

„Lady Glarnstone sitzt in meinem Arbeitszimmer. Sie hat mir bereits alles erzählt. Sie ist jetzt völlig gebrochen. Der Tod ihres Gatten, den ihr der Erzieher ihres Söhnchens telephonisch gemeldet hatte, hat sie vollständig vernichtet –“

Wir traten ein. Die Lady saß in einem tiefen Sessel. Sämtliche Birnen der elektrischen Krone brannten. Die Frau war aschgrau, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

Wir verbeugten uns. Dann sagte Harald überaus höflich, nachdem wir Platz genommen hatten:

„Mylady, Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie mir –“

Sie hatte eine müde Handbewegung gemacht. „Sie sollen alles erfahren, Mr. Harst,“ meinte sie mit unsicherer Stimme, während ihr die Tränen wieder über das Gesicht liefen. „Meine Handlungsweise ist nur dann zu verstehen, wenn man meinen Gatten kennt. – Sie, Mr. Kollingloof,“ wandte sie sich an den Polizeichef, „kennen ihn zur Genüge. Er hat aus mir das gemacht, was ich heute bin: ein Weib, das alle Welt betrogen hat, indem sie eine Entführung ihres Sohnes vortäuschte! – Mein Mann ist roh und brutal. Er hat mich allerdings vor sieben Jahren aus Liebe geheiratet. Doch das, was er Liebe nannte, war lediglich Selbstsucht. Er besaß kein Vermögen. Er glaubte, ich wäre sehr reich. Als sich dann herausstellte, daß mein Vater, der in England ein Gut und eine Kohlengrube hatte, selbst vor dem Konkurs stand, begann mein Elend. Ich habe es all die Jahre geduldig getragen. Aber schließlich wollte ich mich von Percy trennen. Ich beabsichtige, diese Flucht recht geheimnisvoll zu gestalten. Ich gewann den Hauslehrer Doktor Roobfaast, meine Zofe Jane und meinen Chauffeur Broosley für meinen Plan. Als Percy mit Sir Steppney zur Bärenjagd in die Berge geritten war – er hatte noch zwei Diener mitgenommen, – ließen wir den kleinen Edward verschwinden. Broosley verbarg ihn in seiner Wohnung. Das Kind ist sehr aufgeweckt, liebt mich über alles und ging daher auf die Komödie gern ein. Ich fuhr dann zum Schein zu Ihnen nach Lahore, Mr. Harst, um Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der kleine Edward saß mit im Wagen, aber unten auf dem Boden, und war zumeist in Decken gehüllt. Broosley hat in Lahore Verwandte. Bei diesen gaben wir Edward ab, bevor wir nach dem Atlantic-Hotel weiterfuhren. – Als Sie beide, Mr. Harst und Mr. Schraut, dann mit meinem Auto im Parke auf mich warteten, kam Jane, noch als Inderin verkleidet, mit dem gleichfalls verkleideten Darbington ins Hotel. Darbington ist eine Persönlichkeit, über die ich nur so viel weiß, daß er vor vierzehn Tagen hier in Srinagar auftauchte und mit Percy heimlich viel zusammenkam. Darbington sah bald so, bald so aus. Er ist ein Meister der Verkleidungskunst. – Darbington erklärte mir auf Zimmer 91 dann, daß es ihm gelungen sei, meinen Sohn nun wirklich mir zu entführen, und daß ich Edward nur dann lebend wiedersehen würde, wenn ich ihm – Darbington – sogleich folgte. Aus Angst ging ich mit. Ich hatte schon vorher in die Wachsschicht des Fußbodens jene Drohung eingeritzt. Mein Mann und auch Sie sollten eben glauben, wenn ich nachher ebenfalls verschwunden war, daß Edward und ich von Mitgliedern des Freiheitsbundes beiseite geschafft worden seien. Gerade weil ich Ihre Hilfe, Mr. Harst, in Anspruch genommen hatte, konnte mein Gatte, wie ich mir zurechtgelegt hatte, nie auf die Vermutung kommen, ich sei mit Edward ihm entflohen.“

„Ich verstehe, Mylady,“ nickte Harald ernst. „Ich hatte dann jedoch Darbington festnehmen lassen, und Sie sahen Ihren Plan scheitern –“

„Oh – Darbington hat vorher von mir meine ganzen Juwelen erpreßt, Mr. Harst! Ich mußte ihn befreien, wenn ich nicht gerade auf die weitere Durchführung meines Planes verzichten und zu Percy zurückkehren wollte. Darbington hat mir meinen Sohn dann wieder ausgeliefert. Und gleich darauf traf bei Broosleys Verwandten die telephonische Nachricht von Doktor Roobfaast ein, daß Percy tot sei. Unter diesen Umständen bin ich umgekehrt. Jane, Broosley und mein Söhnchen begleiteten mich. Wo Darbington geblieben ist, weiß ich nicht. Er hat mir jedenfalls Juwelen im Werte von etwa 300 000 Mark auf diese Weise geraubt. Er war mir von Srinagar gefolgt, Mr. Harst. Aber das ist Ihnen ja bekannt.“

Mr. Kollingloof beeilte sich nun, seinerseits zu erklären:

„Ich habe Jane, Broosley und Doktor Roobfaast bereits vernommen, Mr. Harst, auch den kleinen Edward ausgefragt. Es verhält sich alles genau so, wie Mylady soeben angegeben hat. Und Myladys abenteuerlicher Fluchtplan ist uns bei Lord Percys Charakter durchaus verständlich. Der Lord hatte keinerlei Sympathien hier.“

Harald lächelte etwas. „Ja – in diesem Falle habe ich eben versagt! Ich glaubte tatsächlich an Politik oder etwas Ähnliches. – Mylady, dieser Darbington hat Schraut und mich also mit Hilfe des Autos auf dem Hotelhofe beseitigen wollen, damit wir ihm seinen Erpresserplan nicht vereitelten. – Oh – ich begreife alles!“ –

Lady Glarnstone bat uns dann, ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. – „In dem kleinen, alten Schlosse, das wir hier bewohnen, sind übergenug Fremdenzimmer vorhanden,“ erklärte sie. –

Harald und ich fuhren kaum zehn Minuten später mit der Lady nach dem etwas außerhalb der Stadt liegenden Schlosse, einem mitten in einem gewaltigen Parke stehenden Steinkasten von recht düsterem Äußeren. Wir bekamen drei Zimmer zugewiesen und machten ein wenig Toilette, da wir mit Lady Glarnstone noch gemeinsam speisen sollten.

 

4. Kapitel.

Haralds Benehmen gefiel mir nicht. Er sprach so lebhaft, daß ich immer argwöhnischer wurde. Seine gute Laune erschien mir recht gekünstelt. Mit einem Male rief er mich an das offene Fenster und sagte: „Da – Srinagar im Mondlicht! Wunderhübsch!“ Und wie ein Hauch dann der Zusatz: „Steck’ Deine Pistole entsichert in die Brusttasche. Die Geschichte hier ist oberfaul, mein Alter! Mylady denkt, ich bin ihr auf den Leim gegangen. Das gerade Gegenteil ist der Fall!“

Ich war sprachlos, war wie versteinert.

Da – man klopfte hinter uns an die Tür des Wohnsalons.

Harst rief: „Herein!“

Ein langer, hagerer Engländer, fast schon ein Greis, trat ein und stellte sich uns als Erzieher Doktor Roobfaast vor.

Roobfaast machte einen recht sympathischen Eindruck. Er war tief betrübt über Lord Percys Ende, verhehlte allerdings nicht, daß der Lord kein Mustergatte und als Mensch wenig angenehm gewesen sei.

„Mylady erwartet die Herren im Speisesaal,“ fügte er hinzu, indem er Harald wohlgefällig betrachtete. „Ich freue mich sehr, Mr. Harst, Sie beide kennenzulernen. Wir werden nun zusammen soupieren, und Mylady wird sich dann bald zurückziehen. Wir können dann noch miteinander plaudern –“

Dieser Doktor war fraglos absolut harmlos.

Harald zog ihn jetzt an das offene Fenster.

„Mr. Roobfaast,“ sagte er leise, „die Lady hat doch auf der Reise nach Lahore von Badrawar aus nachts mit Ihnen telephoniert und gefragt, ob alles in Ordnung sei, nicht wahr?“

„Ja. Wir hatten das so verabredet. Sie wollte wissen, ob etwa Mr. Kollingloof Verdacht geschöpft hätte.“

„Verstehe!“ nickte Harald. „Und zwei Stunden später rief Mylady Sie nochmals an.“

„Ja, so ist’s. Von wo, weiß ich nicht.“

„Verschweigen Sie, bitte, daß ich Sie der Telephongespräche wegen ausfragte,“ meinte Harald noch. „Ich möchte Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß hier vieles nicht so ist, wie es sein soll.“ –

Das kleine, alte Schloß war recht vornehm eingerichtet. Der Speisesaal war sehr groß. Wir saßen nur zu vieren bei Tisch.

Die Unterhaltung schleppte sich mühsam hin. Die Lady war zerstreut, und es schien mir, als ob sie dauernd horchte. –

Gegen halb zwei Uhr nachts waren Harald und ich wieder auf unseren Zimmern. Diese lagen im ersten Stock nach Westen zu.

Harst schloß die Türen ab und löschte das Licht wieder aus. In einem unserer Koffer führten wir stets eine lange, seidene Strickleiter mit uns.

Als der Mond hinter einer Wolke verschwunden war, kletterten wir mit Hilfe dieser Strickleiter in den Park hinab. Was Harst plante, wußte ich nicht. Doktor Roobfaast hatte uns, nachdem die Lady uns nach Tisch gute Nacht gewünscht hatte, die Lage der Zimmer beschrieben, die Mylady im ersten Stock nach hinten heraus bewohnte.

Wir schlichen um das düstere Gebäude herum und sahen nun auch zwei Fenster der Gemächer der Lady erleuchtet.

Wir standen im Schatten einiger Büsche. – „Aus ihren Zimmern führt eine besondere Treppe ins Freie,“ flüsterte Harald. „Dort rechts bemerke ich eine kleine Pforte. Ich hoffe, die Lady wird sich uns selbst in die Hände spielen. Ein überaus –“

Er schwieg.

Die beiden Fenster waren dunkel geworden.

Irgendwo im Parke kreischte ein Affe schlaftrunken auf.

Dieser Schrei wiederholte sich mehrmals. Daß der Park von halbzahmen Affen bevölkert war, hatte uns Lady Evelyn bei Tisch erzählt.

Dann knarrte eine Tür leise.

Und nun huschte aus der kleinen Pforte die in einen dunklen Seidenmantel gehüllte schlanke Gestalt Myladys heraus.

Sie kam dicht an uns vorüber und eilte den Hauptweg entlang, der tiefer in den Park hineinführte.

Wir blieben hinter ihr. Wir hatten unsere braunen Schuhe mit Gummisohlen angezogen.

Der Gartenweg lief über viele Steintreppen eine Berglehne hinan. – Jetzt machte die Lady vor einer Steinwand halt, in der sich eine große Tür befand. Sie schob den Riegel zurück, zündete eine kleine Laterne an und verschwand in dem Gange, den die schwere Balkentür nach außen abschloß. Die Tür hatte sie weit offen gelassen.

Auch hier blieben wir hinter ihr, verloren sie jedoch bald aus den Augen. Der Gang wurde sehr schnell zu einer kühlen, trockenen Grotte. – Als der Lichtschein der Laterne Lady Evelyns vor uns erlosch, blieb Harald sofort stehen.

„Kehren wir lieber um,“ flüsterte er. „Die Sache ist nicht geheuer! Der Affe gefällt mir nicht!“

„Affe?“ fragte ich unruhig.

„Ja – der vorhin im Parke schrie. Es kann auch ein Mensch und ein Signal gewesen sein –“

Wir tasteten uns zurück. Unsere Taschenlampen mochten wir nicht einschalten; sie hätten uns verraten können.

Als wir noch etwa zwanzig Schritt vom Ausgang entfernt waren, wurde die schwere Tür knallend zugeworfen.

Wir waren gefangen! – Und daß die Tür von innen unmöglich zu öffnen war, davon hatten wir uns sehr bald überzeugt.

„Dann also tiefer in die Grotte hinein!“ flüsterte Harald. „Es muß ja noch einen zweiten Ausgang geben, den Lady Glarnstone benutzt hat.“

Jetzt schalteten wir die Taschenlampen ein.

