Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 65:
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Am 26. September vormittags neun Uhr fuhr vor der Harstschen Villa in Berlin-Schmargendorf ein großes Reiseauto vor, dem eine Dame in Reisemantel und Autobrille entstieg.
Harst und ich standen gerade am Fenster von Haralds Arbeitszimmer.
„Ein amerikanischer Chosbrey-Wagen,“ meinte Harald in Bezug auf das Auto. „Acht Zylinder, aller Komfort, Preis etwa 80 000 Dollar. Die Dame will natürlich zu uns. Sie hat jetzt die Autobrille abgenommen. Die übrigen drei Personen –“ – Er schwieg einen Moment, fuhr dann fort: „Weißt Du, wer die Dame ist? Vor vier Jahren konntest Du ihr Bild in allen illustrierten Blättern finden – auf dem Drahtseil – in Balltoilette. Es ist die ehemalige Seiltänzerin Asta Astara, jetzt Gattin des Chikagoer Milliardärs Willburne –“
„Ah – dieselbe, der durch die Bande Vincent Saalborgs vor einem Jahr sämtliche Juwelen gestohlen wurden.“
„Ganz recht. – Sie kommt auf das Haus zu. Treten wir vom Fenster zurück.“ –
Gleich darauf saß Frau Asta Willburne uns gegenüber.
„Herr Harst, ich halte mich seit sechs Wochen in Europa auf,“ begann sie in tadellosem Deutsch. „Vor drei Tagen fand ich in einer Amsterdamer Zeitung einen Bericht über Ihr Abenteuer in Arendsee. Mich interessierte daran lediglich der Schluß, wo von meinen Juwelen und davon die Rede war, daß der Hochstapler Saalborg seinen einstigen Verbündeten die Juwelen wieder abgenommen hat und daß die beiden Diebe Jacques Kolmar und Maud Bennington gleichfalls entflohen sind.“
Ich muß noch ergänzend einfügen, daß Frau Willburne sich offenbar in großer Aufregung befand, die sie jedoch recht geschickt zu verbergen wußte.
„Am Abend desselben Tages erhielt ich dann folgenden Brief,“ fügte sie nach einer Pause hinzu. „Hier ist das Schreiben.“ – Sie las es vor:
Amsterdam, den 22. Sept 19…
Hotel Miramare.
Gnädige Frau!
Sie gestatten, daß ich als jetziger unrechtmäßiger Besitzer Ihrer Juwelen Ihnen den Vorschlag mache, diese Juwelen gegen eine Barsumme von einer Million Dollar einzulösen. Edelsteine sind auf dem Weltmarkt jetzt im Preise so ungeheuer gestiegen, daß eine Million nicht zu viel ist. Sollten Sie meinen Vorschlag annehmen wollen, so bitte ich Sie, am 30. September des Jahres mittags 12 Uhr sich in der Waterloo-Straße im Judenviertel mit der in einen Umschlag eingesiegelten Summe von 1 Million in Banknoten einzufinden, wo wir dann den Austausch vollziehen können. Sie wissen, daß Sie es mit einem Gentleman-Gauner[1] zu tun haben, der Sie nicht betrügen wird. Fragen Sie nur meinen Freund Harald Harst, der Ihnen bestätigen wird, daß ich ein ehrlicher Gauner bin. Ich füge ein Verzeichnis der Juwelen bei, die ich in Arendsee meinen einstigen Genossen wieder abnahm, die mich darum betrogen hatten.
Graf Alexander von Leuwaarden
alias Vincent Saalborg.
„Gnädige Frau, Sie können sich auf Saalborgs Ehrlichkeit unbedingt verlassen,“ erklärte Harald nun mit feinem Lächeln.
„So?! Da bin ich doch anderer Ansicht, Herr Harst,“ meinte Frau Willburne hastig. „In dem Verzeichnis fehlen nämlich die drei kostbarsten Stücke, – ein Ring mit einem Smaragd, ein Brillantanhänger und ein Brillantarmband.“
„Sie glauben, Saalborg will diese Stücke Ihnen vorenthalten? – Das kann ich nicht annehmen.“
„Bitte – er hat eins der Stücke ja bereits verkauft!“
„Unmöglich, gnädige Frau. Dann hätte Saalborg dies in seinem Briefe erwähnt.“
„Und doch ist es so, Herr Harst. Am 22. September, also an demselben Tage, als Saalborg den Brief an mich geschrieben hatte, sah ich zufällig im Schaufenster eines Juweliers meinen Anhänger als besondere Seltenheit ausgestellt. Ich betrat das Geschäft. Es war mein Anhänger. Der Juwelier erklärte mir, er hätte das Schmuckstück vormittags von einem Grafen Leuwaarden gekauft. Der Graf hätte sich den Kaufpreis, 42 000 Gulden, in das Hotel Miramare schicken lassen. Der Juwelier ging mit dem Gelde selbst hin, traf den Grafen im Vestibül und händigte ihm den Betrag aus.“
„Hatte dieser Graf denn den Brillantanhänger dem Juwelier ohne Bezahlung dagelassen?“
„Nein. Der Juwelier Macoosen hatte ihm einen Schuldschein ausgestellt. Der Graf sagte im Geschäft Macoosens, er müsse noch Einkäufe erledigen und wolle die große Summe nicht bei sich tragen.“
„Wie sah der Graf aus?“
„Sehr vornehm. Blonder Spitzbart, Monokel, schlanke, elegante Figur.“
„Sie haben sich dieserhalb an die Amsterdamer Polizei gewandt, gnädige Frau?“
„Ja, natürlich. Sie stellte noch am 22. fest, daß der Graf im Miramare seit zwei Tagen gewohnt hatte, nachmittags ein Uhr jedoch nach London abgereist war.“
„Ganz interessant!“ sagte Harald zerstreut. „Ganz interessant! – Sie gestatten, daß ich rauche, gnädige Frau. – Und weiter?“
„Ja – nun kommt das Tollste, Herr Harst!“ rief die reizende Frau lebhaft. „Der Anhänger, den ich dem Juwelier abgekauft hatte, wurde mir am 22. abends wieder – gestohlen. – Nein – gestohlen ist nicht der richtige Ausdruck!“ Sie wurde immer erregter. „Oh, Sie glauben nicht, wie sehr ich mich gedemütigt fühle, daß ich mich so – so täuschen ließ! Denken Sie, abends um 8 Uhr ließ sich bei mir im Hotel Polder, wo ich seit acht Tagen wohnte, ein holländischer Kriminalkommissar melden. Er brachte einen photographischen Apparat mit und bat mich, den Anhänger für Ermittlungszwecke photographieren zu dürfen. Ich holte das Etui, und er machte eine Blitzlichtaufnahme, reichte mir das Etui mit Dank zurück und ging. Nachher wurde ich mißtrauisch, öffnete das Etui. Es war leer.“
Sie hatte jetzt Tränen in den Augen, fuhr leise fort:
„Die amerikanische Presse wird mich verhöhnen, weil ich mich so – so leicht betrügen ließ. Man liebt mich drüben nicht, Herr Harst. Ich war ja Seiltänzerin. Mein Mann hat nach Ansicht der hochmoralischen Amerikaner eine Ehe geschlossen, die geradezu eine Herausforderung der dortigen ersten Gesellschaftskreise bedeutet – schrieben die Zeitungen! Und nun – nun wird dieses gehässige Gerede von neuem beginnen!“
„Und Ihr Herr Gemahl?“
„Mein Mann?!“ Sie hob die Schultern unmerklich. „Mein Mann bereut vielleicht schon, Asta Astara geheiratet zu haben. Er ließ mich ruhig nach Europa reisen. Unser Abschied war kühl –“
Sie drückte das Spitzentüchlein gegen die Augen.
Harald stand auf und küßte ihr galant die Hand.
„Gnädige Frau, ich werde Ihnen helfen. Ich ahne, weshalb Sie zu mir geeilt sind. Sie wollten mich bitten, dafür zu sorgen, daß Vincent Saalborg Ihnen den Schmuck auch tatsächlich ausliefert und Sie nicht hintergeht.“
Sie nickte zögernd und sagte unsicher:
„Meine Bitte sollte noch unbescheidener ausfallen, Herr Harst. Ich hatte gleich nach Empfang des Briefes den Sachverhalt per Kabeldepesche meinem Manne mitgeteilt und ihn gebeten, mir an die Amsterdamer Bank eine Million Dollar zu überweisen. – Abends hatte ich seine Antwort. Sie lautete wörtlich:
„Muß ablehnen. Der Schwindler würde Dir die Million abnehmen und Juwelen behalten. Du bist nicht imstande, eine solche Sache zu erledigen. Juwelen wurden vor einem Jahr auch nur infolge Deiner Nachlässigkeit gestohlen. Wende Dich an dortige Polizei.
Willburne.“
Diese Depesche war mir wie ein Schlag ins Gesicht. Ich brauche keinen weiteren Beweis: Willburne ist meiner überdrüssig!“
Sie sprang auf und trat ans Fenster, damit wir ihre Tränen nicht sehen sollten.
Harald warf mir einen langen Blick zu, nahm eine neue Zigarette und sagte mitfühlend:
„Gnädige Frau, Sie sollen Ihre Juwelen auch ohne das Lösegeld von einer Million wiederhaben, ebenso die noch fehlenden Stücke. Gewähren Sie noch heute hier einem Reporter, den ich in Ihr Hotel senden werde, eine Unterredung und betonen Sie, daß Sie von mir schon früher Anweisung erhalten hätten, zur Wiedererlangung Ihrer Juwelen sich in ganz bestimmter Art zu benehmen und daß Ihre scheinbare Kurzsichtigkeit dem falschen Kommissar in Amsterdam gegenüber lediglich auf diese meine Anweisungen zurückzuführen sei. Mit einem Wort: Sie sollen so tun, als hätten Sie mich schriftlich schon vor vierzehn Tagen gebeten, die Diebe Ihrer Juwelen zu suchen! – Dann wird die amerikanische Presse schweigen müssen; dann kommt Ihre Kurzsichtigkeit auf mein Konto.“
Sie hatte wieder in ihrem Sessel Platz genommen.
„Herr Harst, das – das ist zuviel!“ rief sie fast gerührt. „Wirklich – darf ich das?!“
„Aber gewiß, gnädige Frau. – Und jetzt noch einige Fragen, wenn Sie gestatten. – Wo werden Sie hier in Berlin absteigen?“
„Atlantic-Hotel.“
„Wer sind Ihre Reisebegleiter? Ich sah in Ihrem Auto außer dem Chauffeur drei Personen.“
„Mein Arzt Doktor Knox, ein Herr von sechzig Jahren. Mein Privatsekretär Doktor Foller und meine Gesellschaftsdame Fräulein von Döringshoff, eine geborene Österreicherin wie ich.“
„Der Chauffeur heißt?“
„Tom Walker.“
„Sie haben also zu keiner dieser vier Personen volles Vertrauen?“
„Nein. Im Gegenteil: ich fühle, daß sie – mit Ausnahme Walkers vielleicht – meine Feinde sind.“
„Sie Ärmste!“ murmelte Harald. Und fügte laut hinzu: „Wie äußert sich diese feindselige Gesinnung?“
„Oh – sie äußert sich scheinbar gar nicht. Es ist das mehr Gefühlssache, Herr Harst. Die drei sind sogar außerordentlich liebenswürdig –“
Sie rang die Hände im Schoß und rief halb verzweifelt: „Aber – sie belauern mich! Ich kann keinen Schritt unbeobachtet tun. Sie spionieren mir nach. Doktor Foller wollte zum Beispiel auf jeden Fall hier mit ins Haus kommen.“
„Haben Sie denn Foller und die Gesellschafterin schon länger in Ihrem Dienst?“
„Nein. Mein Mann bestand darauf, daß ich sie kurz vor der Abreise nach Europa engagierte. Doktor Knox ist gleichzeitig meines Gatten Arzt.“
„So, so!“ sprach Harst sehr gedehnt vor sich hin, rauchte dann ein paar Züge und setzte hinzu:
„Sie werden bis zum 29. früh hier in Berlin bleiben, gnädige Frau. An diesem Tage werden Sie allein um neun Uhr früh am Brandenburger Tor sich einfinden. Dort werde ich Sie mit einem Reiseauto erwarten, mit dem wir nach Holland fahren. Wir werden Amsterdam am 30. erreichen, und am 30. mittags sollen Sie Ihre Juwelen zurückerhalten. Sollte sich bis zum 28. abends etwas besonderes ereignen, so schicken Sie einen Rohrpostbrief an meine Mutter, Frau Auguste Harst, die hier mit mir zusammenwohnt. – Ihren drei „Freunden“ draußen erklären Sie, Sie hätten schon vor vierzehn Tagen an mich geschrieben und ich hätte Ihnen heute geraten, sich um Saalborgs Angebot nicht weiter zu kümmern; ich würde versuchen, Saalborg zu bewegen, eine geringere Summe zu fordern. – Bitte befolgen Sie dies alles aufs genaueste und vergelten Sie fortan Gleiches mit Gleichem: Beobachten Sie die drei Personen, auch den Chauffeur! Melden Sie mir durch Rohrpostbrief an meine Mutter alles, was Ihnen im Benehmen dieser Leute auffällt. Und – beantworten Sie mir noch eine letzte Frage: Haben Sie Edward Willburne aus Liebe geheiratet?“
Sie wurde flammend rot.
„Nein, Herr Harst!“ erwiderte sie dann ehrlich. „Aus Ehrgeiz! Ich war damals 21 Jahre alt, als er sich um mich bewarb. Ich hatte das Leben als Varieteekünstlerin satt! Ein Weib am Varietee ist sozusagen vogelfrei. Und –“
Draußen schrillte die Flurglocke.
„Oh – es wird Doktor Foller, mein Sekretär sein,“ rief Frau Willburne hastig. „Ihm dauert diese Rücksprache zu lange.“
„Es bleibt dann also dabei, gnädige Frau,“ sagte Harst mit einer Verbeugung. „Sie kümmern sich um diesen Saalborg nicht weiter. Irgendwie werde ich die Sache schon regeln können.“ –
Gleich darauf fuhr das Auto davon.
Wir waren in Haralds Arbeitszimmer allein. Er schritt langsam auf und ab, hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und den Kopf etwas gesenkt. Auf seiner Stirn zeigten sich die drei charakteristischen Falten. Die Haut seiner Wangen war gespannt.
Das war jener Harst, dessen Geist mit Hochdruck arbeitete.
Ich saß still im Klubsessel und störte ihn nicht.
„Es wird noch mehr passieren,“ sagte er dann plötzlich und blieb vor mir stehen. „Wenn nichts passiert, habe ich mich geirrt –“
„Worin?“
„In der Annahme, daß es die größten Schufte in der sogenannten feinen Gesellschaft gibt.“
„Etwas unklar –“
„Durchaus nicht. – Was hältst Du von dem Grafen von Leuwaarden, der dem Juwelier Macoosen den Anhänger verkaufte?“
„Natürlich war das niemals Saalborg, sondern ein anderer Gauner, der den falschen Grafen recht geschickt gespielt hat.“
„Hm. – Und der falsche Kommissar?“
„War Saalborgs Doppelgänger in anderer Aufmachung.“
„Hm. – Fahren wir nach Amsterdam, mein Alter. Meine Mutter soll uns, falls Frau Willburne inzwischen schreibt, den Inhalt des Briefes telegraphisch an Herrn Hirth, Hotel Miramare, übermitteln. Ich werde ihr noch näheres darüber angeben. Packe unsere Koffer. Wenn wir den 1-Uhr-Zug noch erreichen, sind wir morgen am 27. gegen elf Uhr mittags in Amsterdam. Lege mir bitte eine Maske als älterer Engländer zurecht. Du bist mein Geschäftsfreund. Mache Dich recht korpulent. – Wir haben alle Ursache, vorsichtig zu sein, möchte ich Dir noch sagen, lieber Alter! Dieser anscheinend so harmlose Fall kann ein Kampf gegen die gefährlichste Großmacht der Welt werden. – Beeile Dich.“ –
Um halb 12 verließen wir das Haus durch den Gemüsegarten. Wir trugen unsere Koffer bis an die hintere Gartenpforte. Hier stand auf dem Feldwege das Auto, das die Köchin Malwine für uns geholt hatte.
Wir stiegen ein. – Der Weg lief zwischen Gärten und Laubengelände hin.
Der Chauffeur des Taxameterautos kurbelte den Motor an.
Frau Harst und die Köchin winkten uns zu.
„Siehst Du ihn?“ fragte Harst leise. Dann rief er dem Chauffeur zu: „Halt – einen Augenblick noch –“
Er sprang aus dem Auto, dessen Hinterdeck zurückgeklappt war, heraus und ging den Gang zwischen den Laubengärten entlang auf einen ärmlich gekleideten Menschen zu, der an einen Zaun lehnte und Zeitung las.
Ich war gleichfalls ausgestiegen.
Harst blieb vor dem bärtigen Menschen stehen.
