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Das Licht in der Lehmhütte

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 64:

 

Das Licht in der Lehmhütte.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.

 

1. Kapitel.

Es war an einem wundervollen Septembermorgen, als der Postbote in Berlin-Schmargendorf, Blücherstr. 10, zwei Briefe für den Besitzer dieses Villengrundstücks, den Gerichtsassessor a. D. Harald Harst, ablieferte.

Harst besichtigte die Umschläge. „Einer aus Arendsee in Mecklenburg, der andere aus Berlin. – Sehr teures Briefpapier bei beiden; der aus Arendsee offenbar von einer Dame, die kräftige Parfüms liebt; der Brief duftet nach Ylan-Ylan. Die Handschrift des anderen sollte Dir bekannt sein, mein Alter. Diese steile, schmucklose Schrift ist die unseres Freundes Vincent Saalborg, von dem wir nun wochenlang nichts gehört haben.“

Er schnitt diesen Brief zuerst auf. Es lag lediglich eine Besuchskarte sehr großen Formats darin. Auf der einen Seite war gedruckt zu lesen:

Hektor Amadeus Fürst Palivarri,
Herzog von Plachtenberg,
Graf von und zu Pontio.

Auf der anderen stand mit Tinte geschrieben:

„Verehrtester Gegner! Es ist Zeit, daß wir die infolge besonderer Umstände unterbrochenen gegenseitigen Beziehungen wieder aufnehmen. Die Abwicklung unserer Wette ist zu sehr ins Stocken gekommen. Ich werde mir erlauben, am 15. September d. J. die berühmte Brillantbrosche der Gräfin von Rackler (Schloß Racklenberg, Bahnstation Arendsee, Mecklenburg) um ½11 Uhr abends wohltätigen Zwecken zuzuführen.

Ich bin wie stets Ihr ergebenster

Fürst Palivarri.“

Der Leser wird sich auf Vincent Saalborg, diesen elegantesten, raffiniertesten und witzigsten aller internationalen Hochstapler noch besinnen. Allerdings – diese Keckheit Saalborgs, jetzt sogar Tag, Stunde und Ort eines neuen Streiches anzugeben, überstieg denn doch alles Dagewesene. –

Harald zuckte nur die Achseln und meinte:

„Heute ist der 14. September. Wir haben also noch genügend Zeit, nach Schloß Racklenberg zu reisen.“

Dann öffnete er den zweiten Brief.

Und – nun kam die große Überraschung: dieser Brief war von der Gräfin von Rackler, und er lautete wie folgt.

Schloß Racklenberg, 12. Sept. 19…

bei Arendsee, Mecklenburg

Sehr geehrter Herr Harst!

Ihr Interesse für geheimnisvolle Vorgänge ist mir bekannt. Wenn ich nun auch nicht weiß, ob das, was ich Ihnen hier schildern will, genügen wird, um Sie zu einer Fahrt nach Schloß Racklenberg zu veranlassen, so möchte ich doch sofort erklären, daß Sie und Ihr Freund Schraut mir als Gäste jeder Zeit willkommen sind. – Ich bin Witwe. Ich verlor meinen Mann vor etwa anderthalb Jahren. Er ertrank in dem sogenannten Hexenmoor. Seine Leiche konnte nicht geborgen werden, da das Moor unergründlich tief ist. Ich habe am Rande des Moores an jener Stelle einen Gedenkstein für meinen Gatten errichten lassen. – Ich muß dies vorausschicken, da dieser Stein eine gewisse Rolle bei der Geschichte der Lehmhütte spielt. – Sie werden enttäuscht sein und denken: was kann eine Lehmhütte Interessantes in sich bergen?!

Ich will mich möglichst kurz fassen. Schloß Racklenberg erhebt sich westlich des Hexenmoors auf einem bewaldeten Hügel. Von den Fenstern meiner Zimmer, die nach Osten liegen, kann ich am Rande des Moores den weißen Gedenkstein auch nachts bei Sternenlicht erkennen. Das Moor ist dort etwa 150 Meter breit und nur weiter südlich mit Hilfe einer Holzbrücke zu passieren. Jenseits steigt das Land zu kahlen Heidehügeln auf. Und dort steht auch die alte Lehmhütte, die nach einem Familienbrauche, der auf den Vater meines Gatten zurückzuführen ist, nicht entfernt und auch nicht betreten werden soll. Sie ist deshalb mit einem Zaun aus Pfählen und acht Stacheldrähten umgeben.

Diese Hütte hat keine Fenster mehr. Von dem großen Balkon vor meinem Arbeitszimmer kann ich daher durch die Hütte hindurchsehen. – Vor sechs Wochen gewahrte ich nun zum ersten Male in der Lehmhütte ein hell strahlendes Licht. Es kann eine Acetylenlaterne gewesen sein. Dasselbe Licht beobachtete ich dann – stets nachts – noch des öfteren. Ich sprach mit meinem Oberinspektor darüber. Er hat auch versucht, die Leute festzustellen, die nachts die Hütte besuchen, konnte jedoch nie jemand abfassen.

Dann lernte ich vor einer Woche zufällig im nahen Seebad Arendsee den deutschösterreichischen Fürsten Palivarri kennen. Er war drei Tage mein Gast, bemerkte das Licht in der Lehmhütte ebenfalls und riet mir, ich sollte mich an Sie wenden. Er behauptete, daß Sie beide von Indien und Südamerika her fast befreundet sein.

Am 15. d. M. gebe ich hier im Schlosse einen Maskenball. Sie werden sich wundern, wie ich auf den Gedanken gekommen bin, außerhalb der Karnevalszeit ein solches Fest zu arrangieren. Ich habe jedoch zwei Nichten von mir zu Besuch hier, und die Mädels haben mich so lange bestürmt, bis ich schließlich einwilligte.

Sollten Sie zunächst unerkannt hier erscheinen wollen, so finden Sie auf der letzten Seite eine von mir eigenhändig geschriebene Einladung für Sie beide. Diese Einladung wird dem Schloßpförtner gegenüber genügen.

Ich möchte noch etwas nachholen, was das Licht in der Lehmhütte betrifft. Mein alter Oberinspektor Möller, der manche Nacht umsonst geopfert hat, um jene Leute festzustellen, die unbefugt die Hütte nachts betreten, ist in letzter Zeit so seltsam verändert, daß ich fast fürchte, er ist durch diese nächtlichen Ausflüge nach der Lehmhütte Geisterseher oder dergleichen geworden. Er war es auch, der mir dringend davon abriet, Ihnen zu schreiben, sehr geehrter Herr Harst. Ich habe diesen Brief denn auch heimlich in Arendsee in den Kasten geworfen und Möller gegenüber so getan, als hätte ich den Gedanken, Ihnen den Fall vorzutragen, aufgegeben.

Alles weitere überlasse ich Ihnen.

Verbindlichst grüßend

Brigitta Gräfin Rackler.

Harald hatte den Brief vorgelesen.

„Einfach unglaublich!“ meinte er jetzt. „Dieser Saalborg rät der Gräfin, mir den Fall der Lehmhütte vorzutragen, und gleichzeitig will er dieselbe Gräfin bestehlen!“

Er zog dann seine Uhr.

„Hm – gerade neun. Um elf Uhr geht ein D-Zug nach Warnemünde. Den erreichen wir noch. In Doberan hat man Anschluß nach Arendsee. Wir nehmen im Requisitenkoffer nur drei Kostüme mit: Landstreicher, bescheidenes Bürgerehepaar und zwei chinesische Mandarinenanzüge, sowie zwei Seidenmasken. – Packe die Koffer, mein Alter, bestelle ein Auto und zwei Plätze erster Klasse. Ich werde noch bis halb zehn Birnen abnehmen!“

Um halb zehn trat er dann in mein Zimmer und sagte, indem er sich die Krawatte festzog:

„Ich habe nie geahnt, daß man beim Birnenpflücken so gut nachdenken kann. Diesmal werden wir Saalborg bestimmt fangen, mag er selbst unsichtbar auf dem Maskenball erscheinen. Ich habe mir ein feines Plänchen zurechtgelegt.“

„Und das wäre?“

„Nachher im Auto, mein Alter –“ –

Im Auto erklärte er dann: „Ich werde die Gräfin fragen, ob der Fürst Palivarri sie häufiger photographiert hat. Bestätigt sie dies, so ist Saalborg nur deshalb nach Berlin gekommen, um hier eine der Racklerschen Familienbrosche ganz ähnliche anfertigen zu lassen – eben nach den Photographien!“

„Ich verstehe!“ nickte ich. „Eine Brosche mit Similisteinen, die er dann gegen die echte Brosche auf dem Maskenfest austauschen will.“

„Allerdings. So kann es sein. Und – ist es so, dann kriegen wir unseren Vincent diesmal bombensicher.“

„Na, na, Harald! Vincent läßt sich nicht so leicht kriegen! Ein solcher Verkleidungskünstler!“ –

Auf der Fahrt bis Arendsee, wo wir nachmittags ein halb sechs anlangten, ereignete sich nichts Besonderes. Wir saßen im Rauchabteil 1. Klasse mit einem älteren Herrn, einem Schweden, zusammen, der leidlich deutsch sprach.

In Arendsee mieteten wir uns im Westteil des Ortes in einem bescheidenen Hause ein, natürlich Erdgeschoß, damit wir bequem die Fenster zum Aus- und Eingehen benutzen konnten.

Unser Vermieter war ein früherer Steuermann namens Döring und bereits elf Jahre hier ansässig. Wir hatten uns Hirth und Schroth genannt und als Kaufleute ausgegeben.

Dörings Frau wollte uns ein einfaches Abendessen herrichten. Wir saßen gegen sieben Uhr dann in der Laube vor dem Hause, und Harald hatte soeben begonnen, den Steuermann so hintenherum nach Schloß Racklenberg auszufragen, als er mir einen Zettel hinreichte, den er jetzt erst in seiner rechten Jackentasche gefunden hatte.

Auf dem Zettel stand in Saalborgs steiler Schrift mit Tintenstift geschrieben:

„Der alte Schwede warnt Sie, die Brillantenbrosche nicht zu sorgfältig zu bewachen. Es hätte keinen Zweck!

Servus – Wiedersehen – Palivarri.“

Ich schaute Harald an. Doch der hatte nur Interesse für des Steuermanns langatmige Schilderung des Schlosses Racklenberg und seiner Bewohner. –

Jedenfalls: Saalborg war unser Reisegefährte gewesen und hatte es fertiggebracht, Harst den Zettel in die Tasche zu schieben!

Und der Inhalt des Zettels war Ironie – war die selbstbewußte Ironie des berühmtesten aller Hochstapler. –

Ich hörte nun wieder auf des graubärtigen Steuermanns Worte hin. Er sagte gerade:

„Fünf Jahre waren sie verheiratet. Kinder sind nicht vorhanden. Dann kam Graf Viktor im Hexenmoor um – bei der Jagd auf Wildenten. Der alte Schäfer Hinrichsen ist leider halb taub und vernahm die Hilferufe zu spät. Als er über die Holzbrücke gelaufen war, hatte der Hühnerhund des Grafen sich schon aus dem Loche hervorgearbeitet. Der Graf hat sich wohl an dem Hunde festhalten wollen. Sein Gewehr lag dicht daneben, ebenso sein Trauring, den er im letzten Moment abgestreift haben muß. Bevor Hinrichsen dann Hilfe herbeiholen konnte, war die Leiche schon zu tief gesackt. Man fischte nur noch des Grafen Taschentuch heraus.“

„War die Ehe glücklich?“

„Überaus glücklich, obwohl die Gräfin durchaus keine Schönheit ist. Und bürgerlich und arm ist sie auch. Es war eine Liebesheirat. – Na – jetzt hat Gräfin Brigitta den Verlust wohl verschmerzt. Morgen ist ja großer Trubel im Schloß – Maskenball – jetzt im September! Da war so ’n Fürst letztens im Schlosse als Gast. Der soll der Gräfin zu dem Ball zugeredet haben.“

„Sagen Sie, Herr Döring, – in einer Berliner Zeitung stand letztens was von einem Spuk in einer Lehmhütte unweit des Schlosses. – Das ist natürlich alles Unsinn, nicht wahr?“

„Ne, ne – das ist kein Unsinn! Wenn’s die Herren interessiert, zeige ich ihnen die Lehmhütte. Wir haben von hier ’ne knappe halbe Stunde zu gehen. Dort drüben jenseits des Waldes liegt das Schloß.“

Harald lachte. „Nein, Herr Döring! Heute sind wir zu müde. Ich krieche gleich nach dem Abendbrot ins Bett.“

Das war natürlich Schwindel. Nachdem das Ehepaar Döring[1], das oben in der Giebelstube schlief, sich gegen neun Uhr zurückgezogen hatte, begannen wir uns ein wenig zu verändern.

Um halb zehn stiegen zwei durchaus echt wirkende Landstreicher hinten zum Fenster hinaus und verschwanden nach dem Walde zu.

Wir fanden sehr bald einen Feldweg, der in den Wald einbog, und hatten nach zwanzig Minuten die Westgrenze des Waldes und eine hügelige Heidelandschaft erreicht.

Der Himmel war klar. Mond- und Sternenlicht zeigten uns jenseits einer breiten Bodensenkung ein über Baumwipfel hinwegragendes weißes Gebäude: Schloß Racklenberg!

„Dann kann die Lehmhütte nicht fern sein,“ meinte Harald. „Vorwärts – suchen wir sie! Und übernachten wir dort!“

Als wir etwa hundert Meter querfeldein gegangen waren, stießen wir am Rande eines Abhangs auf gestrüppumwucherte Mauerreste.

Harst blieb stehen, flüsterte:

„Bitte – dort drüben steht die Lehmhütte!“

Wir umgingen die Mauerreste. Es handelte sich offenbar um Ruinen einer alten Burg. Man konnte noch so etwas wie einen Wallgraben unterscheiden.

Als wir gerade ein paar Büschen ausbogen, hörten wir von rechts her Stimmen. Sie kamen hinter einem Schutthaufen hervor, in dem es offenbar so etwas wie ein verstecktes Plätzchen gab.

Harst hatte meinen Arm gepackt und hauchte mir zu:

„Vorsicht! Näher heran! Schritt für Schritt!“

So schlichen wir behutsam weiter, bis wir ein Stück Mauer vor uns hatten, in dem noch eine Schießscharte zu sehen war.

„Nur keine Sorge,“ sagte hinter der Mauer ein tiefer Baß. „Es wird schon gehen. Die Frau Gräfin ist doch kein nervenschwaches Frauenzimmer; die klappt nicht so leicht um!“

„Aber die beiden Berliner! Dieser Harst kann alles verderben,“ meinte eine hellere Stimme.

„Ja – ich konnte den Brief leider nicht abfangen,“ seufzte der Baß. „Die Frau Gräfin trug ihn ja persönlich nach Arendsee. Was sie geschrieben hat, war auf der frischen Löschblattunterlage zum Teil zu entziffern. Das verdammte Licht! Wer konnte aber auch daran denken!“

„Franz paßt also auf dem Bahnhof in Arendsee auf. Aber – wenn die beiden verkleidet kommen?! Sie sollen ja sogar oft als Ehepaar reisen.“

„Na – Franz ist helle! Im September treffen kaum noch Badegäste ein. – Ich werde jetzt aufbrechen. Franz müßte längst –“

Er schwieg plötzlich. Wir hörten flüstern.

Dann nichts mehr – nichts, obwohl wir noch eine gute Viertelstunde regungslos dastanden und lauschten. –

Harald zupfte mich am Ärmel.

Wir schlichen zurück in die Heide hinein. In einer Mulde machte Harst halt.

„Die Geschichte behagt mir nicht,“ meinte er leise. „Dieser Franz kann uns ganz bequem nachgeschlichen sein. Ich glaube, der Mann mit dem Baß wird der Oberinspektor Möller gewesen sein. Er spioniert der Gräfin nach, überwacht sogar ihren Briefwechsel. Weshalb?!“

Harald setzte sich ins Gras. Ich tat dasselbe. Dann fügte er hinzu: „Jedenfalls kennt dieser Mann mit dem Baß die Ursache des Lichtes in der Lehmhütte. – Doch – was sollte seine Bemerkung, die Gräfin sei kein nervenschwaches Frauenzimmer?! Und – aus welchem Grunde sagte der Andere, ich, Harst, könnte alles verderben?! – Lieber Alter, die Sache fängt recht spannend an. Ich glaube, dieses Licht in der Lehmhütte ist nur das äußere Anzeichen recht weit verzweigter Geheimnisse. Hier in Racklenberg dürfte –“

Der Satz blieb unvollendet.

Zwei riesige Hunde sprangen plötzlich auf uns zu, drückten uns, offenbar auf den Mann dressiert, nach hinten zu Boden und knurrten uns drohend ins Gesicht.

 

2. Kapitel.

Dann eine Stimme:

„Rühren Sie sich nicht! Ich warne Sie!“

Von hinten zog man uns Decken über die Köpfe, gleichzeitig packten mehrere Leute zu; man riß uns empor, band uns die Hände auf dem Rücken zusammen.

„Gesindel!“ brüllte jemand. „Nun haben wir Euch!“

Man führte uns weg. – Ich gab genau acht: es waren drei Männer, die uns überwältigt hatten.

Bald befanden wir uns im Walde. Ich roch würzigen Kiefernduft. Es ging auf einem schmalen Pfade weiter.