„Nimm die Clement in die Rechte!“ mahnte Harald. „Ich werde fünf Schritt vorausgehen. Falls es hier im Boden der Höhlen so etwas wie Falltüren gibt, ist es besser, daß nur einer irgendwohin hinabsaust –“

Nach hundert Meter verschwand die Felsdecke über uns. Die Grotte wurde zu einem kraterähnlichen Loche. Aber der Gang setzte sich an der anderen Seite dieses Loches fort. Es führte hier eine roh ausgehauene Steintreppe empor.

Harald war jetzt gut zehn Schritt voraus. Nachdem wir die etwa vierzig Stufen der Treppe erstiegen hatten, spürte ich einen scharfen Geruch, der an eine Menagerie, an einen Raubtierzwinger, erinnerte.

Harst hatte halt gemacht. – „Merkst Du was?!“ fragte er leise. „Dieses Weib hat uns sehr schlau ihren Bären ausgeliefert. Hier in Kaschmir gehört ein Bären-Zwinger zum guten Ton sozusagen! Wir kennen jetzt die Gefahr. Und das ist stets eine Beruhigung. Nur das Unbekannte birgt seine Schrecken. Mit den Bestien werden wir schon fertig werden. – Weiter also –“

Der Gang lief jetzt horizontal. Und nach abermals zwanzig Meter erreichten wir ein zweites weit geräumigeres, oben offenes Felsloch, an dessen Ostwand durch starke Eisengitter vier Käfige abgeteilt waren, deren Türen offenstanden. In jedem Käfig befanden sich zwei schwarze Bären – wahre Riesen ihrer Art. Vor den Käfigen aber lag auf dem schmutzigen Steinboden dieser kraterähnlichen Vertiefung ein noch zuckender Hammel mit durchschnittener Kehle.

Die Lichtkegel unserer Taschenlampen hatten uns all dies in wenigen Sekunden enthüllt.

Harst war schon mit ein paar Sätzen an der einen Käfigtür, warf sie zu und rief: „Schnell – mir nach! Lady Evelyn soll sich wundern!“

Ich eilte vorwärts. Harald war bereits mit Hilfe der Querstäbe an dem Gitter hochgeklettert; bückte sich jetzt, reichte mir die linke Hand und zog mich empor.

Der Blutgeruch hatte die Bestien immer unruhiger gemacht. Offenbar wurden sie aber sehr selten aus den Käfigen herausgelassen, denn sie zeigten vor den offenen Türen eine gewisse Scheu. Wir gelangten daher ganz unbelästigt auf das Gitterdach der Käfige. Da diese mit der Rückseite sich an die steile Wand der Vertiefung anlehnten und da die Entfernung von dem Käfigdach bis zum oberen Rande des Felsenloches nur etwa drei und ein halb Meter betrug, konnte es uns nicht schwer fallen, aus dem Loche herauszukommen.

Ich stützte mich mit den Händen an die Felswand, und Harald stieg mir auf die Schultern. Meine Lampe hatte ich in die Tasche gesteckt. Es war jetzt vollkommen finster. Harst leuchtete mit der seinen das Gestein ab und suchte nach einer Spalte oder einem Vorsprung, von dem aus er sich weiter emporschwingen könnte.

Da – mit einem Male gab das Gitterdach nach.

Ich hatte noch deutlich einen scharfen Ruck verspürt – so, als ob ein Riegel weggerissen worden wäre.

Wir sausten kopfüber in die Tiefe. Ich schlug hart auf. Mir schwanden die Sinne.

Und doch: mein letzter Gedanke war, daß längere Bewußtlosigkeit hier den sicheren Tod bedeuten mußte! So stark war dieser Gedanke in mir lebendig, daß ich die Ohnmachtsanwandlung wieder abschüttelte.

Ich hörte Harst stöhnend um Hilfe rufen.

Um uns her tiefste Nacht.

Ich wollte mich aufraffen, sank taumelnd wieder zurück. Der ekle Schmutz des Bärenkäfigs besudelte mir die Hände.

Nochmals ein qualvoller Aufschrei.

Und dann – dann neben mir seine Stimme – ganz leise, aber erregt:

„Bitte – unterstütze die Komödie gefälligst! Ich bin schon tot. Und auch Du mußt einen Bärenkampf markieren!“

Er hatte mir ja bereits vorgemacht, wie man unter Stöhnen sterben müsse.

Ich ahnte, daß vom Rande des Felsloches aus diese verteufelte Lady Glarnstone den Erfolg dieses Attentats abwartete.

Ich kreischte auf. Mein Hilferuf schien mir in der Kehle zu ersticken. –

Dann Stille. Nur die Bären balgten sich draußen um den toten Hammel.

Stille und Dunkelheit. Und neben mir wieder Haralds Stimme wie ein Hauch:

„Schau’ nach links oben. Dort steht sie!“

Ja – dort stand sie – dort stand Lady Glarnstone – regungslos weit vorgebeugt, und lauschte.

Wohl fünf Minuten verharrte sie so. Dann erst zog sie sich vom Rande der Bärengrube zurück.

 

5. Kapitel.

„Ich habe die Gittertür dieses Käfigs geschlossen,“ flüsterte Harald wieder. „Die Bestien waren zum Glück schon draußen. Wir können jetzt getrost wieder emporklettern. Beeilen wir uns.“ –

Als wir glücklich mit Hilfe von ein paar Felszacken die Bärengrube verlassen hatten, blieben wir zunächst auf derselben Stelle liegen. Wir befanden uns hier auf einer der höchsten Felsterrassen des Parkes. Tief unter uns lag das kleine, alte Schloß, von dessen Rückfront jetzt wieder zwei Fenster im ersten Stock erhellt waren. –

Dann vernahmen wir gleichzeitig von Süden her das rasch sich nähernde, taktmäßige Arbeiten eines Motors.

Harald lauschte in die Nacht hinaus. – „Das Auto hat dort drüben halt gemacht,“ flüsterte er. „Schnell – es wird dort an der Parkmauer ein Weg entlangführen. Vielleicht ist es gar Robert Darbington, der soeben aus Lahore eingetroffen ist –“

Wir eilten die Terrasse entlang, bogen in einen Weg ein, kamen eine Treppe hinab und sahen nun gerade noch, wie die Scheinwerfer eines Autos erloschen. Bald hatten wir auch in der Parkmauer eine kleine Pforte entdeckt. Sie war nur angelehnt. Dicht daneben stand ein Gebüsch, das uns genügend Deckung bot. Wir schoben uns vorsichtig in die Sträucher hinein. Gleich darauf kreischten die Angeln der Pforte, und wir erkannten zwei dunkle Gestalten, die langsam den Park betraten. Eine tiefe Stimme rief noch nach der Straße zu: „In zwei Stunden wird es hell. Dann brechen wir auf. Warte an dieser Stelle. Die Straße wird nachts kaum begangen.“ – Dann verschwanden die beiden nach dem Schlosse hin.

„Die Lady und Darbington,“ meinte Harst. „Meine Theorie stimmt. – Wir werden jetzt den Chauffeur zunächst erledigen und mit zu Polizeichef Kollingloof nehmen. Warte – ich gehe voran.“

Der Chauffeur, ein Inder, stand neben dem Auto und wollte gerade den einen Hinterreifen aufpumpen. Harst legte ihm die Hand auf die Schulter und leuchtete ihm gleichzeitig ins Gesicht.

„Du wirst uns folgen,“ sagte er kurz. „Ich bin Harald Harst. Mache keine Dummheiten! Wir sind unserer zwei!“ Und zu mir gewandt: „Binde ihm die Hände auf den Rücken! Nimm Dein Taschentuch!“

Harald machte sich vorn am Auto zu schaffen. Er hatte an dem Motor durch ein paar Schläge mit einem Schraubenzieher die Benzinzuführung unterbrochen. Dann nahmen wir den Inder in die Mitte und eilten der Stadt zu.

Es dauerte einige Zeit, ehe Kollingloof und Blooce munter wurden.

„Wen bringen Sie denn da?!“ meinte Kollingloof, als er unten die Polizeiwache betrat, wo wir gewartet hatten.

„Gehen wir zu Ihnen nach oben, Mr. Kollingloof,“ erklärte Harald. „Das Spiel ist für die Gegenpartei aus. Dann schicken Sie bitte auch noch drei Beamte an die Nordmauer des Parkes Lord Glarnstones. Dort steht ein Auto. Die Beamten sollen jeden verhaften, der etwa mit dem Auto davonfahren will.“ –

In Kollingloofs Arbeitszimmer schauten wir uns unseren Gefangenen näher an. Plötzlich faßte Harald und nahm ihm den langen schwarzen Bart ab.

„Der Mann ist nur gefärbt, ist ein Europäer,“ sagte er. „Wie heißen Sie? Sie täten gut, ein Geständnis abzulegen. Sie wissen, daß Sie als Kronzeuge auftreten und so Ihr Leben retten können.“

Der lange, hagere Mensch starrte zu Boden.

„Wie Sie wollen!“ meinte Harst achselzuckend. „Setzen Sie sich dorthin. – So – heben Sie mal den rechten Fuß hoch!“

Der Mensch gehorchte widerwillig.

„Aha – sehen Sie, Blooce!“ rief Harald. „Auch die Schuhsohlen dieses Mannes zeigen die Spuren von Bergnägeln. Und Darbingtons Schuhsohlen waren ebenfalls benagelt. Ich erwähnte ja schon in Lahore, Blooce, daß die Nägel die Hauptsache sind. – Sagen Sie mal,“ fragte er den Unbekannten, „weshalb hatten Sie sich die Schuhe benageln lassen? Wo haben Sie denn eine Bergtour unternommen?“

Das Gesicht des Menschen verzerrte sich krampfhaft. Man merkte, daß er mit sich kämpfte. Er mochte eingesehen haben, daß es hier nichts mehr zu verheimlichen gab.

„Hm – sollten Sie nicht vielleicht mit Darbington dem Lord und Sir Steppney heimlich gefolgt sein?“ fügte Harst hinzu.

„Steppney ist übrigens vor vier Stunden, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, gestorben,“ warf der Polizeichef ein.

„Und die beiden farbigen Diener, die die Herren mitgenommen hatten?“ meinte Harald. „Die sind spurlos verschwunden, nicht wahr?“

Kollingloof nickte nur.

„Nun – dann haben Darbington und dieser Mann im ganzen vier Menschenleben auf dem Gewissen!“ sagte Harst mit erhobener Stimme. „Kollingloof, verhaften Sie diesen Menschen wegen Mordes!“

Da sprang der Unbekannte empor. „Sie phantasieren!“ keuchte er mit bebenden Lippen. „Wir haben –“

„Bitte – wozu die Bergnägel?!“ rief Harst schneidend. „Sie und Darbington sind den Jägern heimlich gefolgt. Wie Sie die vier dann umbrachten, wird sich schon noch herausstellen. Verletzungen, die denen von Bärenkrallen und -zähnen gleichen, lassen sich nachher künstlich hervorrufen, wenn die Opfer sich nicht mehr wehren können. Ich werde den Ort, wo Lord Glarnstone gefunden wurde, untersuchen!“ – Harald drehte sich nach Kollingloof um. „War Lady Glarnstone in letzter Zeit verreist?“ fragte er.

„Ja. Sie war in England, wo noch ein Bruder von ihr lebt,“ erwiderte der Polizeichef.

Harst winkte mir. „Halte den Burschen mal fest, Schraut!“

Auch Blooce half dabei. – Harald untersuchte die Taschen des Unbekannten und fand auch ein Päckchen Papiere, blätterte darin und sagte plötzlich:

„Also Master Reginald Barton sind Sie! Und hier – hier ist ein Brief an Sie – von Lady Evelyn, Ihrer Schwester! Solche Briefe sollte man verbrennen, selbst wenn sie so kurz sind. Hier steht: „Kommt nur herüber. H. fürchte ich nicht. Es muß ein Ende gemacht werden. Er hat mich gestern wieder mit der Reitpeitsche geschlagen.“ – Dieser H., den Lady Glarnstone nicht fürchtet, dürfte ich selbst sein,“ fügte Harald hinzu. „Nun – sie hat mich doch gefürchtet. Und jetzt hofft sie, daß Schraut und ich vollständig zerfleischt im Bärenzwinger liegen. Sie mußte zu diesem letzten Mittel greifen, um sich und ihre Mitschuldigen zu retten. Sie ahnte, daß ich dem Märchen, das sie uns hier erzählte, nicht traute. Doch – all das wird sie uns ja selbst noch sagen. Kollingloof, lassen Sie Barton sicher einsperren. Und Sie, Barton, werden mir jetzt Ihren Staubmantel, den falschen Bart und die Mütze nebst Autobrille borgen. Ich werde den Inder spielen. – Komm, Schraut, holen wir die Lady und Darbington her – mit ihrem eigenen Auto.“ –

Eine Stunde später an der nördlichen Parkmauer.