„Sie könnten mir einen Gefallen tun,“ sagte er und faßte an die Reisemütze. „Wollen Sie mir unauffällig einen Brief besorgen? Ich zahle gut.“
Der Mann deutete durch Zeichen an, daß er taubstumm sei.
Harst reichte ihm eine Zigarre.
„Da. Bitte!“ – Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich an mich: „Schade. Ich hätte Frau Willburne gern mitgeteilt, daß wir gleichfalls hier im Atlantic-Hotel absteigen werden. Komm’, es geht auch so!“
Dann fuhren wir davon.
„Was war’s mit dem Menschen?“ fragte ich.
„Spion, mein Alter. Die Großmacht meldet sich.“
„Ah – Du meinst, daß –“
„– daß der Mann, der die Zigarre mit der feinen Leibbinde nicht wegwerfen wird, für heute –“
„– erledigt ist, falls er sie raucht!“ lachte ich. „Ich kenne ja unsere präparierten Importen!“
„Ich wende sie ungern an. Hier aber muß jedes Mittel recht sein – jedes!“
„Gegenüber der Großmacht, der Presse?“
„Hm. – Etwas anderes, mein Alter: Du besinnst Dich, daß ich in Arendsee das Gutshaus von Dramgarten, wo Maud Bennington, ihr jetzt toter Vater und Jacques Kolmar, also die Juwelendiebe, in der Verborgenheit seit Monaten gelebt hatten, samt den Nebengebäuden sehr genau durchsucht und besichtigt habe. Fiel Dir damals nichts auf?“
„Nein. Ich wüßte nicht!“
Er griff in die Brusttasche seines Ulsters und holte die neueste Nummer der Halbwochenschrift „Die Varieteebühne“ hervor, schlug sie auf und zeigte auf eine Rubrik „Neue Engagements“.
„Lies!“ sagte er nur. – Ich tat es. Plötzlich glitt mein Auge dieselbe Zeile zurück. Da stand:
Apollo-Varietee, Amsterdam. Seit dem 21. d. M. tritt hier als Ersatz für den erkrankten Zauberkünstler Diobello der chinesische Jongleur und Messerwerfer Hei Tschen auf. Seine Partnerin Hati Son arbeitet nebenbei als Kunstschützin mit Pfeil und Bogen. Zugnummer ersten Ranges.
Ich überlegte kurz. – „Harald, Hei Tschen und Hati Son sind Kolmar und Maud,“ sagte ich dann.
„Sehr wahrscheinlich.“
„Wie bist Du darauf gekommen, daß sie unter dieser Maske in Amsterdam gleich nach ihrer Flucht aufgetaucht sein könnten?“
„Durch das, was mir im Gutshause Dramgarten auffiel. Wir fanden in Kolmars Zimmer zwölf völlig gleiche, spitze Messer. Und die Tür seines Zimmers war mit kleinen Löchern gespickt: Messerwerfer. In Mauds Koffer lagen ein zierlicher Bogen und zwölf Pfeile. – Die beiden halten mich doch offenbar für sehr begriffsstutzig. Sonst hätten sie es kaum gewagt, ihren früheren Beruf – sie müssen schon Varieteekünstler vordem gewesen sein – wieder aufzunehmen. – Ich hoffte, daß sie es tun würden. Deshalb mein Interesse für jene Zeitschriften.“ –
Um zehn Uhr vormittags waren wir in Amsterdam. Wir nahmen im Miramare-Hotel zwei Luxuszimmer Nr. 7 und 8 im ersten Stock. Um unsere Spur zu verwischen, belegten wir gegen 12 Uhr in einem Gasthofe des Hafenviertels auch ein Zimmer, kleideten uns um und schlenderten als rotbärtige Matrosen wieder dem Innern der Stadt zu, bis wir den Rembrandt-Platz erreicht hatten, an dem das Apollo-Varietee lag.
Zu beiden Seiten des Theatereingangs hingen riesige, mit bunten Plakaten beklebte Tafeln. Auch der chinesische Messerwerfer und seine Partnerin waren hier fast lebensgroß im Bilde zu sehen.
Die Theaterkasse war für den Vorverkauf bereits geöffnet. Harst verlangte zwei Parkettplätze für diesen Abend. Die Kassiererin, eine rotbäckige reinblütige Holländerin mit nichtssagendem, eingefrorenem Lächeln, nannte uns die Wohnung der „Chinesen-Nummer“, nachdem Harald behauptet hatte, er kenne Master Hei Tschen von früher her persönlich.
Wir schlenderten weiter.
„Also Diamant-Straße 16, südlich vom Waterloo-Platz,“ meinte Harst. „Eine ziemlich üble Gegend, mein Alter, übel und gefährlich.“
Wir durchschritten gerade eine der engsten Gassen. Spielende Kinder machten einen Höllenlärm. Waffelbäcker und Obstverkäufer brüllten uns an; der Wirt einer Schnapsbudike winkte und dienerte.
Plötzlich war dieses nervenpeinigende Geschrei ebenso jäh verstummt. Unwillkürlich schaute ich mich um, worauf diese Stille zurückzuführen sei. Die Kinder standen regungslos. Alles starrte auf die beiden gutgenährten Polizisten, die uns soeben überholt hatten.
Der eine faßte an die Kopfbedeckung und sagte in miserablem Englisch:
„Folgen Sie uns. Sie sind verhaftet.“
Harald kniff das linke Auge zu und meinte: „Großmacht!“
Ich verstand. – Dann wandte er sich an den Beamten: „Wessen beschuldigt man uns?“
„Das werden Sie auf der Wache hören. Gehen Sie uns voran. – Kehrt Marsch – vorwärts!“
Harald hakte sich in meinen Arm ein. Wir kehrten um. Hinter uns erhob sich ein Höllenkonzert.
Am Ausgang der Gasse hielt schon ein geschlossenes Auto.
„Hinein!“ befahl einer der Beamten barsch.
Harst fixierte ihn mißtrauisch, sagte gelassen:
„Nein, ich gehe zu Fuß. Im übrigen halte ich Sie beide nicht für ganz echt. Ich werde Ihnen meine Legitimation zeigen. Ich bin der Berliner –“
Der Beamte hatte schon eine Signalpfeife an die Lippen gebracht. Ein paar schrille Pfiffe gellten.
„Hm – doch wohl echt!“ murmelte Harald und schaute mich sonderbar ernst an. „Die Großmacht beweist, was sie alles vermag!“
Eine Radfahrerpatrouille von zwei Beamten kam auf das Signal herbei. Um uns her schob sich ein Wall von Neugierigen zusammen.
Harst öffnete jetzt von selbst die Tür des geschlossenen Autos. Als er halb eingestiegen war, packte man seine Arme. Stahlfesseln schnappten um seine Handgelenke zu. Mir erging es nicht anders.
Uns gegenüber saßen die beiden Polizisten, die uns verhaftet hatten. Harald hatte sich in die Ecke gelehnt und die Augen geschlossen.
Das Auto hielt vor einem großen Portal mit schmiedeeisernen Gittern. Die Gittertüren wurden geöffnet. Der Kraftwagen rollte in einen Hof. Wir mußten aussteigen.
Man brachte uns über endlose Korridore vor die Tür eines Zimmers, an der eine Papptafel hing:
Doktor Pieter Ullerbreuch
Kriminaldirektor.
Kein Zweifel: wir befanden uns im Polizeipalast von Amsterdam!
„Das beruhigt mich!“ sagte Harald auf deutsch und blickte auf die Tafel. „Obwohl unsere Lage trotzdem recht bedenklich ist, da –“
„Maul halten!“ fuhr der eine der Beamten uns an. Der andere hatte das Zimmer des Kriminaldirektors betreten, kam jetzt wieder heraus und befahl: „Marsch – hinein!“
Hinter einem großen Diplomatentisch, der halblinks vor dem einen Fenster stand, saß ein älterer, dicker Herr mit etwas schwammigem Gesicht. Rechts neben ihm zwei andere Herren, ein hagerer und ein etwas korpulenter, beide bartlos und in Sportanzügen.
Doktor Ullerbreuch rief den beiden Polizisten etwas zu. Meine holländischen Sprachkenntnisse sind gering. Aber ich erlebte ja sofort den Erfolg des Befehls: man räumte uns die Taschen aus.
Und – mit breitem Grinsen legte der eine Polizist jetzt – einen Brillantanhänger auf den Tisch, den er Harst aus der Jackentasche herausgeholt hatte!
Es gab noch mehr Überraschungen: in meiner linken Jackentasche fanden sich zwei kleine Damenbörsen vor und eine goldene Armbanduhr.
Nun reichte der Beamte, der Harald durchsuchte, dem Kriminaldirektor die Brieftasche Harsts, die dieser unter der Matrosenbluse in die innere Westentasche gesteckt hatte.
Ullerbreuch nahm sie und wandte sich an den hageren Herrn.
„Ihr Eigentum, Herr Harst?“ fragte er auf deutsch.
„Allerdings!“ – Und der Hagere öffnete die Tasche, schaute in die Fächer hinein und meinte: „Es fehlt nichts.“
Ich war über die Anrede, die der Direktor dem Fremden hatte zukommen lassen, so verblüfft, daß ich meine Gedanken erst wieder sammeln konnte, als Ullerbreuch fortfuhr:
„Sie beschuldigen diese beiden Leute also, Herr Harst, Frau Asta Willburne diesen kostbaren Brillantanhänger abermals gestohlen zu haben, und zwar in der Maske von Beamten, besser, eines Beamten?“
Der falsche Harst erwiderte nachlässig: „Ich sagte es Ihnen schon, Herr Direktor. Es handelt sich um zwei internationale Gauner, die mir heute vormittag im Miramare-Hotel auf meinem Zimmer die Brieftasche stahlen. Schraut und ich blieben hinter ihnen drein. Die Kerle wohnen in einem Seemannsgasthaus am Hafen. Es heißt Zum Prinzen von Oranje.“
Die Geschichte war denn doch zu toll! Der andere Mensch hatte sich hier also als Schraut eingeführt! Und – der echte Schraut stand gefesselt als Verbrecher vor dem Schreibtisch. – Wir hatten ja schon so manches erlebt. Daß aber zwei Fremde sich für uns ausgaben und sogar die Frechheit besaßen, uns gegenüberzutreten, – das war neu!
Ich blickte auf Harst – den echten Harst.
Und er?! – Er schaute zum Fenster hinaus, tat, als ginge ihn die ganze Geschichte nicht das Geringste an.
Ullerbreuch wandte sich jetzt an uns.
„Was haben Sie zu erklären?“ fragte er und legte einen Protokollbogen zurecht. „Wie heißen Sie? – Sie, der größere, zuerst. – Also – Ihr Name?“
„Harald Harst –“
Der Direktor lächelte gutmütig.
„Lassen Sie doch den Unsinn, Mann!“ rief er. „Herr Harst sitzt dort!“ Und er zeigte auf den Hageren.
„So?!“ meinte der echte Harst kühl. „Vielleicht nehmen Sie mal aus meiner Brieftasche meinen Ausweis mit Lichtbild heraus. Lassen Sie auch meinen falschen Bart entfernen. Dann werden Sie ja sehen, wer der echte ist!“
Der Hagere zog schon die Brieftasche hervor und faltete den Ausweis auseinander.
„Da – bitte!“ sagte er ironisch. „Ein Blick auf das Lichtbild wird Ihnen genügen, Herr Direktor.“
Ullerbreuch verglich, nickte und erklärte:
„Natürlich, – Sie sind Harst! Ich habe nie daran gezweifelt.“
Er gab dem Hageren den Ausweis zurück.
„Die Sache ist sehr fein vorbereitet,“ sagte Harald nun in lebhafterem Ton. „Herr Direktor, der Ausweis, den Sie soeben gesehen haben, ist fraglos eine Fälschung.“
Ullerbreuch schüttelte wie mitleidig den Kopf.
„Mann, was soll das?! Weshalb diese Hartnäckigkeit?! Ich habe bereits nach dem „Prinz von Oranje“ geschickt. Sie werden ja wohl etwas Gepäck haben. – Wie heißen Sie also?“
„Herr Direktor,“ sagte Harald da, und seine Stimme klang drohend, „ich könnte die Situation hier sehr bald klarstellen. Ich habe meine Gründe, in Gegenwart dieser Betrüger da, die niemals Harst und Schraut sind, zu schweigen. Der Anhänger und die anderen Sachen sind uns vor dem Apollo-Varietee im Gedränge in die Taschen geschoben worden, damit Sie, Herr Direktor, desto fester von unserer Schuld –“
Der Holländer hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen.
„Schweigen Sie!“ fauchte er Harald an. „Daß Sie zwei ganz geriebene Burschen sind, darauf hatte Herr Harst mich schon vorbereitet. Wir werden schon herausbekommen, wer Sie beide sind! – Ah – eine Reisetasche! Her damit!“
Ein Beamter war mit der ledernen Reisetasche eingetreten, die wir mit nach dem Gasthaus genommen hatten.
Ullerbreuch packte sie aus. Dann befühlte er sie.
„Hier steckt noch was zwischen Futter und Leder,“ rief er triumphierend und brachte ein längliches Päckchen zum Vorschein. Er wickelte es aus. Es enthielt Stahlsägen, komplizierte Nachschlüssel und einen zierlichen Bohrer.
„Da haben wir’s ja!“ lachte er und nickte dem falschen Harst zu.
Und dieser meinte gleichmütig: „Es sind Mitglieder der Bande jenes Saalborg, Herr Direktor. Geben Sie mir acht Tage Zeit, und ich liefere Ihnen auch Saalborg hier ein.“
Ullerbreuch machte noch einen letzten Versuch, die beiden verstockten Sünder zu einem Geständnis zu bewegen.
„Hören Sie mal,“ wandte er sich an mich, „Sie scheinen mir der weniger Gefährliche zu sein. Nehmen Sie Vernunft an und –“
Da riß mir doch der Geduldsfaden.
„Herr, Sie sind verrückt!“ brüllte ich. „Lassen Sie doch Harsts Mutter aus Berlin kommen oder einen der dortigen Kriminalkommissare, die –“
„Abführen!“ schrie der Direktor noch lauter. „Abführen! Einzelhaft!“
„Mein Alter, das hättest Du nicht tun sollen,“ meinte Harald vorwurfsvoll. „Der Herr Direktor kann den ganzen Umständen nach nicht anders handeln. Entschuldige Dich bei ihm.“
Ich tat es mit einer knappen Verbeugung.
Ullerbreuchs Gesicht wurde nachdenklich. Harsts vornehme Art hatte ihren Eindruck nicht verfehlt.
Da erhob sich der falsche Harst.
„Herr Direktor, ich möchte jetzt mit dem Polizeipräsidenten sprechen,“ sagte er kurz. „Ich muß mir Vollmacht geben lassen, hier Verhaftungen vornehmen zu können. Ein Teil der Bande Saalborgs befindet sich fraglos zur Zeit in Amsterdam. Wenn wir sie noch erwischen wollen, müssen wir uns beeilen.“
Ullerbreuch dienerte höflich. „Ganz recht, Herr Harst. – Also – abführen die beiden!“ rief er den Beamten zu. „Einzelhaft! Strengste Überwachung!“
Harald raunte mir zu: „Nach einer Stunde scheinbar Geständnis –“
Ich verstand: wenn wir ein Geständnis ablegen wollten, mußte Ullerbreuch uns wieder vorführen lassen; und dann würde er allein sein.
Im Hofgebäude im ersten Stock wurde ich in Zelle Nr. 21 untergebracht.
Ich war allein, setzte mich auf den Schemel an den kleinen Tisch und suchte mir darüber klar zu werden, wer diese beiden Betrüger, die sich für Harst und Schraut ausgaben, wohl sein könnten. – Alles Nachdenken half nichts. Daß etwa Genossen Jacques Kolmars hier die Hand im Spiel haben könnten, war nicht anzunehmen.
Ich hörte draußen eine Turmuhr schlagen. So konnte ich ziemlich genau berechnen, wann die Stunde um war. Dann klingelte ich nach dem Schließer. Er kam.
„Ich will ein Geständnis ablegen,“ sagte ich. „Bestellen Sie das dem Kriminaldirektor. Ich sehe ein, weiteres Leugnen ist zwecklos.“
Nach zehn Minuten geleiteten mich zwei Aufseher in den Vorderflügel in das Zimmer Ullerbreuchs.
Kurz nach mir erschien Harst. Ein Schreiber saß jetzt noch an einem Nebentisch. Wir waren nicht mehr gefesselt.
„Herr Direktor, wir möchten Sie zunächst ohne Zeugen sprechen,“ begann Harst. „Falls Sie Angst vor uns haben, lassen Sie uns wieder Handschellen anlegen.“
Ullerbreuch machte eine abwehrende Handbewegung.
„Was soll das? Wollen Sie gestehen oder nicht?“
„Ja. Aber – es spielen politische Dinge dabei mit. Es würde Ihnen unangenehm sein, wenn ich vor Ihren Untergebenen –“
„Gut!“ fiel der Direktor ihm ins Wort und winkte den Beamten, die auch sofort sich zurückzogen.
So waren wir denn mit Ullerbreuch allein.