Nach einer halben Stunde kreischte vor uns eine verrostete Tür. Man brachte uns in einen dumpfigen Raum, band uns irgendwo fest. Im Rücken hatten wir eine Balkenwand.

Dann wurden die Decken entfernt.

Das rötliche Licht einer Petroleumlaterne erhellte recht schwach das leere Innere einer Hütte aus unbehauenen Kiefernstämmen. Vor uns stand ein Mann mit einem Lodenumhang, dessen Kapuze er über das Gesicht gezogen hatte. In die Kapuze waren zwei Löcher für die Augen eingeschnitten.

„Sie sind Harst und Schraut,“ begann der Vermummte mit tiefer, verstellter Stimme. „Sie mischen sich hier in Dinge, die Sie nichts angehen – gar nichts! Entweder geben Sie jetzt sofort Ihr Ehrenwort, nach Berlin zurückzukehren und Racklenberger Gebiet nie mehr zu betreten, oder –“

„Nun – oder?!“ lächelte Harald überlegen.

„Oder – Sie werden im Boote auf See hinausgebracht und ersäuft!“

„Seien Sie nicht albern!“ meinte Harst ironisch. „Sie werden uns doch nicht Angst einjagen wollen – uns! Mann, da kennen Sie uns schlecht!“

„Sie weigern sich also?“

„Sie sind ein Narr! Binden Sie uns sofort los! Dann will ich diesen Überfall vergessen!“

Der Mann trat dicht an Harst heran, zischte ihm ins Gesicht:

„Mensch, Sie wissen nicht, daß Sie mit Ihrem Leben spielen! – Ihr Wort – ja oder nein?“

„Niemals!“

Der Mann stampfte mit dem Fuße auf. Er hatte in seiner ganzen Art etwas Herrisches, Stolzes.

„Gut – dann werden Sie die Sonne nicht mehr scheinen sehen – nie mehr!“

Er machte kehrt und ging hinaus.

„Komödie, mein Alter!“ flüsterte Harald. „Der Mensch fürchtet uns mehr als wir ihn!“

Ich merkte, daß Harst an seinen Stricken zerrte.

„Anfänger!“ lachte er leise. „Traurige Anfänger! Da – ich habe die rechte Hand frei –“

Er faßte in die Tasche seiner zerlumpten Vagabundenhose, klappte mit den Zähnen dann sein Messer auf.

Die Stricke fielen herab. – Harst war mit einem Satz bei der Laterne, blies sie aus. –

Die Tür war halb offen. Wir schlüpften ins Freie. Die Hütte stand auf einer Waldlichtung. Rechts erblickten wir den Mann mit dem Umhang, der die beiden Hunde, zwei schwarze Doggen, am Halsband festhielt. Er war etwa vierzig Schritt entfernt und schaute nach einem Wege hin, der als hellerer Strich in den Wald hineinlief.

Wir schlichen nach der anderen Seite davon. Als wir die ersten Bäume erreicht hatten, setzten wir uns in Trab.

Eine Stunde drauf sahen wir die Villen von Arendsee vor uns. Schweißgebadet, atemlos kletterten wir dann in unser Zimmer.

Harald schloß das Fenster und ließ den Rollvorhang herunter.

Ich hatte die altehrwürdige Petroleumlampe angezündet, holte jetzt die Kognakflasche aus dem Koffer hervor und füllte den Aluminiumbecher.

Harst saß in der Sofaecke und lachte.

„Der Dauerlauf war Dir ganz gesund, mein Alter. Wir hätten ja auch im Schritt gehen können. Aber sie hätten vielleicht die Hunde hinter uns drein geschickt, und ich wollte die Tiere nicht erschießen –“

Plötzlich erhob er sich halb und nahm ein Blatt Papier vom Tische auf.

„Du – Saalborg war hier!“ sagte er lebhafter. „Er schreibt:

„Sie merken nun wohl bereits, daß ich selbst leider das Geheimnis der Lehmhütte nicht aufklären konnte. Vielleicht gelingt es Ihnen. Ich beobachtete von weitem Ihre Flucht aus der Waldhütte. Unterschätzen Sie die Gefahr nicht! Ich traue den dreien alles zu, weiß aber nicht, wer die Leute sind. – V. S.“

Toll – einfach toll!“ meinte Harald und legte den Zettel auf den Tisch zurück. „Saalborg muß uns gleichfalls gefolgt sein. Ich besinne mich, daß wir auf dem Hinwege einem alten Weibe begegneten, welches eine Last Knüppelholz auf dem Rücken trug. Vielleicht –“

Wieder schwieg er und beschaute seine linke Hand sehr aufmerksam.

„Schlaue Bande!“ nickte er dann. „Schlaue Bande! Das mag viel Farbe gekostet haben!“

„Was denn?“

„Na – das Färben, mein Alter. Ich hoffe, Dir das Ungefärbte morgen oder besser heute früh auf Schloß Racklenberg zeigen zu können. – Gib mir einen Kognak. So, danke! Nun ins Bett!“ –

Unsere Betten standen in dem kleinen, einfenstrigen Nebenzimmer. Die Tür nach dorthin war nur angelehnt.

Ich nahm mir jetzt am Tische stehend den falschen Bart und die Perücke ab. Auch Harst entfernte schon mit einem Tuch die Schminke von der Nase, sagte dabei:

„Wenn wir heute früh hier Kaffee getrunken haben, mieten wir einen Wagen und fahren mit unserem Gepäck nach Racklenberg. Es hat keinen Zweck, hier –“

„Das werden Sie nicht tun,“ ertönte eine harte Stimme hinter uns von der Schlafstubentür her.

Dort stand der Mann mit der Lodenpelerine.

In seiner Rechten blinkte ein Revolver. Und einen Schritt zurück gewahrte ich einen zweiten Mann, ebenfalls mit Umhang und Sehlöchern in der Kapuze.

„Verhalten Sie sich still!“ fügte der erste hinzu. „Wir knallen Sie wie tolle Hunde nieder, wenn Sie nicht gehorchen. Die oberen Scheiben des Schlafstubenfensters waren offen. Sie sehen – wir lassen Sie nicht aus den Krallen! – Wollen Sie Ihr Ehrenwort geben?“

Harald streckte die Hand aus – nach der Lampe.

„Ich drücke ab!“ zischte der Mann. „Sie werden –“

Harst hatte die Lampe schnell ausgedreht.

„Verdammt!“ hörte ich noch.

Dann schlug die Tür der Schlafstube zu.

Der Lampendocht puffte noch. Es wurde wieder hell. Harald hatte die Lampe wieder hochgeschraubt.

Er lachte dann schallend.

„Siehst Du, mein Alter, – sie haben sich jetzt verraten! Es sind harmlose Kaninchen! Ich wußte es ja!“

Er trat ans Fenster, öffnete es und – feuerte mit der Clementpistole dreimal in die Luft, wandte sich um und meinte: „So – nun wird sofort Herr Döring die Treppe herabgeeilt kommen. Und wir werden ihm etwas von Dieben erzählen. Werfen wir aber noch schnell die Strolchlumpen ab!“

Und Döring kam – bewaffnet mit einer uralten Pistole.

„Lieber Herr Döring,“ sagte Harst gemütlich. „Es hatten sich hier zwei Kerle eingeschlichen. Und draußen war ein dritter mit zwei schwarzen Doggen. – Gibt es hier irgendwo schwarze Doggen?“

„Nein. Nur Tigerdoggen – auf Schloß Racklenberg. Ich glaube, die Gräfin hat vier sehr scharfe Bestien dieser Art.“

So?! – Na – die Hunde draußen waren schwarz. – Übrigens, Herr Döring, wir heißen in Wahrheit etwas anders, nämlich Harst und Schraut. Wissen Sie, was ein Detektiv ist?“

„Den Düwel ook – ob ich das weiß! Und ob ich Ihren Namen kenne! Oh, ich –“

„Schon gut, Herr Döring. – Könnten Sie uns jetzt gleich einen Wagen besorgen? Wir haben für eine Woche vorausgezahlt. Das Geld bleibt Ihnen. Wir selbst siedeln ins Schloß über!“ –

Um drei Uhr morgens fuhr der Wagen vor. Der Kutscher und Eigentümer war ein altes Männchen. Nach freundlichem Abschied von dem Steuermann setzte sich das recht bequeme Gefährt in Bewegung.

Der Alte vorn wollte wohl zeigen, was seine beiden Braunen leisten könnten. Er trieb sie zu einem scharfen Trab an. Nach kurzer Zeit rief Harst ihm jedoch zu: „Schritt – Schritt bitte! Wir haben Zeit!“

Dann kletterte er zu dem Alten auf den Bock und begann eine Unterhaltung, von der ich, auf dem Rücksitz Platz nehmend, jedes Wort verstand.

„Sie wissen, wer wir sind, Herr Schramke, nicht wahr?“ fragte Harald und hielt dem Männchen die Zigarrentasche hin. „Bitte bedienen Sie sich. Die Zigarre ist rauchbar –“

„Jo, jo. Kauflüt’ aus Berlin. Der Döring hat’s mir erzählt.“

Aha – Döring hatte die Wahrheit verschwiegen! Das schien Harst nur recht zu sein.

„Sie sind wohl geborener Arendseer, Schramke?“

„Ne – geborener Brunshauptener – aus ’m Nachbarbad Brunshaupten. – Sie wollen wohl mit der Gräfin Geschäfte machen?“

„Ja – so was Ähnliches. – Im Vertrauen, Herr Schramke: ob der Oberinspektor Möller für so ’ne kleine Liebesgabe zugänglich ist?“

„Möller?! Ne, Herr! Nich in die Hand! Das versuchen Sie man gar nicht! Er schmeißt Sie sonst raus. Der ist treu wie Gold; der geht für seine gräfliche Herrschaft durchs Feuer.“

„So – so. – Er ist verheiratet[2]? Hat er Kinder?“

„Witwer ist er, und einen Sohn hat er, den Franz. Der ist Oberförster bei der Gräfin.“

„Möller hat doch hier in der Nähe einen Freund oder einen Vertrauten. Wie heißt er doch? Der Mann trägt häufig einen Lodenumhang –“

„Möller?! Einen Vertrauten?! – Ne, Herr, das kann nicht stimmen. Der Oberinspektor lebt ganz für sich allein – ganz! Er verkehrt nur mit der Gräfin und seinem Sohn. Der Franz wird sich jetzt wohl mit einer der Nichten der Gräfin verloben. Es sind jetzt zwei Fräuleins auf dem Schloß. Gerold heißen sie. Auch die Frau Gräfin ist ’ne geborene Gerold.“

„Sie war wohl reich?“

„Reich?! Ach nee, Herr! – Die Racklenberger standen seit Jahren so auf der Kippe. Sie verstehen, Herr: sie schlugen sich grade so durch. Da war’s besser gewesen, Graf Viktor hätte ’ne Reiche geheiratet. Na – nach seinem Tode hat die Gräfin dann zu sparen angefangen, und nun ist Racklenberg fast schuldenfrei. Sie soll wohl auch geerbt haben, sagt man.“

„Herr Steuermann Döring erzählte uns was von einer Lehmhütte, in der es spuken soll. Wissen Sie was darüber, Herr Schramke?“

„Ja – man redet so allerlei. Der alte taube Schäfer Hinrichsen hat letztens seinen Schäferkarren ganz weit weg von der Hütte gebracht und läßt die Schafe nicht mehr dort in der Nähe weiden. Er meint auch, in der Lehmhütte sei es nicht geheuer.“

„Nur des Lichtes wegen, das dort zuweilen nachts zu sehen ist?“

„Ne, Herr! Hinrichsen sagt, das mit dem Licht sei man Unsinn! Er hätt’s doch auch mal bemerken müssen. Die Schafherde bleibt jetzt ja noch immer nachts draußen in der Heide.“

„Er hat das Licht also nie gesehen?“

„Ne, Herr, – nie, nich ’n einziges Mal! Aber was anderes!“

So?! – Er wird sich wohl nur wichtig tun wollen!“

„Der olle Hinrichsen?! Da kennen Sie ihn schlecht. Wenn der das Maul mal aufmacht, redet er auch die Wahrheit. Hören tut er ja nichts mehr. Aber – sehen desto besser. – Wir sind alte Bekannte, er und ich. Und er hat mir noch vorgestern gesagt: „In der Lehmhütte wohnen zwei Kerle, die sich unsichtbar machen können!“ Mehr war aus ihm nicht rauszukriegen.“ –

Der Wagen war längst in den Wald eingebogen. Der Mond stand bereits so tief, daß der schmale Waldweg völlig dunkel war. Die beiden Wagenlaternen warfen nur ein recht spärliches Licht auf die ausgefahrenen Geleise.

Harald war verstummt. Ich sah, daß er den Kopf jetzt vorgestreckt hatte; er spähte offenbar in die Dunkelheit hinein.

Dann – riß er dem alten Schramke plötzlich die Zügel aus der Hand, rief mir zu:

„Schraut – schießen!“

Peitschte auf die Pferde ein, die sofort in wildem Galopp davonrasten, und zügelte die Tiere erst am westlichen Waldrande.

Der alte Schramke hatte sehr bald zu fluchen und zu schimpfen angefangen.

Ich selbst war nicht zum Schießen gekommen. Die beiden Männer, die offenbar den Wagen hatten anhalten wollen, waren schnell im Walde verschwunden. Ich hatte nur noch etwas wie zwei dunkle Schatten mit flatternden Mänteln wahrnehmen können. –

Schramke brüllte jetzt Harald an:

„Herr, – Sie hätten mir den Wagen und die Pferde –“

„Stopp! Nicht so grob!“ unterbrach Harst ihn. „Haben Sie denn die beiden Kerle nicht bemerkt, die über den Straßengraben sprangen?! Die hatten es doch fraglos auf uns abgesehen!“

„Wirklich, Herr? Zwei Kerle? – Wenn’s dann man nicht die beiden aus der Lehmhütte waren!“

In demselben Moment wurden wir von vorn angerufen.

Es war ein berittener Landjäger. Er leuchtete uns mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

„Ah – Schramke! ’n Abend auch!“ begrüßte er den Alten. „Wir sind hinter ein paar Spitzbuben her, die im Schlosse diese Nacht einbrechen wollten. Haben Sie was Verdächtiges gesehen?“

Harald erzählte von den beiden Männern, die in den Wald entwichen waren.

„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ meinte der Landjäger höflich.

„Harald Harst – der Liebhaberdetektiv –“

„Donnerwetter!“ entfuhr es dem Beamten. „Entschuldigen Sie, Herr Harst, – das war aber auch eine zu große Überraschung!“

„Die Gräfin hat uns, meinen Freund Schraut und mich, brieflich gebeten, dem Geheimnis der Lehmhütte auf den Grund zu gehen. Deshalb sind wir hier nach Racklenberg gekommen,“ meinte Harald freundlich. „Wer ist denn noch außer Ihnen hinter den Spitzbuben her?“ fügte er nach kurzer Pause hinzu.

„Der Oberinspektor Möller und sein Sohn. Wir hatten uns geteilt. Ich habe seit drei Stunden die Heide weiter südlich abgesucht.“

„Auf Wiedersehen, Herr Landjäger,“ nickte Harst. „Vorwärts, Herr Schramke, – weiter!“

Der Wagen rollte davon.

Harald kam jetzt wieder nach hinten geklettert. Wir setzten uns nebeneinander.

„Lieber Alter,“ sagte er leise, „diese Leute wollten uns jetzt zum dritten Male an den Kragen! Natürlich hatten sie es abermals darauf abgesehen, von uns die ehrenwörtliche Zusage zu erpressen, von hier zu verschwinden. Du erkennst schon aus diesen hartnäckigen Nachstellungen, an denen Möller, sein Sohn Franz und ein uns noch unbekannter Dritter beteiligt sind, wie sehr die Leute unsere Einmischung fürchten. Das Geheimnis, das sie auf diese Weise zu hüten suchen und das sicherlich irgendwie mit der Lehmhütte zusammenhängt, muß für sie also überaus gefährlich sein. Wir haben es hier fraglos mit sehr schlauen Gegnern zu tun. Das beweist schon der Umstand, daß sie den Landjäger durch den Schwindel eines auf dem Schlosse beabsichtigten Einbruchs aus der Nähe der Lehmhütte entfernt haben. Jedenfalls tritt die Person Saalborgs gegenüber dieser anderen Sache ganz in den Hintergrund. Ich vermute jetzt sogar, daß Vincent Saalborg hier gar nicht stehlen will, sondern daß er uns den Brief nur zu dem Zweck schickte, um uns zu veranlassen, hierher zu reisen. Im übrigen ist mir dieses Geheimnis der drei Leute noch vollständig unklar. Nur eins nehme ich an: die Gräfin steht zu diesem Geheimnis in irgend einer Beziehung! Darauf deutet die Bemerkung des Mannes mit dem tiefen Baß von dem „nervenschwachen Frauenzimmer“ hin.“

 

3. Kapitel.

Der Wagen passierte jetzt die über das Hexenmoor führende Holzbrücke.

Als das Ende der Brücke in Sicht kam, gewahrten wir am Geländer eine in einen hellen Seidenmantel gehüllte Frauengestalt, die ein Jägerhütchen mit Spielhahnstutz auf dem blonden Haar trug.

„Die Gräfin!“ flüsterte Schramke, indem er den Kopf halb drehte.

„Anhalten!“ befahl Harst. – Wir stiegen aus und schritten auf die Dame zu.