Harald saß als Taffik am Steuer des wieder fahrbereiten Kraftwagens. Die drei Polizeibeamten und ich hockten hinter dem Auto.

Und – Lady Evelyn und Darbington erschienen.

Vor dem Auto umarmte Darbington die Lady, küßte sie zärtlich und sagte: „Später auf Wiedersehen, mein Liebling. Wir haben viel zu vergessen! Es ist furchtbar, daß auch dies Letzte noch sein mußte!“

Lady Evelyn hielt ihn fest umklammert.

„Reginald – vorwärts!“ rief Darbington. „Wirf den Motor an!“

Harst war schon ausgestiegen. Seine Taschenlampe blitzte auf. – Im gleichen Moment sprangen die drei Beamten zu.

Lady Evelyn schrie gellend auf, sank in Ohnmacht. Darbington ließ sich ohne Widerstand fesseln. –

Das Auto fuhr der Stadt zu, hielt vor dem Polizeigebäude. Die Lady wurde in Kollingloofs Arbeitszimmer getragen. Die Beamten brachten Darbington hinterdrein.

Robert Darbington fiel matt auf einen Stuhl. Seine Augen ließen nicht ab von Evelyn Glarnstone, die man auf ein Ruhebett gelegt hatte. Er machte jetzt den Eindruck eines völlig gebrochenen Menschen.

„Mr. Darbington,“ begann Harst, „ich habe jetzt doch einen anderen Eindruck von Ihnen und Ihren Mitschuldigen erhalten. Wollen Sie uns nicht alles offen gestehen?“

„Ja. Denn Leugnen würde die Sache nur verschlimmern. Ich habe Evelyn vor sechs Monaten bei Reginald Barton in England kennen und lieben gelernt. Nach ihrer Rückkehr hierher hat Evelyn ihren Mann flehentlich gebeten, in eine Scheidung zu willigen. Er – schlug sie wiederholt ohne Zeugen mit der Reitpeitsche. Sie konnte ihm selbst nichts anhaben, da sie vor einem Jahr einmal einen Inder mit dem Auto totgefahren hat, den sie dann mit Hilfe ihres Gatten verschwinden ließ. Auf ihre verzweifelten Briefe hin kamen Reginald und ich hier nach Srinagar. Ich trat verkleidet auf und tat so, als ob ich heimlich mit Percy Glarnstone unsaubere Geschäfte machen wollte, um seine Kasse zu füllen. Dann sind Reginald und ich tatsächlich den Jägern in die Bergwildnis gefolgt. Ich hegte einen so ungeheuren Haß gegen den Lord, daß ich mich nachher, als wir ihn in der Bergwildnis zur Unterzeichnung eines Schriftstücks im Interesse Evelyns zwingen wollten, nicht beherrschen konnte. Die ganze Gemeinheit seiner Gesinnung trat so deutlich zu Tage, daß ich den Revolver zog und rief: „Sie oder ich! Einer von uns muß sterben!“ – Er feuerte zuerst, schoß vorbei. Sir Steppney, ein bekannter Trunkenbold, geriet mit Reginald aneinander. Die beiden Diener mischten sich ein. Es gab eine wilde Revolverschießerei, bei der nur wir beide mit dem Leben davonkamen. Die Leichen der Diener warfen wir in eine Schlucht. Steppney war eine Strecke entflohen. Erst am anderen Morgan fanden wir ihn. Ein Bär hatte den Verwundeten furchtbar zugerichtet. – Das brachte uns auf den Gedanken, auch Percy Glarnstones Leiche zu verstümmeln. Ersparen Sie mir Einzelheiten, Mr. Harst. – Als alles vorüber, als wir nach Srinagar zurückgekehrt waren, da glichen Reginald und ich ein paar Wahnsinnigen. Und – nun noch der neue Schreck: Evelyn empfing uns mit der Nachricht, daß Sie, Mr. Harst, in Lahore sich aufhalten. Die Angst vor Ihnen, vor einer Einmischung Ihrerseits hier in Srinagar, trieb uns nach Lahore. Wir verabredeten jene scheinbare Entführung des kleinen Edward, durch die Sie von Lahore nach dem Süden Indiens gelockt werden sollten, falls es uns eben nicht gelingen sollte, Sie irgendwie für Wochen als Gegner auszuschalten. Alles weitere wissen Sie. Als Sie dann nach Srinagar fuhren, verließ uns drei die ruhige Überlegung vollständig. Ich gebe zu: Sie und Mr. Schraut sollten sterben. Sie beide galten uns als Todfeinde. Und – wir glaubten Sie beide auch tot!“

Diese Beichte machte auf mich einen geradezu erschütternden Eindruck. Ich erkannte, wer hier der wahre Schuldige gewesen: der Lord, der sein Schicksal ohne Zweifel verdient hatte! –

Lady Evelyn war jetzt zu sich gekommen. – Charakteristisch für Harald war nun die Schlußszene dieses Dramas.

Harst sagte mit tiefer Verbeugung zu Lady Glarnstone:

„Mylady, daß Sie uns in den Bärenzwinger einsperrten, geschah nur in der Absicht, uns dort ein paar Stunden festzuhalten, nicht um uns zu töten. Mr. Darbington irrt sich in dieser Beziehung. – Und Sie, Mr. Kollingloof, werden am besten hierüber ganz schweigen, ebenso Blooce. Ich habe Ihr Wort, meine Herren –“ –

Auf diese Weise nahm die gerichtliche Untersuchung des Falles Glarnstone einen für die Angeschuldigten sehr günstigen Verlauf. Sie kamen ohne härtere Strafe davon.

 

 

Für zwei Millionen Perlen.

 

1. Kapitel.

Wir waren nach zwölftägiger Reise am 8. September in Berlin Schmargendorf, Blücherstraße 10, wohlbehalten eingetroffen, waren von Haralds Mutter mit Freudentränen begrüßt worden und widmeten uns der alten Dame bis neun Uhr abends. Dann meldete die alte Köchin uns den Geheimrat von Loschmer, einen der reichsten Großindustriellen Deutschlands.

In Haralds Arbeitszimmer lernten wir den weltbekannten Mann nun persönlich kennen.

Der Geheimrat erzählte uns folgendes, was uns im übrigen nicht neu war, da wir es unterwegs schon in allen Zeitungen gefunden hatten. – Ich will den Tatbestand hier ganz kurz wiedergeben. –

Loschmer hatte vor zwei Jahren im Alter von sechsundvierzig die einzige Tochter des englischen Arztes Sir Baberfley, Miß Honoria Baberfley, eine ebenso sportliebende wie liebreizende junge Dame Ende der Zwanziger, geheiratet. Diese Ehe war seinerseits aus Neigung geschlossen worden.

Er gab uns gegenüber zu, daß Honoria Baberfley ihm wohl mehr aus Vernunftgründen ihre Hand geschenkt hatte; er betonte jedoch, daß die Ehe bisher sehr glücklich gewesen.

Als Brautgeschenk hatte er ihr am Hochzeitstage eine Kette von ausgesucht großen Perlen im Werte von zwei Millionen Mark geschenkt. Die Kette bestand aus 48 Perlen und einem mit Brillanten besetzten goldenen, sehr altertümlichen Schloß.

Er hatte die Kette durch einen ihm bekannten holländischen Juwelenhändler besorgen lassen. Der Holländer van Droysen war nach Ceylon nur zu dem Zweck gereist, um dort die schönsten Perlen aufzutreiben, die es nur gäbe. –

Das kostbare Perlenhalsband hatte Frau Honoria von Loschmer auch in diesem Jahre mit auf die Sommerreise genommen. Das Ehepaar hatte Spanien besucht, hatte sich vierzehn Tage in Nizza und Monte Carlo aufgehalten und war am 2. August in sein fürstliches Villenheim in Berlin-Grunewald zurückgekehrt.

Hier in der Villa bewahrte Frau von Loschmer ihre Juwelen in einem geheimen Wandfach ihres Schlafzimmers im Hochparterre auf.

Das Wandfach war ein kleiner Stahlschrank mit Kunstschloß, und das Holzgetäfel der Wand verbarg den Tresor so gut, daß kein Uneingeweihter ihn finden konnte. –

An dieser Stelle unterbrach Harald den Geheimen Kommerzienrat zum ersten Male.

„Eine Zwischenfrage: wer war eingeweiht? Wer hatte von der Existenz des Wandfaches Kenntnis?“ meinte er.

„Nur meine Frau, ich und ein Bekannter von mir, der Oberingenieur Noldeke, der mir den Gefallen tat, den kleinen Tresor kurz vor meiner Hochzeit eigenhändig einzubauen, Herr Harst. Noldeke[3] ist, was ich gleich bemerken möchte, über jeden Verdacht erhaben. Die Kriminalpolizei hat ihn leider bereits belästigt, und wir sind deshalb etwas entzweit, da Fritz Noldeke sich nicht überzeugen läßt, daß diese Schritte der Polizei ganz gegen meinen Willen unternommen wurden.“ –

Der Geheimrat erzählte dann weiter.

Am 9. August hatte er mit seiner Gattin an einer Segelregatta in Warnemünde teilgenommen. Sie waren morgens dorthin gefahren – im eigenen Auto – und kehrten am 10. morgens sechs Uhr zurück. Das Perlenhalsband hatte am 9. noch in dem Wandfach gelegen. Als Frau von Loschmer am 10. morgens ihre Brillanten dort einschließen wollte, fehlte der flache, schwarze Ebenholzkasten, der die Perlenschnur enthielt.

Der Diebstahl war also in Abwesenheit des Ehepaares verübt worden.

Der Geheimrat rief sofort die Berliner Kriminalpolizei an, die den Kommissar Doktor Pleske nach der Villa schickte. –

Pleske war Spezialist für derartige Diebstähle und ein geistvoller Mann, den Harst sehr schätzte. –

Doktor Pleske ermittelte noch am 10. August mit anerkennenswerter Findigkeit folgendes (der Leser mag diese Punkte recht genau beachten):

1. Aus dem Wandfach war nur die Perlenkette gestohlen, obwohl es noch andere Kleinodien und 8000 Mark bares Geld enthielt. Es war zum Öffnen des Kunstschlosses ein nach dem Originalschlüssel nachgefeilter Schlüssel benutzt worden. Den Originalschlüssel hatte die Geheimrätin stets in einem Geheimfach ihres Schreibtisches verwahrt. An diesem Schlüssel fanden sich Spuren von Wachs. Also war ein Abdruck davon genommen worden. – Hieraus folgerte Doktor Pleske, daß der Dieb das Geheimfach im Schreibtisch nicht gekannt hätte, sondern nur gelegentlich sich den Abdruck besorgt haben könnte und nach dem Abdruck den Nachschlüssel hergestellt hätte. – Der Dieb müsse also jemand sein, der bei Loschmers im Hause verkehre. Nur einem Bekannten könnte es gelingen, einen Abdruck von dem Originalschlüssel zu nehmen.

Hiergegen hatte die Geheimrätin betont, daß sie den Schlüssel nie aus der Hand gegeben hätte, wie sie ganz bestimmt wüßte.

2. In dem Schlafzimmer der Geheimrätin fand sich auf dem Fensterblech in der Staubschicht der undeutliche Abdruck eines sehr großen Stiefels ohne Absatz. Gerade dieses Fenster hatte am 9. vormittags offen gestanden. – Weitere Spuren eines fremden Eindringlings waren nicht zu entdecken gewesen.

3. Dem Geheimrat und seiner Gattin war bereits in Nizza ein elegant gekleideter Inder aufgefallen, der für das Ehepaar großes Interesse zu haben schien. Derselbe Inder war nach der Rückkehr von der Reise von der Geheimrätin zweimal in der Nähe der Villa abermals beobachtet worden und einmal auch von dem Geheimrat. Doktor Pleske hatte auf Grund dieser Angaben seine ursprüngliche Meinung geändert und hielt nun den Inder für den Dieb.