„Herr Direktor,“ sagte Harald ernst, „ich möchte Sie in Ihrem Interesse ersuchen, sofort aus einem Zeitungskiosk die Nummer 35 der Berliner Zeitschrift „Die Welt in Bildern“ holen zu lassen. Es ist die Nummer der vorletzten Woche. In dem Blatt sind Schraut und ich aus Anlaß des Falles Loschmer („Eine Bärenjagd in Kaschmir“) in ziemlich großem Format abgebildet. Dann werden Sie sofort sehen, daß Sie sich haben täuschen lassen. – Ich ersuche Sie, nicht zu zögern! Für die Folgen unserer Verhaftung tragen Sie sonst allein die Verantwortung.“
Ullerbreuch streichelte sich nervös das runde Kinn. Man merkte ihm an, daß er wieder unsicher geworden. Dann läutete er und gab dem eintretenden Beamten den entsprechenden Befehl.
„So,“ meinte Harald, „nun können wir wohl Platz nehmen, Herr Direktor.“ Wir rückten uns Stühle vor den Schreibtisch und setzten uns. „Ich begreife vollständig, daß Sie sich derart haben irreführen lassen,“ fuhr Harald fort. „Unsere Gegner arbeiten eben mit großzügigsten Mitteln. Sie gestatten, daß ich Ihnen einen kurzen Überblick über unsere letzten Erlebnisse gebe, die mit dem Besuch Frau Willburnes bei uns begannen –“
Der Direktor hörte schweigend zu. Er wurde immer nervöser, immer verlegener. Harald erwähnte, daß es also bisher drei Personen seien, die sich in so unangenehmer Weise mit uns beschäftigten.
In demselben Augenblick trat der Beamte mit der Zeitschrift ein.
Der Direktor griff hastig danach, blätterte ein paar Seiten um, fand die beiden Bilder und – wurde blaß.
Dann kam er um den Tisch herum.
„Meine Herren, entschuldigen Sie. Ich weiß jetzt, daß –“
Harald reichte ihm lächelnd die Hand. „Jede Entschuldigung erübrigt sich, Herr Direktor. Sie haben nur Ihre Pflicht getan.“
„Sie sind frei, meine Herren. Bitte tun Sie –“
„Wir wollen gar nicht frei sein!“ meinte Harst rasch. „Das heißt: zum Schein müssen wir verhaftet bleiben! Sie müssen dafür sorgen, daß nur ein kleiner Kreis von zuverlässigen Personen erfährt, daß wir nicht mehr in unseren Zellen sind. Lassen Sie uns jetzt wieder in die Zellen zurückbringen. Tun Sie sehr empört, weil wir nun doch nichts gestanden haben. Überlegen Sie, wie Sie uns dann vielleicht nach einer Stunde auf die Straße lassen können.“
Der Direktor bewies jetzt, daß er ein gewitzter Herr war. – Nach einer Stunde betraten zwei blondbärtige Polizisten kurz nacheinander die Straße und schlenderten davon.
Wir gingen nach dem Hotel Miramare. Hinter uns her kamen auf unseren Wunsch drei Geheimpolizisten.
Kurz vor dem Miramare geschah etwas sehr Seltsames.
Freilich – zunächst erschien das, was sich hier ereignete, durchaus nicht ungewöhnlich.
Zwischen modernen Mietpalästen standen an dieser Seite der Straße noch drei schmale, uralte Häuser mit jenen eigenartigen, weit überragenden Dächern, wie man sie nur in Amsterdam antrifft.
Aus einem dieser Häuser, genauer gesagt aus der Tür des unten befindlichen Goldwarengeschäfts stürmte ein Mann heraus und sprang auf ein Motorrad, das an der Bordschwelle des Bürgersteiges gelehnt hatte.
Hinter ihm drein rannte ein buckliges Männchen, das andauernd etwas in holländischer Sprache brüllte.
Kaum hatte der Bucklige, offenbar der Geschäftsinhaber uns erblickt, als er auf uns zustürzte und wild gestikulierend und schreiend auf den Motorradler wies, der bereits um die nächste Ecke bog. Der Goldarbeiter dachte natürlich, er hätte zwei Polizeibeamte vor sich und verlangte, daß wir dem Diebe nachsetzen sollten.
Fast gleichzeitig kam von der anderen Seite ein nur von einer Dame besetztes und gesteuertes elegantes offenes Auto daher. Es fuhr sehr langsam. Die Dame rief uns etwas zu.
„Hinein mit uns!“ flüsterte Harald.
Wir stiegen in den Kraftwagen ein, der sofort die Verfolgung des Diebes – der Motorradler hatte ja fraglos etwas gestohlen – aufnahm.
Die Dame, die vor uns auf dem Chauffeurplatz saß, trug einen Lacklederhut und einen bis zur halben Nase herabgezogenen weißen Schleier.
In einer Hauptstraße sahen wir nach wenigen Minuten den Radler wieder vor uns. Der Mann war nicht zu verkennen; er trug eine knallgelbe weiche Sportmütze.
Die Verfolgung zog sich nach Südwest hin. Harst stand im Wagen dicht hinter der Lenkerin und rief ihr des öfteren etwas auf holländisch zu.
Wir kamen in ein Villenviertel, dann auf eine unbebaute Straße. Die Dame fuhr wie der Teufel.
Mit einem Male schwenkte der Radler links auf ein kleines Gehöft ab und raste in den Garten hinein. Kaum eine Minute später hielt das Auto ebenfalls vor der Gartenpforte. Wir sprangen ab und liefen hinter dem Diebe drein. Das Haus, das hier inmitten von Obstbäumen und Büschen lag, war scheinbar unbewohnt. Das Motorrad stand vor der offenen Haustür.
Hier machte Harst einen Moment halt, raunte mir zu:
„Eine Falle! Die Clement entsichern! Aber in der Tasche behalten!“
Da erst merkte ich, was das Ganze bedeutete: unsere Gegner mußten trotz aller Vorsichtsmaßregeln erfahren haben, daß Direktor Ullerbreuch jetzt den Schwindel durchschaut hatte! Und – sie hatten sofort ihre Gegenmaßnahmen getroffen, hatten damit gerechnet, daß wir im Miramare die Gäste von Nr. 9 und 10 uns genauer ansehen würden!
Ich war so sprachlos über diese in ihrer Art geniale Falle, daß ich Harald sekundenlang anstierte.
Da – hinter uns die helle Stimme der Dame:
„Vorwärts doch – vorwärts! Er ist ja im Hause!“
Sie hatte sich des Englischen bedient.
Harst nickte und betrat den halbdunklen Flur. Ich folgte ihm. Die Dame drängte mich förmlich hinein.
Dann knallte die Haustür hinter uns zu.
Was nun geschah, ging so blitzartig, daß ich dabei rein instinktmäßig handelte.
Harst hatte sich umgewandt und versetzte dem Weibe einen Hieb unter das Kinn, der sie zusammenbrechen ließ.
Vor mir zwei Männer. Das Licht einer Laterne, grell und weiß.
„Hände hoch,“ brüllte der eine.
Hinter mir ein Knall.
Die Linse der Karbidlaterne zersplitterte.
Im gleichen Moment schnellte Harst sich vorwärts, packte den vorderen, warf ihn nach vorn, so daß der Kerl mir vor die Füße rollte.
Ich kniete auf ihm, hielt ihm die Clement ins Genick, drohte, sofort abzudrücken.
Harald hatte den anderen schon niedergeboxt. Er half mir, erst diesen zu fesseln, den ich unter mir hatte.
Als wir dann auch dem Weibe die Hände auf dem Rücken zusammenbanden, trat ein älterer Herr durch eine Seitentür in den Flur.
Eine breite Lichtbahn ergoß sich aus jenem Zimmer in das Halbdunkel.
Der ältere Herr war im Schlafrock. Mit bebender, angstvoller Stimme fragte er allerlei auf holländisch. Harald antwortete höflich. Der Herr bediente sich dann der englischen Sprache, so daß ich nun alles verstehen konnte.
Der Herr hieß Roszendaal und war früher Arzt gewesen. Vor zehn Tagen hatte er die linke Seite des Hauses für einen Monat an zwei Engländer vermietet, die ihm erklärt hatten, sie seien Detektive einer Londoner Detektei und hinter Brillantendieben her, die sich in Amsterdam verborgen hielten. Die beiden hätten im voraus und sehr reichlich bezahlt, seien aber nur selten hier draußen erschienen. –
Doktor Roszendaal zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß wir tatsächlich Polizeibeamte wären. Harst hatte ihn gebeten, englisch zu sprechen, indem er behauptet hatte, ich sei lange Zeit in den Kolonien gewesen und beherrschte daher das Englische besser. –
Der Doktor hatte Telephon. Harald rief Direktor Ullerbreuch an und bat um Entsendung eines geschlossenen Autos zum Fortschaffen der drei Gefangenen.
Wir hatten diese in Doktor Roszendaals Wohnzimmer geschafft und auf Stühle gesetzt. Sie waren bei Bewußtsein, verhielten sich jedoch angesichts unserer Pistolen völlig ruhig.
Harst sprach kein Wort mit ihnen. Wir verbrachten so recht schweigsam zehn Minuten. Dann trafen Ullerbreuch und vier Kriminalbeamte im Auto ein.
Der Direktor ließ sich von Harald alles erzählen. – „Die drei Männer – denn das Weib ist nur verkleidet – hatten Doktor Roszendaal erklärt, wir seien die Brillantendiebe,“ meinte Harst zum Schluß. „Man hätte uns hier fraglos längere Zeit gefangen gehalten, Herr Direktor. Ich werde Ihnen jetzt den falschen Harst und Schraut vorführen.“ – Er riß den beiden bärtigen Kerlen die Bärte ab. – „Da – Harst und Schraut, Herr Direktor!“
„Oh – unerhört!“ rief Ullerbreuch. „Wer sind Sie drei? Sprechen Sie! Etwa Mitglieder der Bande Saalborgs?“
Die drei saßen da und stierten zu Boden.
„Diese Verhaftung muß geheim bleiben,“ sagte Harald. „Ich glaube zu wissen, wen wir hier vor uns haben: Berufskollegen von mir – tatsächlich Detektive!“
„Unmöglich!“ meinte Ullerbreuch. „Wie kommen Sie auf diese Vermutung, Herr Harst?“
„Durch mancherlei, Herr Direktor. Es werden amerikanische Detektive sein, die von einer – Großmacht bezahlt werden. Denn einen Milliardär wie Edward Willburne kann man getrost eine Großmacht nennen. Er ist seiner Frau überdrüssig und will Material für eine Scheidung sammeln und „herstellen“ lassen. Geld spielt bei diesen dreien ja offenbar keine Rolle. Sie haben ein Auto, ein Motorrad zur Verfügung, haben hier für alle Fälle sich eingemietet, haben sicherlich einen Ihrer Beamten, Herr Direktor, bestochen, der ihnen sofort meldete, daß Sie uns als die echten Harst und Schraut anerkannt hätten. Einer von den dreien hat Frau Willburne hier den Brillantanhänger mit Hilfe des Privatsekretärs der Dame gestohlen – als angeblicher Kriminalkommissar. Frau Willburne hat mir in Berlin noch schnell anvertraut, daß Foller es war, der ihre Aufmerksamkeit von dem falschen Kommissar ablenkte, als dieser das Schmuckstück scheinbar in das Etui zurücklegte. Dann wurde der Anhänger mir in die Tasche gesteckt – heute vor dem Apollo-Varietee.“
Direktor Ullerbreuch schüttelte ganz verwirrt den Kopf.
„Ist denn so etwas möglich?“ meinte er zweifelnd.
„O ja – sehr gut möglich!“ – Harald wandte sich an die drei Männer und fragte: „Wollen Sie Ihre Karten aufdecken? Sie sehen ja, daß ich der Wahrheit auf der Spur bin.“
Sie schwiegen.
„Gut – lassen Sie sie wegschaffen, Herr Direktor. Wir aber fahren nach dem Miramare-Hotel und werden das Gepäck dieser Leute durchsuchen. Sie selbst werden aus Vorsicht nichts Belastendes bei sich tragen. Zwei von ihnen sind im Miramare abgestiegen, der dritte vielleicht auch.“
Wir nahmen das offene Auto, das noch vor der Gartenpforte stand, und waren zehn Minuten später im Hotel, wo Harald sofort feststellte, daß heute vormittag noch ein dritter Reisender Zimmer Nr. 11 belegt hatte.
Der Hotelbesitzer öffnete uns bereitwilligst die Zimmer der drei Fremden, da ihm Ullerbreuch von Ansehen gut bekannt war.
Als wir noch die Koffer durchstöberten, traf gerade für den Hageren, der „Harst“ zu spielen versucht hatte, aus Berlin eine Depesche ein.
Harald erbrach sie. Sie war anscheinend sehr harmlos, lautete:
„Geschäft auf jeden Fall für mehrere Tage erledigen. Konkurrenz darf nach hiesiger Filiale nicht zurück.
Foller.“
„Das „Geschäft“ sind Schraut und ich,“ lächelte Harald. „Der Sinn des Telegramms ist: Wir sollen hier mehrere Tage, koste es, was es wolle, festgehalten werden. – Doktor Foller, der Sekretär, ist ein Dummkopf. Solche Depeschen unterzeichnet man nicht mit dem richtigen Namen. Na – jedenfalls weiß ich nun, daß Foller in Berlin etwas gegen Frau Willburne plant – etwas, das mit dem Scheidungsmaterial fraglos zusammenhängt. – Sie sehen, Herr Direktor, – meine Vermutungen sind richtig! Dieser jämmerliche Milliardär läßt sein Geld arbeiten, um seine Frau loszuwerden! Doktor Foller wird wohl gleichfalls ein Detektiv sein.“
Dann machten wir uns wieder über die Koffer her. Und in dem des Hageren, der sich Master Chester Blunk nannte, entdeckte Harald in einem raffinierten Versteck ein Bündel Kabeldepeschen und Briefe, die offenbar von Willburne aus Chikago herrührten, wenn sie auch mit wechselnden Namen unterzeichnet waren.
Aus diesen Depeschen und Briefen konnte der, dem die Absichten Willburnes halbwegs bekannt waren, unschwer trotz des fein umschriebenen eigentlichen Sinnes so viel herauslesen, daß nunmehr felsenfest erwiesen war:
Willburne wollte einen Scheidungsprozeß anstrengen, und die Detektive sollten „künstlich“ so viel Material beschaffen, daß Frau Asta für den allein schuldigen Teil erklärt würde. –
„Ekelhaft!“ rief Ullerbreuch. „Die arme Frau!“
„Oh – jetzt brauchen wir sie nicht mehr zu bedauern,“ meinte Harald. „Jetzt wird sie auf Scheidung klagen, und dieser Lump von Ehemann wird gehörig bluten müssen! Allerdings: Schraut und ich müssen morgen wieder nach Berlin zurück und dort dem Master Foller das Handwerk legen.“ –
Wir fuhren dann nach dem Polizeigebäude. Ullerbreuch ließ die drei Verhafteten vorführen. Sie leugneten selbst angesichts der Depeschen und der Briefe. – Inzwischen waren sie hier durchsucht worden. Dabei war auch Haralds Brieftasche gefunden worden, in deren Fächern nichts fehlte. Aber – der gefälschte Ausweis für den falschen Harst war und blieb verschwunden. Die Leute hatten ihn ohne Zweifel vernichtet, damit ihnen nicht Urkundenfälschung nachgewiesen werden könnte.
Ullerbreuch schickte die drei in ihre Zellen zurück.
Wir beide begaben uns, nachdem wir wieder zwei ältere Engländer geworden waren, gegen vier Uhr nachmittags nach der Diamant-Straße 16, um uns etwas mit Hei Tschen und Hati Son zu beschäftigen.
Nr. 16 war ein früherer Warenspeicher, der zum Teil zu Wohnungen ausgebaut worden war. Unten im Hause befand sich ein elendes Cafee, in dem eine sogenannte ungarische Kapelle das Matrosenpublikum ergötzte.
Wir nahmen hier in einer Ecke Platz. Eine bejahrte Kellnerin bediente uns. Sie sprach geläufig englisch. Harst sagte ihr, wir seien englische Journalisten und wollten hier Studien machen. Er spendete der „Holden“ vier Glas Malagawein, und beim vierten erzählte sie über die Hausbewohner alles, was wir nur wissen wollten. Sie wohnte selbst oben im zweiten Stock nach der Gracht hinaus; sie habe jetzt ihre beiden Zimmer an ein Künstlerpaar vermietet und hause in der Küche.
Harst blinzelte mir zu, fragte dann, ob wir uns die Wohnung der Holden aus Interesse für derartige Speicherbehausungen nicht einmal ansehen dürften. – Er schob der Holden gleichzeitig zwanzig Gulden hin, und sie händigte ihm bereitwilligst den Flurschlüssel aus, da sie selbst das Cafee jetzt nicht verlassen dürfe; wir sollten nur ruhig nach oben gehen; die „Chinesen“ seien nicht da; die trieben sich meist in der Stadt herum. –
Wir kletterten eine dunkle Stiege empor und standen vor der Tür, an der ein Porzellanschild „Antje Loosker“ (das war die Kellnerin) hing.