Harald zog den Hut. „Frau Gräfin gestatten – mein Name ist Harst. Hier mein Freund Schraut.“

„Ah – wirklich?!“ Sie war freudig überrascht, drückte uns kräftig die Hand und fuhr fort: „Ich heiße Sie herzlich willkommen, meine Herren. Sie werden sich wundern, mich zu dieser Stunde hier anzutreffen. Um Mitternacht weckte mich mein braver Oberinspektor und teilte mir mit, daß sein Sohn zwei verdächtige Männer aus dem Parke verscheucht hätte, offenbar Einbrecher. Ich konnte dann nicht wieder einschlafen und bin hierher gegangen, um Möller zu erwarten. Angst kenne ich nicht.“

Sie zog einen Revolver aus der Manteltasche.

„Außerdem – dort liegen meine beiden Tigerdoggen Tyras und Pluto. Ich bin also gut beschützt. – Fahren wir nach dem Schlosse, meine Herren,“ fügte sie in einem Atem lebhaft hinzu. „Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee? Ihre Zimmer müssen doch erst in Ordnung gebracht werden –“ –

Zehn Minuten später hielt der Wagen vor der breiten Freitreppe.

Die Gräfin führte uns in den Speisesaal im Erdgeschoß und entschuldigte sich dann. Bald kehrte sie mit einem Riesenteebrett zurück, deckte eine Seite des Eßtisches und plauderte mit uns.

Harst erwähnte, daß wir nachmittags in Arendsee eingetroffen seien und dort erst noch bei Steuermann Döring gemietet gehabt hätten.

„Aber ich bitte Sie, Herr Harst, weshalb kamen Sie nicht sofort hierher?“ rief die Gräfin.

„Weil wir uns zunächst an Ort und Stelle unerkannt umzusehen pflegen, Frau Gräfin. Wir haben denn auch recht merkwürdige Dinge hier erlebt.“

Er schilderte den Überfall in der Heide durch die Doggen, ließ jedoch das Wichtigste fort: daß wir vorher die beiden Möllers und den dritten Mann belauscht hatten!, sprach auch nur von zwei Leuten in Lodenumhängen und Kapuzen. Alles übrige berichtete er wahrheitsgetreu.

Die Gräfin hatte sich zu uns gesetzt. Sie war so vollständig verblüfft von dieser „halben Räubergeschichte“, wie Harst unsere Erlebnisse scherzend bezeichnete, daß sie kein Wort hervorbringen konnte.

„Unglaublich!“ rief sie dann. „Unglaublich! Wenn Sie es nicht wären, Herr Harst, – einem anderen würde ich erklären: Sie phantasieren! – Wie – hier auf Racklerschem Grund und Boden schleppt man Sie beide in die Waldwärterhütte, bindet Sie fest, und – und zwei schwarze Doggen waren’s, die die Wegelagerer bei sich hatten!“

Sie war ganz außer Atem vor Erregung. „Das muß ich doch sofort Möller mitteilen. Vielleicht ist er schon zu Hause,“ fuhr sie fort. „Er wohnt drüben im Wirtschaftsgebäude. – Schwarze Doggen, Herr Harst, – schwarze? sagten Sie?“

„Ja – ob es gerade Doggen waren, will ich nicht behaupten, Frau Gräfin. Jedenfalls sehr große, schwarze Hunde.“

Ein Stubenmädchen trat mit einem Teebrett und einer Kaffeekanne in den Saal.

„Anna,“ rief die Gräfin. „telephonieren Sie mal die Inspektorwohnung an. Falls Herr Möller daheim ist, soll er zu einer Tasse Kaffee herüberkommen.“

„So, meine Herren,“ wandte sie sich an uns, „das Frühstück ist aufgetragen!“

Wir nahmen am Eßtische Platz.

„Wird Fürst Palivarri auf dem Maskenball heute abend ebenfalls erscheinen?“ fragte Harald.

„Ich hoffe. Er ließ sich jedenfalls eine Einladung geben. Ich denke, er will unerkannt hier auftauchen. – Nicht wahr, Herr Harst, der Fürst ist doch ein geradezu bezaubernder Gesellschafter. Sie kennen ihn ja persönlich.“

„Er ist ein Genie, Frau Gräfin. Hat er Ihnen von der Wette erzählt, die er mir vorgeschlagen hat?“

„Wette?! Nein –“

„Er schrieb mir – und Ihr und sein Brief trafen gleichzeitig ein –, daß er Ihnen hier, um sich mal als Gentlemangauner zu versuchen, die berühmte Familienbrosche der Racklers stehlen wollte. – Köstlich! – Und ich, – ich soll diesen Diebstahl verhindern!“ – Harald lachte heiter auf.

Die Sätze brachten jedoch eine recht merkwürdige Wirkung hervor.

Die Gräfin wurde flammend rot und senkte den Kopf, – zwang sich nur mühsam zu einem Lächeln und meinte stockend:

„Ein – ein etwas eigenartiger Scherz, Herr Harst! Eine solche Geschmacklosigkeit hätte ich dem Fürsten gar nicht zugetraut.“

„Oh – ein übermütiger Einfall, Frau Gräfin, nichts weiter! – Hat Palivarri längere Zeit in Arendsee gewohnt?“

„Nein. Nur zwei Tage. Dann lernte ich ihn durch den Badearzt Doktor Schmöcker kennen.“

„Er war früher eifriger Amateurphotograph. Hat er auch Sie photographiert, Frau Gräfin?“

„Ja – ja, wiederholt! Vorzügliche Aufnahmen waren’s!“

„Auch mit der Brosche?“

Sie schaute Harst jetzt fast mißtrauisch an.

„Ja – stets mit der Brosche. Er war ganz verliebt in das alte Erbstück.“

„Könnte ich es einmal sehen, Frau Gräfin? Ich interessiere mich für alten Schmuck.“

Sie zögerte erst. Dann erhob sie sich.

„Gern, Herr Harst, – Leider sind die Brillanten durch vieles Tragen etwas unansehnlich geworden –“ – Sie verließ den Saal.

Harald blickte mich an und flüsterte: „Mit der Brosche stimmt irgend etwas nicht!“

Es klopfte. Dann trat durch eine andere Tür ein hochgewachsener Mann mit langem eisgrauen Bart ein.

Er kam langsam auf uns zu. Wir standen auf.

„Oberinspektor Möller,“ stellte er sich vor. Seine Stimme glich völlig dem tiefen Baß aus dem alten Gemäuer.

Harst reichte ihm die Hand. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Oberinspektor. Ich bin der Liebhaberdetektiv Harst. Da – mein Freund Schraut. – Die Gräfin schrieb mir, welch treue Stütze sie an Ihnen hat. Sie wollte Ihnen erzählen, was uns hier zugestoßen ist. Deshalb rief Sie sie her. – Nehmen wir Platz –“

Möller hatte ein offenes, frisches Gesicht. Seine großen grauen Augen schauten uns voll an.

Harald lächelte ihm zu. „Sie werden es kaum glauben, was uns hier begegnet ist, Herr Oberinspektor, – hier in einem kultivierten Lande,“ fuhr er fort. „Der Landjäger, den wir vorhin trafen, erwähnte zwei Einbrecher, auf die Sie Jagd gemacht hätten. Ich weiß nun wenigstens, daß es diese Kerle waren, die Schraut und mich –“

Da erschien die Gräfin wieder. – Sie stellte ein Etui vor Harald hin und begrüßte dann den Oberinspektor. Während sie diesem unsere Abenteuer erzählte, betrachteten wir beide die Brosche.

„Sie sind enttäuscht, nicht wahr?“ fragte die Gräfin, als Harald die Brosche in das Etui zurückgelegt hatte.

„Ja, Frau Gräfin,“ erwiderte Harald ehrlich. „Ich hatte mir die Brosche kunstvoller vorgestellt.“

„Oh – sie ist über dreihundert Jahre alt,“ meinte die Gräfin eifrig. „Die Steine müßten nur nachgeschliffen werden.“

„Das würde nicht lohnen –“

„Weshalb nicht?!“ rief die Gräfin hastig und schaute Harst halb scheu an.

„Ich – halte die Brillanten für minderwertig.“

Da meldete Möller sich. „Minderwertig, Herr Harst?! Das kann nicht sein! Als der Herr Graf noch lebte, ließ er die Brosche mal abschätzen. Ein Juwelier in Berlin bot 200 000 Mark dafür. Ich war dabei.“

„Bieten ist noch nicht zahlen, Herr Möller! – Welcher Juwelier war’s denn?“

„Gebrüder Schlick in der Friedrichstraße.“

„Allerdings – eine reelle Firma. – Ich kann mich hinsichtlich des Wertes ja auch täuschen. Ich bin nicht Sachverständiger. – Was sagen Sie zu unseren Erlebnissen, Herr Oberinspektor?“

Möller schnitt bedächtig die Spitze von einer Zigarre ab.

„Es ist in letzten Zeit in unserer Gegend sehr viel gestohlen worden,“ sagte er langsam. „Die beiden Kerle mögen zu einer weitverzweigten Diebesbande gehören und gewußt haben, daß sie gerade Harald Harst vor sich hatten. Daher wollten sie Sie verjagen, Herr Harst. Eine andere Deutung gibt’s wohl nicht.“

„Bravo, lieber Möller!“ nickte die Gräfin. „Dasselbe habe ich mir gedacht – genau dasselbe!“

„Ich auch!“ meinte Harald. „Wahrscheinlich trifft die Bande sich nachts heimlich in der Lehmhütte. Daher das Licht –“

Es entging mir nicht, daß um Möllers bärtige Lippen ein zufriedenes Lächeln spielte.

„Die Lehmhütte hat auch für mich recht wenig Interesse,“ fügte Harst hinzu. „Ich werde zunächst mal mich darüber unterrichten, wie und wo diese Bande bisher gestohlen hat. Das alles hat bis morgen nach dem Balle Zeit. Heute, Frau Gräfin, will ich nicht Detektiv, sondern nur Gast sein.“ –

Nach einer halben Stunde brachte uns ein Diener dann in den zweiten Stock in unsere beiden Fremdenzimmer, deren Fenster nach der Heide hinausgingen.

Harst befahl dem Diener, uns um zehn zu wecken. Es war jetzt ½7 Uhr morgens.

Die blitzsauberen Betten lockten. Wir verriegelten die beiden Türen, schlossen auch von innen ab und begannen uns im gemeinsamen Schlafzimmer zu entkleiden.

Dann winkte Harst mich an das eine Fenster, dessen Flügel er weit geöffnet hatte. Er tat, als ob er mir draußen irgend etwas zeige, und flüsterte:

„Die Brosche ist unecht – sowohl das Gold als die Steine. Und die Gräfin weiß dies und fürchtete, ich könnte merken, daß die echte Brosche nicht mehr vorhanden ist. – Begreifst Du nun den Inhalt des Zettels des „alten Schweden“? Saalborg schrieb da, wir sollten die Brosche nicht zu sorgfältig bewachen; es hätte keinen Zweck! – Ja – keinen Zweck, weil –“

„– weil er die echte bereits gestohlen oder besser eingetauscht hat – gegen die Imitation!“ vollendete ich eifrig.

„Blödsinn, mein Alter. Blödsinn! Du bist offenbar müde und abgespannt. – Würde die Gräfin so errötet sein, wenn sie die Brosche für echt hielte?! Nein – sie selbst behaupte ich, hat die echte Brosche veräußert und die Imitation anfertigen lassen zur Täuschung ihrer Bekannten. Schloß und Rittergut Racklenberg waren vor anderthalb Jahren beim Tode des Grafen Viktor noch mit Schulden bepflastert. Jetzt ist der Besitz fast schuldenfrei. Die Gräfin hat eben die Brosche verkauft – sehr einfach! Und unser Freund Saalborg wieder hat uns nur durch die Drohung, die Brosche zu stehlen, hierher führen wollen, damit wir das Geheimnis ergründen sollten, welches er nicht enträtseln konnte: das Geheimnis der Lehmhütte! – Gute Nacht, mein Alter –“

 

4. Kapitel.

Ich schlief sofort ein und wachte nicht ein einziges Mal auf, bis mich jemand rüttelte.

„Aufstehn, mein Alter! Unsere lieben Freunde hier waren wieder an der Arbeit!“

Harst rüttelte mich noch kräftiger. Ich wollte die Augen aufreißen. Es gelang mir nicht. Trotzdem hörte ich alles.

„Noch fünf Minuten,“ sprach Harald wie zu sich selbst, „und man hätte Dir beinahe einen Sarg verpassen können!“

Er nahm mich dann wie ein Kind in die Arme und trug mich ins Nebenzimmer. Hier flößte er mir einen halben Becher Kognak ein.

„Was – ist – vorgefallen?“ lallte ich.

Harald hatte sich neben den Diwan gesetzt, auf dem ich lag.

„Ein neues Attentat, mein Alter. Man hat durch das offen stehende Schlafstubenfenster etwas nicht gerade Alltägliches hineingeworfen, – einen echt chinesischen Stinktopf!“

Da riß ich doch die Augen wieder auf.

„Das – ist – doch – nur – ein Scherz, Harald?“ rief ich ungläubig.

„Chinesische Stinktöpfe sind nie ein Scherz, lieber Alter. – Die Sache verhält sich so. Ich konnte nicht schlafen.“ Er sprach immer leiser. „Ich mißtraute den beiden Möllers. Ich dachte mir: wenn sie gegen Euch beide etwas nochmals unternehmen wollen, wäre es für sie zweckmäßig, dies recht bald zu tun! – Deshalb erhob ich mich leise und setzte mich dort auf das Sofa. Um nicht einzuschlafen, nahm ich mir von jenem Wandbrett vorher drei Bände vom Praktischen Landwirt herunter. Ich habe selten etwas so Interessantes gelesen wie in Band 2. Das heißt – eigentlich stand das Interessante nicht in Band 2, sondern auf einem gedruckten Formular, das vielfach zusammengefaltet und als Lesezeichen benutzt worden war. – Dieses Lesezeichen hielt mich munter. Die Turmuhr des Schlosses hatte dann gerade neun geschlagen, als ich einen dumpfen Krach hörte. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, daß ich ordentlich zusammenschrak. Ich hatte die Tür der Schlafstube zugezogen, um Dich nicht zu stören, falls ich hier auf und ab gehen wollte.

Im Schlosse war es schon recht lebendig. Ich dachte, der Krach könnte auch durch eine durch Zugluft zugeworfene Tür verursacht worden sein. Trotzdem blieb ich unruhig. Diese Ahnung, daß etwas besonderes geschehen sein müsse, trieb mich dann doch ins Schlafzimmer. Und – da sah ich die Bescherung: zwischen unseren Betten auf dem Teppich lagen die Tonscherben und der breiige Mischmasch eines echten chinesischen Stinktopfes. Na – der Gefahr sind wir ja glücklich entronnen. Sterben tut man nicht so leicht durch diese Dünste, zumal bei so viel Zufuhr frischer Luft durch ein offenes Fenster. Aber wir wären fraglos schwer erkrankt und hätten längere Zeit gebraucht, ehe wir wieder unsere Glieder und Denkmaschinen hätten regulär benutzen können. – Wie fühlst Du Dich?“

„Es geht. Gib wir noch einen Kognak.“

Ich trank den Kognak und Harst flüsterte: „Zieh Dich an. Ich werde Dir Wäsche und einen Anzug aus dem Koffer hervorsuchen. – Warte, ich hole Dir auch eine Waschschüssel. –“

Um halb zehn war ich fertig. Wir hatten uns auch noch frisch rasiert, steckten nun unsere Taschenlampen und unsere Clementpistolen zu uns und traten in den Flur hinaus.

Die Treppe nach den Bodenräumen war bald gefunden. Die mit Eisenblech benagelte Vorbodentür war unverschlossen.

Das Bodenfenster über unserer Schlafstube war recht staubig. Staub bedeckte auch die Holzdielen. Harald deutete auf Fußspuren und auf ein paar Striche in der Staubschicht des Fensterrahmens.

„Das genügt, mein Alter! Hier hat jemand gekniet. Da – vom Fensterkopf ist der Staub fast völlig weggewischt. Hier hat er sich hinausgebeugt und den Topf durch das offene Fenster in unser Zimmer geworfen.“

Harald lachte leise. „Es sind Dilettanten, diese Möllers und der Dritte!“

Er rieb sich schmunzelnd die Hände. „Weißt Du, mein Alter, eigentlich könnten wir wieder abreisen. Ich habe jetzt nämlich die Lösung des Rätsels gefunden.“

„Des Lichts der Lehmhütte?“

„Ja. Wenigstens den wichtigsten Teil dieses Problems. Die Möllers sind beträchtlich in meiner Achtung gestiegen. – Komm’ und frage nichts. Wir werden die Gräfin bitten, mit uns einen Spaziergang nach der Lehmhütte zu machen.“ –

Die Gräfin frühstückte mit ihren beiden Nichten auf der Terrasse. Wir lernten so zwei frische, hübsche junge Damen kennen, die aus ihrem Interesse für Harald Harst kein Hehl machten und ihn sofort ganz mit Beschlag belegten.

Dann gingen wir zu fünfen zunächst nach dem Gedenkstein am Westrande des Hexenmoors.

Die beiden jungen Mädchen wurden schweigsam und ernst. Die Augen der Gräfin füllten sich mit Tränen.

Der hohe Marmorblock enthielt nur den Spruch:

Die Liebe höret nimmer auf.

Darunter stand der Name und der Todestag des Grafen.