4. Der Holländer van Droysen hatte Doktor Pleske auf telegraphische Anfrage hin geantwortet, er hätte das Perlenhalsband so, wie er es dann an Loschmer weiterveräußerte, von einem chinesischen Juwelenhändler in Bombay gekauft. Der Chinese hätte ihm damals erklärt, die Kette rechtmäßig von einem anderen indischen Händler aus Kalkutta erworben zu haben. – Doktor Pleske folgerte: die Kette sei von dem Chinesen oder dem indischen Händler gestohlen worden, und der Eigentümer sei vielleicht jener Inder, der schon in Nizza das Ehepaar Loschmer beobachtet hatte. – Jedenfalls spiele auch van Droysen hierbei insofern eine zweifelhafte Rolle, als er dem Geheimrat zuerst erzählt hatte, er habe die Perlen einzeln in Kolombo auf Ceylon aufgekauft und dann das Schloß der Kette in Bombay erstanden. – Van Droysen wieder hatte sich mittlerweile durch einen Brief an Loschmer gerechtfertigt, in dem er betonte, er hätte die erste Angabe über den Erwerb der Perlen nur deshalb gemacht, um einen höheren Preis fordern zu können. –

Diese vier Punkte entwickelte uns der Geheimrat in seiner ruhigen, logischen Art und fügte dann hinzu:

„Doktor Pleske suchte dann den Inder, fand aber auch nicht die geringste Spur von ihm. Als vier Tage so verstrichen waren, depeschierte ich an Sie, Herr Harst, nachdem Ihre Frau Mutter mir Ihre letzte Adresse in Indien angegeben hatte. Seit dieser Depesche hat sich nichts Neues ereignet. Der Inder ist nicht zu finden. In Nizza hat damals kein Inder gewohnt. Und hier in Berlin ebenfalls nicht. Kurz: die Sache ist völlig auf dem toten Punkt angelangt.“

Harald zog seine Uhr. „Es ist jetzt halb zehn, Herr Geheimrat. Könnten wir nach Ihrer Villa fahren? Oder würden wir Ihre Frau Gemahlin stören?“

„Meine Frau ist im Theater. Mein Auto wartet draußen. Fahren wir.“

Gleich darauf brachte uns das Auto nach der Villenkolonie Grunewald.

Die Villa des Geheimrats lag in der Bismarckallee und grenzte mit dem Park an den Hubertussee.

Als wir vor dem Parktor hielten und der Chauffeur dieses öffnen wollte, um vor der Villa vorzufahren, rief der Geheimrat plötzlich ganz aufgeregt:

„Dort – dort der Inder! Er ist’s!“

Wir sahen jedoch nur noch einen Menschen, der auf einem Zweirad davonsauste.

Obwohl wir dann mit dem Auto die Verfolgung sofort aufnahmen, konnten wir den Flüchtling nicht mehr erreichen. Er war in eine Seitenstraße eingebogen, wo wir ihn aus den Augen verloren.

Wir kehrten nach der Villa zurück.

Der Geheimrat zeigte uns das Wandfach und auch das Geheimfach im Schreibtisch seiner Gattin. Dann lud er uns noch zu einer Flasche Burgunder ein.

Der Abend war mild. Wir saßen auf der nach dem Hubertussee hinausgehenden Terrasse in bequemen Korbsesseln und unterhielten uns über Indien. Der Perlendiebstahl wurde kaum noch erwähnt.

Über dem Tische hing eine elektrische Lampe mit buntem Seidenschirm. Der Burgunder war tadellos; die Zigarren noch besser. Nur – nur Harald gefiel mir nicht. Er war so merkwürdig zerstreut und nervös, redete dabei fortwährend[4] und zuweilen ganz ungereimtes Zeug.

Dann erschien die Geheimrätin – noch in großer Abendtoilette, wie sie aus dem Theater gekommen war.

Das Gespräch wandte sich nun dem Diebstahl wieder zu. Loschmer erwähnte, daß der Inder abermals aufgetaucht sei.

Frau Honoria machte eine abwehrende Handbewegung.

„Du wirst Dich geirrt haben, Ernst,“ meinte sie zweifelnd. „Der Mann ist seit fünf Wochen verschwunden. Er wird sich hüten, sich hier nochmals zu zeigen.“

„Er war’s, Honoria, – er war’s!“ erklärte der Geheimrat eifrig. „Es war derselbe Mann mit dem dunkeln Gesicht und dem schwarzen Bart. Er trug auch denselben hellen Sportanzug und die graue Mütze wieder.“

Die Geheimrätin hob etwas die Schultern, als ob sie andeuten wollte: „Mag sein! Ich kann nicht recht daran glauben!“

Dann wandte sie sich an Harst:

„Sahen Sie den Mann ebenfalls?“

„Ja, gnädige Frau – wenn auch nur halb von der Seite. Es war ein Inder. Als er unter der nächsten Straßenlaterne entlangfuhr und das Licht ihn von rückwärts traf, sah ich noch etwas –“

„So?! Darf man fragen, was?“

Harald strich die Zigarettenasche an der Onyxschale ab und erwiderte:

„Seine Füße, gnädige Frau. Und die waren recht groß. Das stimmt also mit dem Abdruck im Fensterbrettstaub überein.“

Dann fragte er den Geheimrat: „Wo wohnt der Oberingenieur Noldeke?“

„Nicht weit von hier. Jenseits der Halenseer Brücke in der Ringbahnstraße Nr. 19, Hochparterre[5] links, – eine Vierzimmerwohnung.“

„Er ist Junggeselle, Herr Geheimrat.“

„Allerdings – eingefleischter Junggeselle.“

„Verkehrt er bei Ihnen?“

„Jetzt nicht mehr. Ich sagte ja bereits: er verargt mir, daß Doktor Pleske bei ihm eine Haussuchung vornahm.“

„Ah – eine Haussuchung! Und dies auf Grund der Tatsache, daß Noldeke seiner Zeit das Wandfach angelegt hat?“

„Ja. Nur deshalb.“

„Doktor Pleske hätte sich dies getrost schenken können!“ warf Frau Honoria etwas lebhafter ein. „Noldeke hat es wahrlich nicht nötig, Perlen zu stehlen.“

„Da hast Du recht, Honoria,“ nickte Loschmer. „Noldeke ist Maschinenfabrikant in Spandau. Es tut mir aufrichtig leid, daß er nichts mehr von mir wissen will.“ –

Gegen Mitternacht brachen wir dann auf. Loschmer wollte uns sein Auto zur Verfügung stellen. Aber Harald lehnte dankend ab.

 

2. Kapitel.

Wir gingen zu Fuß bis Halensee, über die Brücke und dann die Ringbahnstraße entlang.

Harald sprach kein Wort. Ich kenne seine Eigenheiten und schwieg deshalb gleichfalls.

Vor Nr. 19 machte er halt. – Die Ringbahnstraße ist nur auf einer Seite bebaut. Den Häusern gegenüber liegen kleine Gärten. Hinter diesen schließen sich die Bahnanlagen der Ringbahn an.

Wir standen auf der unbebauten Straßenseite im Baumschatten.

In Nr. 19 war Hochparterre links das eine, sehr breite Erkerfenster erleuchtet.

Ein Mann ging dort im Zimmer auf und ab. Sein Schatten erschien und verschwand in regelmäßigen Zwischenräumen auf den geschlossenen Vorhängen.

„Man könnte von der Unruhe eines schwer belasteten Gewissens sprechen,“ flüsterte Harald vielsagend. „Oder auch von einer verzehrenden Ungeduld, die den Mann quält,“ fügte er hinzu. „Es ist fraglos Fritz Noldeke. Ich möchte mich doch mehr für Ungeduld entscheiden. – Beobachte den Schatten recht scharf. Sieh – Noldeke zieht abermals die Uhr. Und er raucht in so schnellen Zügen, daß –“

Er schwieg und legte mir die Hand auf die Schulter, hauchte mir ins Ohr:

„Still – keine Bewegung! Da – ein Mann schleicht hier auf unserer Seite an dem hohen Holzzaun entlang! Drücke Dich eng an den Baum – Der Mann stiert nach Noldekes Fenster hinüber. Jetzt biegt er über die Straße.“

Nun erblickte auch ich diesen kleinen Menschen, dessen rechte Schulter bedeutend höher als die linke stand. Es war ein Krüppel. Er hinkte schwer und stützte sich auf einen Stock, den er in der linken Hand trug. In der Rechten hatte er einen in Papier gehüllten kleineren Gegenstand. Die Bewegungen dieses Mannes waren flink und seltsam scheu. Er drehte den Kopf andauernd hin und her.

„Er will zu Noldeke, der ihn ungeduldig erwartet!“ flüsterte Harald. „Schade, daß wir nicht verkleidet sind. Dann würde ich heute nacht etwas stehlen – nämlich den flachen Kasten, den der Kleine eingewickelt in der Hand trägt.“

„Wie – etwa der Ebenholzkasten der Perlenkette?!“

„Es ist eine bloße Vermutung von mir, mein Alter. – Beobachten wir, was weiter geschieht –“

Der Hochschultrige blieb jetzt vor Nr. 19 stehen. Dann bückte er sich, schob den Kasten durch die Gitterstäbe des Vorgartens blitzschnell in einen Strauch, hob gleichzeitig mit den Fingern etwas Erde auf und warf sie gegen das erleuchtete Fenster.

Der Schatten im Zimmer trat an das Fenster heran und schlug den Vorhang zurück, ließ ihn wieder fallen.

Der Kleine aber ging weiter dem Bahnhof Halensee zu.

„Ihm nach!“ flüsterte Harst. „Ich bleibe hier. Vorwärts!“

Ich entfernte mich.

Der Hochschultrige schritt immer eiliger dahin. Nach ein paar Sekunden warf ich einen Blick nach Nr. 19 zurück.

Da – aus dem Fenster schoß ein greller weißer Lichtkegel hervor und beleuchtete die Zaunseite.

Ich erkannte Harald, der sich eng an den Baum gedrückt hatte.

Der Lichtkegel erlosch. –

Mehr sah ich nicht, denn der Kleine lief jetzt auf ein Auto zu, das mit angestelltem Motor vor dem Bahnhof hielt.

Ich kam zu spät. – Der Hinkende war bereits hineingesprungen, und der Kraftwagen sauste den Kurfürstendamm abwärts.

Hinter mir rasche Schritte.

Es war Harst. – Harst mit dem kleinen Paket in der Hand.

„Drüben – in die Bahnhofshalle hinein!“ keuchte er. „Ich laufe bis an die Sperre. Nimm zwei Fahrkarten bis Potsdamer Bahnhof –“

Er schob das Paket vorn unter den Sportpaletot und knöpfte diesen zu.

Ich holte die Fahrkarten. Wir stiegen die Treppen zu dem rechten Bahnsteig hinab. Wir hatten Glück. Keine Minute später lief ein Zug ein.

In Schmargendorf stiegen wir aus, jedoch einzeln. Wir taten, als ob wir nicht zusammen gehörten. So konnten wir jeder für sich darauf achtgeben, ob uns jemand folgte. Dies war nicht der Fall. Außer uns stiegen hier nur zwei Arbeiter und eine ältere Frau aus, die sich in anderer Richtung entfernten.

Wir schritten dann gemeinsam der Blücherstraße zu.

„Du hast also doch gestohlen, Harald,“ meinte ich scherzend. „Ob es wirklich der Ebenholzkasten ist?“

„Dem Gewicht nach – ja. Wir sind gleich daheim. Dann wird sich alles zeigen –“ –

Harst zog die Vorhänge in seinem Arbeitszimmer dicht zu. Wir setzten uns an den Sofatisch. Nun kam der entscheidende Augenblick.

Harald entfernte das braune Packpapier, das vielfach um den Gegenstand gehüllt war.

Und – wir hatten nun ein regelrechtes flaches, längliches Wertpaket vor uns, dessen starke Papphülle sorgfältig verschnürt und versiegelt war. Auf der einen Seite war ein Paketschildchen aufgeklebt. Und hier steckte unter den Schnüren auch eine ausgefüllte Paketadresse, – genau so, wie die Aufschrift auf dem Paket lautete, beides mit Maschine geschrieben:

Wert 50 000 Mark – fünfzigtausend Mark.

An

Frau Geheimrat Honoria von Loschmer

Berlin Grunewald
Bismarckallee 102.

Abs.: S. Ingpura
Berlin W, Weststr. 13, 1.