Harst schloß auf, nachdem er zweimal geläutet hatte.
Linker Hand führte eine Tür in zwei winzige, einfenstrige Stuben. Von den Fenstern konnte man unten das trübe Wasser der Gracht sehen.
„Damit Du es weißt, mein Alter,“ sagte Harald nun, der den Schlüssel von innen in der Flurtür hatte stecken lassen, so daß niemand in die Wohnung hineinkonnte, „– Saalborg hat nicht etwa den Anhänger, den Ring und das Armband unterschlagen wollen, wie Frau Willburne es annimmt, sondern Maud Bennington hat die Sachen damals in Arendsee an sich genommen, vielleicht aus dem dunkeln Gefühl heraus, daß irgend eine Gefahr drohe. So kam es, daß die drei Stücke Saalborg nicht in die Hände fielen. Wenn Saalborg wüßte, daß Frau Willburne von ihrem Manne so schändlich behandelt wird, würde er die Juwelen –“
Er brach mitten im Satze ab und ging auf einen Diwan zu, der an der einen Wand stand und dessen Decke bis auf den Fußboden reichte.
„Hm,“ meinte er und zeigte auf einen feuchten Fleck auf den Dielen, der sich bis unter den Diwan hinzog, „hm – da unten auf der Gracht liegt am Hause ein kleines Boot. Und – jenes Fenster steht offen! Ob nicht vielleicht hier jemand eingestiegen ist, der seine Schuhe in dem Boote sehr – sehr feucht gemacht hat! – Bitte – kommen Sie nur hervor, Mann!“
Tatsächlich – die Decke bewegte sich. Ein zerlumpter, alter Kerl kroch langsam in die Stube, sank in die Knie und winselte irgend etwas auf holländisch.
Der Kerl verbreitete einen widerlichen Schnapsgeruch. Das eine Auge war mit einem Pflaster verklebt. Seine Hände starrten vor Schmutz.
„Ich will Ihnen glauben, daß Sie noch nichts gestohlen haben,“ sagte Harst. „Verschwinden Sie!“
Der Kerl schwang sich mit affenartiger Gewandtheit zum Fenster hinaus und sprang unten ins Boot. An dem Speicher wuchs draußen echter Wein, und an den Latten des Weinstakets war der Schnapsbruder bequem empor- und jetzt hinabgeklettert. –
„Stell’ Dich an die Flurtür und horche, ob jemand kommt,“ ordnete Harald an. „Ich will nach den beiden Schmuckstücken suchen.“
Leider hatte ich kaum zwei Minuten in den dunklen Flur hinab gelauscht, als ich eine helle Frauenstimme vernahm, die unzweifelhaft Maud Bennington gehörte.
Harst und ich zogen uns in die Küche zurück und riegelten uns ein, nachdem wir den Flurtürschlüssel abgezogen hatten. –
Maud und Jacques Kolmar betraten die Wohnung und ihre Zimmer.
Nach einer Weile öffnete Harald die Küchentür und steckte den Kopf hindurch, um zu horchen.
Fast gleichzeitig schrie drüben Maud hell auf:
„Fort – gestohlen! Jacques – hier, das Loch unter den Dielen des Diwans ist leer!“
Ein paar Sekunden nichts. Dann eine Männerstimme:
„Lüge nicht! Du hast die beiden Stücke beiseite geschafft – nur Du! – Satansweib – ich morde Dich, wenn Du nicht die Wahrheit sagst! Deine Schliche kenne ich. Mich betrügst Du nicht!“
Maud rief noch lauter: „Rühre mich nicht an! Ich knalle Dich nieder! Du kennst mich! Steck’ das Messer ein!“
Jacques Kolmar lachte höhnisch. „Warte – ich werde es Dir anstreichen! Diebin hinterlistige!“
„Narr! Ich habe nichts gestohlen! Meinst Du, ich bin so gemein von Gesinnung wie Du?! Ich würde Dich nie hintergehen! – Da – das Fenster hätten wir schließen sollen! Siehst Du die nassen Flecken auf dem Fensterbrett. Es ist jemand von der Gracht her eingestiegen –“
Kolmar schwieg. Dann lachte er wieder:
„Die Flecken kannst Du selbst absichtlich vorher hervorgerufen haben! Oder – es müßte gerade Saalborg gewesen sein, der –“
„Jacques, ich schwöre Dir: ich belüge Dich nicht! Ich –“
„Gut – gut –! Wird sich alles finden!“
Sie sprachen jetzt weniger erregt. Wir konnten nichts mehr verstehen und verließen lautlos die Wohnung, brachten Antje den Schlüssel und begaben uns ins Hotel.
Neun Uhr abends. – Der Saal des Apollo-Varietees war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Ullerbreuch, Harst und ich standen mit dem Direktor des Varietees im Hintergrund einer Loge. Die erste Pause mußte sofort vorüber sein. Als nächste Nummer kam Hei Tschen heran.
„Ich fürchte, daß Kolmar irgend etwas gegen Maud im Schilde führt,“ sagte Harst leise. „Ich habe ihn soeben am Büfett im Restaurant beobachtet. Er hat einen Schnaps nach dem andern hinabgegossen. Mir scheint, er hat sich heute Mut angetrunken. Wenn ihm zum Beispiel beim Messerwerfen das scheinbare Mißgeschick passiert, nicht die Holzwand, sondern Maud zu treffen, die er mit den Messern sozusagen einrahmt, dann ist ihm die Absicht, sie getötet zu haben, kaum nachzuweisen.“
Der Varietee-Direktor schüttelte den Kopf. „Das dürfte nicht zutreffen, Herr Harst. Kolmar hat heute mittag aus Berlin eine Depesche erhalten, die er mir triumphierend zeigte. Er hat für morgen um Urlaub gebeten und will mit dem Nachtzuge nach Berlin reisen.“
„Haben Sie das Telegramm gelesen?“ fragte Harald scheinbar ohne Interesse.
„Ja. Es lautete etwa: „Erwarte Sie morgen nachmittag hier. Bringen Sie das Bewußte mit.“ – Dann stand da noch ein Name, den ich vergessen habe.“
„Etwa Foller?“
„Tatsächlich – Foller! Wie können Sie aber –“
„Oh – das bringt mein Liebhabermetier so mit sich, daß ich mehr weiß als andere. – Sagte Kolmar noch mehr zu Ihnen?“
„Nein. Aber es machte so auf mich den Eindruck, als würde er durch die Depesche viel Geld verdienen.“
„So – so. – Ah – die Messerwerfer-Nummer beginnt. Gehen wir hinter die Bühne –“
Wir standen dann hinter einer Kulisse. Harald ließ kein Auge von Kolmar, der sich als Chinese großartig zurechtgeschminkt hatte und ganz echt wirkte.
Jetzt kam der Glanzpunkt der Nummer heran. Eine Holzwand mit einer Stütze hinten wurde auf der Bühne aufgestellt. Maud im Chinesenkostüm tanzte erst noch einen Phantasietanz und blieb dann vor der Holzwand stehen.
Hei Tschen verbeugte sich, nahm von einem Tische ein Dutzend Messer, jonglierte erst damit und drehte sich plötzlich um.
Das erste Messer traf die Holzwand dicht über Mauds Kopf.
Um Kolmars Lippen spielte jetzt ein grausames Lächeln.
Er holte zum zweiten Wurfe aus.
In demselben Moment sprang Harald vor.
„Halt“ rief er. „Halt – oder –“
Und trotzdem warf Kolmar das Messer.
Ein Knall – noch einer. – Und das Messer flog seitwärts, klatschte zu Boden.
Kolmar selbst war mit ein paar Sätzen hinter den Kulissen verschwunden.
Wir blieben dicht hinter ihm. Aber am Hinterausgang des Theaters hatte ein Auto gehalten. Kolmar fuhr davon. –
Maud Bennington war inzwischen von Ullerbreuch verhaftet worden. Sie befand sich in einem Zimmer hinter der Bühne. Harst schickte uns sämtlich hinaus und hatte dann mit Maud eine längere Unterredung ohne Zeugen. Nach zehn Minuten trat er wieder in den Gang, drückte die Tür hinter sich zu und sagte zu Ullerbreuch: „Herr Direktor, sie wird Ihnen keine Schwierigkeiten mehr machen. Sie hat alles eingestanden. Sie ist des Abenteuerlebens müde. Vielleicht wird sie noch ein braver Mensch. – Schraut und ich müssen uns sofort verabschieden. Sie wissen, daß ich ein Rennauto gemietet habe, das uns vor dem Miramare-Hotel erwartet. Leben Sie wohl. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen gelernt zu haben.“
Noch zwei kräftige Händedrücke, und wir eilten davon.
Auf der Straße sagte Harald leise auflachend:
„Der arme Ullerbreuch! – Maud ist nämlich ausgekniffen. Aus dem Fenster des Zimmers konnte sie die Feuerleiter erreichen. Mag sie fliehen! Ich schulde ihr Dank. Sie hat mir manches über Jacques Kolmar erzählt, was ich bisher nur vermutet hatte. – Spare Dir alle Fragen. In Berlin kommt die Abrechnung mit den Vertretern der jämmerlichsten Großmacht!“ –
Am folgenden Nachmittag zwei Uhr waren wir in Berlin – wieder in der Maske der älteren Engländer, fuhren direkt zum Atlantic-Hotel und belegten hier zwei Zimmer im selben Flur mit denen Doktors Follers und der Gesellschafterin Fräulein von Döringshoff. Harald stellte sehr bald fest, daß sich Foller, Frau Willburne und ihre beiden anderen Aufpasser im Hotel befanden.
Jacques Kolmar konnte unmöglich schon in Berlin eingetroffen sein. Wenn wir Foller also ständig im Auge behielten, mußten wir auch Kolmar fangen.
Um drei ging Foller in das Schreibzimmer des Hotels hinab, wo er sich an einen Tisch setzte und Zeitungen las. Wir waren ihm einzeln gefolgt und hatten auch einzeln an anderen Schreibtischen Platz genommen.
Foller war außerordentlich nervös. Er sah immer wieder nach der Uhr.
Gegen vier trat dann ein alter, weißbärtiger Herr durch die Pendeltür ein, der im Knopfloch des hellen Mantels eine gescheckte Nelke trug.
Foller war aufgestanden und ging ihm entgegen. Sie flüsterten miteinander. Foller verbeugte sich und verließ das Schreibzimmer. Der alte Herr lehnte sich an einen Tisch und lächelte zufrieden vor sich hin.
Harst erhob sich; ich gleichfalls.
Wir traten auf den eleganten Weißbart zu.
Harald griff in die Außentasche seiner Jacke und schob die Clementpistole halb unter den Aufschlag.
„Jacques Kolmar,“ sagte er leise, „die Sache hier wird nicht klappen! Bleiben Sie ruhig stehen! – Sie sollten Foller auf sein Zimmer folgen, nicht wahr? Und dort sollten Sie ihm die Briefe geben, die Asta Astara, jetzige Frau Willburne, einst an Sie geschrieben hat, als die Dame noch Seiltänzerin war und zwischen Ihnen beiden so etwas wie ein Liebesverhältnis, ein ganz harmloses bestand. Diese Briefe und Ihre eidesstattliche schriftliche Versicherung, das Verhältnis sei nicht harmlos gewesen, sollen Edward Willburne die Scheidung erleichtern. Foller war es, der ermittelt hat, daß Sie einst zu der Astara in vertrauteren Beziehungen standen, und Foller hat Sie dann auch mehr zufällig in Amsterdam entdeckt. All das hat Maud mir erzählt. Schraut und ich sollten für ein paar Tage unschädlich gemacht werden, damit wir Foller nicht in die Quere kämen. – Jacques Kolmar, geben Sie mir die Briefe, und ich lasse Sie laufen. Wenn nicht – wandern Sie ins Zuchthaus. Es sind sechs Briefe im ganzen. Her damit!“
Kolmar seufzte. „Schade um den schönen Verdienst, Herr Harst. Ich sollte eine halbe Million erhalten. Aber die Freiheit ist mir mehr wert. – Bitte – hier sind die Briefe – sechs Stück. – Ich empfehle mich.“ –
Wir ließen uns bei Frau Willburne melden. Der Kellner kam zurück. „Die Dame läßt bitten –“
In dem vornehm ausgestatteten Salon stand am Fenster ein schlanker Herr im Smoking, Monokel im Auge. – Frau Asta war uns entgegengeeilt.
„Herr Harst,“ rief sie strahlend, „denken Sie, dort der holländische Kommissar Baron van Daalen hat mir soeben meine Juwelen zurückgebracht. Es fehlt nur noch der Anhänger. Aber auch der soll den Dieben schon abgenommen worden sein.“
Der schlanke, bartlose Herr trat hinzu.
„Gestatten die Herren,“ sagte er, sich vorstellend. „Baron van Daalen alias Saalborg alias der schnapsduftende Alte aus der Wohnung der Kellnerin Antje. – Ich hörte dort, wie Sie und was Sie über die Juwelen sprachen, Herr Harst. Frau Willburne hat sie jetzt ohne Entgelt zurückerhalten. Ich habe als Gentleman gehandelt und hoffe, daß Sie, Herr Harst, dasselbe tun werden, das heißt, mich nicht festnehmen werden.“
„Mein Gott!“ stammelte Frau Willburne fassungslos. „Sie – Sie sind Vincent Saalborg?!“
„Nein, gnädige Frau,“ lächelte Harst fein. „Der Herr ist für uns heute nur der Baron van Daalen. – Herr Baron, wir wünschen Ihnen glückliche Reise. Sie sind ein Gentleman, wenn Sie auch –“ Das weitere verschluckte Harst.
Saalborg verbeugte sich und ging. –
Frau Willburne verbrannte die sechs Briefe. Dann ließ sie Foller, Doktor Knox und die Döringshoff rufen.
Die drei traten ahnungslos ein.
„Ich habe Ihnen als Beauftragter Frau Willburnes zu erklären,“ sagte Harst eisig, „daß Sie drei sich nicht weiter um Scheidungsmaterial zu bemühen brauchen. Ihr infames Intrigenspiel ist entdeckt. Hier diese Kabeldepeschen und Briefe eines Lumpen von Ehemann genügen für Frau Willburne, die Scheidung ihrerseits zu erzwingen. Im Amsterdamer Polizeigefängnis sitzen Ihre drei sauberen Verbündeten. – Bitte – dort ist die Tür! Mit Gesindel Ihrer Art atmet Harald Harst nicht gern ein und dieselbe Luft!“
Ich bedauere noch heute, daß ich die Gesichter der drei damals nicht habe photographieren können.
Frau Auguste Harst, Haralds Mutter, kehrte am 30. September vormittags gegen elf Uhr von Besorgungen nach der Harstschen Villa zurück.
Mit ihrer Heimkehr von allerlei Einkäufen begann für uns der Fall der Blinden von Giseh.
Frau Harst packte auf der Veranda, die an der Hinterseite des Hauses lag, ihre Einkäufe aus.
„Da, Harald, diesen wundervollen Anzugstoff habe ich für Euch beide bei Müller am Alexanderplatz erstanden,“ sagte sie. „Der Stoff reicht gerade für zwei –“
Sie schwieg, rief dann: „Nein – so was! Hier ist ja ein Brief mit dem Stoff zugleich eingewickelt worden – ein an Dich adressierter Brief, Harald!“
Harst nahm den Brief und nickte.
„Stimmt – an mich! – Die Art der Zustellung dieses Schreibens verspricht so allerlei!“
Er prüfte die Handschrift auf dem Umschlag.
„Der Absender ist sehr nervös, aber energisch, dabei ein wenig Sonderling, schreibt viel und hat diesen Brief schon längere Zeit, offenbar in der Innentasche der Weste, mit sich herumgetragen,“ sagte er langsam. „Der Umschlag ist zerknittert, die Ecken sind bescheuert und wohl durch starke Schweißabsonderung, die das Westenfutter durchdrang, feucht geworden. Der Absender dürfte korpulent sein. Jetzt Ende September schwitzt ein hagerer Mann nicht derart, daß –“
Er hatte den Umschlag aufgeschnitten, den Bogen herausgezogen und zuerst nach der Unterschrift gesehen, rief jetzt nach kurzer Pause lebhafter:
„Der berühmte Professor Mocrisam! Merkwürdig! Wo mag denn den der Schuh drücken?!“
Dann las er halblaut vor.
z. Z. Berlin, den 24. September 19…
Hotel Atlantic, Zimmer Nr. 154.
Sehr geehrter Herr Harst!
Mein in der Gelehrtenwelt leidlich bekannter Name bürgt Ihnen dafür, daß nicht etwa ein alberner Mensch sich mit Ihnen einen Scherz leistet. Sie wissen, daß ich Engländer bin und in der Nähe des Städtchens Shipparl bei Dover wohne, wo ich vor zwölf Jahren das alte Schloß der Familie Shipparl kaufte, um meine Sammlungen dort unterzubringen.