Als wir auf dem Rückwege die Holzbrücke passierten, kam uns ein schlanker Herr im Forstanzug entgegen. Es war Franz Möller, der gräfliche Oberförster.

Der junge Mann war eine recht stattliche Erscheinung. Er begrüßte uns ohne jede Verlegenheit.

Bisher hatte Harald von dem Stinktopf noch nichts erwähnt. Jetzt sagte er, als ob’s ihm eben erst einfiele:

„Richtig – ich habe ja auch noch eine Neuigkeit zu berichten, Frau Gräfin. Die Diebesbande hat uns in unserem Schlafzimmer mit einem chinesischen Stinktopf bedacht. Einer der Halunken muß auf die hohe Ulme geklettert sein und hat das Ding durch das Fenster geworfen.“

Die Gräfin schrie leise auf und verfärbte sich.

„Ein Stinktopf, Herr Harst?“ meinte sie völlig verwirrt. „Der muß dann gerade aus dem Museum meines Gatten gestohlen worden sein. Mein Mann hat vor zehn Jahren von einer Orientreise viele Kisten mit chinesischen, indischen und japanischen Merkwürdigkeiten mitgebracht.“

Franz Möller erklärte ebenfalls: „Ja – der Herr Graf hatte auch ein paar dieser Töpfe in einem Schranke stehen. Ich werde sofort einmal nachsehen, ob etwa in das Museum eingebrochen worden ist.“

Wir fünf[3] schritten weiter. – Dann standen wir vor dem engen, hohen Stacheldrahtzaun, der die Lehmhütte mit ihrem halb eingestürzten, grünbemoosten Dach im großen Viereck umgab.

Der Zaun hatte keine Tür. Die drei[4] Damen setzten sich daher in das Heidekraut, während Harald und ich mit unserer „Arbeit“ begannen.

Wir umgingen zunächst den Zaun. Als die Hütte uns vor den Damen verbarg, zeigte Harst auf einen der Zaunpfähle.

„Nette Idee!“ meinte er. „Eine Tür gibt es nicht. Also muß man zwei Drähte hochheben und so sich hindurchwinden, wenn man die Hütte betreten will. – Ja – schau nur recht genau hin! Die Drähte laufen an den Pfählen durch ziemlich große Krampen hindurch und sind nicht festgenagelt. Dieser Pfahl enthält – die Idee!“

„Ich sehe wirklich nichts!“ meinte ich kleinlaut.

„Bitte – der Pfahl besteht aus zwei Plankenstücken. Bücke Dich nicht zu tief. Man beobachtet uns fraglos.“ – Er steckte sich eine Zigarette an. „Die Plankenstücke sind ausgehöhlt. Wenn Du scharf hinschaust, bemerkst Du an den Stacheldrähten gerade an den Krampen dünnere Drahtenden, die in den Pfahl hineingehen. – Alle vier Eckpfähle zeigen diese Besonderheit. Das Ganze ist – eine elektrische Alarmvorrichtung. Wer die Drähte hochhebt, um hindurchzusteigen, spannt gleichzeitig die dünnen Drahtenden und setzt dadurch ein Läutewerk in Bewegung.“

„Na – und wozu das?!“ fragte ich etwas ungläubig.

„Das hängt mit dem Lesezeichen zusammen, mein Alter!“

Gleichzeitig griff er in die Tasche und holte ein zerknittertes Blatt Papier hervor.

„Da, – Du siehst, es ist das Erinnerungsformular einer Lebensversicherungsgesellschaft, an den Grafen Viktor von Rackler gerichtet, und betrifft eine fällige Prämie von 1850 Mark.“

„Allerdings – das sehe ich!“ meinte ich nachdenklich. „Was dieses formularmäßige Schreiben aber mit dem Zaun dieser elenden Lehmhütte zu tun hat, begreife ich noch immer nicht.“

„Hm – sollte es wirklich so schwer sein, im Geiste die verbindende Brücke zu bauen?! Glaubst Du, ich habe ohne Grund nach einer vielleicht inzwischen erfolgten Veränderung – Aber nein!“ unterbrach er sich. „Hätte ich den begonnenen Satz beendet, dann wäre Dir auf zu leichte Art die Erleuchtung gekommen. – So – nun hinein in die Lehmhütte! Ich weiß, was es dort zu entdecken oder – nicht zu entdecken gibt!“ –

So war Harst ja immer: er machte Andeutungen und verlangte, daß man ihm mit derselben jongleurhaften geistigen Gewandtheit, die er besaß, auf den verschlungenen Pfaden seiner Kombinationen folgte! –

Er hob die Drähte hoch und ließ mich hindurchsteigen. Dann tat ich für ihn ein Gleiches.

Die Lehmhütte hatte zwei Türöffnungen, vier Fenster und zwei Räume, von denen der kleinere einst Küche gewesen war.

Nur Schutt und welkes Laub fand sich in den Räumen vor. Der Boden war mit Ziegelsteinen ausgelegt; die Lehmwände waren sehr dick und teilweise mit Brettern verkleidet. In den Fensterrahmen gab es nur noch Splitter von Fensterscheiben.

Die Hütte lag so hoch, daß man vom Schlosse aus durch das eine Fenster in den größeren Raum hineinsehen konnte, wie wir nun selbst feststellten.

Harald hatte sich hier nur kurz umgeschaut. Dann nickte er befriedigt und meinte:

„Die beiden Fenster liegen einander gegenüber. Das ist wichtig. Dort erhebt sich Schloß Racklenberg. Und dort –“ er machte kehrt – „erblickst Du nach Osten zu etwa hundert Meter entfernt das alte Gemäuer mit seinen gestrüppbewachsenen Schutthaufen. Es liegt etwas tiefer als die Hütte – was ebenfalls wichtig ist. – Wir können jetzt gehen. Ich weiß genug.“

„Einen Augenblick!“ bat ich. „Willst Du mir nicht endlich erklären, was –“

„Abends, mein Alter, – abends!“ fiel er mir ernst ins Wort. „Du hättest beachten sollen, daß der Schäfer Hinrichsen hier nie ein Licht wahrgenommen hat! Und er hat doch seine Schafe bis vor kurzem auch nachts in der Nähe der Hütte bewacht. Hier in diesem Raume, wo die Gräfin das Licht bemerkt haben will, hat nie eine Laterne längere Zeit geleuchtet, behaupte ich jetzt.“

„Wo denn sonst?! – Meinst Du, die Gräfin hat uns etwa absichtlich die Unwahrheit berichtet?“

„Nein, mein Alter. Es war nur eine Sehtäuschung. Du wirst das nachher schon verstehen.“ –

Die drei[5] Damen waren jetzt draußen an den Zaun herangetreten. Die Gräfin rief uns zu:

„Herr Harst, das Licht war stets etwa in der halben Höhe des Fensters sichtbar, zuweilen eine volle Stunde lang, manchmal auch wieder kürzere Zeit. Haben Sie dort drinnen Spuren gefunden, die auf die Anwesenheit von Menschen schließen lassen?“

„Nein, Frau Gräfin, nichts – oder doch so gut wie nichts!“

 

5. Kapitel.

Nach Tisch gegen ½4 trafen bereits einige Gäste von benachbarten Gütern ein.

Harst und ich waren jetzt lediglich noch Gesellschaftsmenschen. Wir spielten mit den jungen Damen Krocket. Auch Franz Möller beteiligte sich dabei. Er war sehr liebenswürdig zu uns, hauptsächlich wohl deswegen, weil Harst das Museum des Grafen nur flüchtig sich angesehen hatte und dem Stinktopfattentat so gar keine Wichtigkeit beizumessen schien.

Um sieben Uhr wurde gemeinsam getafelt. Gegen acht begannen sich die bereits maskierten Gäste einzufinden. Wir suchten nun unsere Zimmer auf und legten unsere chinesischen Mandarinenkostüme an. Harst hatte mit der Gräfin verabredet, daß diese gleichfalls als Chinesin erscheinen solle. Graf Viktor hatte ein paar echte Anzüge aus China seiner Zeit mitgebracht, so daß die Gräfin dieser Bitte leicht entsprechen konnte. Die Brosche sollte sie wie eine Vorstecknadel vorn an der seidenen Jacke tragen.

Erst um neun begaben wir uns einzeln in die Festräume. Es waren hier gegen siebzig Personen versammelt.

Es wurde bereits getanzt. Die Gräfin war leicht herauszufinden. – Den Verlauf des Maskenballes bis elf Uhr kann ich hier nicht näher schildern.

Um elf etwa sprach mich eine schlanke Türkin an, die ich wiederholt in der Nähe der Gräfin in der letzten Stunde beobachtet hatte. Harald war vollständig unsichtbar geworden.

„Maske, in zehn Minuten oben im Museum,“ flüsterte die Türkin dumpf.

Mir kam diese Aufforderung verdächtig vor.

„Wer bist Du, Maske?“ fragte ich ebenfalls mit verstellter Stimme.

„Jemand, der für einen guten Scherz stets zu haben ist, selbst wenn er 250 000 Mark kostet,“ erwiderte die Unbekannte kichernd. „Du brauchst nicht zu fürchten, daß Dir etwas zustößt. Dein Freund wird sich dort ebenfalls [einfinden. Er verließ den Saal und erschien wieder in einer][6] anderen Verkleidung. Wer nicht genau hinsah, hätte ihn für den Oberförster Franz Möller halten können.“

Ich wurde immer stutziger. – „Ich muß wissen, wer Du bist,“ beharrte ich auf meinem Verlangen. „Dieses Schloß ist nicht geheuer für uns!“

„Tilli Gerold!“ hauchte sie mir ins Ohr. „Aber schweigen Sie, Herr Schraut. Ihr Freund hat mich eingeweiht.“

Die Nichte der Gräfin also! – Größe und Figur stimmten. Ich war beruhigt.

„Ich werde kommen,“ nickte ich.

Wir standen gerade an der Tür zum Wintergarten, die durch große Pflanzenkübel in einen grünen Gang verwandelt war.

Die Türkin bückte sich, schlüpfte zwischen zwei Riesenpalmen hindurch und tauchte in dem Halbdunkel des Wintergartens unter.

Während ich ihr noch nachschaute, legte mir jemand die Hand auf die Schulter.

Es war eine Maske in einem grotesken Clownanzug. Ob Mann oder Weib, ließ sich nicht sagen.

„Wer war das?“ fragte die Maske hastig. Ich erkannte Harsts Stimme. „Ich meine die Türkin, mein Alter. Nannte sie Dir ebenfalls den Namen Tilli Gerold?“

„Ja. – Dir auch? Sie bestellte mich oben in das Museum des Grafen. In zehn Minuten sollte ich dort sein.“

„Also ¼12 – wie auch ich! – Mich sprach sie vor einer Stunde an. Ich war inzwischen in der Lehmhütte. – Ah was bedeutet das?! Es muß zwei Türkinnen in genau demselben Kostüm geben! Und – die eine ist Saalborg, behaupte ich, die andere Tilli Gerold. – Komm’, fragen wir die Gräfin, ob etwa –“ – Er zog mich mit sich fort. – Ich sah im Tanzsaal links am Fenster die Gräfin mit der Türkin stehen. Sie sprachen sehr erregt miteinander. Als wir auf sie zutraten, hielt die Chinesin (die Gräfin) die mit einem weißen Lederhandschuh bekleidete Linke wie schützend auf die Brosche.

„Frau Gräfin, ich bin Harst,“ flüsterte Harald überstürzt. „Wer ist die Türkin hier? Ist es bestimmt Ihre Nichte?“

„Ja – ja – bestimmt!“ – Die Gräfin befand sich offenbar in höchster Aufregung. „Aber – es gibt zwei völlig gleiche Türkinnen hier. Die andere hat mir vorhin die Brosche anders gesteckt. Ich glaubte, es wäre Tilli. Die Türkin sagte, Sie, Herr Harst, hätten gewünscht, ich solle die Brosche höher tragen. Und nun – nun –“

Sie hatte die linke Hand sinken lassen.

„Fräulein Gerold, bitte, – ich möchte Ihre Frau Tante allein sprechen,“ sagte Harst rasch. – Das junge Mädchen entfernte sich.

„Frau Gräfin,“ fuhr Harald fort. „Ein Blick hat mir genügt. Die andere Türkin hat die Brosche ausgetauscht. Jetzt, Frau Gräfin, tragen Sie – den echten Schmuck und nicht mehr die Imitation.“

„Mein Gott – also haben Sie es wirklich bemerkt!“ rief sie leise. „Ja – es ist so, es ist so! Ich sah es ja ebenfalls sehr bald: es ist die echte Brosche, die mein Mann kurz vor seinem Tode unter der Bedingung des Rückkaufsrechts binnen drei Jahren an den Juwelier Blaschy in Berlin für 200 000 Mk. veräußerte, nachdem er die Imitation hatte anfertigen lassen. Die 200 000 Mark wurden ihm jedoch damals gestohlen, als er aus Berlin heimkehrte. Irgend ein Hochstapler betäubte ihn halb durch eine Zigarette und –“

„Ein Hochstapler? – Also Saalborg natürlich! Dieser Saalborg ist mit Ihrem Fürsten Palivarri identisch, Frau Gräfin, damit Sie nun alles wissen!“

Jetzt fiel mir die Äußerung der „falschen“ Türkin über den Scherz ein, der 250 000 Mark kosten könnte! – Ich erzählte dies Harald. Und er erwiderte sofort: „Dann ist mir alles klar: Saalborg hat damals dem Grafen die 200 000 Mark gestohlen, hat gewußt, wer die echte Brosche besaß, hat sie von dem Juwelier angeblich in Ihrem Auftrage, Frau Gräfin, zurückgekauft und mir so beweisen wollen, daß seine Absichten nie zu durchschauen sind! Daß er an mich schrieb und den Diebstahl der Brosche ankündete, geschah lediglich deshalb, um mich zu veranlassen, hier nach Racklenberg zu reisen. – Ich gebe zu: ich hatte mit Saalborgs Anwesenheit hier nicht mehr gerechnet, da ich die andere Brosche als unecht erkannt hatte und aus Saalborgs Zettel entnahm, daß er es gleichfalls wußte. – Allerdings – hinter diesen Streich Saalborgs konnte ich nicht kommen! – Entschuldigen Sie jetzt, Frau Gräfin. Ich habe mit Schraut zusammen noch etwas zu erledigen.“ –

Wir verließen einzeln die Festräume und stiegen in den ersten Stock des Seitenflügels hinauf.

Die Tür des großen Museumszimmers war nicht verschlossen. Wir traten ein, Harald drehte das Licht an. Der Raum enthielt nur große Glasschränke und an einem der drei Fenster zwei altertümliche Lehnsessel. Er hatte nur die eine Tür nach dem Flur.

Wir schauten uns mißtrauisch um. – „Die Geschichte gefällt mir nicht!“ meinte Harst und langte in die Tasche, wo er seine Clementpistole steckten hatte. Dann blieb sein Blick auf dem Sitz des einen Sessels haften. Von dem dunklen Leder zeichnete sich deutlich ein weißes Blatt Papier ab.

Harald nahm es, überflog die Bleistiftzeilen:

„Verehrtester Herr Harst! Der Scherz mit der Brosche ist mir geglückt – in doppelter Weise: Sie sind nach Racklenberg gekommen und werden nun fraglos das Geheimnis der Lehmhütte aufklären, das mir noch immer unklar ist; dann zweitens habe ich ein einst begangenes Unrecht gut gemacht. Ich bestehle nur Reiche. Und Graf Rackler war nicht reich. – Ich hörte gegen zehn Uhr, wie der Oberinspektor Möller in der Maske eines Mönches die Gräfin für ½12 hier in das Museum bestellte. Verbergen Sie sich in dem zweiten Schranke links von der Tür, in dem allerlei orientalische Gewänder hängen. Die Möllers sind ja Ihre Gegner und dürften von dem Geheimnis der Lehmhütte mehr wissen als wir. – Auf Wiedersehen.

V. Saalborg.“

„Rasch!“ meinte Harst. „Hinein in den Schrank. Jetzt mein Alter kenne ich nämlich alles, was mit dem Rätsel der Lehmhütte zusammenhängt, – auch das, was sich hier nun ereignen wird.“

Wir hatten in dem Schranke bequem stehend Platz. Die Tür ließen wir drei Finger breit offen. Das elektrische Licht hatte Harald wieder ausgeschaltet. – Wir brauchten nicht lange zu warten.

Im Zimmer wurde es hell. Wir sahen durch die Glastür des Schrankes hinter den Gewändern hervor zwei Mönche, denen sehr bald ein dritter folgte. Dann erschien die Gräfin in ihrer Chinesentracht. – Zwei der Mönche nahmen die Masken ab. Es waren die beiden Möllers, Vater und Sohn. Der dritte hatte sich an einen Schrank gelehnt.

„Was bedeutet diese Zusammenkunft?“ fragte die Gräfin und löste ebenfalls die Seidenmaske vom Gesicht.

In demselben Moment drückte Harst die Schranktür auf und trat hinaus. – Die Möllers schienen sich auf Harald stürzen zu wollen. – Er rief schnell: „Keine Sorge. Ich verrate nichts!“

Sein energischer Ton schreckte Vater und Sohn zurück.