Harald und ich schauten uns verblüfft an.

„Begreifst Du das?“ meinte ich kopfschüttelnd.

„Nur halb!“

Er hatte sein Taschenmesser geöffnet, zerschnitt die Schnüre, riß die Siegel ab.

Und dann – dann hatten wir den Ebenholzkasten auf diese Weise gefunden!

Der kleine Schlüssel war mit einem Seidenfaden an einem der Schloßbeschläge festgebunden.

Und als Harst nun aufschloß, ruhte in dem Kasten auf einem Bett von schwarzer Seide die gestohlene Perlenkette! –

Harald hob sie heraus und untersuchte sie.

„Ein wundervolles Stück!“ meinte er. „Nicht eine einzige minderwertige Perle ist darunter –“

Er legte sie wieder zurück, schloß den Kasten ab und setzte sich in die Sofaecke.

„Ein nicht ganz alltäglicher Fall,“ sagte er versonnen. „So ein Fall ist’s, bei dem der Laie nur zu leicht vorschnelle, falsche Schlüsse ziehen kann. Wir beide, mein Alter sind keine Laien. Wir werden uns hüten, den Oberingenieur Noldeke etwa für den Dieb zu halten und den hinkenden Buckligen für seinen Helfershelfer. Nein – so einfach ist die Geschichte nicht! Ganz im Gegenteil. – Ich äußerte vorhin daß ich die Sache „halb“ begreife. Ich möchte doch lieber sagen: ich begreife sie zu ein Viertel. – Ah – schau an!“

Er hatte die gelbe Paketadresse in die Hand genommen und sie umgedreht.

„Hier steht auf dem Adressenabschnitt auf der Rückseite:

Sie erhalten anbei das zurück, was nicht mit dem Gesuchten übereinstimmt. – S. Ingpura.

Sehr vieldeutig, diese Mitteilung, lieber Schraut! – S. Ingpura kann man auch Sing Pura lesen. Und das ist dann ein indischer Name. – Fein ausgeklügelt, falls meine ein Viertel-Theorie stimmt!“ –

Das Telephon auf dem Schreibtisch schlug an.

Ich eilte hin und nahm den Hörer von der Gabel.

„Hier Harald Harst,“ meldete ich mich.

„Hier Regierungsrat Block. – Geheimrat Loschmer erzählte mir gestern, Herr Harst, daß Sie wieder nach Berlin zurückkehren würden. Ich hätte nun eine große Bitte –“

Mehr verstand ich nicht, da Harald mir den Hörer abgenommen hatte. – Dann sprach Harst nach einer Weile in den Apparat hinein:

„Bitte – holen Sie uns dann in einer halben Stunde ab, Herr Regierungsrat. Wenn der Fall so liegt, wie Sie ihn schildern, darf man allerdings keine Zeit verlieren. – Auf Wiedersehen –“ –

Während er dann im Berliner Adreßbuch blätterte, sagte er:

„Die Hausdame des Regierungsrats hat sich heute abend vergiftet. Er hat dies soeben erst bemerkt und möchte mich sprechen, bevor er die Polizei anruft. Er deutete an, daß bei dem Selbstmord mancherlei recht eigentümlich erscheint. Er war sehr erregt. – Ah – hier haben wir ihn: Block, Eduard, Dr. jur., Regierungsrat, Berlin-Charlottenburg, Am Lietzensee Nr. 2, 1 Treppe l. Telephon Lietzen[6] 8831. – Es stimmt also. Er ist Junggeselle. Die Hausdame heißt Anna Falz, eine Witwe.“

Er klappte das Adreßbuch zu.

Dann mußte ich ihm helfen, den Ebenholzkasten neu einzupacken. Als Petschaft für die Siegel benutzten wir eine alte Münze. – Herr S. Ingpura hatte ebenfalls eine Münze als Petschaft verwendet gehabt.

Die Adresse lösten wir von der Pappe ab und klebten sie dann wieder auf. Das Wertpaket war nun wieder in Ordnung.

„Da – verbirg es in Deinen Zimmern,“ meinte Harald. „Am besten ist, Du legst es auf Deinen Kleiderschrank im Schlafzimmer und breitest alte Zeitungen darüber und zwar so, daß das Ganze recht harmlos ausschaut.“

Ich ging mit dem Paket über den Flur und tat, was Harst vorgeschlagen hatte.

Als ich in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, telephonierte er mit jemandem. Ich hörte noch, wie er sagte:

„Vier genügen. Aber Vorsicht, Verehrtester. Die Geschichte riecht nach allerhand Überraschungen. – Wiedersehen –“ –

„Mit wem sprachst Du?“ fragte ich.

„Hm – kannst Du das nicht selbst herausfinden, mein Alter? – Im übrigen war dies Telephongespräch auch völlig gleichgültig, wenigstens fürs erste. Ich kann mich ja auch irren, obwohl dieses Zusammentreffen mir gleich verdächtig erschien.“

„Welches Zusammentreffen? Möchtest Du Dich nicht weniger orakelhaft ausdrücken!“

„Das Zusammentreffen des Scheinwerfers Noldekes mit dem Selbstmord der Witwe Anna Falz. – Aber – draußen fährt bereits Blocks Auto vor. – Vorwärts.“

Wir verließen das Haus. Vor der Gittertür des Gartens hielt ein elegantes, geschlossenes Auto. Ein mittelgroßer schlanker Herr mit blondem Spitzbart kam uns entgegen. Er trug einen Kneifer und hatte auf der linken Wange zwei rote Schmißnarben.

„Freue mich sehr, die Herren kennen zu lernen,“ begrüßte er uns nervös. „Die Sache ist für mich sehr unangenehm. Die Zeitungen werden – Aber bitte – steigen Sie ein. Darüber sprechen wir besser nachher.“

Das Auto glitt sofort davon.

Block hatte sich uns gegenüber auf den Rücksitz gesetzt.

„Die Falz hat einen Zettel zurückgelassen,“ begann er. „Und dieser Zettel, Herr Harst, ist für mich recht peinlich.“

Er schob den weichen Filzhut aus der Stirn und trocknete die Schweißperlen ab.

„Sehr peinlich, Herr Harst, – sehr! Als Beamter soll man jedes Aufsehen vermeiden. Und nun –“

Das Auto fuhr langsamer. Der Motor knatterte, verstummte.

„Was ist denn los!“ rief der Regierungsrat und öffnete die kleine Scheibe.

„He, Bauer, was gibt’s?“

Der Chauffeur war schon abgestiegen und riß die eine Tür auf.

Wir hielten in einer unbebauten Straße.

Dann – dann kam die erste Überraschung.

Der Chauffeur hielt uns einen Revolver entgegen.

„Keinen Laut – keine Bewegung!“ drohte er heiser. „Wir lassen nicht mit uns spaßen!“

Der Mann trug eine Autobrille und einen dunkeln Mantel. Sein langer schwarzer Bart und die braune Gesichtsfarbe im Verein mit der eigentümlichen Aussprache des Deutschen, deuteten auf einen Inder hin.

Auch der angebliche Regierungsrat hatte jetzt einen Revolver in der Hand.

„Machen Sie keine Dummheiten!“ lachte er höhnisch. „Bei uns spielt ein Menschenleben keine Rolle! – Los, Herr Schraut, strecken Sie als erster die Hände vor, oder –!“

Ich hatte die Arme vorgestreckt. Der „Regierungsrat“ holte eine dünne Stahlkette hervor und fesselte mich.

Inzwischen hatte der Inder geantwortet.

„Herr Harst, was wir wollen, werden Sie sehr bald erfahren – Los – Hände her!“

Auch Harald wurde ebenso gefesselt. Dann band der Regierungsrat uns mit den Armen aneinander.

Die Fahrt ging weiter – in beängstigend schnellem Tempo. Dann hielt das Auto nach zehn Minuten irgendwo zwischen hohen Bretterzäunen.

Wir mußten aussteigen. Man führte uns etwa zehn Schritt weiter über einen Müllhaufen und in eine elende Bretterbude hinein.

Die beiden Männer flüsterten miteinander. Dann sagte der Blonde:

„Wollen Sie uns auf Ehrenwort versichern, bis Tagesanbruch hier zu bleiben und keinen Lärm zu machen? – Dann soll Ihnen nichts weiter geschehen. Nach Tagesanbruch können Sie tun, was Sie wollen.“

„Gern!“ meinte Harald „Ich versichere es für uns beide. Doch möchte Ihnen aber dringend raten –“

„Halt’s Maul!“ rief der Blonde grob dazwischen.

Dann faßte er Harst in die Tasche und nahm ihm den Schlüsselring weg.

„– dringend raten,“ wiederholte Harald nun, „nicht bei mir einzudringen und den Kasten mit den Perlen zu suchen. Sie finden ihn doch nicht, werden nur –“

Der Chauffeur war bereits davongegangen, und der Blonde warf jetzt die Tür der Bretterbude zu und ließ uns allein.

Wir befanden uns in völliger Finsternis.

„Nehmen wir uns erst mal die lästigen Ketten ab,“ meinte Harst gleichmütig. „Die beiden spielten ihre Rollen leidlich geschickt. Nur Fesseln anzulegen verstanden Sie nicht. Und der Ton, den der Herr „Regierungsrat“ anschlug, war etwas zu rüde.“

Da die Kettenenden einfach zugeknotet waren, hatten wir sehr bald unsere volle Bewegungsfreiheit wiedererlangt.

Harald holte seine Taschenlampe hervor. Er wollte sie gerade einschalten, als wir draußen Stimmen vernahmen.

Dann heulte ein Hund wütend auf.

 

3. Kapitel.

„Ein kleiner Zwischenfall!“ flüsterte Harst. „Ich glaube, wir werden hier nicht bis Tagesanbruch zu warten brauchen. Man wird uns gewaltsam befreien –“

Die Stimmen kamen näher.

„Zwei stecken bestimmt noch drin, Herr Wachtmeister,“ sagte ein tiefer Baß. „Da – mein Treff wittert sie!“

Dann eine rauhe Kommandostimme:

„He – Ihr beiden, – was treibt Ihr da?! Meldet Euch!“

Harald leuchtete durch eine breite Ritze hinaus. Ich war neben ihn getreten.

Dort standen zwei ältere Wächter der Wach- und Schließgesellschaft und ein Polizeibeamter in Uniform.

Harst stieß die Tür auf.

„Geh voran, mein Alter!“

Die drei leuchteten mir mit ihren Laternen ins Gesicht. Ich konnte nicht anders: ich mußte lächeln! – Diese Situation entbehrte der Komik nicht!

„Wer sind Sie?“ fragte der Beamte barsch. Mein Lächeln reizte ihn.

„Der Privatsekretär und Freund des anderen dort,“ entgegnete ich.

Harald kam langsam näher.

„Herr Wachtmeister,“ meinte er, „dies ist das freie Gelände östlich der Ringbahn zwischen Wilmersdorf und Halensee. Die nächste Polizeiwache befindet sich in der Joachim-Friedrich-Straße in Halensee. Bringen Sie uns dorthin. Dort werde ich näheres angeben.“

„Verrückt!“ knurrte der Wachtmeister. „Na – meinetwegen! Also dann vorwärts!“

Einer der Wächter kam noch bis zu den ersten Häusern mit. Nach zehn Minuten waren wir im Wachlokal.

Hier hatte ein Kriminalbeamter Nachtdienst, der Harst von Ansehen kannte. Als wir kaum eingetreten waren, stand er vom Tische auf und rief:

„Wie, sind Sie’s, Herr Harst? Brauchen Sie irgendwie Unterstützung?“

„Ich bin Harald Harst. Und hier ist mein Ausweis. – So, Herr Wachtmeister, damit ist die Sache wohl erledigt. Weshalb wir uns dort in der Bretterbude aufhielten, kann ich leider nicht verraten.“

Als wir wieder auf der Straße standen, meinte Harald: „So, jetzt sind wir, ohne wortbrüchig geworden zu sein, ganz frei. Daß wir etwa nach der Bretterbude zurückkehren, kann niemand von uns verlangen.“

Er trat unter eine Laterne und sah nach der Uhr.

„Vier Uhr morgens, mein Alter. Nehmen wir ein Auto und fahren wir heim. Dort wird inzwischen Herr Fritz Noldeke wohl eingesehen haben, daß er meine Warnung, nicht bei mir einzudringen, hätte beachten sollen.“

Er rief ein Auto an, das den Kurfürstendamm entlangkam.