„Mocrisam haust dort mit zwei Dienern ganz allein,“ erläuterte Harald. „Er ist als Sonderling ebenso berühmt wie als Gelehrter. Seine Diener sind ein Neger und ein Chinese, die für ihn durchs Feuer gehen sollen. Vor etwa sechs Jahren hielt er hier in Berlin einen Vortrag in der Ägyptologischen Gesellschaft, und aus diesem Anlaß brachten die Zeitungen und illustrierten Blätter auch Abbildungen des Schlosses, das der Professor im übrigen sehr selten besichtigen läßt. – Nun die Fortsetzung des Briefes –:“
Auf Ihre Verschwiegenheit, Herr Harst, kann man sich verlassen. Damit Sie das weitere verstehen, muß ich zunächst auf rein persönliche Dinge zu sprechen kommen. Als ich vor 20 Jahren längere Zeit in Indien weilte – ich war damals 39 Jahre alt, heiratete ich insgeheim die Tochter des ersten Ministers des Fürsten von Katsch. Weil man damals noch in England ein sehr großes Vorurteil gegen Ehen mit Eingeborenen hatte, sorgte ich dafür, daß diese Heirat verborgen blieb. Ich verlebte in dem Fürstentum dann die glücklichsten zwei Jahre meines Lebens, bis meine Gattin mir durch die Cholera entrissen wurde. Sie hinterließ mir ein Töchterchen, an dem ich mit größter Liebe hing. Ich ließ es in Bombay in der Familie der verwitweten Frau Oberst Anna Jefferson unter dem Namen Jane Hasting erziehen, indem ich vorgab, Jane wäre das Kind eines verstorbenen Freundes von mir.
Alle drei Jahre etwa besuchte ich meinen Liebling längere Zeit. Jane nannte mich Onkel, und das Verhältnis war ebenso zärtlich wie auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut. Jane entwickelte sich zu einem liebreizenden Mädchen, dem niemand ansehen konnte, daß es von der Mutter her indisches Blut in den Adern hatte.
Im Frühjahr dieses Jahres ließ ich Jane, die noch immer bei der herzensguten Frau Anna Jefferson wohnte, wo sie ganz als Kind des Hauses behandelt wurde, nach Kairo kommen. Frau Jefferson sollte, so hatte ich es brieflich vereinbart, Jane begleiten. In Kairo wollten wir uns am 29. April treffen. Die alte Dame wollte dann nach England weiterreisen und in Dover Verwandte ihres Mannes besuchen. Ich hatte mich nämlich entschlossen, die Tatsache, daß ich verheiratet gewesen, nicht länger zu verheimlichen und Jane mit mir nach Schloß Shipparl zu nehmen. Dies hatte ich auch in dem Briefe Frau Jefferson gegenüber angedeutet. Ich hatte ihr bereits früher völligen Aufschluß über mein verwandtschaftliches Verhältnis zu Jane gegeben.
Ich traf am 28. April in Kairo ein. Doch – weder Frau Jefferson noch Jane erschienen dort. Die Polizei hat sich die größte Mühe gegeben, den Verbleib der beiden Damen aufzuklären, die, wie festgestellt wurde, am 27. bereits in Kairo angelangt, im Hotel Angleterre abgestiegen und nachmittags mit der Straßenbahn nach Giseh hinausgefahren waren. Ihre Koffer wurden am 27. abends von einem Hoteldiener des Mena-Hotels in Giseh abgeholt, nachdem Frau Anna Jefferson dem Hoteldirektor des Angleterre telephonisch Bescheid gesagt hatte.
Das heißt: die Dame, die den Hoteldirektor des Angleterre anrief, gab sich für Frau Jefferson aus. Ob sie es tatsächlich war, ist sehr fraglich. Jedenfalls steht fest, daß der angebliche Hoteldiener des Mena-House ein Betrüger gewesen ist. Die vier Koffer sind genau so spurlos verschwunden wie –
An dieser Stelle mußte Harald das erste Blatt des Briefbogens umschlagen und wollte auf der Innenseite weiterlesen.
Wollte! Sein Gesicht nahm einen so merkwürdigen Ausdruck an, daß Frau Harst unruhig rief:
„Harald, was hast Du denn nur?!“
„Was ich habe?! Einen Mordsschreck habe ich gekriegt! Mit Recht, denn – bitte, seht her! – Die beiden Innenseiten des Schreibens enthalten lediglich die quer über beide Seiten geschriebene freundliche Warnung:
Lassen Sie die Finger davon weg! Sonst verbrennen Sie sich!
Und diese Warnung ist von einem anderen Manne hingezaubert! Ich sage: hingezaubert, weil dieser andere nämlich des Professors Schrift hat verschwinden lassen. Hier – überzeugt Euch. Unten auf der ersten Seite schließt das Geschriebene mit „verschwunden wie“, und die vierte Seite beginnt ohne Zusammenhang:
– allen Grund, mich nicht persönlich zu Ihnen zu wagen.
Mithin fehlt Seite 2 und 3, also die Mitte.“
„Komisch!“ meinte Frau Harst.
„Lesen wir erst mal den Schluß,“ erklärte Harald. „Das Komische kommt nachher heran. Also –:“
allen Grund, mich nicht persönlich zu Ihnen zu wagen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie meine Vorschläge genau befolgen. Sollten Sie nicht Zeit haben, die Sache in die Hand zu nehmen, so schicken Sie mir bitte eine mit Maschine geschriebene Postkarte, auf der Sie mir unter irgend einem Namen irgend einen antiken Gegenstand zum Kauf anbieten. Dann weiß ich Bescheid. Ich kann mir aber nicht denken, daß Sie sich diesen Fall entgehen lassen werden. Ich wüßte nicht, wo Sie wieder Ereignisse antreffen könnten, die in ihrer Gesamtheit so widerspruchsvoll und verworren sind wie die oben geschilderten.
Ich bin mit größter Hochachtung Ihr
Dr. phil. Jonas Mocrisam,
Professor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
„So,“ meinte Harald und legte den Briefbogen weg. „Jetzt muß ich Dich zunächst mal ausfragen, liebe Mama. – Ist Dir denn im Kaufhaus von Müller am Alexanderplatz, das Du ja bei Einkäufen stets bevorzugst, nichts aufgefallen?“
„Doch, Harald, – doch! Jetzt besinne ich mich. Ein kleiner alter Herr kaufte von demselben Stoff ebenfalls sieben Meter. Und an der Paketausgabe –“
„Aha – kann mir schon denken, Mama: an der Paketausgabe stand er wieder neben Dir –“
Frau Harst nickte.
„– und hat seinen eingewickelten Stoff dann zuerst in Empfang genommen und zu Dir sehr höflich gesagt: „Sie haben ja dieselbe Menge Stoff gekauft, gnädige Frau. Bitte, ich habe Zeit zum Warten. Nehmen Sie nur –“ Und er drängte Dir so seinen Einkauf auf –“
„Ganz recht. Es war sehr voll an der Paketausgabe. Ich zögerte auch nicht, das Paket zu nehmen. Ich hatte ja gesehen, wie der Stoff verpackt wurde.“
„Na also!“ lächelte Harald. „Da hat Mocrisam eben schnell den Brief unter die Hülle geschoben, nachdem er sein Paket erhalten hatte. – Er kannte Dich also von Ansehen, liebe Mutter. Er wußte, daß Du Frau Harst bist und daß der Brief so ganz sicher hier ins Haus gelangen würde. Mocrisam wird wohl schon tagelang auf eine solche Gelegenheit, den Brief zu befördern, gewartet haben. Jedenfalls hat er –“
Er vollendete den Satz nicht. Er hatte den Briefbogen wieder ergriffen und gegen das Licht gehalten, hatte das Papier auch befühlt und erklärte kopfschüttelnd:
„Meine erste Annahme, daß jemand die Schrift auf Seite 2 und 3 durch ein chemisches Mittel entfernt und den feuchten Bogen dann wieder glatt geplättet hat, trifft nicht zu. Nein – die Sache ist verzwickter! Hier innen, wo jetzt in der anderen Handschrift die Drohung steht, hat nie jemand mehr als diese Drohung geschrieben gehabt. Also – wo ist das Mittelstück des Briefes geblieben – wo?! Hatte Mocrisam etwa noch ein einzelnes Blatt beigefügt? Hat jemand, eben der, der die Drohung hinzufügte, dieses Blatt entfernt? – Man könnte leicht zu dieser Annahme gelangen, besonders wenn man berücksichtigt, daß der Professor doch ohne Zweifel ständig beobachtet wird und daß er, was ebenso sicher ist, diese Aufpasser nicht kennt und dennoch fürchtet. Hierüber wird er fraglos im Mittelstück des Briefes sich ausgelassen haben, und gerade dieser Teil fehlt.“
„Nein – was auch alles passiert!“ meinte Frau Harst seufzend. „Es ist schrecklich, Harald, daß Du Dich stets mit Leuten beschäftigen mußt, die –“
„Ich hab’s!“ rief Harald da. „Ich hab’s! Da – das ist die einzige Möglichkeit! – Schraut – gehen wir in mein Arbeitszimmer. Liebe Mutter, Du entschuldigst, daß ich Dir ins Wort fiel und daß wir uns nun recht bald wieder verabschieden werden. Sprich zu niemandem über diesen Brief. Die Sache hat bestimmt ihre sehr ernsten Seiten.“
In Harsts Arbeitszimmer mußte ich dann an den Professor folgende Karte mit Maschine schreiben:
Berlin, den 30. 9. 19…
Am Kreuzberg 114.
Herrn Professor Mocrisam
Atlantic-Hotel.
Ich besitze eine echt ägyptische Krokodilmumie, die ich Ihnen verkaufen würde. Falls Sie darauf reflektieren, bitte [ich][2] umgehend um Nachricht.
S. Sonnenthal[3].
„Trage die Karte bitte sofort in den Kasten, mein Alter,“ sagte Harald. „Dann erhält Mocrisam sie abends, und dann werden auch die Leute oder derjenige sie lesen, die oder der Mocrisam ständig bewacht. Daß der Professor hiernach annehmen wird, wir wünschen nichts mit seinen Angelegenheiten zu tun zu haben, schadet nichts. Im Gegenteil, es erleichtert uns unsere Aufgabe.“
Ich nahm die Karte.
„Harald,“ meinte ich zögernd, „Mocrisam hat Dir doch ohne Frage in dem fehlenden Mittelstück des Briefes eine Zusammenkunft oder dergleichen vorgeschlagen. Er wird nun bitter enttäuscht sein, daß Du –“
„Gar nicht enttäuscht wird er sein, mein Alter, denn wir werden heute nacht durch den Gemüsegarten, als älteres Ehepaar wie schon oft verkleidet, das Haus verlassen, so tun, als wären wir mit dem Nachtzuge von Hamburg eingetroffen, und im Atlantic Wohnung beziehen. Dann werde ich Mocrisam nicht aus den Augen lassen und sehr bald herausbekommen, wer ihn bewacht, werde ihn auch sprechen. Das ergibt sich dann alles von selbst.“
Es ergab sich ganz etwas anderes von selbst! –
Das Ehepaar Tompson aus Neuyork hatte im dritten Stock noch glücklich zwei Zimmer erwischt, die soeben erst frei geworden waren.
Der Oberkellner begleitete uns im Fahrstuhl nach oben.
Als wir den Wohnsalon, Nr. 153, betraten, flüsterte Harald mir zu: „Tadellos! 154 wohnt Mocrisam!“ –
Und dann kam die Überraschung.
Harald deutete auf die durch einen Schrank verstellte Verbindungstür, die nach 154 führte, und fragte den Oberkellner:
„Wer ist unser Nachbar dort? – Ich bin ein sehr mißtrauischer Herr –“
„Niemand, Master Tompson, niemand! Dort wohnte bis heute abend der berühmte Professor Mocrisam. Wir haben in jenes kleine einfenstrige Zimmer jetzt die Koffer des Ehepaares Oviglaro eingestellt, um diese Gelegenheit hier sofort aufräumen zu können. Signor Oviglaro will heute mittag von Hamburg aus telephonisch Bescheid geben, wohin die Koffer nachgeschickt werden sollen. Die Herrschaften reisen nach Neuyork und wußten noch nicht, ob sie einen Dampfer von Hamburg oder Bremen benutzen würden.“
Harst schaute mich an.
„Pech!“ sagte er jetzt auf deutsch. „Herr Ober, ich kann mich wohl auf Ihre Verschwiegenheit verlassen. Ich bin Harald Harst!“
„Ah –! – Natürlich, Herr Harst, natürlich!“
„Weshalb ist Professor Mocrisam so plötzlich abgereist?“
Der Ober hob die Schultern. „Keine Ahnung. Aber – seine Abreise erfolgte wirklich ganz plötzlich. Mit der Abendpost traf eine Karte für ihn ein. Vielleicht weiß der Zimmerkellner, der ihm die Karte nach oben brachte, was darauf stand. Offene Karten darf man ja lesen.“
„Holen Sie den Kellner.“
„Sehr wohl, Herr Harst. Er hat Nachtdienst. Einen Moment –“ –
Der Kellner kam und erklärte: „Der Herr Professor hat die Karte, die hier in Berlin aufgegeben war und zwar von einem gewissen Sonnenthal, wie ich mich besinne, ärgerlich zerrissen, und etwas auf deutsch vor sich hin gemurmelt. Er sprach perfekt deutsch, und ich glaube, er murmelte „Feigling“. Dann schrie er mich an: „Meine Rechnung will ich haben – sofort! Ich reise ab!“ – Er war ja überhaupt stets sehr aufgeregt, der kleine Herr.“
„Allerdings, das war er!“ bestätigte der Oberkellner. „Gelehrte haben ihre Eigentümlichkeiten. Das ist nun mal nicht anders.“
Harst reichte dem Zimmerkellner eine Banknote. „Sie wissen, wer ich bin. Sie werden schweigen. Mich interessiert Professor Jonas Mocrisam. Erzählen Sie mir alles, was sich auf seine Schrullen bezieht. – Setzen Sie sich. – Sie auch, Herr Ober. Im Stehen plaudert es sich schlecht. – Da – bitte eine Zigarette. Ja, Sie haben die Ehre, meine Spezialmarke Mirakulum zu rauchen –“ – Er lächelte freundlich. So verstand er es, Leute zu behandeln. Der Ober und der Kellner hätten sich jetzt lieber Unannehmlichkeiten zugezogen, als daß sie etwas über „Master Tompson nebst Gattin“ verraten hätten.
„Mit wem verkehrte Mocrisam hier?“ fragte Harald dann.
„Mit Geheimrat Dröscher, mit Professor Kurz und noch ein paar Universitätsprofessoren,“ erwiderte der Kellner. „Er hat vor drei Tagen in der Aula einen Vortrag über den heutigen Stand der ägyptischen Nachgrabungen gehalten, und –“
„Das las ich in der Zeitung. – Empfing er sonst Besucher oder gab es hier im Hotel Gäste, die Interesse für ihn zeigten?“
„Nein, Herr Harst. Er schien sozusagen vor allen Leuten Angst zu haben. Er schloß sich stets ein. Sein chinesischer Diener –“
„Ah – den hatte er mit?“
„Ja, und der gelbe alte Affe ging seinem Herrn nicht von der Seite.“
„So – so. – Haben Sie denn nicht irgend einen Vorgang beobachtet, der Ihnen durch irgend etwas auffiel? Es kommt mir auf jede Kleinigkeit an.“
Der Kellner schloß halb die Augen und dachte nach.
„Ja, Herr Harst, – auf etwas besinne ich mich. Der Herr Professor war vorgestern abend verkleidet ausgegangen und kehrte erst morgens wieder hier ins Hotel zurück. Er hat doch nur einen struppigen grauen Schnurrbart und trägt eine goldene Brille, schiebt auch die linke Schulter beim Gehen vor. Vorgestern abend hatte er sich einen grauen Vollbart vorgeklebt, die Augenbrauen –“
„Schon gut. Woran erkannten Sie ihn denn?“
„Am Gang, Herr Harst. Unsereiner gewöhnt sich im Hoteldienst sozusagen Polizeiaugen an. Außerdem wollte ich auch die Probe aufs Exempel machen und klopfte zehn Uhr abends noch an seine Tür. Ich wollte die Abendzeitung hineinreichen, die er bestellt hatte. Da war nur der Gelbe im Zimmer.“
„Und weiter? Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen –“
„Hm – am Vormittag fand ich zufällig in des Professors Manteltasche eine Hotelrechnung über die verflossene Nacht. Er hatte im Zentral-Hotel übernachtet, Zimmer 203, und sich Doktor Masicrom dort genannt. Außerdem – hm – außerdem –“
„Nur los! Alles ist hier von Wichtigkeit –“
„Außerdem sprach er mit Lingfu, dem Chinesen, immer von einem Kinde und einem jungen Mädchen. Ich gebe zu, daß seine offenbare Angst vor den anderen Gästen, die er stets so musterte, als wären es verkappte Verbrecher, meine Neugier reizte. Ich habe daher mitunter schärfer hingehört, wenn Herr und Diener miteinander sprachen, als es nötig gewesen wäre, und da habe ich mal die Worte aufgeschnappt, die Lingfu leise flüsterte: „Es geht ums Leben, Euer Gnaden, – da ist jedes Mittel recht!“ – Der Chinese ist nämlich ein heller Kopf, beherrscht das Englische fehlerfrei und trat hier recht anmaßend auf.“ –
Mehr war weder von dem Zimmerkellner noch von dem Ober zu erfahren. Harald fragte nur noch, wohin Mocrisam gereist sei. – Nach Venedig über München-Luzern, erklärte der Ober, der für Mocrisam noch telephonisch Schlafwagenplätze bis München hatte bestellen müssen.