„Frau Gräfin,“ wandte Harst sich an die Schloßherrin, „Sie haben niemals ein Licht in der Hütte, sondern stets nur durch die Fenster der Hütte hindurch einen Lichtschein in der Ruine nach Osten zu gesehen. Dieses uralte, aus der Schwedenzeit stammende Gemäuer wurde von einem Manne bewohnt, den die beiden Herren Möller als treue Angestellte mit Speise und Trank versahen und dessen Geheimnis sie vor mir schützen wollten, was ich ihnen nicht im geringsten verarge. – Frau Gräfin, Sie sollten heute hier diesen Mann wiedersehen, der für die Welt als tot gilt, und der mit Hilfe des Heuwagens, in dem er sich verbarg, einen Unglücksfall vortäuschte, damit durch die Lebensversicherungssumme Rittergut Racklenberg vor der Zwangsversteigerung bewahrt würde, nachdem ihm die 200 000 Mark für die Brosche gestohlen worden waren –“

Die Gräfin war mit einem halb unterdrückten Schrei auf den dritten Mönch zugeflogen.

„Viktor – Viktor!“

Das Paar hielt sich fest umschlungen. – Dann trat der Graf, der die Maske weggeworfen hatte, auf uns zu und erklärte:

„Sie wissen noch nicht alles, Herr Harst. – Ich war über den Diebstahl der 200 000 Mark fast schwermütig geworden. Ohne jemand einzuweihen, beging ich dann den Betrug, um die Lebensversicherungssumme zur Auszahlung bringen zu lassen. Ich handelte damals in einem Zustande der Unzurechnungsfähigkeit. – Vier Wochen hauste ich unbemerkt in der Ruine, in die man durch einen geheimen Gang von der Lehmhütte aus gelangen kann, wie Sie fraglos ermittelt haben.“

Harald nickte. „Ja – in der Küche der Lehmhütte gibt es vor dem Herde eine Falltür aus Eisen, die in der Farbe des Ziegelbodens angestrichen ist. Es lag Schutt darauf. Trotzdem erkannte ich ihre Umrisse.“

„Nun gut. – Nach vier Wochen entdeckte mein braver alter Möller mich in meinem Versteck. So habe ich dort denn 15 Monate gehaust, bis die Sehnsucht nach meiner Frau übermächtig wurde. Ich will mich jetzt den Gerichten freiwillig stellen und die Lebensversicherungssumme zurückzahlen. Ich betone: freiwillig wollte ich mich stellen! – Deshalb auch unsere Angst vor Ihrer Einmischung, Herr Harst!“

Harald reichte dem Grafen die Hand. „Diese Angst war überflüssig,“ meinte er. „Ihre Handlungsweise ist zu entschuldigen. Die Gerichte werden den Fall fraglos sehr milde beurteilen.“ –

So geschah es auch.

Ich möchte zum Schluß noch hinzufügen, daß dieses Maskenfest noch eine andere Überraschung brachte, die ich in der nächsten Erzählung schildern will, – eine Überraschung, die ein neues Problem einleitete, dessen Einzelheiten „Das Licht in der Lehmhütte“ an Seltsamkeit noch übertrafen.

 

 

Die holländische Kuff.

 

1. Kapitel.

Um es gleich vorauszuschicken: Kuff ist ein breites, zweimastiges Segelschiff von 25–30 Meter Länge mit zumeist nur fünf Mann Besatzung einschließlich des Kapitäns. –

Unser Abenteuer mit der holländischen Kuff „Drievahlen“ begann in folgender Weise.

Wir saßen mit dem Grafen Viktor, dessen Wiederauftauchen den Gästen verheimlicht worden war, gegen ein Uhr morgens im ersten Stock in des Grafen bisher verschlossen gehaltenem Arbeitszimmer bei Wein und Zigarren, als Gräfin Brigitta erschien und Harst und mir mitteilte, der Gemeindevorsteher von Arendsee, Merten, möchte uns gern in einer dringenden Angelegenheit sprechen.

Merten war ein älterer, biederer Herr, früherer Schiffskapitän und ein guter Bekannter jenes Steuermanns, bei dem wir in Arendsee gestern gewohnt hatten. Der Steuermann hatte ihm erzählt, daß Harst und Schraut im Schlosse Racklenberg als Gäste weilten, und so war Merten denn mit seinem Einspänner nach dem Schlosse gekommen, um uns zu bitten, ihm als dem zuständigen Polizeibeamten bei der Aufnahme des Tatbestandes einer etwas ungewöhnlichen Schiffsstrandung zu helfen.

„Die Sache ist die, meine Herren,“ fuhr er nun in seiner bedächtigen Art fort. „Um ½12 rief mich der nächste Nachbar vom Schloß Racklenberg, der Gutsbesitzer von Pronski, telephonisch an und meldete mir, daß ein Segler in der Nähe des Gutshauses, also etwa eine Viertelstunde westlich von Arendsee, auf Strand gelaufen sei. Ich fuhr sofort mit meinem Einspänner hin und fand auch wirklich etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt eine holländische Kuff namens „Drievahlen“ vor, die unter vollen Segeln sich auf einer Sandbarre festgefahren hatte. – Wir haben heute nur ganz flauen Wind, meine Herren, und keine Spur von Brandung. – Auf der Kuff hatte Herr von Pronski, der übrigens erst vor acht Monaten den Rest des Gutes Dramgarten gekauft und sich hier niedergelassen hat, jedoch mit niemandem verkehrt, zwei bewußtlose ältere Matrosen aufgefunden und in das alte, hinter den Dünen liegende Gutshaus schaffen lassen. Im übrigen war auf der Kuff kein lebendes Wesen zu entdecken.“

„Eine Frage, Herr Merten,“ warf Harst ein. „Weshalb verkehrt Pronski mit niemandem?“

„Dja – das ist schwer zu beantworten – sehr schwer. Er ist menschenscheu, gilt als Sonderling, haust in der alten verwahrlosten Bude von Gutshaus zusammen mit einem verheirateten Arbeiter, den er sich aus dem Auslande mitgebracht hat, und rührt sich kaum aus seinen vier Pfählen heraus.“

„Weiter also!“ nickte Harst.

„Ja – nun kommt das Merkwürdige,“ meinte Merten sinnend. „Das sehr Merkwürdige. – Auf dem Tisch in der verschlossenen Kapitänskajüte der Kuff fand ich, nachdem wir die Tür erbrochen hatten, einen versiegelten an mich gerichteten Brief. – Hier ist er –“

Harst nahm den Umschlag, besichtigte ihn und zog den Briefbogen hervor.

Die Adresse auf dem Umschlag lautete:

An den Gemeindevorsteher von Arendsee
als Strandvogt und Polizeiverwalter.

Das Schreiben hatte folgenden Inhalt:

Besondere Umstände zwingen mich, mit der Besatzung meine Kuff Drievahlen zu verlassen. Ich ersuche Sie, die Kuff nach dem Hafen von Warnemünde schleppen und dort für mich bewachen zu lassen. Ich werde sie dort nach einiger Zeit wieder in Empfang nehmen. Zur Deckung der Bergungskosten und so weiter füge ich 10 000 Mark bei, ebenso die Schiffspapiere, die mein Eigentumsrecht beweisen. Ich ersuche Sie weiter, diese meine Wünsche nur beamteten Personen, die mit der Sache zu tun haben, mitzuteilen, im übrigen aber verschwiegen zu sein. Sie werden ihre Verschwiegenheit dann nicht zu bereuen [haben][7]. Sie sind mir als ein Ehrenmann geschildert worden, und ich bitte Sie herzlich, einem Kollegen beizustehen.

Jan Pieter de Long,

Kapitän und Eigentümer der Drievahlen.

Harald las den Brief zweimal sehr langsam.

„Geld und Papiere waren tatsächlich beigefügt,“ erklärte Merten weiter. „Und nun kommt das zweite Merkwürdige, Herr Harst. Auf dem blitzsauberen Deck vor dem Heckaufbau hatten die beiden bärtigen Matrosen mit zerschundenen Gesichtern und mehreren Stichwunden blutend und bewußtlos gelegen. So hatte sie Pronski aufgefunden. Neben den Matrosen hatte ein blutiger großer Schraubenschlüssel und ein Dolchmesser auf einen Kampf hingedeutet. Außerdem entdeckte ich auch in der Kajüte de Longs Blutspuren, so zum Beispiel auf dem Tische. – Schließlich das dritte Merkwürdige: Herr Adam von Pronski erhebt jetzt sehr energisch Anspruch auf die Kuff, da diese ein herrenloses Schiff sei, das er als erster betreten hätte.“

Harst stand auf. „Herr Merten, wir werden schnell andere Anzüge anlegen. Dann begleiten wir Sie.“ –

Gegen halb 2 nachts fuhren wir drei in dem leichten Wagen von dannen.

Unterwegs fragte Harst den Gemeindevorsteher:

„Kennt Pronski den Inhalt des Briefes de Longs?“

„Nein. Er war sehr neugierig. Ich schwieg jedoch.“

„Weiß er, daß Sie uns holen?“

„Ja.“

„Wie verhielt er sich, als Sie ihm erklärten, Sie würden sich an mich werden?“

„Er lobte meinen Entschluß, hier nach Racklenberg zu fahren. Er meinte, diese Geschichte sei nicht sauber.“

„Da hat er vollständig recht, Herr Merten.“

„Das denke ich auch. Der Kapitän wird mit den Matrosen Streit bekommen haben und ist ausgekniffen, als er sah, wie er sie zugerichtet hatte.“

„Hm –! Mag sein. – Wie viel Mann Besatzung hatte die Kuff? Welche Ladung führt sie? In welchem Hafen lag sie zuletzt?“

„Nur vier Leute Besatzung, Herr Harst: den Kapitän, den Steuermann Priscart und die Matrosen Janning und Sörensen. Heimathafen der Drievahlen ist Amsterdam. Die Kuff ist erst vor vier Monaten in den Besitz de Longs übergegangen. Sie führt nur Steinballast. Vor zwei Monaten hat sie Amsterdam verlassen und inzwischen keinen Hafen – anscheinend – angelaufen, was auch sehr seltsam ist.“

„Haben Sie die Matrosen schon vernommen?“

„Nein. Sie sind noch bewußtlos. Doktor Schmöcker aus Arendsee hat sie verbunden. Die Verletzungen sind sämtlich leicht. Nur sehr viel Blut haben die Leute verloren. Das Deck schwamm von Blut.“

„Haben Sie schon etwas wegen der Bergung des Seglers veranlaßt?“

„Ja. Ich habe nach Warnemünde telephoniert und einen Schleppdampfer bestellt. Er dürfte gegen 7 Uhr morgens eintreffen.“

„Hat Pronski denn einen rechtlichen Anspruch auf die Kuff oder gegen den Eigentümer?“

„Ja, das ist schwer zu beantworten. Darüber muß das Seeamt entscheiden. Pronski ist wahrscheinlich arm. Er mag Geld brauchen. Man kann es ihm nicht verargen, daß er bei der Geschichte etwas herausschlagen will.“

Wir hatten jetzt den Dünenwald erreicht und fuhren am Rande des Waldes auf einem sandigen Wege dahin.

 

2. Kapitel.

Als wir den Strand vor uns sahen, verließen wir den Wagen und schritten zu Fuß durch die Dünen.

Dort drüben lag die Kuff. Die Segel waren bereits beschlagen (eingeholt) worden. Am Strande hatte sich ein Dutzend Fischer versammelt. Etwas abseits standen Doktor Schmöcker und Herr von Pronski. Die Jolle der Kuff war halb aufs Ufer gezogen.

So lernten wir Adam von Pronski nun kennen.

Harald fragte den Gemeindevorsteher, ob es uns beiden gestattet sei, die Kuff auf unsere Art zu durchsuchen.

„Aber gewiß, gewiß!“ erklärte Merten eifrig. „Tun Sie, was Sie für richtig halten, Herr Harst. Ich werde Sie gern begleiten.“

„Danke,“ meinte Harald. „Schraut und ich sind daran gewöhnt, allein zu arbeiten. Es hätte auch keinen Zweck, wollten Sie uns hier am Strande erwarten. Wir brauchen vielleicht ein paar Stunden für eine gründliche Durchsuchung. Wir werden nachher zu Ihnen kommen. – Auf Wiedersehen also –“

Wir schoben das Boot ins Wasser und stiegen ein, ruderten zur Kuff hinüber und kletterten an Bord.

„So,“ meinte Harald und blickte nach dem Lande hin, „die Neugierigen zerstreuen sich, und auch Merten, der Doktor und Pronski verlassen den Strand. Nun können wir in aller Ruhe das Problem vornehmen.“

Wir standen jetzt vor dem Heckaufbau und ließen das Licht unserer Taschenlampen auf die blutigen Deckplanken fallen.

„Etwas sehr reichlich Blut – sehr reichlich!“ murmelte Harst. „Das würde zu der Theorie passen, die hier die einzig mögliche –“

Er schwieg und bückte sich, wischte mit den Finger in einer Blutlache umher, lachte leise, richtete sich auf und sagte:

„Ich will mal feststellen, was die Kuff an Proviant mit sich führt.“

Auf dem Vorderdeck blieb er vor einem Käfig stehen, wie ihn Segelschiffe häufig zum Halten von Hühnern an Bord haben.

Er leuchtete hinein, öffnete die Türen und meinte:

„Da – eine einzige Henne! Nur eine! Obwohl in allen drei Verschlägen noch recht frischer Hühnerdung liegt. Die Blutlachen sind künstlich vergrößert worden. Man hat das Federvieh dort geschlachtet. Man hätte nur vorsichtig sein müssen. Ein paar kurze Flaumfedern kleben in der einen Lache.“

Ich war so verblüfft, daß ich überhaupt nichts äußerte.

„Gehen wir in die Kajüte,“ fügte Harald hinzu. „Sieh mal, – daß der Kapitän oder der Steuermann oder beide zusammen die Matrosen nicht so zugerichtet haben konnten, ging doch schon aus dem Briefe de Longs hervor. Er will sein Schiff später in Warnemünde wieder in Empfang nehmen, schreibt er. Wenn er die Matrosen niedergeschlagen hätte, müßte er die Gerichte fürchten und würde nie nach Warnemünde kommen. Wenn Steuermann Priscart es getan hätte – weshalb sollte de Long dann das Schiff verlassen haben?! – Diese Ausführungen könnte ich noch weiter ausspinnen. Es hat keinen Zweck. Der bisherige Sachverhalt besagt ganz klar:

Hier liegt eine beabsichtigte Irreführung der Öffentlichkeit, also der Behörden, vor. Die beiden Matrosen haben nur leichte Verletzungen und haben die schwere Ohnmacht und die nachfolgende Schwäche im Einverständnis mit de Long und Priscart zu einem noch nicht klar ersichtlichen Zweck simuliert. Die Besatzung der Kuff steckt hierbei also unter einer Decke. Beweis: das zur Hervorrufung größerer Blutlachen benutzte Hühnerblut.“

– Ich habe diesen Ausspruch Harsts absichtlich durch Einrücken hervorgehoben. Der Leser wird ihn sich so leichter merken. –

Wir betraten die kleine Kajüte des Kapitäns.

Wir freuten uns über die Sauberkeit, die hier herrschte. Aber Harst lachte wieder leise, als er die Blutspritzer auf den Dielen, auf dem Tische, auf der Platte des Schreibpultes und dem Sofa gewahrte.

„Alles Komödie!“ sagte er und zündete die große Petroleumpendellampe an. „Ich bin überzeugt, daß dieser de Long, der die Kuff erst so kurze Zeit besitzt und der mit ihr noch keinen Hafen angelaufen hat, diese Komödie vorsichtiger inszeniert hätte, wenn er hätte ahnen können, wir beide würden unsere Nasen in seine dunklen Machenschaften stecken! – Hier das Schreibpult zum Beispiel! Schau’ es Dir an, mein Alter! Die weiße Löschblattunterlage zeigt scharf den Abdruck des Briefes, den de Long hier zurückließ. Und über dieses Löschblatt ist[8] nachher Tinte gespritzt worden! Wie kindlich-töricht! Der Brief ist also geschrieben worden, bevor die beiden Matrosen – na sagen wir schon – „niedergeschlagen“ wurden! Das heißt: de Long schrieb den Brief und wußte in dem Moment schon genau, daß – „besondere Umstände ihn zwingen würden, mit der Besatzung die Kuff zu verlassen“, wie es ja in seinem Briefe heißt. – Um die Sache noch dunkler zu machen, schrieb er „mit der Besatzung“, während er doch offenbar schon mit Janning und Sörensen, den Matrosen, vereinbart hatte, daß sie an Bord bleiben und die übel Zugerichteten spielen sollten –“

Ich lauschte geradezu atemlos. Jedes Wort war wie eine Offenbarung.

„Fragen wir uns nun,“ fuhr Harald fort, „was diese vier Leute wohl mit alledem bezwecken mögen. Wir haben für diesen Zweck nur einen einzigen Anhaltspunkt: denselben Brief und dessen Einlage, das Geld und die Schiffspapiere, – und aus dieser Einlage geht hervor, daß de Long ohne Zweifel seine Kuff abholen oder besser zurückverlangen wird. – Der Plan der vier muß mithin entweder harmlos sein – wäre er es nicht oder wären es seine Folgen nicht, dann dürfte de Long es ja nur dann wagen, in Warnemünde sich zu zeigen, wenn der Plan nebst Folgen nie an die Öffentlichkeit käme! – oder aber er ist so feingesponnen, daß er nie entdeckt werden kann, wenigstens nach de Longs Ansicht! – Auch dieser Punkt, mein Alter, läßt sich bis ins feinste zergliedern. Ich verzichte darauf. Ich behaupte:

Weil de Long von Merten als Strandvogt Schweigen verlangt hat und weil er ihn für dieses Schweigen irgendwie belohnen will, wie er in dem Briefe andeutet, muß der Plan der vier Leute –“

Dieser hochinteressante Satz sollte leider nie vollendet werden.