„Nach Schmargendorf, Blücherstraße 2,“ befahl er. Und wir stiegen ein.

„So war also einer der beiden Leute der Oberingenieur,“ meinte ich. „Ich habe es mir gedacht. Also der „Regierungsrat“, nicht wahr?“

„Nein, der angebliche Inder!“

Ich schwieg eine Weile. Die Geschichte wurde ja immer komplizierter. – Dann fragte ich:

„Also war Noldeke auch der Inder, der auf dem Rade ausriß?“

„Nein, mein Alter. Das war wieder wer anders!“ lächelte Harald. „Durch Deine Fragen wirst Du aber kaum Licht in diese Sache bringen, die ich jetzt zur Hälfte verstehe – nicht mehr zu ein Viertel. Und die fehlende Hälfte werde ich aus eigener Kraft kaum ergänzen können. Dazu gehört das, was man eine Falle nennt, die wir dem Diebe stellen müssen.“ –

Das Auto hielt Blücherstraße Nr. 2. – Harald bezahlte und gab dem Chauffeur noch ein reichliches Trinkgeld.

„Warten Sie hier,“ sagte er. „Mein Name ist Harald Harst. Vielleicht brauchen wir Sie noch.“

Wir gingen weiter. Dann tauchte rechter Hand der Vorgarten und die Front des alten Harstschen Familienhauses auf.

„Du – in Deinem Zimmer brennt Licht!“ rief ich leise.

„Ja. Doktor Hans Pleske wird doch nicht im Dunkeln sitzen, mein Alter.“

„Ah – so hast Du Pleske vorhin telephonisch herbestellt –“

„Wen sonst?! – Ihn und vier Kriminalbeamte. Ich sagte doch, daß das Zusammentreffen des Scheinwerfers Noldekes mit dem angeblichen Selbstmorde der Witwe Falz mir verdächtig vorkam. Noldeke weiß fraglos, wie ich aussehe, und hat mich daher in der Ringbahnstraße erkannt. Er wußte also auch, wer den Ebenholzkasten mitgenommen hatte. Ich mußte mithin damit rechnen, daß er ihn irgendwie zurückholen würde. Und als der Regierungsrat Block dann anläutete, dachte ich mir: Vorsicht kann nichts schaden! – Deshalb ließ ich durch Pleske unser Haus bewachen. Pleske wird nun wohl Herrn Fritz Noldeke oder den anderen Mann fest haben; vielleicht auch beide.“

Wir betraten den Vorgarten. An der Haustür lehnte ein Kriminalbeamter.

„’n Abend, Herr Harst,“ sagte er und zog den Hut. „Wir haben wirklich einen abgefaßt. Der Herr Kommissar sitzt in Ihrem Arbeitszimmer.“

„Oberingenieur Noldeke?“ fragte Harald kurz.

„Ja, Herr Harst!“

Als wir nun in Haralds Arbeitszimmer erschienen, fanden wir folgendes Bild vor:

Doktor Pleske saß in dem einen Klubsessel neben dem Rauchtischchen; in dem zweiten saß ein hagerer, gleichfalls bartloser Herr, dessen Hände im Schoße ruhten und gefesselt waren.

Harald nickte Pleske zu. Dann wandte er sich an den Oberingenieur, dessen energisches, mageres Gesicht einen seltsamen schmerzlichen Ausdruck zeigte.

„Herr Noldeke, ich hatte Sie ja gewarnt. Es war sehr leichtsinnig, trotzdem hier einzudringen.“

Noldeke schaute nicht auf, blieb stumm.

Harald bot Pleske eine Zigarre an, nahm sich eine Mirakulum und erwiderte dann: „Lieber Doktor, zunächst bitte ich Sie, Herrn Noldeke von den Stahlfesseln zu befreien. Wir wollen uns hier in aller Höflichkeit über diese Dinge unterhalten. Herr Noldeke wird uns, hoffe ich, die Wahrheit sagen. Jedenfalls ist er nicht der Perlendieb.“

Da – der Oberingenieur meldete sich, blickte Harst fest an und erklärte kühl und ablehnend:

„Ich werde überhaupt nichts sagen, weder die Wahrheit noch die Unwahrheit. Sie werden aus mir nichts herauslocken.“

Dann senkte er wieder den Kopf und starrte vor sich hin.

„Lieber Doktor,“ meinte Harald gelassen, „ich wiederhole meine Bitte: nehmen Sie Herrn Noldeke die Stahlfesseln ab!“

„Wie Sie wollen!“ – Und der Kommissar erhob sich, öffnete das Schnappschloß der Stahlbänder und steckte diese in die Tasche.

„So, nun will ich Ihnen berichten, was wir, Schraut und ich, hier in Berlin bereits erlebt haben,“ fuhr Harst dann fort.

Er begann mit dem Inder, der mit dem Rade vor uns entfloh, erzählte, was wir vor Noldekes Haus in der Ringbahnstraße erlebt hatten, wie wir den Ebenholzkasten an uns brachten und wie man uns dann in das Auto des angeblichen Regierungsrats Block lockte und in die Bretterbude schaffte.

„Der indische Chauffeur dieses Autos waren Sie, Herr Noldeke,“ sagte er nun zu dem Oberingenieur. „Ich erkenne Ihre Stimme wieder. Sie wollten eben um jeden Preis den Ebenholzkasten zurückhaben.“

Noldeke regte sich nicht.

„Und der Inder auf dem Rade waren Sie gleichfalls,“ fügte Harst hinzu. „Nicht wahr – es ist doch so?“

Und jetzt nickte Noldeke.

Da legte Harald ihm die Hand auf die Schulter und erklärte eindringlichen Tones:

„Herr Noldeke, dieses Nicken sollte ein Ja bedeuten. Sie hätten lieber den Kopf schütteln sollen. Das wäre nämlich die Wahrheit gewesen. Sie waren der Radfahrer nicht!“

„Aber – er ist Radler!“ warf Doktor Pleske ein. „Er besitzt sogar zwei Räder. Ich habe bei ihm vor etwa drei Wochen eine Haussuchung vorgenommen und –“

Harald hatte abgewinkt. „Weiß ich bereits, lieber Doktor. Wollen Sie mir die weitere Aufklärung dieses Diebstahls allein überlassen?“

Pleske überlegte erst. Dann erwiderte er:

„Meinetwegen, Herr Harst. Ich muß Sie aber bitten, mir den Ebenholzkasten auszuliefern. Wenn er abermals verschwände, würde ich dafür verantwortlich gemacht werden.“

„Ganz recht. – Einigen wir uns dahin, daß wir ihn heute beide in Halensee als Wertpaket so absenden, wie er jetzt in Schrauts Schlafzimmer auf dem Schranke steht. Ich verfolge hiermit einen besonderen Zweck.“

Noldekes Kopf war hochgeruckt. Er schaute Harald geradezu angstvoll an, sagte aber nichts, sondern preßte die Lippen nur noch fester zusammen.

Harst nickte ihm ernst zu. „Herr Noldeke, Sie verraten sich immer mehr. Ich bekomme die Wahrheit doch heraus!“

„Niemals!“ rief der Oberingenieur. „Niemals! Und weil ich davon überzeugt bin, daß auch Ihr Genie hier versagen wird, werde ich geduldig alles auf mich nehmen! Sie unterschätzen mich und überschätzen sich, Herr Harst!“

Seine Augen waren plötzlich wie in verstecktem Triumph aufgeflammt: sein Gesichtsausdruck war völlig verändert.

Und Harst –? – Harst lächelte kaum merklich, sagte langsam:

„Ich habe gute Ohren, Herr Noldeke! Auch ich habe soeben draußen das Signal mit der Autohupe gehört. Und – ich habe noch schärfere Augen! Ich sah Ihnen an, mit welcher Spannung Sie auf die Töne der Hupe hinhorchten. – Schraut, geh’ doch mal in Dein Schlafzimmer. Ich denke, der Ebenholzkasten wird – verschwunden sein. Herrn Noldekes Freund, der falsche Regierungsrat, wird vom Garten her hier eingedrungen sein und dürfte Dich schon vorher durch das Fenster beobachtet haben, wie Du den Kasten wegstelltest.“

Doktor Pleske sprang erregt auf.

„Kommen Sie, Herr Schraut!“

Wir eilten über den Flur: wir – fanden den Kasten nicht, fanden die eine Scheibe eingedrückt und eine Leiter, die unter diesem Fenster an der Mauer lehnte.

 

4. Kapitel.

Wir beugten uns hinaus. Über Hof und Garten lag noch das Dunkel der Septembernacht.

Dann rief Doktor Pleske: „Da – ein Mann!“

Und wir sahen eine Gestalt, die in langen Sätzen über den Hof stürmte. Sie kam von der rechten Hausseite her.

Pleske sprang ohne weiteres aus dem Fenster. Unsere Zimmer lagen im Hochparterre.

Er kehrte jedoch sehr bald zurück. – Als wir dann Harsts Arbeitszimmer wieder betraten, blieben wir wie angewurzelt stehen.

Harald lag regungslos neben dem Klubsessel auf dem Teppich – bewußtlos. –

Nach fünf Minuten war er wieder bei Besinnung.

Noldeke hatte ihn durch einen blitzschnellen Fausthieb gegen die Schläfe niedergestreckt. –

Harald trank zwei Gläser Rotwein. – „Noldeke besitzt mehr Kraft, als ich ihm zutraute,“ meinte er. „Schade – nun sind wir die Perlen und Fritz Noldeke los!“

„Oh – Noldeke werden wir sehr bald haben!“ rief Pleske. „Das werde ich erledigen, Herr Harst. Sie entschuldigen mich jetzt. Auf Wiedersehen –“

Er reichte uns die Hand und eilte hinaus. –

„Du könntest uns Kaffee aufbrühen, mein Alter,“ sagte Harald gemütlich, als wir die Gittertür des Vorgartens zuklappen hörten. „Unsere Betten werden wir wohl so bald nicht benutzen können. Ich will diese Geschichte erst ins Reine bringen. Übrigens – der Schläfenhieb war gar nicht so arg; ich habe vor Pleske ein wenig simuliert. Mir war es sehr recht, daß Noldeke auskniff. Ich sprach doch etwas von einer Falle, die ich dem wahren Schuldigen stellen wollte. Die Falle ist bereits gestellt – dadurch, daß ich Noldeke entweichen ließ!“ –

Gegen halb sieben Uhr morgens verließen wir das Haus durch den Gemüsegarten und gingen dann auf Umwegen nach Blücherstraße Nr. 2. Wir hatten bald festgestellt, daß uns niemand nachschlich.

Das Auto hielt noch vor Nr. 2. Der Chauffeur schlief vorn und schnarchte beneidenswert.

Harst weckte ihn.

„Sind Sie frei?“

„Ne – bedaure – besetzt!“ – Der Mann erkannte uns nicht.

Harald flüsterte: „Gut – für uns besetzt! Ich bin Harst! – Ringbahnhof Halensee! Vorwärts! Und – Mund halten!“

Am Ringbahnhof Halensee stiegen wir aus. – „Warten!“ sagte Harald nur.

Dann gingen wir die Ringbahnstraße hinunter und zwar auf der Gartenseite.

Vor dem Hause Nr. 19 lehnte an einem Baume ein junger Bursche, rauchte eine Zigarette und las eine Zeitung.

„Wissen Sie vielleicht, ob hier ein Oberingenieur Noldeke wohnt?“ fragte Harald den Menschen.

Ein mißtrauischer Blick traf uns. – „Drüben Nr. 19,“ sagte der Bursche dann maulfaul.

Wir gingen über die Straße und betraten das Haus.

„Einer von Pleskes Beamten war’s,“ flüsterte Harst, als er nun an Noldekes Flurtür läutete.

Nach einer Weile öffnete eine ältere Frau. Es war Noldekes Wirtschafterin, Frau Therese Hönig.

„Wir möchten den Herrn Oberingenieur sprechen,“ erklärte Harst, nachdem die Frau auf seine Frage hin ihren Namen genannt hatte.

„Er ist nicht daheim,“ entgegnete die Wirtschafterin freundlich.

„Dürfen wir nähertreten, Frau Hönig. Ich hätte einiges mit Ihnen zu besprechen.“

Da wurde sie offenbar argwöhnisch. Ihr gutmütiges Gesicht rötete sich; ihre Augen fixierten uns fast lauernd.