Die beiden Kellner zogen sich zurück.
Harald blieb in der Sofaecke sitzen und rauchte mit zerstreutem Gesicht drei Zigaretten.
Ich langweilte mich. Wenn Haralds Gedanken ihre besonderen Wege wandeln, komme ich mir immer sehr überflüssig vor – sehr! Und deshalb schaute ich mir aus Mangel einer anderen Zerstreuung die Zimmereinrichtung an, drehte auch die Lampe auf dem Diplomatenschreibtisch an und setzte mich schließlich in den Schreibsessel.
Die Geschichte vom blinden Huhn, das auch mal ein Korn findet, sollte sich heute an mir bewahrheiten.
Da lag auf dem Schreibtisch eine Schreibunterlage. Das oberste, abgenutzte Löschblatt war weggerissen worden. Nur in der linken unteren Ecke war ein daumengroßes Stückchen hängen geblieben, auf dem ich einige Buchstaben bemerkte. Es war hier ein noch tintenfeuchtes Schriftstück getrocknet worden, und die Buchstaben hatten sich in Spiegelschrift dem Löschblatt mitgeteilt.
Wieder lediglich aus Langerweile entzifferte ich folgende Silben:
Gis
Men
Jef
Bei „Gis“ und „Men“ stutzte ich noch nicht. Aber „Jef“ gab mir zu denken.
Jef – Jefferson – Frau Oberst Jefferson!
Vielleicht – vielleicht stimmte es! – Ich drehte mich nach Harald um.
„Du – komm’ doch mal her –“
Er stand sofort auf und trat neben mich.
„Hier, Harald, – drei Silben auf diesem Löschblattrest: Gis, Men, Jef! Und Jef – kann Jefferson sein –“
„Ah – das würde ja zu meiner Theorie über den Brief stimmen!“ flüsterte er. „Mach’ mir Platz, läute nach dem Zimmerkellner und laß Dir das Anmeldebuch geben, wo wir Mocrisams Handschrift zum Vergleichen hier haben.“
Er setzte sich an den Schreibtisch und zog des Professors Brief hervor. –
Dann hatten wir auch das Fremdenbuch zur Verfügung.
Und nun bewies Harald mir wieder einmal, wie man seinen Verstand gebrauchen muß, wenn man in unserem Beruf etwas leisten will.
Ich hatte mich mit den Armen auf den Schreibtisch gestützt. Harst sagte leise:
„Die Mitte des Briefes fehlt. Ich erwähnte schon, daß man vermuten könnte, Mocrisam hätte ein einzelnes Blatt hineingelegt, das eben das Fehlende enthalten hätte. Ich verwarf diese Annahme. Weshalb hätte der Professor die Innenseite des Briefbogens unbeschrieben lassen sollen? – Ich dachte an eine andere Lösung, nämlich daran, daß ja ohne Zweifel der Brief dem Professor heimlich weggenommen worden war, damit der Dieb des Briefes die Drohung für mich einfügen könnte. Nachher mußte der Brief Mocrisam wieder ebenso unbemerkt zugesteckt worden sein, so daß er nicht ahnte, wie verändert das Schreiben war. Und – wenn der Dieb den Brief zur Verfügung gehabt hatte, dann, so sagte ich mir weiter, konnte er ihn ganz bequem auch fälschen, falls er eben Mocrisams Handschrift nachzuahmen vermochte. – Bitte, nun vergleiche mal des Professors Eintragung ins Fremdenbuch mit der Unterschrift des Briefes –“
„Gefälscht!“ erklärte ich. „Ganz gut gefälscht, aber nicht gut genug.“
„Stimmt! Dieser Brief rührt also eigentlich gar nicht von Mocrisam her. Aber – schau’ nun mal die Adresse auf dem Umschlag an –“
„Ja – die Adresse – die hat der Professor selbst geschrieben!“
„Ganz recht. Mithin liegt folgendes vor: den Brief stiehlt jemand. Und dieser Jemand schreibt ihn ab, läßt aber die Mitte weg, weil – ja, weswegen wohl? – Nun, die Mitte enthielt gerade das, was der Professor als Beweis für die Gefährlichkeit seiner geheimen Aufpasser anführte. Und das wollte der Fälscher uns vorenthalten. Er rechnete damit, daß ich denken würde, es wäre noch ein Blatt in den Briefbogen eingefügt worden, und dies Blatt hätte er lediglich weggenommen. – Weshalb, müssen wir uns ferner fragen, hat der Fälscher schon Teile des Urtextes des Briefes bestehen lassen oder besser wieder abgeschrieben? – Nun – weil ich ja Mocrisam, falls ich ihm nicht helfen wollte, die Karte schreiben sollte. Und –“
Es klopfte. Der Zimmerkellner trat hastig ein.
„Herr Harst, entschuldigen Sie bitte. Der Portier sagte mir soeben, daß gegen neun Uhr, als der Professor bereits abgereist war, noch eine Karte, eine Rohrpostkarte für ihn eintraf. Hier ist sie –“
„Danke. Lassen Sie uns die Karte nur hier.“ – Der Kellner zog sich zurück.
Die Karte war eine Offerte an Mocrisam über altägyptische Schmuckstücke von einem Herrn H. Strahmann.
Harald lachte kurz auf.
„Merkst Du was? Diese Karte, mit Maschine geschrieben, sollte Mocrisam täuschen. Er sollte annehmen, sie käme von mir als Antwort auf seinen Brief. Wenn Du den Herrn Strahmann in Strah und Mann zerlegst und Strah von hinten liest, heißt es Harst. Fein – wie?! – Die Karte hat also „der Feind“, der Fälscher geschrieben. Der Professor sollte eben Berlin verlassen. Daß ich Mocrisam ebenfalls sofort eine Karte schicken würde, das erwartete der „Gegner“ nicht.“
„Und hier die drei Silben Gis Men Jef?“
Harald blickte mich überrascht an und deutete dann auf die erste Seite des Briefes, wo zu lesen war:
Straßenbahn nach Giseh hinausgefahren –
des Mena-Hotels in Giseh abgeholt –
nachdem Frau Jefferson dem –
fragte nun: „Begreifst Du jetzt die volle Bedeutung Deiner Entdeckung?!“
„Ehrlich gesagt: nein! – Nur eins ist mir klar, daß auf diesem Fetzchen Löschblatt ein Brief –“
„Bitte – kein Brief, mein Alter!“ unterbrach er mich. „Nur eine Schriftprobe, das heißt eine Übung im Nachahmen von Mocrisams Handschrift wurde hier abgetrocknet, und zur Übung war eben der Brief abgeschrieben worden, wobei die Silben Gis Men Jef gerade an die Anfänge von Zeilen gerieten –“
„Allerdings – so muß es sein!“ nickte ich.
„Da – und nun läute nochmals nach dem Kellner –“
Er kam.
„Sagen Sie, wie lange hat das Ehepaar Oviglaro hier gewohnt? Waren sie alt, jung? Was machten sie für einen Eindruck?“
Der Kellner überlegte. „Sie trafen am Nachmittag desselben Tages ein, an dem der Herr Professor morgens anlangte. Es waren ältere Herrschaften, Italiener. Sie kamen aus Genua. Es müssen sehr reiche Leute gewesen sein. Im übrigen fielen sie durch nichts auf. Sie sahen sich Berlin an und waren wenig im Hotel, erhielten nur ein paarmal Besuch von anderen Italienern.“
„Und sie reisten heute oder besser gestern abend überraschend ab?“
„Nein. Sie erklärten mir schon um zwei Uhr nachmittags, daß die Zimmer abends frei würden.“
„Hm – um zehn Uhr war Mutter bei Müller,“ raunte Harald mir zu. „Da hat der „Gegner“ beobachtet, wie der Brief „abgeschickt“ wurde; und da konnte Signor Oviglaro natürlich um zwei Uhr wissen, daß er abreisen würde. – Ich danke Ihnen,“ fügte er dann laut für den Kellner hinzu.
Wir waren wieder allein.
„Also Oviglaros waren die Feinde?“ meinte ich ganz atemlos.
„Natürlich. Sie haben hier ja gewohnt – in diesen Zimmern, und haben leichtsinnigerweise das Löschblatt nicht ganz vernichtet. – Sieh, mein Alter, das ist der Wert Deiner Entdeckung: wir kennen jetzt die Feinde oder doch einen Teil der Feinde des Professors. Ihre Koffer sind drüben in Nr. 154 untergestellt. Sie wollen erst mittags telephonisch Bescheid geben, wohin die Koffer nachgeschickt werden sollen – aus dem einfachen Grunde, weil sie erst feststellen müssen, wohin Mocrisam sich wendet, den sie weiter beobachten wollen –“
„Mein Kompliment, Harald!“
Er hatte sich erhoben, lächelte: „Keine Worte, sondern Taten, mein Alter! Wir werden uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Wir – durchsuchen die Koffer! – Riegle die Tür ab! Dann heraus mit unserem Handwerkszeug!“
Sein schmales Gesicht strahlte förmlich vor Energie.
Und – wieder kam es ganz anders, als wir dachten, ganz anders! –
Wir rücken den Schrank leise ab. Die Verbindungstür nach Nr. 154 war nun freigelegt. Sie zu öffnen, war für uns kein Kunststück.
Unsere Taschenlampen flammten auf. – Da standen mitten im Zimmer zwei riesige Rohrplattenkoffer nebeneinander.
Harald hob sie an der einen Seite an.
„Der eine recht schwer, der andere leicht,“ flüsterte er. „Gib mir die Dietriche.“
Er kniete auf den Teppich nieder und begann die Schlösser zu untersuchen.
„Keine Dutzendware!“ meinte er leise. „Na – wir werden’s schon schaffen! Nimm Du den anderen Koffer vor!“
Nach fünf Minuten etwa flüsterte er wieder:
„So – fertig!“
Er schlug den Deckel hoch. Obenauf lag ein leerer Einsatz. Er hob ihn empor.
Ich hatte mit hingeschaut, rief ganz entsetzt:
„Eine Leiche!“
Und dann – dann hinter uns wie ein Zischen eine Stimme:
„Nicht gerührt! Sie kennen wohl amerikanische Glicard-Luftpistolen! Die arbeiten geräuschlos!“
Der Mensch lachte höhnisch auf.
„Wir sind hier zu dreien!“ fügte er hinzu. „Das genügt! Also – hoch mit den Armen. Ihr habt nur ein Leben zu verlieren! Vergeßt das nicht!“
Harald hatte die Arme bereits hochgereckt. Ich folgte seinem Beispiel.
Dann fiel eine Schlinge über meine Hände. Dann – war Harald hoch- und gleichzeitig nach rückwärts geschnellt.
Vorher schon hatte der „Feind“ die Deckenlampe eingeschaltet gehabt. Ich wandte den Kopf. Ich sah, daß Harst einen Mann unter sich liegen hatte und ihm die Kehle zupreßte.
Ich sprang zu.
Gleich darauf war der gut angezogene Mensch, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte, gebunden. Er war bartlos, hatte blondes, dünnes Haar und ein recht brutales, breites Gesicht, reichte aber selbst mir nur bis an die Schultern.
Nun stand er uns wehrlos gegenüber. Seine Augen schillerten in ohnmächtiger Wut.
„Das – das werden Sie büßen!“ keuchte er. „Sie wissen nicht, mit wem Sie sich hier eingelassen haben!“
Harald wandte sich achselzuckend dem Koffer zu.
In diesem lag mit angezogenen Knien, Kopf und Rücken gegen ein graues Polster gestützt, ein junges, blondes Weib mit geschlossenen Augen. Sie war mit einer Art wattiertem Morgenrock bekleidet. Eine Wolldecke reichte ihr bis zur Brust. Der Koffer war so groß, daß sie bequem darin Platz hatte.
Im ersten Moment hatte ich geglaubt, eine Tote vor mir zu haben. Jetzt sah ich, daß ihre Wangen zart gerötet und ihre Lippen rot und lebensfrisch waren.
Harald beugte sich herab, nahm ihren Arm hoch, fühlte nach dem Puls, rüttelte sie.
„Schlafmittel,“ sagte er kurz.
Dann drehte er sich wieder um und faßte unserem Gefangenen in die Tasche, holte einen Schlüsselring heraus und sagte zu dem kleinen Menschen:
„Wer ist das Mädchen? Etwa Jane Hasting, die in Ägypten verschwand?“
Der Kerl bebte vor Erregung.
„Herr Harst, ich warne Sie nochmals,“ fauchte er Harald an. „Sie werden es bitter bereuen, sich in diese Dinge eingemischt zu haben!“
„Narr!“ meinte Harald verächtlich. – Dann nahm er den Koffer selbst genauer von innen und außen in Augenschein.
Das große Ding hatte eine Menge gut versteckter Luftlöcher. Außerdem waren die Schlösser so eingerichtet, daß sie sich auch von innen öffnen ließen. –
Hierauf entleerte Harald dem Gefangenen die Taschen.
Ich muß noch erwähnen, daß der Kerl überhaupt keine Waffe in der Hand gehabt hatte, als er uns mit den „Luftpistolen“ und den „drei Gegnern“ einzuschüchtern suchte.
Aber – in der Schlüsseltasche der Beinkleider steckte doch ein zierlicher Revolver, und außer anderen Kleinigkeiten entdeckte Harald in einer Westentasche ein zerknittertes Theaterbillett für das Olympia-Theater in Kairo. Und diese Eintrittskarte, Logenplatz, trug das Datum des 26. April!
Am 29. April hatte Jonas Mocrisam sich mit Frau Jefferson und Jane in Kairo treffen wollen!
Und – hier ein Billett vom 26. April – das besagte genug!
„Wollen Sie nun die Wahrheit eingestehen?“ fragte Harst und hielt dem Menschen die Eintrittskarte vor die Augen.
Der Kerl grinste unverschämt.
„Herr Harst, lassen Sie mich ruhig verhaften! Was nützt Ihnen das?! Gar nichts! Im Gegenteil – nach spätestens acht Tagen sind Sie tot. Das ist genau so sicher, wie jenes Mädchen nicht Jane Hasting ist!“
„Das wird sich herausstellen. Professor Mocrisam wird, falls es doch Jane ist, sie schon wiedererkennen.“
„Dazu wird er nicht mehr imstande sein!“ höhnte der Mensch. „Sie müssen nämlich wissen, daß, falls ich verhaftet werde, Mocrisam keine fünf Stunden mehr lebt. Wir sind eine ganze Menge Leute, die bei dieser Sache beteiligt sind, und wir haben unsere Dispositionen so getroffen, daß man die Wahrheit nie erfahren wird – nie!“
„Nehmen wir an, Sie lügen nicht,“ meinte Harst kühl. „Was soll ich denn mit Ihnen anfangen, um des Professors Leben nicht zu gefährden?“
„Sie sollen dieses Zimmer verlassen, schweigen und morgen in Ihre Villa zurückkehren.“
„Das könnte Ihnen so gefallen, lieber Freund! Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß ich Harald Harst heiße und daß man mir nachrühmt, etwas klüger zu sein als der Durchschnitt der Menschen. – Es mag Tatsache sein, daß, wenn Sie verhaftet werden und jenes betäubte Mädchen der Polizei in die Hände fällt, dann Professor Mocrisam beseitigt wird. Sie werden aber sofort merken, wie ich diese Gefahr abwenden werde. – Schraut, hilf mir den Kerl dort in dem Sessel festzubinden –“
Der Mensch wehrte sich etwas. – Wir schoben ihm dann noch einen Knebel in den Mund.
„So,“ sagte Harald zu mir, „nun bleibst Du als Wächter hier. Ich werde durch den Oberkellner zwei ähnliche Rohrplattenkoffer beschaffen lassen, ohne ihm zu sagen, wozu ich sie brauche. Das weitere wirst Du dann miterleben.“
Er verließ leise das Zimmer, schloß die Verbindungstür, öffnete sie aber wieder und flüsterte: „Licht aus! Deine Taschenlampe genügt!“
Dann schob er den Schrank vor. Ich war mit dem Burschen und dem Mädchen allein.
Mir war nicht gerade behaglich zumute. Nein – diese zwei Stunden, die ich warten mußte, bis Harst wieder erschien, wurden mir zur Ewigkeit.
Bevor er durch die Verbindungstür eintrat, hatte ich im Flur noch allerlei Geräusche gehört. Mein Gefangener hatte sich inzwischen kaum bewegt. Das Mädchen atmete tief und ruhig.