Wir hatten im Gefühl völliger Sicherheit die Tür nur angelehnt und auch kaum auf Geräusche von draußen her achtgegeben.

Wir hatten beide mit dem Rücken nach der Tür hin gestanden.

Und wir erhielten nun gleichzeitig zwei furchtbare Hiebe auf den Hinterkopf, deren Kraft nur durch unsere weichen Sportmützen etwas gemildert wurde.

Wir brachen beide wie vom Blitz getroffen zusammen.

Und – kamen am hellen Tage auch kurz hintereinander zu uns.

Ich erwachte als erster. Ich hatte so rasende Schmerzen im Kopf, daß die Sonnenstrahlen, die meine Augen trafen, sich wie glühende Eisenstäbe mir ins Hirn bohrten.

Ich schrie auf vor Pein.

Und – wurde abermals bewußtlos.

Erwachte abermals, blinzelte in die Helle hinein, hörte Harald mühsam lallen:

„Schraut – es – kommt Wind – auf. Offenes Boot – gebunden. Müssen ersaufen, wenn –“

Mehr verstand ich nicht.

Offenes Boot! Der Gedanke verdrängte alles andere.

Ja – es war ein kleines Boot, in dem wir gefesselt saßen.

Saßen – gebunden an die Ruderbänke.

Und – wie gebunden! – Ich spürte in allen Gliedern Schmerzen; ich spürte auch das Schaukeln des Bootes, fühlte den Wind, der mein Gesicht umstrich.

Ersaufen – ersaufen, wenn wir die Fesseln nicht lösen konnten! Das war’s – das! – Das Boot würde voll Wasser schlagen. – Würde wegsacken. Dann waren wir ausgelöscht für immer. Und niemand würde ahnen, wo wir geblieben! Niemand! –

„Schraut – wir müssen die Fesseln loswerden!“ vernahm ich abermals Haralds Stimme. Und – jetzt riß ich die Augen auf, überwand die Pein des grellen Lichtes.

Vor mir saß Harald, an die nächste Ruderbank festgebunden. Unsere Blicke trafen sich.

„Mut, mein Alter!“ sagte Harst energisch. Aber aus seinen Augen sprach deutlich alles, was er an Schmerzen litt und was er nebenbei noch dachte – über das Aussichtslose aller Befreiungsversuche! –

Eine Welle fegte über das Boot hin und füllte es so weit, daß wir nun im Wasser saßen.

Haralds trauriger Blick ruhte auf meinem Gesicht.

„Es ist aus mit uns, mein Alter. Die Schurken sind mit der Jolle und einem zweiten Boot weit in die offene See hinausgerudert und haben uns dann allein gelassen. – Es hat keinen Zweck, sich hier die Haut von den Handgelenken zu scheuern. Die Stricke halten. Selbst die Beine haben die Schufte uns aneinandergebunden. Wenn –“

Ein neuer Spritzer schlug ins Boot.

Ich sah ein: es war vorbei mit uns!

Eine Woge hob das Boot hoch empor.

„Ein Kutter!“ brüllte Harst. „Dort – halb links!“

Die Jolle rutschte schon wieder in ein Wellental hinab.

Und abermals klatschte ein Wogenkamm ins Boot.

Es begann zu sinken; im Nu hatte es sich jetzt bis zum Rande gefüllt.

Nur Haralds Kopf ragte noch über die klare, grünblaue Flut hinweg.

Die Todesangst verwirrte mir die Sinne. Mir wurde schwarz vor Augen.

Wie aus endloser Ferne Haralds Ruf: „Leb’ wohl, mein Alter! de Long ist unser Mörder. Er –“

Dann hörte ich nichts mehr.

 

3. Kapitel.

In einem Zustand traumhaften Hindämmerns drang etwas wie ein Gemurmel an mein Ohr.

Die Stimmen wurden deutlicher.

Ich begann langsam den Sinn der Worte zu fassen; ich konnte mich bereits wieder dazu zwingen, teilzunehmen an dem, was um mich her vorging. Ich öffnete sogar die Augen. Aber auf meiner Stirn lag ein kühles, nasses Tuch, das auch die Augen bedeckte.

Eine rauhe Stimme sagte jetzt in halbem Platt:

„Wir erwischten mit unserem Anker noch gerade den Rand der wegsackenden Jolle und bekamen sie so wieder an die Oberfläche. Nur fünf Sekunden später, und wir hätten Sie nicht mehr retten können, Herr –“

Dann Harsts Erwiderung:

„Sind Sie der Eigentümer dieses Motorfischkutters?“

„Ne, Herr. Ich bin nur zufällig an Bord. – Wollen Sie noch ’n Schluck kalten Tee trinken?“

„Bitte. – Vielleicht kann ich etwas zu essen bekommen. Ich habe Hunger.“

„Sofort, Herr, sofort –“

Ich hörte, wie eine Tür leise geöffnet und geschlossen wurde.

Nun wich auch diese halbe Lähmung der Glieder. Ich richtete mich auf. Das nasse Tuch fiel herab.

Harst lag mir gegenüber auf der anderen Bank der kleinen Kajüte. Durch die schmalen Oberlichtfenster drang ein breiter, leuchtender Strich Sonne herein.

„Ah – auch munter, mein Alter?“ rief Harald und streckte mir die Hand hin.

So fanden sich unsere Hände in festem Druck.

„Wir haben Glück gehabt,“ lächelte Harst.

Da trat auch schon ein graubärtiger, verwitterter Fischer im Ölanzug ein.

Der Alte nickte mir zu. „Haben Sie auch Hunger, Herr?“ meinte er freundlich. „Hier ist Büchsenfleisch und Brot und Butter –“ –

Der Mann nannte uns dann auch seinen Namen: Klaus Jörgen. – Er hatte einen Klapptisch aufgestellt und sah nun zu, wie gut es uns schmeckte.

„Wohin fährt der Kutter?“ fragte Harst.

„Er kreuzt, Herr – Kreuzt weit draußen vor Arendsee –“ – Der Alte lächelte ein wenig.

Und dann – dann sagte er mit veränderter Stimme:

„Wie gut, daß ich gleichfalls am Strande gegenüber der Kuff in den Dünen lag, Herr Harst!“

„Saalborg – Saalborg! Sie sind’s?!“ rief Harald und beugte sich vor. „Mann – ich hätte Sie nie erkannt!“

„Leise bitte!“ mahnte unser Gegner. „Die Fischer ahnen nicht, wer ihren Kutter gemietet hat. – Ich lag also in den Dünen, als Sie beide nach der Kuff hinüberruderten. Und als die anderen Leute den Strand verließen. Ich schlich dann näher heran. Mich interessierte die Kuff. – Sie betraten sehr bald die Kajüte. Und wenige Minuten später erschienen rechts von mir zwei Männer, die rasch nach dem Segler schwammen und an Bord stiegen. Ich wurde Zeuge, wie die beiden Sie und Ihren Freund in die Jolle verluden. Und einer ruderte dann mit der Jolle in die See hinaus. Ich ahnte, daß Sie beseitigt werden sollten. Ich lief nach Arendsee und mietete diesen Kutter. Es dauerte jedoch drei Stunden, bevor wir die treibende Jolle bemerkten. Inzwischen war’s heller Tag geworden.“

„Saalborg, wir danken Ihnen,“ sagte Harst gerührt. „Mann, geben Sie doch Ihre Hochstaplerlaufbahn auf! Sie sind doch Ihrem ganzen Charakter nach –“

„– nur zum Gentlemangauner geeignet!“ vollendete Saalborg ernst. „Schenken wir uns diese Erörterungen, Herr Harst!“ – Das klang so ablehnend, daß Harst seufzend meinte:

„Nun gut. – Also etwas anderes. Wie sahen die beiden aus, die uns auf der Kuff niederschlugen?“

„Schwer zu sagen. Jedenfalls bärtig, einfach angezogen. Der eine war etwas größer als der andere.“

„Dann waren es wahrscheinlich de Long und Priscart – wahrscheinlich! Obwohl –“ – Harald zuckte die Achseln, ohne den Satz zu beenden, fügte dann hinzu: „Sie sollen erfahren, was wir von der Kuff wissen, Saalborg.“ Und er berichtete unserem Retter alles – auch den Brief de Longs erwähnte er.

Der so tadellos verkleidete Saalborg meinte darauf:

„Eine merkwürdige Geschichte! – Daß man Sie beide umbringen wollte, beweist zur Genüge, wie gefährlich die Pläne der Besatzung der Kuff sein müssen.“

Harald schwieg.

„Oder gibt es noch eine andere Deutung?“ setzte Saalborg fragend hinzu.

„Ja – die gibt es,“ nickte Harst zerstreut. „Es ist dieselbe Theorie, die ich schon Dir gegenüber erwähnte, mein Alter. Diese Theorie ist jetzt in mir wieder aufgelebt. Ich konnte diesen Mordversuch auf uns nicht recht unterbringen, das heißt, mit dieser Theorie vereinen. Nun ist mir ein neuer Gedanke gekommen. – Saalborg, lassen Sie den Kutter irgendwo weit von Arendsee entfernt landen. Mieten Sie ihn noch für einen vollen Tag. Sorgen Sie aber, daß die Fischer nicht mit anderen Leuten sprechen können. Schraut und ich müssen für die Öffentlichkeit verschwunden bleiben.“

„Die Fischer sind Vater und Sohn und zuverlässig,“ erklärte Saalborg. „Es wird alles geschehen, wie Sie wünschen, Herr Harst.“ –

Gegen zwei Uhr nachmittags lag der Kutter in einer kleinen Bucht etwa eine Meile westlich des Gutshauses Adam von Pronskis vor Anker.

Wir hatten inzwischen festgestellt, daß die Kuff von der Sandbarre verschwunden, also bereits nach Warnemünde geschleppt war.

Saalborg blieb mit den beiden Fischern auf dem Kutter zurück, nachdem er uns noch aus seiner Handtasche mit falschen Bärten ausgeholfen hatte und die Fischer uns zwei ihrer schlechtesten Anzüge geborgt hatten.

In dieser Verkleidung begaben wir uns zu Fuß durch den Dünenwald nach Schloß Racklenberg, wo wir auch den Oberinspektor Möller auf dem Gutshofe unauffällig beiseite nehmen konnten. Er versprach, unsere Koffer in aller Stille persönlich mit einem Einspänner nach dem Kutter zu bringen.

Als diese Sache so erledigt war, fragte er uns nach der holländischen Kuff aus.

Harald erwähnte, wie teuer uns der Besuch auf dem gestrandeten Segler hätte zu stehen kommen können. Während wir drei nun in eifrigem Gespräch einen Feldweg entlangschritten, kam uns der Badearzt Doktor Schmöcker entgegengeradelt.

Er erkannte weder Harst noch mich. Getreu unserer Rolle als einfache Fischer traten wir bescheiden bei Seite, als er Möller begrüßte. Der Oberinspektor lächelte verstohlen. Schmöcker war sehr erregt und platzte heraus:

„Ich wollte der Frau Gräfin nur mitteilen, daß Harst und Schraut verschwunden sind. Sie wissen doch, daß dort bei Dramgarten eine Kuff aufgelaufen war, lieber Möller? Nun – die Jolle der Kuff fehlt gleichfalls. Der alte Merten hat bereits nach Rostock telephoniert und um Entsendung von zwei Kriminalbeamten gebeten. Merten meint, Harst und Schraut seien umgebracht worden. – Eine ganz verteufelte Geschichte, lieber Möller! Die beiden Matrosen, die Pronski bei sich aufgenommen hatte, sind nun ebenfalls an Entkräftung gestorben. Ich hätte dies niemals für möglich gehalten. Es war jedoch nichts mehr zu retten. Der Herzschlag wurde schwächer und schwächer –“

Jetzt trat Harald schnell vor. – „Herr Doktor, wir sind Harst und Schraut. Es darf jedoch niemand wissen, daß wir noch leben. Sie müssen dies unbedingt geheim halten.“

Schmöcker drückte uns die Hand.

„Oh – wie wird Merten sich freuen, Herr Harst –“

„Herr Doktor, Merten soll sofort nach Rostock telephonieren und die beiden Kriminalbeamten abbestellen. Schraut und ich werden hier in dieser Rolle dann auftreten und Merten wird diese Täuschung unterstützen. Bitte beeilen Sie sich, daß Sie recht schnell in Arendsee sind. Wir beide treffen dann mit dem Nachmittagszug in Arendsee ein. Merten soll uns vom Bahnhof abholen und so tun, als hätten sich die beiden Beamten angemeldet.“

„Verstehe!“ nickte der Arzt. „Noch etwas, Herr Harst?“

„Eine Frage. – Haben Sie die Totenscheine für die beiden Matrosen schon ausgestellt?“

„Ja. Die Leute hatten ihre Papiere bei sich, und Merten als Polizeiverwalter erhob keine[9] Einwendungen.“

„Dann soll Merten die Leichen zur Beerdigung nach Arendsee schaffen lassen – sofort!“

„Gut. Werde es ihm ausrichten. Hegen Sie etwa irgend einen Argwohn, Herr Harst, was den Tod der Matrosen betrifft? Falls ja, möchte ich diesen Argwohn sofort zerstreuen. Ich habe die beiden Leute eine volle Stunde lang bis zum Ableben beobachtet. Es handelt sich um Herzschwäche, und –“

„Darüber läßt sich später reden, Herr Doktor. – Auf Wiedersehen!“

Schmöcker sprang auf sein Rad und radelte weiter. –

„Herr Möller,“ sagte Harald nun, „ich habe mich anders entschlossen. Bringen Sie unsere Koffer bitte nach jener Waldwärterhütte, die näher nach Arendsee zu liegt. Sie wissen, welche ich meine.“ – Er reichte ihm die Hand. „Wir wandern direkt nach der Hütte. Ich denke, Sie werden in einer Stunde dort sein können.“ –

Wir trennten uns von Möller und umgingen das Schloß, kamen an die Brücke über das Hexenmoor und begegneten hier dem Oberförster Franz Möller und Fräulein Tilli Gerold. Sie beachtete uns nicht. Wir faßten an die Mützen und murmelten einen Gruß. Die beiden hatten sehr eifrig miteinander sich unterhalten.

„Hörtest Du?“ fragte Harst leise. „Franz Möller sagte gerade zu Fräulein Gerold: „Schade, daß wir ihn nicht erwischt haben!“ – Wen mag Möller damit wohl meinen? Ob wir ihn nicht fragen?“

Er drehte sich um und schaute dem Paare unschlüssig nach.

Dann schritt er jedoch weiter, indem er leise rief:

„Komm’, – ich habe etwas bemerkt! – Langsamer!“ warnte er. „Nur keine Hast! Und – geh’ schwerfälliger. Du bist Seemann! – Ich sah einen Kerl am Ende der Brücke, der halb im Gebüsch stand und sich blitzschnell duckte. Ein Kerl mit einem rötlichen, verwilderten Bart. Ob etwa das Schloß von irgend welchen Leuten bewacht wird?! Ob man uns nachgeschlichen ist? Ob man den Motorkutter vom Lande aus mit Ferngläsern beobachtet hat?! – Du, die Sache scheint mir wieder in das Stadium der Gefahr gekommen zu sein! Wollen dem Rotbart zunächst mal ein Schnippchen schlagen! Lagern wir uns dort drüben am Waldrande an einer Stelle, wo man uns leicht belauschen kann. Wenn der Kerl ein Spion ist, wird er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Horcher zu spielen –“ –

Als wir die Heide hinter uns hatten, bogen wir vom Wege ab und legten uns am Waldrande hinter einen Busch. Harald pfiff ein Lied. Hin und wieder sprachen wir auf Platt einige Worte.

Den Rotbart hatte ich nun gleichfalls bemerkt. Er blieb auf dem Wege und verschwand im Walde. Es war ein buckliger Mensch der ein Bündel in der Hand trug. Er war ziemlich ärmlich gekleidet und hatte eine graue Schlappmütze fast bis ins Genick gezogen.

Eine Viertelstunde verging so. Harald änderte plötzlich sein Benehmen, sagte lachend: „Unsinn! Hier brauchen wir unsere Rolle nicht so streng durchzuführen. Sprechen wohl getrost hochdeutsch. Unser Platt ist ohnedies sehr mangelhaft – genau so mangelhaft wie die Ausführung der Pläne des Herrn Kapitäns de Long! So ein Narr! Mich täuscht man doch nicht so leicht –“

Dann folgte wie ein Hauch: „Los! Ich links um die Büsche herum, Du rechts! Vorwärts!“

Wir schnellten empor.

Aber der Rotbart, der uns tatsächlich belauscht hatte, war ein wahrer Dauerläufer. Er riß vor uns mit einer Geschwindigkeit aus, die für meine Beine zu groß gewesen wäre. Selbst Harald holte ihn erst nach zweihundert Meter ein, bekam ihn zu packen und – warf sich rasch zur Seite.

Der Bursche hatte mit einem Messer nach ihm gestoßen.

Harald sprang sofort wieder auf ihn zu.

Ein Faustschlag – und das Messer flog dem Kerl aus der Hand.

Dann packte ich von hinten seinen linken Arm, schleuderte ihn zu Boden.