„Im Interesse – der Dame!“ fügte Harald ganz leise hinzu.

Die Frau schrak zusammen.

„Wir sind Verwandte von ihr,“ flüsterte Harst weiter. „Lassen Sie uns nur ein –“

„Mein Gott!“ rief die Hönig da. „Verwandte?! Dann –“

Und sie gab den Weg frei und öffnete die Tür nach dem Erkerzimmer.

„Frau Hönig,“ begann Harald hier, „Sie wissen doch, wer die Dame ist, die Herrn Noldeke zuweilen besucht?“

„Nein – nein, das weiß ich nicht,“ rief sie verlegen. „Wirklich nicht! Wenn Sie beide, meine Herrschaften, aber dafür sorgen wollten, daß die Dame meinen Herrn endlich in Ruhe läßt, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Herr Noldeke ist bereits halb krank durch all die Heimlichkeiten, und ich ebenfalls. Acht Jahre bin ich hier nun bereits Wirtschafterin. Da kommt einen das Jammern an, wenn man sieht, wie Herr Noldeke sich –“

Sie schwieg plötzlich. Wieder fixierte sie uns voller Mißtrauen, murmelte dann: „Ich habe vielleicht schon zu viel gesagt!“

„Nein,“ meinte Harald. „Zu viel nicht. Aber gerade genug. – Wir möchten gern auch noch Herrn Noldekes Intimus, den Herrn – Herrn – na, wie heißt er doch schnell –“

„Göppert – Doktor Göppert –“

„Richtig – Göppert möchten wir noch sprechen –“

„Der ist verreist. – Aber – wer sind die Herrschaften eigentlich?“ – Sie fragte jetzt in ganz weinerlichem Tone. „Ich bin ja so in Sorge Herrn Noldekes wegen. Sind Sie etwa die Eltern der Dame? Ich glaub’s beinahe –“

„War sie gestern abend wieder hier?“ meinte Harst scheinbar ärgerlich.

„Ja. Das heißt: ich nehme es an! Herr Noldeke schließt ja stets die Vorderzimmer ab, wenn sie kommt.“

„Wo hat er seine Räder?“

„Hinten in der Badestube.“

„Er holte gestern abend eins der Räder hier nach vorn, nicht wahr?“

„Ja.“

„Frau Hönig, ich möchte mir mal den Anzug ansehen, den die Dame benutzt – den Herrensportanzug.“

„Sind die Herrschaften wirklich die Eltern?“ fragte sie scheu.

„Vielleicht, Frau Hönig –“

„Und – und Sie werden Herrn Noldeke nicht verraten, daß ich –“

„Keine Silbe!“

„Der Anzug liegt dort in der Schieblade des Bücherschranks.“

„Auch der Bart, Frau Hönig?“

„Ja – auch der Bart und – und die Schminke –“

„Wann merkten Sie zum ersten Mal, daß die Dame Ihren Herrn besuchte?“

„Hm – das mag vor vier Wochen gewesen sein.“ – Sie dachte nach. „Ja – es war am 4. August, ich besinne mich jetzt genau, gerade eine Woche vor der Durchsuchung, die die Polizei hier vornahm.“

„Hatten Sie den Sportanzug schon vor dem 4. August gesehen, Frau Hönig?“

Da wurde sie wieder stutzig. Ihre Augen bekamen einen trotzigen, unwilligen Ausdruck.

„Oh – Sie horchen mich nur aus!“ stieß sie hervor. „Wer weiß, wer Sie sind! Denken Sie etwa, mein Herr stiehlt Perlenketten! Dort ist die Tür! Gehen Sie – oder ich rufe den Portier zu Hilfe!“

„Frau Hönig,“ meinte Harald ruhig, „daß Ihr Herr die Perlen nicht gestohlen hat, könnte ich jeder Zeit beschwören. Sagen Sie niemand, daß wir hier waren. Es wird noch alles gut enden –“

Dann verließen wir die Wohnung und das Haus.

Als wir dem Bahnhof Halensee zuschritten, fragte ich:

„Wer ist denn nun diese Dame wieder?“

„Du wirst sie noch heute sehen, mein Alter. – Steige in unser Auto. Ich will dort in jener Kneipe im Adreßbuch nachsehen, wo Doktor Göppert wohnt.“

Harald erschien nach fünf Minuten und rief dem Chauffeur zu: „Bahnhof Charlottenburg. Dort wieder warten!“

Er setzte sich neben mich.

„Doktor Heinz Göppert, Schriftsteller, Kantstraße 137, zwei Treppen,“ sagte er lächelnd. „Er soll verreist sein – soll! Aber er wird Dir, einer Dame, öffnen, wenn Du einen Namen flüsterst, nachdem Du geläutet hast. Den Namen nenne ich Dir erst auf dem Treppenabsatz –“ –

Wir gingen bis zur Kantstraße zu Fuß. Nr. 137 war ein älteres Haus. Im Flur unten wischte eine Frau die Fliesen auf.

„Wohnt hier ein Doktor Göppert?“ fragte Harst.

„Ja. Er ist aber seit vorgestern verreist – nach München.“

„Danke.“

Wir kehrten um. – „Warten wir, bis die Portierfrau verschwunden ist,“ meinte Harald.

Nach zehn Minuten war der Weg frei. Als wir die erste Treppe emporstiegen, kam uns ein älterer, buckliger Mann mit grauem Vollbart entgegen. Er trug unter dem Arm ein in braunes Packpapier gehülltes Paket.

Achtlos schritt er dicht an uns vorüber. Bei seinem Anblick tauchte in meiner Erinnerung der Hinkende gestern abend auf.

Da machte Harald schon kehrt, raunte mir zu:

„Er war’s! Ihm nach! Aber vorsichtig!“

Der Bucklige nahm am Bahnhof Charlottenburg eine Droschke. Unser Chauffeur folgte dem Wagen sehr geschickt und ganz unauffällig.

Harald ließ den Wagen keinen Moment aus den Augen.

„Die Falle klappt zu!“ meinte er triumphierend. „Und zwar leichter, als ich dachte!“

„Was sollte ich denn bei Göppert?“ fragte ich gespannt. „Und – welcher Name hätte mir die Tür geöffnet?“

„Du solltest den Ebenholzkasten holen. Dein Schleier ist dicht genug. Wenn Göppert ihn Dir nicht gegeben hätte, also argwöhnisch geworden wäre, würde ihn Dein Besuch veranlaßt haben, das schleunigst zu tun, was er jetzt tut –“

„Er schafft den Kasten weg. – Und der Name der Dame?“

„Die Dame ist dieselbe, zu der Göppert nun den Kasten bringt.“

Mit einem Male wurde es hell in meinem Hirn.

„Honoria von Loschmer?“ rief ich atemlos.

„Ja – Honoria von Loschmer!“

„Also ist sie auch die Frau, die den Oberingenieur heimlich besucht und die gestern abend – nicht im Theater war, sondern den Inder spielte und Noldekes Rad benutzte?“

„Endlich dämmert es bei Dir, mein Alter! – Im Theater wird sie wohl gewesen sein, nur nicht die ganze Zeit über.“

„Wie in aller Welt bist Du nur auf den Gedanken gekommen, daß die Geheimrätin bei diesem Diebstahl eine sehr fragwürdige Rolle spielt?! Ich gebe zu, Harald: Die ganze Sache ist mir noch genau so dunkel wie bisher.“

„Die Aufklärung verschiebe ich besser auf einen geeigneteren Zeitpunkt. Ich möchte erst vollständig klar sehen. Außerdem darfst Du nicht vergessen, daß wir die Geschichte möglichst unter Ausschluß der Öffentlichkeit ins Reine bringen müssen. Um den sogenannten Diebstahl handelt es sich hier ja gar nicht mehr, sondern nur noch um den Oberingenieur Fritz Noldeke, der sich im Interesse Frau Honorias auf ein recht unangenehmes Abenteuer eingelassen hat.“ –

Die Droschke vor uns bog jetzt jenseits der Halenseer Brücke in die Villenkolonie Grunewald ein. Sie machte dann vor der Loschmerschen Parkpforte halt. Der Bucklige stieg aus und verschwand im Garten. Das Paket hatte er bei sich.

Wir fuhren an der Villa langsam vorüber. Unser Chauffeur mußte nun wenden. Da tauchte der Mann, den Harald für den Schriftsteller Göppert hielt, wieder auf und zwar ohne das Paket. Er sprang in die Droschke und kam uns sehr bald aus den Augen, da Harald auf eine weitere Verfolgung verzichtete.

Wir verließen das Auto und schlenderten in der Straße auf und ab.

„Was nun?“ fragte ich, da ich dieses lästige Schweigen nicht mehr ertrug. „Frau Honoria hat jetzt ihre Perlen zurück. Und Fritz Noldeke, hinter dem die Polizei her ist? Was wird aus dem?“

„Das hängt von der Geheimrätin und ihrem Mute ab, mein Alter, insofern nämlich, als sie es war, die den Ebenholzkasten verschwinden ließ und das Märchen eines Diebstahls in die Welt setzte. Sie ist die Hauptschuldige. Wenn Du gestern abend, als wir mit Loschmer über den Fall sprachen, achtgegeben hättest, wäre Dir aufgefallen, daß ich nachher auf der Terrasse das Gespräch wieder auf die letzte Reise des Ehepaares und auf Monte Carlo brachte, wobei der Geheimrat erwähnte, daß er von Nizza aus drei Tage allein nach Paris gereist sei, während seine Gattin in Nizza blieb. – Hallo – was bedeutet das?!“

Von der hinter Bäumen und Büschen halb versteckten Villa her war ein gellender Schrei aus weiblicher Kehle erklungen.

Der Schrei wiederholte sich noch einige Male, aber immer leiser.

Wir standen gerade auf der Brücke der Bismarckallee. Vor uns lag der Hubertussee mit der kleinen Insel darin.

Der Parkabhang nach dem See zu war dicht bewachsen. In den See hinaus zog sich ein kleiner Landungssteg, an dem zwei Ruderboote befestigt waren.

Auf diesem Stege erschien jetzt ein Mann – ein Inder in europäischer Tracht mit langem, schwarzem Bart. Er hatte einen Mantel über dem Arm, sprang in eines der Boote und ruderte hastig den See nach Süden zu hinunter.

„Ins Auto!“ rief Harst.

Der Kraftwagen sauste davon – eine Seitenstraße entlang – der Hubertusallee zu.

Als wir diese erreicht hatten stieg der Inder gerade über den niedrigen Zaun, der die Anlagen am Südufer des Sees umgibt. Er ging ganz ruhig zur nahen Haltestelle der Straßenbahn und schaute einem aus der Richtung Berlin herankommenden Wagen entgegen.

Unser Auto fuhr langsam vorüber.

Der Inder ist echt!“ flüsterte Harst. „Und sein Mantel bedeckt den Ebenholzkasten.“

Er klopfte an die Scheibe. Der Kraftwagen hielt.

Gleich darauf standen wir hinter dem Inder, der bereits einen Fuß auf das Trittbrett des Straßenbahnwagens gestellt hatte.

Harst packte seinen rechten Arm. Gleichzeitig riß ich ihm Mantel und Kasten aus dem linken. Unser Chauffeur half, den Inder nach dem Auto zu schleppen.

 

5. Kapitel.

Als wir uns dann, den Gefangenen in der Mitte, durch den Garten der Villa näherten, kam uns der Geheimrat entgegengeeilt. Er erkannte uns nicht; er hatte nur Augen für den Inder; er war aschfahl, und seine Lippen bebten, als er uns nun zurief:

„Das – das ist der Mörder meiner Frau! – Wer sind –“

„Harst und Schraut!“ unterbrach Harald ihn. „Ihre Gattin ist also wirklich ermordet worden, Herr Geheimrat? Ich habe es befürchtet. Wir hörten die Schreie –“

„Das war die Zofe meiner Frau. Sie fand sie auf der Terrasse erdolcht auf. Der Inder eilte gerade die Treppe in den Park hinab. Ich sah ihn noch vom Fenster aus –“ –

Wir führten den Inder auf die Terrasse. Der Mann verriet durch nichts Reue über seine Tat. Gleichgültig blickte er auf die Tote, die in einem kostbaren Spitzenmorgenrock halb auf der Seite lag.

Der Geheimrat sank jetzt in einem Anfall von Schwäche in einen Korbsessel. – Die Zofe berichtete dann folgendes: Frau von Loschmer hatte hier auf der Terrasse einen kleinen buckligen Herrn empfangen, der sich bei ihr durch die Zofe als Herr Müller hatte melden lassen. Dieser Herr Müller hatte mit der Geheimrätin nur ein paar Worte gewechselt, hatte ihr ein flaches Paket gereicht und war wieder davongegangen. Fünf Minuten später etwa hatte die Zofe, die den Herrn Müller bis in den Vorgarten begleitete, die Terrasse wieder betreten. Und da war der Mord bereits geschehen. –

Der Geheimrat sagte nun matt: „Ich habe bereits nach der Polizei telephoniert, Herr Harst. Dieser Inder ist derselbe Mann, der uns schon in Nizza auffiel.“

Harald wickelte jetzt den Ebenholzkasten aus.

Herr von Loschmer stierte wie entgeistert auf das kostbare Holzetui.

„Die Perlen – die Perlen!“ stöhnte er. „Wie – wie kommen jetzt plötzlich –“

Harst winkte ihm zu. „Herr Geheimrat, wir wollen in Ihr Arbeitszimmer gehen. Wir sind dort ungestörter.“

Loschmer setzte sich hier schwerfällig in einen Sessel. Ich bewachte den Inder. Harald schloß den Kasten auf. Oben auf der Perlenkette lag ein Brief. Der Umschlag trug keine Anschrift und war nicht zugeklebt. – Harst zog den Briefbogen heraus. Der Brief war mit Maschine geschrieben und lautete:

„Verehrte Freundin! Als Ihr Gatte telegraphisch Harald Harst um Hilfe bat, ahnte ich das Ende voraus. Ich hatte daher auch alles vorbereitet, um jeder Zeit und für immer ins Ausland gehen zu können. Die Ereignisse der verflossenen Nacht zwingen mich nun dazu. Ich habe für die Bewahrung Ihres Geheimnisses bis zum letzten Augenblick gekämpft. Ich hoffe ja noch immer, daß Harst, nachdem die Perlen nun wieder aufgetaucht sind, niemals die ganze Wahrheit ermitteln wird. – Mag Ihnen, Frau Honoria, diese traurige Diebstahlsgeschichte für den Rest Ihres Lebens eine Warnung sein. Sie hätten unbedingt den Mut sofort finden müssen, Ihrem Mann alles einzugestehen. Wir werden uns nie wiedersehen, und deshalb will ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich von Ihrem Charakter mehr erwartet hatte. Als Sie mich um meinen Beistand anflehten, versprach ich, Ihnen zu helfen, obwohl das, was ich für Sie empfand, in demselben Moment tot war, wo Sie mir Ihren Leichtsinn beichteten. Ich habe mein Versprechen eingelöst und bin deshalb ein Heimatloser geworden.“

Als der Geheimrat diesen Brief ohne Unterschrift gelesen hatte, griff er sich an die Stirn und stammelte: „Herr Harst – was soll dieses Schreiben?! Was –“

„Ich will Ihnen in knapper Form alles Nötige erklären,“ sagte Harald schon. „Ihre Gattin hat in Monte Carlo, als Sie in Paris weilten, mit Verlust gespielt. Sie muß sehr große Summen verloren haben. Um diesen Verlust Ihnen zu verheimlichen, hat sie wahrscheinlich in Nizza einige der Perlen der Kette verkauft und die fehlenden durch unechte ersetzen lassen. Als sie dann hierher zurückgekehrt war, merkte sie, daß Ihnen diese falschen Perlen früher oder später auffallen mußten. Sie täuschte also einen Diebstahl vor, gab dem Oberingenieur Noldeke die Kette und bat ihn, die echten Perlen wieder zurückzukaufen und in den Schmuck einfügen zu lassen. Noldeke wird seinen Freund Doktor Göppert nach Nizza geschickt haben, der die Sache dann auch in Ordnung brachte. Um den Verdacht, den Diebstahl begangen zu haben, auf diesen Inder da zu lenken, hat sich Ihre Gattin Ihnen hier, stets abends, als Inder gezeigt, also verkleidet. Diese Verkleidung legte sie bei Noldeke an.“

Der Geheimrat schüttelte völlig verwirrt den Kopf.

„Das – das kann nicht sein!“ murmelte er. „Freilich – dieser Brief! Und dann noch Honorias Spielleidenschaft!“

„Ich wäre der Wahrheit wohl auch schwerer auf die Spur gekommen,“ fuhr Harald fort, „wenn ich gestern abend nicht die Radlerin gesehen hätte. Ich erkannte an den kleinen Füßen und an der den Hinterkopf vollständig bedeckenden weichen Mütze sofort, daß ich eine verkleidete Frau vor mir hatte. Dann fügte sich ganz von selbst ein Stein an den anderen. Sie, Herr Geheimrat, sprachen von Ihrem Abstecher nach Paris und machten auch eine Bemerkung über Ihrer Gattin Hazardleidenschaft. Nachher nahm ich den Ebenholzkasten an mich, den Doktor Göppert, ebenfalls verkleidet, seinem Freunde Noldeke in den Vorgarten legte. Noldeke und Göppert suchten um jeden Preis den Tatbestand noch mehr zu verwirren. Mir wurden die wahren Zusammenhänge trotzdem schrittweise immer klarer. Nur eins ahnte ich nicht: daß es tatsächlich einen Inder gab, der es gleichfalls auf die Perlenkette abgesehen hatte! Ich nahm an, Ihre Gattin hätte schon in Nizza ebenfalls den Inder gespielt. Nun ist auch dieser Punkt auf so tragische Weise geklärt worden.“

Er wandte sich jetzt an den Inder und fragte auf englisch:

„Wollen Sie uns nicht angeben, weshalb Sie der Perlen wegen sogar einen Mord nicht scheuten?“

Der Inder richtete sich höher auf.

„Master Harst, Ihr Name ist in Indien genau so berühmt wie hier. Ihnen wird es gelingen, zu beweisen, daß die Dame sich selbst den Dolch in das Herz stieß. Es ist so. Ich bin nur insofern indirekt an ihrem Tode schuld, als ich ihr vorhin drohte, dem Herrn Geheimrat alles mitzuteilen, was ich über den Verkauf von 18 Perlen der Kette in Nizza wußte. – Ich heiße Sing Pura und bin in Bombay Juwelenhändler. Die Perlenkette wurde mir vor drei Jahren gestohlen. Ich hatte einen chinesischen Händler als Täter im Verdacht und beobachtete ihn ständig. Zu spät erfuhr ich dann, daß er eine Perlenschnur an einen Holländer namens van Droysen verkauft hatte. Ich reiste nach Europa und ermittelte, daß Ihre Gattin jetzt meine Perlen besaß. In Nizza sah ich die Kette am Halse Ihrer Gattin. Als Sie nach Paris gereist waren, sprach ich die Dame an und bat sie, mir behilflich zu sein, mein Eigentum wiederzuerlangen. Ihre Gattin bestellte mich abends um elf Uhr an einen entlegenen Platz der Küste; dort wollte sie mit mir alles Nähere besprechen. Nachdem wir uns getrennt hatten, beobachtete ich, wie sie den Laden eines Pfandleihers in einer Seitengasse betrat. Ich stellte fest, daß sie hier 18 Perlen verkauft hatte. Als ich ihr dies abends vorhielt und dabei erregt wurde, muß sie wohl geglaubt haben, ich wollte mich an ihr vergreifen. Sie stieß mit einem Dolche nach mir, und ich taumelte schwer verletzt von dem Felsen der Küste herab. Fischer fanden mich. Ich habe drei Wochen schweres Wundfieber gehabt. Als ich leidlich wieder bei Kräften war, kam ich nach Berlin. Ich war dann heute früh zum ersten Male mit dem Boote hier nach dem Park gerudert. Ich wußte, daß die Perlenschnur gestohlen sein sollte und daß sie in einem Ebenholzkasten aufbewahrt worden war. Ich betrat die Terrasse, als Ihre Gattin den Kasten gerade auswickelte. Kaum hatte sie mich erblickt, als sie auch schon unter ihrem Morgenkleide den Dolch hervorholte. Ich verlangte die Perlen zurück und drohte, sofort Ihnen alles mitzuteilen. Ehe ich noch zuspringen konnte, hatte sie sich die Waffe schon in die Brust gestoßen, riß sie wieder heraus und schleuderte sie in den Garten. Sie sank langsam um, und ich entfloh mit dem Ebenholzkasten. – Das ist die volle Wahrheit.“

Der Geheimrat hatte das Gesicht mit beiden Händen bedeckt.

Tiefe Stille herrschte jetzt in dem eleganten Gemach.

Dann wurden draußen im Flur Stimmen laut. Die Tür wurde geöffnet.

Doktor Pleske trat zögernd ein; hinter ihm tauchten Noldeke, Doktor Göppert und zwei Kriminalbeamte auf.

Pleske musterte Harald und mich erstaunt. Dann nickte er uns zu. Er hatte uns erkannt.

Der Geheimrat ließ die Hände sinken. Sein gramerfülltes, welkes Gesicht hätte jedermanns Mitleid erweckt.

Seine Blicke blieben dann auf dem Oberingenieur haften.

„Noldeke,“ sagte er leise, „lieber Noldeke, diese – Frau hat uns beide enttäuscht!“

Er streckte ihm die Hand hin.

„Sie sind als Freund zu treu gewesen, Noldeke,“ fügte er hinzu. „Ja – das verfluchte Spiel! Das hat unzählige auf dem Gewissen!“

Doktor Pleske flüsterte in der Ecke mit Harald. Dann fragte der Kommissar den Oberingenieur:

„Hat Frau von Loschmer Ihnen gegenüber eingestanden, daß sie den Inder in Nizza niedergestochen hatte?“

„Ja. – Vieles an ihrer Handlungsweise wird leichter verständlich, wenn man berücksichtigt, daß sie heimlich Morphinistin war. Ihr Nervensystem war verbraucht. Sie hat dies erst heute Doktor Göppert gegenüber eingestanden, als er ihr den Perlenkasten brachte. Sie sagte zu ihm, er solle mir bestellen, ich müßte sie nachsichtig beurteilen; sie gebrauche seit Jahren Morphium.“

„Wußten Sie, daß sie stets einen Dolch bei sich trug?“ fragte Doktor Pleske weiter.

„Sie hat den Dolch mir heimlich weggenommen. Sie führte ihn überall bei sich.“

Pleske zog einen Dolch aus der Brusttasche.

„Ist es dieser?“

„Er ist’s!“

„Dann ist Sing Pura tatsächlich unschuldig. Der Dolch lag unterhalb der Terrasse im Grase.“ – Doktor Pleske nahm dem Inder die Fesseln ab.

Harst schritt jetzt auf Göppert und Noldeke zu und sagte liebenswürdig:

„Was unsere Rechnung von der verflossenen Nacht betrifft, meine Herren, so wollen wir sie dadurch aus der Welt schaffen, daß wir uns die Hand drücken. – So, Herr Noldeke, nun brauchen Sie nicht ins Ausland zu gehen. Sie haben an Frau Honoria als vollendeter Gentleman gehandelt.“

 

Nächster Band:

Das Licht in der Lehmhütte.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

Kabels Kriminal-Bücher

 

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29:
30:
31:

Ming Tschuan.
Thomas Bruck, der Sträfling.
Die rote Rose.
Das Atlantikgespenst.
Die Schildkröte.
Die grüne Schlange.
Das Teekästchen.
Die Todgeweihten.
Der Krokodillederkoffer.
Treff-As.
Der Wilddieb.
Die leere Villa.
Der Klub der Toten.
Der Mann mit der Narbe.
Die silberne Scheibe.
Die Billionenbeute.
Die Tigerinsel.
John Goodsteaks Hochzeitsreise.
Die roten Briefe.
Das Radiogespenst.
Die Rattenfalle.
Die eiserne Frau.
Das Teufelsriff.
Der Zauberblick.
Die Ladygaunerin.
Der Saal ohne Fenster.
Als Harst verschwand.
Die Hand aus Holz.
Der Geistersucher.
Schraut kontra Harst.
Die Jacht mit den drei Mumien.

– Preis pro Band 40 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Collingloof“.
  2. In der Vorlage steht: „daß“.
  3. In der Vorlage steht: „Noldecke“.
  4. In der Vorlage steht: „fortwähend“.
  5. In der Vorlage steht: „hochparterre“.
  6. In der Vorlage steht: „Litzen“.