„So,“ meinte Harald, „jetzt kommt die Fortsetzung. Der Oberkellner glaubt, wir beide werden uns in den neuen Rohrplattenkoffern, die in unseren Zimmern stehen, heimlich aus dem Hotel wegschaffen lassen und zwar – nach dem Polizeipräsidium. Er wird die Koffer also zur gegebenen Zeit dorthin schicken. Vorher aber werde ich in diese Koffer Sie –“ – und er blickte den Gefesselten scharf an – „und das Mädchen einschließen und dem Kriminalkommissar Bechert, meinem alten Freunde, die Schlüssel und einen Brief senden. Dann sind Sie gut aufgehoben, lieber Freund! Und keiner ahnt, daß Harst und Schraut Ihre Koffer benutzen werden, um dorthin zu gelangen, wohin die Koffer nachgeschickt werden sollen. Mögen Sie vor dem Atlantic-Hotel auch noch so viel Spione postiert haben: diesen Trick wird niemand durchschauen!“
Der Gefesselte hatte sein Gesicht schlecht in der Gewalt. Ich merkte, daß er ängstlich wurde. Sein freches Grinsen sah recht gezwungen aus.
„Wollen Sie jetzt gestehen?“ fügte Harst hinzu.
Der Kerl schüttelte den Kopf.
„Wie Sie wollen!“ meinte Harald. „Es ist jetzt 7 Uhr morgens. Sie haben ja noch Zeit, sich die Sache zu überlegen.“ –
Wir ließen niemand in unsere Zimmer ein, nahmen dem Kellner vor der Tür das Teebrett mit dem Frühstück ab und brauchten dann nur bis zehn Uhr zu warten, denn um zehn Uhr klopfte es, und Harst trat in den Flur hinaus, kam sofort zurück und sagte leise: „Es wird Zeit. Soeben ist der Hoteldirektor aus München angerufen worden. Die Koffer sollen dem Signor Oviglaro dorthin nachgeschickt werden. – Vorwärts – packen wir den Kerl und das Mädchen in diese Koffer, die erst nach dem Präsidium gesandt werden, wenn die anderen beiden aus dem Hotel weggeschafft sind.“
Der Mensch wollte auch jetzt nichts gestehen. Wir bohrten noch Löcher in die Kofferwände. Das Mädchen schlief weiter. Wir schlossen die Koffer ab. Dann siegelte Harst die Schlüssel in den bereits fertigen Brief für Bechert ein.
Nun kam für uns das Schwierige: wir mußten die Verbindungstür schließen, den Schrank vor die Tür rücken und unbemerkt über den Flur in Zimmer Nr. 154 schlüpfen, zu dessen Schloß Harst allerdings schon vorher einen passenden Dietrich herausgesucht hatte.
Auch das gelang. Dann schoben wir in 154 den Waschtisch vor die Tür, verständigten uns noch kurz über alles weitere und verschwanden in den Koffern, die wir von innen her dann abschlossen.
Es war niemals Haralds Absicht, etwa bis München in den Koffern zu reisen. Nein, das hatten wir nicht nötig. Die Koffer sollten, wie Herr Oviglaro befohlen hatte, als Eilgut sofort an Herrn Doktor Piametto, München, Hotel Hofburg, Maximilianstr. 14, abgeschickt werden. Wir wußten also, wo wir Oviglaro oder doch andere Mitglieder dieser Bande antreffen würden. Harst hatte in dem Briefe an unseren Freund Bechert diesem die Sachlage dargestellt und ihn gebeten, das Nötige zu veranlassen, wobei er Bechert darauf aufmerksam gemacht hatte, daß ohne Zweifel der Abtransport und ebenso die Verladung der Oviglaroschen Koffer auf dem Bahnhof überwacht werden würde und daß man so vielleicht weitere Mitbeteiligte dieses Verbrechens festnehmen könnte. Auf Bechert war unbedingt Verlaß. Was er tun konnte, um etwaige Spione herauszufinden und zu verhaften, würde geschehen. Der Brief an ihn war jetzt bereits unterwegs. Außerdem hatte Harst ihn auch vorher telephonisch von dem Eintreffen des Schreibens, das ein Hoteldiener überbringen sollte, verständigt.
Es lag sich gar nicht unbequem in dem Koffer. Wir hatten die Rückenpolster, die wir in die anderen Koffer gelegt hatten, durch Kleiderbündel aus unserem eigenen Gepäck und durch unsere Reisetaschen ersetzt. Gegen halb 12 – ich hatte soeben nach der Uhr gesehen und die Taschenlampe gerade wieder ausgeschaltet, wurden die Koffer hinabbefördert. Ich konnte jedes Wort verstehen, das gesprochen wurde. Dann hob man die Koffer auf den Gepäckwagen des Hotels. Es ging zur Güterabfertigungsstelle des Anhalter Bahnhofs. Bald standen die Koffer auf dem Güterboden. Nun sollte Bechert eingreifen, das heißt, die Beamten verständigen und dafür sorgen, daß wir den Güterboden unbemerkt verlassen könnten.
Die beiden Koffer standen dicht nebeneinander. Es wurde still in diesem Winkel der großen Halle. Dann vernahm ich Harsts Stimme:
„Du, Bechert läßt sehr lange auf sich warten. Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte den Brief besser durch einen verkleideten Kriminalbeamten abholen lassen sollen. Vielleicht hat man dem Hoteldiener den Brief irgendwie abgenommen. Das wäre fatal. Dann wäre dieser Trick mißglückt.“
Ich erwiderte nichts. Nach vielleicht einer Stunde meldete Harald sich abermals.
„Schraut, der Trick ist mißglückt. Wir müssen hinaus! Öffne Deinen Patentkasten –“ –
Ich hatte mich wieder in den gewöhnlichen Max Schraut verwandelt gehabt. Wäre ich hier als Dame aus dem Koffer aufgetaucht, dann hätte mein Erscheinen noch weit mehr Sensation unter den Bahnbeamten hervorgerufen.
Zu unserem Glück waren nur vier Beamte gerade anwesend. Harst, der ebenfalls die Verkleidung abgelegt hatte, legitimierte sich durch seinen Ausweis. Die Beamten waren sehr höflich. Als wir noch mit ihnen besprachen, daß die leeren Koffer hier in Berlin bleiben und nicht abgeschickt werden sollten, trat ein blondbärtiger breitschultriger Bahnschaffner auf uns zu. Harald fixierte ihn scharf, rief dann:
„Bechert, Sie sind’s doch!“
„Allerdings!“ – Er reichte uns die Hand. „Die Geschichte ist vermasselt,“ erklärte er hastig. „Man hat dem Hoteldiener den Brief geraubt. Er kam ohne das Schreiben zu mir. Da er nicht eingeweiht war, fragte ich bei dem Hoteldirektor des Atlantic an. Der sagte mir, daß Sie und Schraut in zwei Koffern auf dem Präsidium eintreffen würden. Die Koffer waren auch zehn Minuten später auf meinem Dienstzimmer. Ich ließ sie aufbrechen. Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich einen gefesselten Mann und ein schlafendes Mädchen darin vorfand. Der Hoteldiener hatte mir inzwischen auf meine Fragen hin mitgeteilt, daß kurz vor diesen Koffern zwei andere nach dem Anhalter Bahnhof –“
„Verstehe! Da ahnten Sie den Zusammenhang, lieber Bechert. – Allerdings – die Geschichte ist vermasselt. Schade. – Bitte telephonieren Sie doch sofort an die Münchener Polizei und lassen Sie dort einen Signor Piametto, Hotel Hofburg, Maximilianstraße, augenblicklich verhaften. – Der Gefesselte aus dem Koffer ist doch in Haft genommen, nicht wahr? Und das Mädchen?“
„Hat unser Polizeiarzt glücklich wach bekommen. Das arme Geschöpf ist – blind –“
„Blind?!“ rief Harald. „Blind?! – Hat sie sonst etwas über sich angegeben?“
„Nein. Sie schweigt beharrlich. Wir haben sie durchsuchen lassen. In der Tasche ihres Morgenrocks fand ich dies –“
Er reichte Harald einen Streifen Papier.
Es war der obere Teil einer Hotelrechnung. Da stand:
Mena-House. Giseh, den 28. April 19…
Rechnung für Miß Anna Jambrice …
Zimmer Nr. 18, zwei Betten,
Frühstück
Die Rechnung war schräg durchgerissen. Der untere Teil fehlte. Auf der Rückseite des völlig zerknitterten Zettels war mit Bleistift flüchtig ebenfalls in englischer Sprache hingekritzelt:
„Sie belügt mich irgendwie. Und er ist so brutal. Ich fürchte, ich bin –“
„Das hat die Blinde geschrieben,“ sagte Harald. „Der Wisch ist wertvoll. – Noch etwas, lieber Bechert. Die Polizei in München soll sofort noch Erkundigungen einziehen, ob Professor Mocrisam, der englische Ägyptologe, irgendwo in München abgestiegen ist. Findet sie ihn, so soll Mocrisam in München bleiben, bis ich dort eintreffe. Ist er weitergereist, was ich nicht annehme, dann soll ihm eine Depesche nachgeschickt werden, daß er umkehren möchte. – Schnell, Bechert, wir dürfen keine Minute verlieren. Wir treffen uns nachher im Präsidium. Ich will nur meine Koffer aus dem Atlantic holen.“
Wir nahmen ein Auto und fuhren nach dem Hotel. Bechert wollte gleich vom Bahnhof aus telephonieren.
Wir ließen das Auto warten und betraten das Hotel. Der Direktor kam uns entgegen.
„Herr Harst,“ flüsterte er, „Ihre Frau Mutter hat einen Brief für Sie hergeschickt. Er wurde von Ihrer alten Köchin vor zehn Minuten überbracht. Bitte –“
Harald öffnete den Umschlag. Es lag eine an Harst gerichtete Depesche darin. Die Depesche war aus München von Mocrisam und lautete:
„Bemühen Sie sich auf keinen Fall weiter um meine Angelegenheit. Entschuldigen Sie die Belästigung. Ihr ergebenster Jonas Mocrisam.“
Harst steckte die Depesche in die Tasche und fragte den Direktor:
„Wann geht der nächste Zug nach München ab?“
„Nachmittag 5 Uhr 30 Minuten. D-Zug, Herr Harst.“
Gleich darauf waren wir mit unseren Koffern wieder im Auto.
„Die Sache klärt sich,“ meinte Harald, als wir die Leipziger Straße hinabsausten. „Es dürfte kein zufälliges Zusammentreffen sein, daß die Depesche Mocrisams um 9 Uhr 25 Minuten in München aufgegeben worden ist. Für mich ist dies der Beweis, daß die Gegner des Professors im Hotel Atlantic noch einen Spion wohnen hatten, der offenbar schon nachts das Renkontre mit dem Koffermann in Nr. 154 von draußen belauscht hat und daher sofort Signor Doktor Piametto benachrichtigen konnte. Auf diese Nachricht hin wird Doktor Piametto sich mit Mocrisam irgendwie geeinigt haben.“
„Geeinigt?“
„Na ja, mein Alter: geeinigt über die Bedingungen der Auslieferung der Frau Jefferson und Jane Mocrisams. Denn die Jefferson wird sich natürlich gleichfalls als die Entführte hinstellen. Das muß sie ja dem Vorausgegangenen nach.“
„Also Erpressung –“
„Allerdings. Mocrisam ist sehr reich.“
„Aber – es bleibt ja noch immer die Blinde unterzubringen, Harald!“ meinte ich zweifelnd. „Was hat es nur mit diesem Mädchen auf sich, das die Oviglaros im Koffer mit sich schleppten.“
„Ganz recht, dieser Punkt ist noch aufzuklären. Und wenn uns dies jetzt nicht auf dem Präsidium gelingt, wird unsere ganze schöne Theorie vielleicht wieder wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.“
„Inwiefern?! – Die Blinde ist doch auf keinen Fall Jane Mocrisam,“ brüllte ich Harald förmlich ins Ohr, denn es rasselte gerade ein Autoomnibus neben uns dahin. „Die Blinde kann Jane nicht sein, denn Mocrisam hätte uns gegenüber in dem Briefe wohl erwähnt, daß sein Kind blind ist. Außerdem gab es ja für die Blinde, falls sie Jane wäre, keinen Grund, sich Bechert gegenüber in Schweigen zu hüllen. Und drittens und letztens: ihre auf den Zettel gekritzelten Worte, die –“
Da hatte mir Harald schon die Hand schwer auf den Arm gelegt, sagte mit Betonung:
„Noch zehn Minuten, dann werden wir Bescheid wissen, mein Alter. In diesem Falle ist alle Theorie noch grauer als sonst.“
Ich schwieg enttäuscht. Ich hatte mit meinen drei Beweispunkten eine annehmbare Gehirnleistung geliefert zu haben geglaubt. Und – diese Leistung hatte Harst nun für blasse Theorie erklärt. –
Wir fanden Bechert in seinem Dienstzimmer bereits vor. Er ließ dann auf Haralds Wunsch das Mädchen vorführen. Sie erschien noch in ihrem groß gestreiften Morgenrock.
Sie war schön – ohne Frage – trotz der erloschenen Augen, über denen ein milchiger Schimmer lag. Nur ihr Gesichtsausdruck behagte mir nicht. Da war ein trotziger, verschlossener Zug um den Mund; da war in der Art, wie sie den Kopf trug, etwas Feindseliges, Hartes und Herbes.
Harald nahm sie bei der Hand und führte sie wortlos an das Fenster. Das helle Tageslicht beschien ihr schmales, feines Antlitz.
„Wer – wer sind Sie?!“ stieß sie hervor. Sie bediente sich des Englischen.
„Jane Mocrisam, Ihr Vater hat Sehnsucht nach Ihnen,“ erwiderte Harald weich.
Die Worte machten jedoch keinerlei Eindruck auf sie. Nur ihr Kopf hob sich wieder. Und dann riß sie ihre Hand aus der seinen.
„Wer sind Sie?!“ wiederholte sie erregt. „Sie sind mein – mein Feind. Das fühle ich!“
Sie wandte sich um.
„Ich will in meine Zelle zurückgeführt werden, Herr Kommissar,“ rief sie fast schrill. „Sie werden nichts – nichts von mir erfahren – nichts! Ich spreche jetzt kein Wort mehr!“
Harst winkte Bechert zu. – Der Beamte, der das Mädchen hergeführt hatte, geleitete sie wieder hinaus.
Harald lehnte noch am Fenster.
„Nun, lieber Harst?“ fragte Bechert gespannt.
„Nun – fahren Schraut und ich nach München, Bechert. Sie aber sorgen dafür, daß die beiden Gefangenen gut bewacht werden. In drei Tagen wird die Blinde von Giseh auch von Ihnen verstanden werden.“ –
Morgens gegen acht Uhr waren wir in München. Wir fuhren sofort zur Polizeidirektion. Man wies uns an Kriminalinspektor Fanglgruber. An der Tür seines Dienstzimmers hing ein Schild „Sepp Fanglgruber, Krim. Insp. – Eintr. verb.“
„Ich habe schon viel vom klugen Sepp gehört,“ sagte Harald leise zu mir und lächelte. „Er soll ein Original sein, saugrob und gerissen wie ein chinesischer Handlungsbeflissener.“
Er klopfte dann an. Von drinnen ein Grunzen als Antwort. Wir traten ein und sahen gar nichts – absolut nichts – nur Tabaksqualm, der offenbar von holländischem Knaster und einer langen Pfeife herrührte.
Dann brüllte jemand: „Hob’ i net g’sagt, Ihr sullt aussi bleib’n! Raus –!“
„Verzeihung,“ sprach Harald in den Qualm hinein. „Mein Name ist Harald Harst – Ha–rald Ha–rst!“
„Alsdann scher’n sich erst recht zum Teiffi!“ brüllte der original-bayerische Grobian-Sepp noch lauter.
„Das werden wir tun, Herr Inspektor, – nach zehn Minuten. Sie gestatten, daß ich erst mal die Tür und ein Fenster öffne. In diesem Dunst sehen wir ja gar nicht, was wir sprechen. Sobald es heller ist, werden Sie fraglos liebenswürdiger sein, daran zweifle ich nicht.“
„Von mir aus – machen’s die Tür auf!“ knurrte Herr Fanglgruber. – Wir hörten Geräusche. Er hatte ein Fenster aufgerissen. In die Qualmschwaden kam Bewegung. Sie wallten hin und her, lichteten sich. Und dann sahen wir den kleinen trockenen Herrn mit der fuchsigen Perücke hinter seinem Schreibtisch stehen.