Harst kniete auf dem Liegenden, hielt ihm die Clementpistole an die Stirn.

„Freundchen, wie wär’s, wenn wir mal den falschen Bart entfernten!“ meinte er.

Ich griff zu, nahm dem Burschen auch die Mütze ab.

Reiches dunkles Haar quoll unter der Mütze hervor.

„Ein Weib!“ rief ich erstaunt.

Harst gab die Frau frei.

„Stehen Sie auf!“ befahl er. „Wer sind Sie?“

Das Weib musterte Harst mit feindseligen Blicken.

„Binde ihr die Hände auf dem Rücken zusammen – rasch!“ fügte Harald hinzu.

Die Frau wehrte sich nicht.

„Wer sind Sie?“ wiederholte Harst.

Keine Antwort.

Da begann er ihre Taschen zu durchsuchen. Er fand bei ihr nur einen kleinen Damenrevolver, der geladen und entsichert war.

Wir nahmen die Frau nun in die Mitte und schritten mit ihr quer durch den Wald der Blockhütte zu.

Sie war noch jung, diese Fremde. Ich schätzte auf etwa 25 Jahre. Der Buckel war künstlich und durch den Sturz verrutscht. Ihre Gesichtszüge hätte man interessant nennen können, wenn nicht in den Augen so viel Tücke, Hinterlist und sinnlose Wut gelodert hätten.

Sie zitterte jetzt vor ohnmächtigem Grimm wie im Fieberfrost. Harst versuchte, sie zum Reden zu bringen. Es gelang nicht.

Nach einigem Suchen fanden wir die Lichtung und die Waldwärterhütte. Wir führten unsere Gefangene hinein, und Harst band sie mit einem Streifen Stoff an einen der Wandbalken fest.

„Sie verdienen es nicht anders,“ meinte er. „Wollen Sie jetzt sprechen? Daß Sie Maud Bennington heißen, haben Sie schon verraten[10]. Ihrer Aussprache des Deutschen nach sind Sie Engländerin oder Amerikanerin. – Geben Sie nur ruhig zu, daß Sie mit zu de Longs Bande gehören.“

„Nun ja!“ stieß sie hervor. „Es ist so. Was können Sie mir groß anhaben?! – Nichts – nichts!“

„Hm – glauben Sie wirklich?! – Wer ist de Long? Wer verbirgt sich hinter diesem Namen?“

Sie schwieg wieder. Alles Fragen war umsonst.

Dann hörten wir das Rattern eines Wagens.

Es waren die beiden Möllers, Vater und Sohn, mit unseren Koffern.

Harald ging hinaus und sprach mit ihnen. Dann kamen sie alle drei in die Hütte.

Die Möllers schauten sich das Weib an, schüttelten die Köpfe.

„Wir haben sie noch nie gesehen,“ erklärten sie. –

Harst und ich begannen in einem Winkel der Hütte uns umzukleiden. Unser Requisitenkoffer enthielt ja alles Nötige. Nach einer Viertelstunde waren wir zwei würdige, blondbärtige, bescheiden angezogene Kriminalbeamte geworden.

Die beiden Möllers sollten das Weib bis zum Anbruch der Dunkelheit hier bewachen und sie dann unauffällig nach Schloß Racklenberg bringen, wo sie streng bewacht werden sollte.

Wir verabschiedeten uns von Vater und Sohn. Harst warnte sie noch vor dem Weibe. – „Wenn Sie sie entschlüpfen lassen, kann uns, Schraut und mir, abermals etwas Ähnliches zustoßen wie das Abenteuer in der Jolle! Also Vorsicht!“

 

4. Kapitel.

Wir schritten mit unseren Reisetaschen davon. Wir mußten uns beeilen, wenn wir noch den Zug in Brunshaupten, dem Nachbarbadeort von Arendsee, erreichen wollten, damit wir mit der Bahn in Arendsee einträfen.

Harald war ungenießbar.

„Laß doch all die Fragen!“ meinte er gereizt. „Die Geschichte müßte Dir genau so klar sein wie mir. Es gibt nur eine Lösung. Das Weib war die Bestätigung, daß ich jetzt auf der richtigen Fährte bin.“

So unterblieb denn jede Unterhaltung.

Wir gelangten gerade noch zur rechten Zeit auf den Brunshauptener Bahnhof, stiegen in den Zug, stiegen fünf Minuten später in Arendsee wieder aus und schauten uns wie suchend um.

Merten, der Gemeindevorsteher, benahm sich recht gewandt. Er tat so, als wären wir ihm fremd, begrüßte uns zögernd und gab uns dann die Hand.

So trafen die Rostocker Beamten Schröder und Halbing in Arendsee ein. –

Merten brachte uns zunächst nach seiner Wohnung. Kaum hatten wir die nette Villa betreten, als Harst schon erklärte:

„Herr Merten, da war ein Mann auf dem Bahnhof, der Sie beobachtete, aber sich nicht sehen lassen wollte, – ein Mensch mit blondem Schnurrbart, recht elegant angezogen, ziemlich groß. Schauen Sie mal hinter den Gardinen hervor zum Fenster vorsichtig hinaus. Dort links kommt der Herr die Straße entlang.“

„Kenne ihn nicht!“ meinte der alte Kapitän, der nun hier den Ortsvorsteher spielte.

Harald blickte dem Fremden nach.

„Das ist der dritte,“ murmelte er leise. Und fügte lauter hinzu: „Wo befinden sich die Leichen der beiden Matrosen?“

„Im Keller des Gemeindehauses. – Zunächst müssen Sie aber mal einen Imbiß einnehmen, meine Herren. – Bitte, hier ist das Eßzimmer.“

Es war dunkel geworden, als wir nach einer reichlichen Mahlzeit von Tisch uns erhoben.

Wir gingen nach dem Gemeindehause hinüber. Merten hatte Doktor Schmöcker dorthin bestellt.

Die Leichen lagen auf einem langen breiten Holztisch. Wir hatten zwei Laternen mitgenommen.

Harald schaute jedoch zuerst zu den beiden Kellerfenstern empor und fragte:

„Jene Fenster liegen nach dem Garten zu, nicht wahr?“

„So ist es,“ nickte Merten.

„Dann gehen Sie bitte draußen vor den Fenstern auf und ab, Herr Merten, und passen Sie auf, ob nicht der elegante Blonde in der Nähe ist. Ich glaube, er wird in der Nähe sein.“

Merten verließ den Keller wieder.

Harst besichtigte nun die Toten; besonders die Augen interessierten ihn.

„Herr Doktor,“ sagte er zu Schmöcker, „fällt Ihnen nicht auf, wie klein die Pupillen sind?“

„Hm – Sie haben recht, Herr Harst –“

„Es gibt Herzgifte, die gerade die Pupillen krankhaft verengern, Herr Doktor. Diese Leute sind niemals eines natürlichen Todes gestorben.“

„Sie meinen, das Gift sei ihnen[11] schon auf der Kuff beigebracht worden?“

„Vielleicht. – Ich habe genug gesehen.“

Wir gingen wieder nach oben.

„Nun, Herr Merten?“ fragte Harst den Gemeindevorsteher, der rasch auf uns zukam.

„Es war wirklich ein Kerl an dem einen Kellerfenster, Herr Harst. Aber nicht der Blonde, Elegante, sondern ein ziemlich abgerissen aussehender Mensch mit dunklem Bart.“

„Na also!“ sagte Harst nur. Und setzte hinzu: „Wir danken Ihnen nun, Herr Doktor. Sie, Herr Merten, fahren uns nun in Ihrem Einspänner nach der Stelle hin, wo gestern die Kuff lag.“ –

Als wir vor Mertens Villa in den Wagen stiegen, steckte Harst sich erst noch sehr umständlich eine Zigarre an.

Ich merkte, daß er lediglich nach dem Fremden Ausschau halten wollte. Er hatte Merten und mir inzwischen schon gesagt, daß der Blonde und der Abgerissene ein und dieselbe Person seien.

Wir fuhren erst im flotten Trab, dann am Dünenwald entlang des tiefen Sandes wegen im Schritt.

„Ich werde dort vor uns hinter jener Wegbiegung abspringen,“ erklärte Harald plötzlich. „Fahren Sie ruhig weiter und halten Sie erst hinter der nächsten Biegung. Ich wette, der Kerl verfolgt uns. Ich werde ihn fangen. Es ist jetzt vor Mondaufgang noch so dunkel, daß der Mensch unmöglich merken kann, wenn –“

Er schwieg, fügte dann hastig hinzu: „Der Kerl ist rechts neben uns im Walde. Wir müssen die Sache anders anfangen. Gibt es hier hohe Luftwurzeln am Wege, wo Sie den Wagen umwerfen können, Herr Merten? – Der Mensch soll denken, der Unfall sei von selbst gekommen. Sobald der Wagen kippt, rolle ich mich hinter einen Strauch. Und Du, Schraut, brüllst dann recht laut: „Er hat sich verletzt!“ und kniest neben dem Wagen –“

„Machen wir – machen wir!“ lachte Merten behaglich. „Nichts leichter, als den Wagen umzuschmeißen!“

Und es wurde gemacht.

Ich schrie wie vor Schreck auf, als das leichte Wägelchen plötzlich rechts ganz hoch stand und dann nach links kippte.

Die Stelle eignete sich vorzüglich. Rechts am Waldrande war ein kleiner sandiger Abhang.

Harald verschwand blitzschnell.

Und kaum drei Minuten später ertönte aus dem Dünenwalde ein gellender Angstschrei.

Dann kam Harst und schleppte den bewußtlosen Spion hinter sich drein. Er hatte ihn durch einen Boxhieb überraschend zu Boden gestreckt.

Wir beleuchteten den Mann mit unseren Taschenlampen.

„Aha – er trägt zwei Anzüge übereinander,“ meinte Harst.

Er löste ihm den Bart vom Gesicht. Der Mensch war völlig bartlos, hatte ein mageres Gesicht mit kleinen Augen und eine kleine eingedrückte Nase.

„Kennen Sie ihn, Herr Merten?“ fragte Harald.

„Nein. Bestimmt nicht!“

„Oh – man soll so etwas nie behaupten, wenn man Verbrecher vor sich hat, Herr Merten, die jeden Tag anders aussehen können.“

„Es ist entweder de Long oder der Steuermann Priscart,“ erklärte ich. „Einer von den beiden muß es sein.“

„Oder – keiner von beiden, mein Alter!“ fügte Harst hinzu. „Binden wir ihn. Er wird sehr bald zu sich kommen.“

Er befühlte ihm die Taschen.

Und – holte einen geladenen, entsicherten Revolver, ein Dolchmesser und ein Fläschchen mit Glasstöpsel hervor. Das Fläschchen war gefüllt.

Als der Mann gefesselt war, gab Harst die drei Gegenstände dem alten Merten und meinte: „Sie fahren jetzt mit dem Gefangenen zurück. Bewachen Sie ihn gut. Es ist ein überaus gefährlicher Bursche. Lassen Sie sich auf kein Gespräch mit ihm ein!“ –

Merten versprach, recht vorsichtig zu sein.

Dann gingen wir zu Fuß weiter.

„Nun nur noch einer übrig,“ sagte Harald. „Und der ist fraglos daheim geblieben.“

Dieser letzte Satz war wie ein Blitzstrahl, der das Dunkel dieses Problems erleuchtete.

„Pronski!“ rief ich.

„Wer sonst, mein Alter, wer sonst?! – Der, den Merten jetzt gefesselt im Wagen hat, ist der angebliche Knecht Pronskis. Und das Weib ist die angebliche Frau des Knechtes. Alle drei sprechen gebrochen Deutsch. Alle drei sind Ausländer und wohnen hier unter falschen Namen als Deutsche. Diese drei Leute, die das alte Gutshaus wie eine Festung verrammelt haben und niemand hineinlassen, die jeden Verkehr meiden und wie die Einsiedler leben, haben, sagte ich mir sofort, Feinde zu fürchten, vor denen sie hierher geflüchtet sind. Und diese Feinde haben die drei schließlich doch gefunden, kauften die Kuff, fuhren in die Ostsee, kreuzten hier vor der mecklenburgischen Küste und werden nachts das alte Gutshaus umschlichen haben, erkannten jedoch, daß die drei sich nicht überrumpeln ließen, griffen schließlich zu einer List und – setzten die Kuff gegenüber dem Gutshause auf Strand, nachdem sie auf der Kuff die beiden anscheinend halb toten Matrosen zurückgelassen hatten, die den dreien nicht bekannt waren.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Wie einfach ist das alles!“

„Ja – sehr einfach. – Die Matrosen wurden denn auch von dem habgierigen Pronski aufgenommen. Alles klappte. Nur – Pronski hat nachher den feinen Plan de Longs durchschaut und gemerkt, daß die Matrosen ihn und seine Genossen überwältigen und de Long und Priscart ins Haus lassen sollten –“

„Natürlich ist es so!“ ergänzte ich. „Pronski ist Chemiker und hat die beiden vergiftet.“

„Ja – und Pronski und der „Knecht“, und nicht de Long und Priscart haben uns auf der Kuff niedergeschlagen. – Weshalb wohl! Weshalb wollten sie uns ersäufen?“

Ich überlegte.

„Weil hier in der Gegend, lieber Alter, in letzter Zeit unheimlich viel gestohlen worden ist und weil Pronski und Konsorten sehr wahrscheinlich die Diebe sind –“

„Ah – so muß es sein!“

„Pronski fürchtete uns. Wir sollten verschwinden. Vielleicht auch deshalb, weil er die List de Longs längst durchschaut hatte und freie Hand für ein paar – Morde haben wollte. Dabei hätten wir ihm gefährlich werden können.“

„Glänzend!“ lobte ich.

„Spare Dir den Applaus. – Wir werden noch viel Arbeit vorfinden. – Wer ist de Long? Weshalb will er Pronski an den Kragen? Was hat Pronski mal begangen, daß de Long mit so zäher Geduld ihn verfolgt ohne Rücksicht auf Geldkosten? – All das bleibt noch aufzuklären.“

Wir bogen jetzt nach links ab. Dort ragte über die Obstbäume eines großen Gartens das plumpe Ziegeldach des Gutshauses von Dramgarten hinweg.

Wir umrundeten das düstere Gebäude. Oben im ersten Stock waren zwei Fenster erleuchtet.

Harst schlich nach den Wirtschaftsgebäuden hinüber und kehrte mit einer langen Fahnenstange zurück, die wir vorn an die Hausmauer lehnten. Die erleuchteten Fenster lagen nach hinten heraus.

Harald kletterte empor. Ich hörte ein leises Splittern. Er hatte eine Scheibe eingedrückt.

Dann ließ er die seidene Strickleiter herab, die mit zum Inhalt unseres Requisitenkoffers gehörte und die Harst sich um den Leib gewickelt gehabt hatte.

Ich trug die Fahnenstange ins Gebüsch und stieg nun an der Strickleiter hoch.

Haralds Taschenlampe enthüllte ein völlig leeres Zimmer mit zwei Türen. Sie waren verschlossen. Die Schlüssel steckten von außen.

Die eine Tür mußte in den Flur münden. Wir sägten die Riegel mit der Stahlsäge durch. Ich hielt die Säge stets unter Öl. Sie arbeitete ganz geräuschlos.

Dann ölte ich auch die Türangeln. Nun öffnete Harst die Tür mit einem Ruck. Die Angeln kreischten nicht.

Vor uns tiefstes Dunkel.

„Stiefel aus!“ flüsterte Harst.

Wir huschten auf Strümpfen den Flur entlang. Nur Harst hatte seine Lampe eingeschaltet.

Dann hörten wir linker Hand hinter einer Flügeltür erregte Stimmen.

„Zurück!“ hauchte Harst.

Wir glitten zur Tür des Nebenzimmers. Harst beleuchtete das Schloß, drückte den Griff herab.

Sie war offen.

Wir traten ein, schlossen hinter uns ab.

In diesem Zimmer standen ein Bett und andere Schlafzimmermöbel. Hier hauste fraglos Maud Bennington. An einem Schrank hing ein[12] Morgenrock, und der Waschtisch war mit Flaschen und Fläschchen dicht bestellt.

Durch die Tür zum Nebenraum vernahmen wir noch immer die erregten Stimmen.

Dann – mir jagte ein Eisesschauer über den Leib – dann nebenan ein gräßlicher Schrei.

„Mörder –! Ihr habt mir das Gift aufgezwungen!“ kreischte jemand in englischer Sprache.

Harald versuchte, ob die Verbindungstür sich öffnen ließe. Aber sie war verschlossen.

Wir mußten erst ein Stück der Türleiste herausschneiden, ehe wir an die Riegel herankonnten.

Drüben ging es noch immer sehr lebhaft zu.

Unserer Stahlsäge fraß weiter und weiter.

Ich schwitzte vor Aufregung.

Dann – nebenan ein lauter Knall.

Ein höhnisches Gelächter folgte – wieder englische Worte:

„Seht Ihr – so weiß Tom Bennington sich zu schützen!“

„Fertig!“ flüsterte Harst. „Raus mit unseren Pistolen. Jetzt gilt’s! Und – nicht lange zögern mit Abdrücken, mein Alter!“

Er riß die Tür auf.

Das große Zimmer war hell erleuchtet.

In einem Sessel links saß Adam von Pronski.

Und rechts von ihm bewegte sich etwas auf dem Fußboden unter einer großen Decke, die an einem Eisenreifen befestigt zu sein schien.

„Hände hoch!“ brülle Harst. „Regen Sie sich nicht. Wir –“

Da – er hatte mich plötzlich am Arm gepackt, sprang vorwärts, sprang Pronski an die Kehle und schlug ihm den Pistolenkolben gegen die Schläfe.

Hinter uns knallte es.

Ein eiserner Rahmen war von der Decke herabgefallen – ein mit einem Stoffsack bespannter Eisenrahmen.

„Da – der Hebel der Falle!“ rief Harst keuchend und deutete auf den Fußboden, wo eine Leiste aus den Dielen hervorragte. „Ich sah, daß Tom Bennington mit dem rechten Fuß auf die Leiste trat. – Rasch – befreien wir die beiden dort aus der anderen Falle.“

Unter dem Stoffsack des Reifens, der etwa drei Meter Durchmesser hatte, regte sich nichts mehr.

Dem Sack entstieg ein scharfer, widerlicher Geruch.

„Nicht atmen!“ warnte Harst.

Wir hoben den Reifen an, zerrten die beiden Männer, die betäubt dort lagen, hervor und schleppten sie bis zum mittleren der drei Fenster.

Harst öffnete es. Dann banden wir Tom Bennington in dem Sessel fest.

 

5. Kapitel.

Nun erst konnten wir uns hier in Ruhe umschauen.

Der große Raum war sehr dürftig möbliert.

„Absicht!“ sagte Harald und deutete auf den Lehnsessel, der als einziges Möbelstück nicht an der Wand stand. „Die Hauptfläche des Zimmers sollte frei bleiben für die vier Stoffsäcke.“ – Seine Hand bewegte ich nach der Decke hin, wo noch zwei weitere dieser Menschenfallen eng zusammengefaltet hingen, deren Zweck man kaum erraten konnte, wenn man sie nicht in Tätigkeit gesehen hatte. – „Du erkennst abermals, mein Alter, welche Angst dieser Tom Bennington vor de Long gehabt haben muß. Es dürfte sich empfehlen, dieses Haus recht schnell zu verlassen. Ich rechne mit noch mehr „Sicherheitsmaßregeln“ ähnlicher Art. Und – man kann nie wissen, ob nicht –“

Er schwieg. Wir starrten uns an; ich war etwas blaß geworden; wir hatten über uns einen leisen Knall wie das Zufallen einer Tür gehört.

„Warte – ich hole die Strickleiter,“ flüsterte Harald.

Er eilte hinaus. Ich stand atemlos lauschend da. Das Bewußtsein, in der entsicherten Clementpistole neun Schuß bereit zu haben, gab mir ein Gefühl der Zuversicht, das jedoch nicht allzu stark war.

Das Zimmer hatte vier elektrische Wandleuchter mit je drei Birnen. Diese zwölf Birnen brannten.

Dann aber erloschen sie mit einem Schlage.

Ein Kälteschauer lief mir über den Rücken hin. Zur Vorsicht trat ich an das offene Fenster. Draußen war der Mond am Himmel erschienen.

Dieses alte Gebäude schien mir geradezu von Geheimnissen erfüllt zu sein – „Wenn wir nur erst wieder im Freien wären,“ dachte ich, und alle meine Sinne waren bis aufs äußerste gespannt, um irgend eine Gefahr vorzeitig zu entdecken. –

„Harald müßte längst wieder zurück sein!“ fiel mir dann ein. Wo blieb er nur?!

Im Hause kein Laut. Und da zu meinen Füßen lagen die beiden bewußtlosen Männer; dort saß Tom Bennington.

Bennington war’s doch gewesen, der vorhin in höchster Todesangst „Mörder!“ gekreischt hatte. Und – Gift sollte ihm aufgezwungen worden sein?! Wenn er nun starb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben?!

Dann – fuhr ich herum. Hinter mir ein leises Poltern. Ich sah, wie eine Stange jetzt über das Fensterbrett schräg ins Zimmer ragte: die Fahnenstange!

Ich beugte mich hinaus.

Harst kletterte rasch empor.

„Die Strickleiter ist verschwunden,“ flüsterte er. „Ein ganz verteufelter Kasten von Haus! Die Tür jenes Vorderzimmers wurde hinter mir geschlossen und ließ sich nicht mehr öffnen.“ – Er hatte sich an dem Fensterkreuz festgeklammert. „Reiße die Vorhänge herab, zerschneide sie in Streifen. Wir müssen de Long und Priscart – ich nehme an, daß sie’s sind! – hinablassen. Schnell! Ich werde wachsam sein –“

Ich tat’s. Ich zitterte fast vor Aufregung. Es war ja klar: es mußten sich noch mehr Leute im Hause befinden! –

Harald hielt in der Linken die eingeschaltete Taschenlampe und leuchtete mir. Er hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt.

Die Eisenstangen der Vorhänge polterten herab. Es waren gelbe, feste Sonnenstores. Ich begann den einen in Streifen zu reißen.

Da – das elektrische Licht flammte wieder auf.

Dann irgendwoher eine helle Stimme: die Maud Benningtons:

„Herr Harst. Sie haben das Spiel verloren! Wir waren auch auf das Letzte vorbereitet! Ich halte den elektrischen Kontakt in der Hand, dessen Drähte unten im Keller in der Kiste mit Dynamit enden! Ein Druck, und das Gutshaus von Dramgarten ist nur noch ein Trümmerhaufen.“

„Oh – das glaube ich Ihnen gern!“ rief Harald zurück. „Sie wollen Bedingungen stellen, nicht wahr? Sprechen Sie!“

An der linken Schmalwand stand ein mächtiger Schrank, dessen Flügeltür sich nun öffnete.

Maud Bennington trat heraus. In der Rechten hielt sie eine elektrische Birne, von der zwei grün besponnene Drähte in den Schrank liefen.

Sie blieb vor dem Schranke stehen. Sie trug noch den Männeranzug, hatte wieder die Mütze auf, die ihr reiches Haar verhüllte.

„Stecken Sie Ihre Pistolen nur weg, meine Herren!“ erklärte sie höhnisch. „Der elektrische Strom ist schneller als eine Kugel! – Wenn Sie auf meine Bedingungen nicht eingehen, sind wir alle geliefert! Alle! Auch die beiden da!“ – Ein Blick wildester Rachgier traf die beiden Bewußtlosen.

Harald saß auf dem Fensterbrett und hatte die Beine ins Zimmer gehängt.

Die Schranktür war offen geblieben. Mir schien es, als ob im Hintergrunde des breiten Möbels sich etwas bewegte. Maud Bennington versperrte mir jedoch die Aussicht. Nur etwas sah ich nun genau: eine Hand, die in den Fingern eine kleine Schere hielt und die Schere mehrmals öffnete und schloß. Dann verschwand die Hand.

Inzwischen hatte Harst erwidert:

„Wir werden nicht schießen. Bevor ich über die Annahme dieser Bedingungen, deren Inhalt ich mir denken kann, spreche, möchte ich wissen, weshalb diese Männer da,“ – er zeigte auf de Long und Priscart – „Ihnen nachstellen –“

„Sie wollen also auf die Bedingungen eingehen?“ fragte Maud hastig. Man merkte, wie viel ihr hieran lag.

„Ja, ich gehe darauf ein, falls die elektrischen Drähte wirklich in den Keller und in eine Dynamitkiste führen.“

„Es ist so! Ich versichere es Ihnen, Herr Harst.“

„Oh – die Leitung kann ja unterbrochen sein –“

„Ausgeschlossen! Wir gehen in allem sicher!“

„Gut – abgemacht. Falls die Leitung intakt ist, nehme ich also die Bedingungen an, vorausgesetzt, daß Sie mir vorher die volle Wahrheit sagen.“

„Ich kenne Sie, Herr Harst. Sie werden sich an diese Zusage halten. Ich verlange also, daß Sie meinen Vater Tom und mich entfliehen lassen und uns 24 Stunden Vorsprung gewähren.“

„Akzeptiert!“ Das klang etwas ironisch. „24 Stunden Vorsprung sind nicht gerade viel!“

„Oh – sie genügen uns! – Was wollen Sie wissen, Herr Harst?“

„Alles –“

„Ich will mich kurz fassen. – Sie haben mit Vincent Saalborg bereits manchen Strauß ausgefochten, Herr Harst. Saalborg war in Amerika der Führer einer weitverzweigten Bande –“

„Das ist mir bekannt –“

„Wir, mein Vater, Jacques Kolmar, der hier als mein Gatte galt, ich und die beiden dort, die in Wahrheit Eugen Illberg und Charles Reppard heißen, gehörten mit zu der Bande. Vor einem Jahr stahlen wir fünf, nachdem Saalborg den Feldzugsplan entworfen hatte, die Juwelen der Gattin des Chikagoer Milliardärs Willburne im Luxuszuge Chikago–San Franzisko.“

„Ihre vier Genossen sind von Beruf Seeleute?“

„Alles sind sie. Es gibt nichts, was sie nicht verstehen. Saalborg konnte nur vielseitige Leute brauchen.“

„Das Weitere kann ich mir selbst zusammenreimen, Miß Bennington. Sie fünf flohen mit den Juwelen, anstatt den Raub mit Saalborg zu teilen. Dann –“

„Verzeihen Sie. Der Sachverhalt ist doch etwas verwickelter, als Sie glauben, Herr Harst. – Ja, wir flohen. In New Orleans aber begingen Illberg und Reppard eine ungeheure Schurkerei: sie denunzierten uns bei der Polizei und entwichen – mit den Juwelen. Wir drei wären beinahe verhaftet worden. Mein Vater rettete uns. Wir fanden Illbergs und Reppards Spur und nahmen ihnen verkleidet die Juwelen wieder ab.“

„Dann ließen Sie drei sich hier nieder und verübten all die Einbrüche, die Ihnen reiche Beute brachten –“

„Ja. Mein Vater litt an krankhafter Geldgier. Er duldete auch nicht, daß ein Teil der Juwelen veräußert wurde.“

„Wann merkte Ihr Vater, daß die beiden angeblich so übel zugerichteten Matrosen Verbündete Illbergs und Reppards waren?“

„Sehr bald. Er war dabei, als der Arzt die Leute untersuchte. Die Wunden waren ja so leicht, daß die Bewußtlosigkeit Argwohn erregen mußte.“

„Ihr Vater hat die beiden dann vergiftet?“

„Nicht absichtlich. Er gab ihnen ein Gift, durch das sie kränker werden sollten, damit man sie in ein Krankenhaus schaffte und wir sie aus dem Hause bekämen.“

„Inzwischen hatten Ihr Vater und Jacques Kolmar mich beseitigen wollen –“

Maud Bennington schwieg. Sie gab dies also zu.

„Wissen Sie auch,“ fuhr Harald fort, „daß Vincent Saalborg in Arendsee weilt?“

Das Weib verfärbte sich.

Harald lächelte fein. „So ganz besiegt bin ich doch nicht. Es tut mir leid. Ich kann auf Ihre Bedingungen nicht eingehen, weil – die Leitung nicht intakt ist!“

Maud stierte Harst fassungslos an.

„Es ist Tatsache – sie ist zerschnitten worden, Maud Bennington,“ nickte Harald und sprang vom Fensterbrett auf die Füße.

„Bleiben Sie stehen!“ drohte sie kreischend. „Ich drücke sonst hier auf den Knopf und wir alle –“

„Drücken Sie nur – drücken Sie nur!“

Er ging auf sie zu.

Ihr Gesicht wurde noch fahler.

„Ich sprenge uns in die Luft!“ schrie sie gellend.

Ihr Daumen drückte den Knopf herunter.

Nichts geschah – nichts!

Sie ließ den Knopf fallen, sprang hinter den Lehnsessel.

Im Moment hatte sie ein kleines Fläschchen an den Lippen.

Sie warf es Harst vor die Füße:

„Da – es war Zyankali!“

Ich hob es rasch auf, roch. Ja – der Bittermandelgeruch sagte genug! –

Harst schüttelte traurig den Kopf. „Maud Bennington, weshalb warfen Sie das Leben so leicht von sich?! Sie hätten später ein neues Leben anfangen können!“

„Wer – hat – die Drähte durchschnitten?“ fragte sie bereits mit unsicherer Zunge.

„Saalborg! Er erschien dort im Schrank und zeigte mir eine Schere –“

„Dann – hat – er – die Juwelen – geholt. Ich hatte – die kleine Tasche – im Garten – jetzt – versteckt. Er – wird mich beobachtet – haben –“

Sie schwankte und glitt an dem Sessel zu Boden.

Ihr Kopf ruhte auf den Knien Ihres Vaters. Ihre Augen schlossen sich. –

„Binden wir Illberg und Reppard,“ flüsterte Harst. „Maud ist in wenigen Sekunden eine Leiche. Ich will hinaus aus diesem Hause. Die beiden werden sehr bald wieder zu sich kommen –“

Maud regte sich nicht mehr.

Wir kletterten zum Fenster hinaus und an der Fahnenstange abwärts.

Als wir unten im Garten standen, holte Harald tief Luft.

„Gräßlich!“ meinte er. „Maud war noch jung. Vielleicht wäre sie zu bessern gewesen! – Komm’, wir müssen Merten holen, damit er die drei Lebenden verhaftet. Nun wissen wir auch, weshalb Saalborg hier in diese Gegend kam: er hat die ungetreuen Mitglieder seiner Bande und die Juwelen gesucht! Und – er hat mich wieder geschlagen! Er ist mit den Juwelen entflohen, nachdem er uns – Was bedeutet das? – Männer mit Laternen und Hunden?! – Ah – die beiden Möllers! Sie sind hinter Maud her! Und Merten ist bei ihnen! – Hallo – hierher!“

Die drei Männer begrüßten uns erregt.

„Kehren wir um,“ meinte Harst. „Sie werden eine Tote und drei Bewußtlose vorfinden. Das Geheimnis der Kuff ist gelöst. Diesen Fall kann ich leider nicht als Sieg notieren. Vincent Saalborg wird unterwegs nach dem Motorkutter sein und mit dem Kutter entfliehen.“

Die Haustür stand weit offen. Als wir das Zimmer oben betraten, war Maud verschwunden. Zu den Füßen Tom Benningtons, der nicht bewußtlos, sondern wirklich durch Gift verschieden war, lag ein Zettel:

„Nicht alles ist Zyankali, was nach Bittermandelöl riecht! – Sie sollen mich kennenlernen! Maud.“

Das Weib hatte uns getäuscht. Die Hunde nahmen die Fährte nicht an. Maud mußte die Schuhsohlen mit irgend etwas bestrichen haben, wodurch die Witterung zerstört wurde. –

Als wir nach Mitternacht nach Arendsee zurückkehrten, war Jacques Kolmar bereits durch Maud befreit worden. Sie hatte mit größter Keckheit den Gemeindediener geweckt und sich die Arrestzelle aufschließen lassen, indem sie behauptete, sie wäre einer der Rostocker Kriminalbeamten. Der Gemeindediener lag gefesselt in der Zelle. –

Illberg und Reppard wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Tom Bennington war von ihnen, wie sie zugaben, gezwungen worden, Gift zu trinken. – Die holländische Kuff wurde in Warnemünde versteigert. Die Bemühungen der Polizei, die drei Entflohenen, Saalborg, Maud und Kolmar, zu verhaften, blieben erfolglos.

Etwas mehr Glück hatten Harst und ich in dieser Beziehung: Das will ich im nächsten Band schildern, im „Chinesischen Messerwerfer“.

 

Nächster Band:

Der chinesische Messerwerfer.

 

Druck: P. Lehmann G. m b. H. Berlin

 

 

Verlagswerbung:

Gelbsternbücher

 

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16:
17:
18:
19:
20:

Die Lahore-Vase.
Der hüpfende Teufel.
Der Tempel der Liebe.
Das Haus am Mühlengraben.
Der Mutter Name.
Komm an mein Herz.
Eine Geldheirat.
Die Brettldiva.
Rittergut Tressin.
Ich liebe Dich.
Das Gift des Vergessens.
Im Schatten der Schuld.
Um Leben und Tod.
Der Universal-Erbe.
Die Stimme des Blutes.
Das Haus des Hasses.
Der grüne Schlüssel.
Der Mann im Sessel.
Der Fall Ahrweiler.
Die blaue Königin.

Preis pro Band: 1M., ab Band 17: 50 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Doring“.
  2. In der Vorlage steht: „verhaftet“. Das ergibt so keinen Sinn. Es muß richtig „verheiratet“ heißen. Wort dementsprechend geändert.
  3. In der Vorlage steht: „vier“. Hier irrt der Dichter: tatsächlich sind es immer noch fünf Personen: Harst und Schraut sowie die Gräfin mit ihren beiden Nichten. Daher geändert auf „fünf“.
  4. In der Vorlage steht: „beiden“. Es sind aber immer noch drei Damen. Daher geändert auf „drei“.
  5. In der Vorlage steht: „beiden“. Auch hier sind es immer noch drei Damen. Daher geändert auf „drei“.
  6. In der Vorlage fehlt eine Zeile und eine Silbe eines Wortes in der vorhergehenden Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  7. Fehlendes Wort „haben“ ergänzt.
  8. In der Vorlage steht: „ich“.
  9. In der Vorlage steht: „seine“.
  10. Hier hat der Autor (oder der Setzer?) irgendwas unterschlagen. Wo und wann soll die Dame ihren Namen verraten haben?
  11. In der Vorlage steht: „ihm“.
  12. In der Vorlage steht: „en“.