Harst schloß die Tür wieder. – „Hier mein Freund Schraut,“ stellte er mich vor. „Ich wollte Sie nur bitten, Herr Inspektor, mir –“
„Weiß schon!“ platzte Sepp heraus. „Berlin hat ja gestern telephoniert. Der Signor Piametto im Hotel Hofburg war schon über alle Berge. Es war nix mit ’n Verhaften. Ist ausgekniffen, der Italiano. Und der Professor Mocrisam, der im Pensionat Scholldhuber gewohnt hat, ist mit zwei Damen gestern abend abgereist.“
„Wohin?“
„Wohin?! Was ging uns das an! Gor nix! Ich hab’ ihm persönlich gesagt, er solle hier bleiben, bis Sie da wären. Da ist er grob geworden, er gehe Sie ’n Dreck was an, hat er gemeint. Und die Sach’ war für mich erledigt.“
„Hm!“ meinte Harald. „Erledigt. Na ja – Ansichtssache. Guten Morgen, Herr Inspektor.“
Mit einem Male grinste Sepp triumphierend, streckte uns die Hand hin und erklärte gemütlich:
„Halten’s mich wirklich für so an Schapskopp, Herr Harst?! Nö – so dömlich san mer hier nich. – Also – nehmen’s Platz, meine Herren. Zigarre oder ’n Enzianschnaps gefällig? – Bitte – der Schnaps ist trinkbar. – So – prosit! – Also der Mocrisam, der schmiß mich so beinah’ raus. Ich ließ das Pensionat bewachen. Er ist mit den beiden Damen, einer Jungen und einer Alten, die erst mittags gegen 2 Uhr zu ihm gekommen waren, abgereist – nach England. Ich hatt’ ihm jemand mitgeschickt im Zuge. Mein Beamter telephonierte vor einer halben Stunde aus Köln. Mocrisam ist tatsächlich nach Rotterdam weiter gereist.“
„Seit wann hatten Sie das Pensionat Scholldhuber überwachen lassen, Herr Inspektor?“
„Seit mittags ¾1 Uhr göstern.“
„Hat Mocrisam hier vielleicht eine Bank aufgesucht?“
„Aha!“ schnaubte Sepp. „Also das wissen’s schon! Ja – das hat er getan. Und ich hab’ festgestellt, daß er sich von der Deutschen Bank 200 000 Mark in Tausendern geholt hat.“
„Dann ist er ja noch billig weggekommen,“ meinte Harald. „Wer waren die beiden Damen?“
„Dja – nun werden Sie staunen, Herr Harst! Es waren –“
„– Frau Oberst Anna Jefferson und Fräulein Jane Hasting-Mocrisam, die im April in Ägypten verschwunden waren,“ ergänzte Harst lächelnd.
Sepp Fanglgruber machte ein böses Gesicht. „Sie verderben einem jede Freud, Herr Harst!“ knurrte er. „Um was handelt es sich hier?“
„Um Erpressung, Betrug, Erbschleicherei und vielleicht noch um mehr, Herr Inspektor. – Wollen Sie mal bitte das Berliner Präsidium anrufen?“
Nach fünf Minuten war Verbindung. Harst verlangte Bechert, der sich dann auch meldete.
„Morgen, Bechert. – Was Neues? – Nichts? Na, auch gut! – Schicken Sie doch die Blinde sofort in sicherer Begleitung heimlich nach Rotterdam ins Hotel „Präsident Krüger“. Den Koffermann halten Sie weiter fest. Lassen Sie die Blinde durch eine Agentin und einen älteren Beamten begleiten. Aber – die Abreise muß unbedingt unbemerkt bleiben. – Gut, danke. Schluß.“
Dann sagte er zu Fanglgruber: „Wir müssen uns hier bei Ihnen etwas umkostümieren, Herr Inspektor. Unsere Koffer befinden sich unten im Auto –“ –
Nach einer halben Stunde verließen wir einzeln durch einen Seitenausgang jeder mit einer Reisetasche die Polizeidirektion und benutzten dann den nächsten Zug nach Köln, jeder in einem anderen Abteil. Wir waren ganz sicher, daß uns niemand verfolgte; wir hatten jede List angewandt, einen Spion von unserer Fährte abzulenken.
Im Hotel „Präsident Krüger“ trafen wir die dorthin Bestellten bereits an. – Der Kriminalbeamte Lorenz war uns von früher her bekannt. Er teilte uns mit, daß die Blinde keinerlei Schwierigkeiten gemacht hätte. Übrigens habe Kommissar Bechert das Mädchen auch durch einen Augenspezialist untersuchen lassen. Dieser sei überzeugt, daß die Blindheit, die offenbar nach einer schweren Masernerkrankung eingetreten sei, sich durch eine Operation beseitigen ließe. –
Der Beamte fuhr dann nach Berlin zurück. Die Agentin, eine Frau Herbst, behielten wir bei uns. Harst ging nachmittags aus und kehrte mit der Nachricht zurück, daß Mocrisam mit den beiden Damen gestern abend den Tourdampfer nach London benutzt hatte. Der Professor war also fraglos nach seinem Schlosse Shipparl gereist.
Abends benutzten wir ebenfalls einen Tourdampfer nach London. Frau Herbst und die Blinde wurden als unsere Schwestern ausgegeben. Am folgenden Nachmittag gegen drei Uhr waren wir bereits in dem Städtchen Shipparl, das im Süden von dem alten Schlosse überragt wird. Wir stiegen als amerikanische Touristen im besten Hotel des Städtchens ab. Die beiden Frauen wohnten neben uns. Wir hatten nur zwei Zimmer belegt. Die Blinde war gefügig, schweigsam und offenbar in großer Angst.
Am Abend unserer Ankunft in Shipparl traf in unserem Hotel ein weiterer Amerikaner ein. Es war in Wahrheit ein Londoner Detektiv, mit dem Harst eine lange Unterredung unter vier Augen hatte. Am nächsten Vormittag fuhren wir fünf „Amerikaner“ dann in einem gemieteten Wagen nach Schloß Shipparl. Ich ahnte, daß der Knalleffekt nahe bevorstand.
Der Londoner Detektiv schickte dem Professor, als der Wagen vor dem Schloßportal angelangt war, eine Karte hinein, auf der er sich als Professor Dr. Rafflay von der Harvard-Universität in Chikago einführte.
Die List gelang. Mocrisam wollte den Kollegen samt Verwandten nicht abweisen. Er erschien sehr bald auf der Freitreppe und begrüßte uns höflich. Der falsche Rafflay stellte uns ihm vor. Die Blinde war wieder dicht verschleiert.
Harst ging dann mit Mocrisam voraus, um ihn durch eine angeregte Unterhaltung abzulenken. Die Sammlungen befanden sich in drei Sälen im Seitenflügel im ersten Stock.
Er erklärte uns dann die Altertümer. Als wir im zweiten Saal waren, sagte Harald unvermittelt:
„Herr Professor, Sie haben noch andere Gäste im Schloß. Wir nehmen Ihre Zeit zu lange in Anspruch. Ich habe gehört, daß alte indische Freunde von Ihnen eingetroffen sind.“
„Allerdings!“ – Mocrisam strahlte. „Meine Tochter, ihre Pflegemutter und deren Schwager sind –“
„Verzeihung – Ihre Tochter?“ fiel Harst ihm ins Wort. „Das kann nicht gut stimmen. Ihre Tochter ist jene junge Dame dort.“ – Er trat schnell auf die Blinde zu und schob ihr den Schleier hoch.
„Wie – Daisy Jefferson!“ rief der alte Herr ganz fassungslos. „Daisy – wie kommen Sie hierher?!“
Die Blinde war leichenblaß geworden. Nein – nicht leichenblaß! Diese Blässe ihres Gesichts hatte immer noch einen gelbbraunen Schimmer – ganz schwach zwar, aber doch zu bemerken.
„Sie irren, Herr Professor,“ erklärte Harald fest. „Dieses junge Mädchen ist nicht Daisy Jefferson. Es ist Ihr Kind. Man hat Sie schändlich betrogen; man hat die Kinder vertauscht, als Ihre Tochter Jane infolge von Masern erblindet war. Frau Jefferson wird Ihre Vorwürfe gefürchtet haben. Deshalb wurde Ihnen, als Sie Ihr Kind wieder mal in Bombay besuchten, Daisy Jefferson anstatt Jane –“
„Herr Gott!“ entfuhr es Mocrisam da. „Ja – ich besinne mich. Ich war einmal vier Jahre nicht in Indien, und ich wunderte mich, daß die kleine Jane so scheu mir gegenüber tat –“
Mocrisam stierte das junge Mädchen an, das jetzt halb ohnmächtig von Frau Herbst gestützt wurde. Dann fragte er Harald stockend: „Wer – wer sind Sie?!“
„Harst, Herr Professor, – Harald Harst. Und auch die beiden anderen Herren sind Detektive: Tompkins aus London und mein Freund Schraut.“
Mocrisam trat der Schweiß auf die Stirn. „Was – was bedeutet das?“ stotterte er. „Mir ist ganz wirr von alledem –“
„Die Sache ist leicht erklärt, Herr Professor. Frau Jefferson ist durchaus nicht die edle Frau, für die Sie sie hielten. Zunächst mag sie die Kinder nur vertauscht haben, um wegen der Erblindung Janes von Ihnen keine Vorwürfe zu hören und um die gut zahlende Pensionärin nicht zu verlieren. Dann kamen ihr die anderen Vorteile dieses Austausches zum Bewußtsein, nämlich die erbrechtlichen Folgen. Sie sind vielfacher Millionär. Frau Jefferson rechnete damit, daß Sie Ihr Kind als Alleinerbin einsetzen würden. Dann mußte eben nicht Jane, sondern Daisy einst die Millionen erhalten. Als Sie nun mit Frau Jefferson brieflich das Zusammentreffen in Kairo verabredeten und gleichzeitig die Absicht äußerten, Jane als Ihr Kind öffentlich anzuerkennen, mischten sich in diese Angelegenheit die beiden Brüder des verstorbenen Oberst Jefferson ein.“
Mocrisam konnte jetzt nicht länger schweigen. Man sah ihm an, daß diese Eröffnungen seine menschenunkundige Gelehrtenseele bis in die tiefsten Tiefen aufrührten.
„Die beiden Jeffersons, die in Dover wohnen!“ rief er und gestikulierte wild mit den Armen. „Was bin ich nur blind gewesen! Oh ich kurzsichtiger Narr! Dann waren es die Jeffersons, die mich seit dem Verschwinden der beiden Frauen dauernd mit Droh- und Erpresserbriefen bombardiert haben! Dann waren sie es, die mir mit dem Tode drohten, falls ich es wagen sollte, die Hilfe der Polizei oder eines Detektivs in Anspruch zu nehmen! Sie wissen ja, Herr Harst, wie diese nie zu bemerkenden Feinde mich gepeinigt haben! Ich schrieb es Ihnen in jenem Brief, den ich Ihrer Mutter –“
„Der Brief war nur noch halb vorhanden,“ unterbrach Harald ihm. „Das heißt: einer der Jeffersons hatte nach dem Originalbrief eine Fälschung hergestellt und die Mitte Ihres Schreibens weggelassen. Das italienische Ehepaar, das neben Ihnen in Berlin im Hotel Atlantic wohnte, war der jüngere Jefferson mit seiner Frau. Und dieser Stuart Jefferson hat den Brief gefälscht. Der ältere aber, mit Vornamen Allan, sitzt jetzt in Berlin in Untersuchungshaft.“ – Harst schilderte kurz unsere Erlebnisse in Berlin im Atlantic. Als er erwähnte, wie wir Jane schlafend in dem großen Rohrplattenkoffer gefunden hatten, eilte Mocrisam, der nun endlich überzeugt war, daß er in der Blinden seine Tochter Jane vor sich hatte, auf das junge Mädchen zu und ergriff ihre Hände, sagte mit von Rührung halb erstickter Stimme:
„Mein armes Kind! Du glaubst natürlich, daß Du Daisy Jefferson bist! Weshalb hat man Dich denn in den Koffer eingesperrt, und weshalb benutzte Allan Jefferson den anderen Koffer? Sprich! Erleichtere Dein Herz! Du kämpfst mit Tränen. Habe Vertrauen zu uns. Du bist mein Kind! Ich war –“
Jane hatte sich ihrem Vater plötzlich an den Hals geworfen, hielt ihn fest umklammert und schluchzte herzzerbrechend. Allmählich beruhigte sie sich, erzählte dann stockend:
„Ich ahnte längst, daß Frau Jefferson mich irgendwie hinterging. Damals als fünfjähriges Mädchen, als ich so schwer krank war, habe ich tagelang im schwersten Fieber gelegen. Ich wurde gesund, aber ich war erblindet. Und von da an redete Frau Jefferson mich mit Daisy an, indem sie mir vorredete, ich hätte mir in meinen Fieberphantasien nur eingebildet, Jane Hasting zu heißen. Schließlich glaubte ich wirklich, ich sei Daisy Jefferson, obwohl ein Rest von Zweifeln immer noch in mir wachblieb. Frau Jefferson merkte, daß ich stiller und stiller wurde. Sie fühlte, was in mir vorging. Als sie dann nach Kairo mit der falschen Jane, also mit Daisy, reisen wollte, ertappte sie mich einmal an der Stubentür beim Lauschen. Sie wurde nicht erregt, nein, sie sagte nur am anderen Tage, daß sie mich mitnehmen würde. In Kairo wohnte ich dann mit den Brüdern Jefferson und Stuarts Frau in einem anderen Hotel. Die Jeffersons machten mit mir einen Ausflug nach den Pyramiden. Sie waren sehr nett zu mir. In den Ruinen von Memphis sollte ich dann mit einem Revolver, um ein Echo herbeizurufen, fünf Schüsse abgeben. Ich feuerte auch und hörte plötzlich laute Schmerzensrufe. Die Jeffersons taten sehr erregt und sagten, ich hätte oben auf einer Mauer einen Engländer erschossen, versprachen mir aber, alles zu vertuschen. Sie würden mich im Koffer mit nach Europa nehmen und dort irgendwo verbergen. Ich bin dann auch wirklich im Koffer bis Berlin gelangt. Mehr kann ich nicht angeben.“
Der Professor war blaß geworden. „Herr Harst, die drei Betrüger sitzen auf der Schloßterrasse!“ stieß er hervor. „Ich will mit ihnen abrechnen! Denken Sie, diese Verbrecher haben von mir noch für die Freilassung der Jefferson und der falschen Jane 200 000 Mark erpreßt, und Stuart Jefferson war’s natürlich in einer Verkleidung, der das Geld in Empfang nahm! Oh – was hat diese Bande mich nur betrogen!“
„Gehen wir!“ sagte Harald. „Wir werden sie überraschen. Jane und Frau Herbst mögen sich zunächst mehr im Hintergrund halten.“
Mocrisam führte uns. Er konnte gar nicht schnell genug mitansehen, wie den dreien Handschellen angelegt wurden. – Unten im Flur begegnete uns der chinesische Diener des Professors, den dieser direkt von Berlin nach Hause geschickt hatte. Lingfu war sehr erregt und meldete seinem Herrn, daß die Polizei soeben da gewesen sei. „Es war ein Detektiv aus London,“ erklärte er. „Er befahl mir, nur Euer Gnaden den Schlüssel zu dem kleinen Salon zu geben, wo er Master Jefferson und die Damen eingeschlossen hat. Er trug Uniform und wollte jetzt seine anderen Leute herbeirufen.“ – Lingfu reichte dem Professor den Schlüssel.
Harald warf mir einen langen Blick zu und sagte zu Mocrisam, der vor Überraschung wieder völlig sprachlos war: „Sie haben doch wohl bereits etwas von dem großen Hochstapler, dem Gentleman-Gauner Vincent Saalborg gehört. Ich glaube, Saalborg hat hier wieder eine Gastrolle gegeben.“
Wir eilten weiter. Mocrisam schloß die Salontür auf. Und – unser Blick fiel sofort auf das verbrecherische Kleeblatt, das mit Stahlfesseln an den Handgelenken und, die Füße an die Sesselbeine festgeschnürt in den kostbaren Brokatsesseln unfreiwillig unser Erscheinen erwartet hatte.
Stuart Jefferson grinste uns frech an und rief uns entgegen:
„Saalborg läßt grüßen! Er hat mir die 200 000 Mark abgenommen! Er wußte, daß Sie oben im Museum waren, Herr Harst. – Schade – wir haben Pech gehabt! Hätten Sie sich nicht eingemischt, wäre dieser Idiot von Mocrisam der Sache nie auf die Spur gekommen!“ – Die ganze Gemeinheit seines Charakters leuchtete auf seinem bartlosen Gesicht. Und doch merkte man, daß er seine Wut und Enttäuschung nur hinter diesem widerlichen Grinsen verbergen wollte.
Harald würdigte ihn keiner Antwort. Nur Mocrisam war durch die Bezeichnung Idiot so in Wut geraten, daß er vorwärts stürzte und Jefferson gründlich ohrfeigte. –
Ich habe nicht mehr viel hinzuzufügen. – Die vier Jeffersons wanderten für mehrere Jahre ins Gefängnis. Jane gewann das Augenlicht durch eine Operation zurück. – Wir beide blieben noch drei Tage als Gäste auf Schloß Shipparl. In diesen drei Tagen ereignete sich der Auftakt zu unserem nächsten Abenteuer, das uns in das Land der Pharaonen, nach Ägypten, führen sollte.
Nächster Band:
Verlagswerbung:
Wie
benehme ich mich?
Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte
Von W. v. Neuhof
Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Anmerkungen: