Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 66:
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1922
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Harald Harsts schmales Gesicht wurde von der Abendröte in zartes Rosa getaucht. Voller Spannung blickten Professor Mocrisam und ich ihn an.
Wir saßen auf der Terrasse des alten Schlosses Shipparl, wo wir seit gestern auf Mocrisams Einladung hin als Gäste wohnten.
Vor Harald lag auf dem Tische ein Brief, der vor einer halben Stunde für ihn eingetroffen war.
Das Schreiben rührte von unserem alten Gegner Vincent Saalborg her, der sich mit Recht den einzigen Gentleman unter den Hochstaplern nannte. Dem Leser dürfte der Name Vincent Saalborg längst geläufig sein.
Der Brief war im nahen Dover, dem englischen Kanalhafen, aufgegeben worden. Er lautete:
„Dover, den 5. Okt. 19… – Verehrtester Herr Harst! Sie wissen, daß ich diesem gemeinen Betrüger Stuart Jefferson vorgestern die Brieftasche in der Maske eines englischen Polizisten abgenommen habe. In dieser Brieftasche entdeckte ich zwischen Futter und Leder das beifolgende Blatt Papier. Da es mir nicht gelang und wohl auch nicht gelingen wird, die auf dem Papier stehende Geheimschrift (falls es eine ist!) zu entziffern, sende ich Ihnen das Blatt zu. – Auf Wiedersehen. – Wie stets – Ihr Bewunderer V. Saalborg.“
Harst hatte das Blatt Papier sowohl Mocrisam als auch mir gezeigt. Es war nur auf der einen Seite beschrieben, und zwar stand darauf folgendes, aber in englischer Sprache:
5. vom Südpol, 4. zum Nil, 3. zum Nordpol, 2. zum Atlas, 1. zum Südpol.
o e a d s n e i t f s a ch r a m
Mocrisam, der als berühmter Entdecker einer neuen Methode zur Deutung der Hieroglyphenschrift für Geheimschriften stets Interesse hatte, war vorhin mit größtem Eifer an die Entzifferung der Buchstabenreihe herangegangen. Harst und ich hatten ihm über die Schulter geschaut und zugesehen, wie er zwei Bogen Papier mit Lösungsversuchen füllte.
Dann hatte Harald wieder in seinem Korbsessel Platz genommen und unvermittelt gesagt:
„Herr Professor, Sie quälen sich unnötig. Man kann die Buchstabenreihe glatt herunterlesen.“
Und da hatten Mocrisam und ich Harald überrascht angeschaut. Aus der Überraschung wurde Spannung, bis Harst dann fortfuhr:
„Lesen Sie bitte erst mal den ersten, dritten, fünften und so weiter Buchstaben, dann erhalten Sie:
o a s e t s ch a
also: Oase Tscha. – Und nun von hinten ebenso den ersten, dritten und so weiter Buchstaben, also
m r a f i n d e
dann heißt das Ganze:
Oase Tschamra finde.
Und diese Oase liegt bekanntlich südwestlich von Alexandria in der Wüste und westlich der bekannten Natronseen.“
„Allerdings,“ meinte Mocrisam kleinlaut. „Aber – was sollen die Zahlen und Worte, die über der Buchstabenreihe stehen. Das ist doch der hellste Unsinn, dieses Zusammenwerfen von Südpol, Nil, Nordpol und Atlas, womit natürlich auf das Atlas-Gebirge hingedeutet wird.“
„Oh – Unsinn?!“ lächelte Harald. „Das dürfte doch kaum zutreffen. Wenn ich auch jetzt noch nicht weiß, was der Schreiber dieser Worte und Zahlen damit gewollt hat, so hoffe ich doch, allmählich dahinter zu kommen.“
Mocrisam starrte auf das Blatt. Harst jedoch kniff das linke Auge zu und schaute mich vielsagend an. Das hieß: „Ich weiß alles! Aber ich schweige noch!“
Der kleine Professor reichte Harald dann das Blatt.
„Da – nehmen Sie! – Was halten Sie von diesen Aufzeichnungen, bester Harst?“
„Ich halte sie für sehr wichtig. Sie wissen ja, daß Stuart Jefferson im Frühjahr in Ägypten war –“
„Aha – Sie denken, er hat in der Oase Tschamra etwas entdeckt, vielleicht in den Ruinen der uralten Tempel irgendwelche Schätze!“
Harald zog das Gesicht lang. „Das Wort Schätze hat immer so einen Beigeschmack nach Abenteuerroman,“ meinte er langsam und zündete sich eine Mirakulum an. „Jedenfalls dürfte Stuart Jefferson selbst nichts gefunden haben. Nein, ich möchte behaupten, er hat einem anderen das Blatt gestohlen.“
„So?! Gestohlen?! Wie kommen Sie denn auf den Gedanken?!“
„Weil Sie mir heute früh einen Brief zeigten, den Stuart an Sie geschrieben hat, und weil seine Handschrift mit der auf diesem Blatt nicht die geringste Ähnlichkeit besitzt.“
Mocrisam lachte und tippte sich auf die Stirn.
„Ich würde einen feinen Detektiv abgeben!“
„Sie müssen auch das Wort „finde“ beachten,“ fuhr Harald fort. „„Oase Tschamra finde!“ heißt es auf dem Zettel. Das ist da eine Aufforderung, die an einen Dritten gerichtet ist. Man könnte also kombinieren: Jemand hatte in der Oase etwas Wichtiges entdeckt und wollte aus besonderen Gründen diese Entdeckung einem Dritten mitteilen. Das Blatt mit den verstecken Angaben aber geriet Jefferson in die Finger. Er kann es eben vielleicht gestohlen haben – vielleicht!“
Ihm war die Zigarette aus der Hand gefallen, und er hatte sich schnell gebückt, hob sie auf und fügte hinzu:
„Es ist Besuch da –“
Wir drei saßen jetzt mit dem Rücken nach der offenen Flügeltür hin, die auf die Terrasse führte. Harald hatte sich erhoben. Auch wir standen rasch auf.
In der Tür bemerkten wir eine jüngere Dame, die ein graues Reisekostüm und ein graues, schmuckloses Filzhütchen trug. Sie war schlank und etwas über mittelgroß, hatte blondes, ein wenig ins Rötliche spielendes Haar und sah sehr vornehm aus.
Sie neigte leicht den Kopf.
„Entschuldigen Sie, meine Herren,“ sagte sie im tadellosem Englisch. „Der chinesische Diener ließ mich in der Vorhalle zu lange warten. Er wollte mich Ihnen melden, kehrte jedoch nicht zurück. Da bin ich denn –“
„Oh bitte,“ meinte Mocrisam liebenswürdig. „Treten Sie näher, – mein Name ist Mocrisam. – Das dort ist Herr Harst – dort dessen Freund, Herr Schraut.“
Die Dame nahm mit zwangloser Sicherheit Platz. Auch wir setzten uns wieder.
„Ich bin Frau Daisy Steenhoope, die Witwe Sir Thomas Steenhoopes,“ sagte sie, indem sie Harst anblickte. „Ich las unter Neueste Depeschen in einer Londoner Zeitung, daß Sie, Herr Harst, jetzt hier auf Schloß Shipparl weilen. Ich komme mit einem Anliegen. Das, was ich Ihnen vortragen möchte, ist einesteils sehr alltäglich, dann aber auch außerordentlich seltsam. Darf ich die Aufmerksamkeit der Herren für zehn Minuten in Anspruch nehmen?“
Wir verbeugten uns. Bevor Frau Steenhoope jedoch weitersprechen konnte, trat ein Zwischenfall ein.
Lingfu, der alte chinesische Diener Mocrisams, erschien sehr eilig auf der Terrasse.
„Euer Gnaden,“ sagte er zu dem Professor und Schloßherrn, „es ist nicht meine Schuld, daß die Dame unangemeldet hier eindrang.“ Er schaute Frau Steenhoope dabei mißbilligend an. „Als ich noch am Haupteingang mit der Dame sprach, schrillte die andere Glocke, die vom Hofeingang. Da ich jetzt allein im Schlosse bin, bat ich die Dame, in der Vorhalle zu warten und eilte nach der Hoftür, da die Glocke immer wieder anschlug. Ich öffnete. Auf den Treppenstufen lag ein zerlumpter Mann und stöhnte jämmerlich –“
In diesem Augenblick sprang Frau Steenhoope mit allen Zeichen höchster Erregung auf und rief Lingfu zu:
„Hatte der Mann über dem linken Auge ein rotes Mal?“
„Ja, Mistreß –“
„Oh – dann ist er es. Dann war all meine Vorsicht umsonst!“ – Sie sank wieder in den Klubsessel zurück und starrte Harst flehend an.
„Dieser Mensch hängt mit dem zusammen, was ich Ihnen anvertrauen wollte,“ fügte sie ruhiger hinzu.
„Mag Lingfu zunächst alles berichten,“ meinte Harald.
Der alte Chinese, der nun schon achtzehn Jahre Mocrisams Diener war, rieb sich verlegen die Hände.
„Der Mann bat mich um etwas Eßbares,“ sagte er zögernd. „Ich ließ mich täuschen, lief in die Küche und holte etwas. Als ich wieder an die Hoftür kam, war er verschwunden.“
„Hast Du die Tür offen gelassen, Lingfu?“ fragte Harald.
„Ja –“
„Eiltest Du ihm über den Hof nach?“
„Ja –“ – Lingfu reckte plötzlich den Hals lang und sprang an die Steinbrüstung der Terrasse. „Dort – dort steht der Mann!“ rief er. „Dort unten an der Straße. Jetzt ist er in die Büsche gelaufen –“
„Es ist gut. Du kannst gehen, Lingfu,“ meinte Harald, der gleichfalls an die Brüstung getreten war.
„Frau Steenhoope,“ wandte er sich an die Dame, „bitte, erzählen Sie nun.“
„Mein Mann war Auslandsvertreter der Amsterdamer Juwelierfirma Preecheln und Kompagnie,“ begann sie. „Vor einem Jahr etwa sollte er für die Firma einem ägyptischen hohen Würdenträger einen Brillantschmuck überbringen, den dieser nach einer Zeichnung bei der Firma Preecheln hatte anfertigen lassen. Mein Mann ging in Alexandria an Land und zwar am 15. Oktober. Er hatte von Fiume einen österreichischen Dampfer benutzt. Seit dem 15. Oktober hat man nie wieder etwas von ihm gehört. Die Firma wirft ihm noch heute vor, er sei mit dem Schmuck entflohen,“ fügte sie leise und sehr langsam hinzu. „Das glaube ich nicht. Thomas hat mich über alles geliebt. Außerdem erhielt ich auch von ihm aus Alexandria einen am selben Tage, am 15. Oktober, geschriebenen Brief, der sehr – ja, wie soll ich sagen – sehr konfus war.“
„Haben Sie diesen Brief bei sich?“ fragte Harald.
„Er ist mir gestohlen worden, Herr Harst, wahrscheinlich von demselben Manne, der soeben dort unten auf der Straße stand. Ich kann den Inhalt des Briefes jedoch ziemlich wörtlich aus dem Gedächtnis wiederholen. Er lautete:
Alexandria, den 15. Okt. 19…
Abends 9 Uhr.
Mein Liebling! Ich hätte nicht geglaubt, daß ich Dich nach so kurzer Ehe wieder verlassen mußte. Ich bin gezwungen, mir das Leben zu nehmen. Sorge dafür, daß das, was ich diesem Abschiedsgruß beifüge, die Beachtung findet, die es verdient. Es gibt viele Oasen, aber nur eine, die 1357 heißt. Ich küsse Dich zum letzten Mal. – Dein Tom.
Diesen Brief, Herr Harst, erhielt ich am 28. Oktober des vergangenen Jahres. Inzwischen hatte die Firma Preecheln bereits einen Steckbrief hinter Tom ergehen lassen. Ich wollte Toms Schreiben, dem übrigens nichts beigefügt war, noch an demselben Tage der Polizei in Amsterdam, wo ich damals wohnte, zur Verfügung stellen. Ich legte den Brief in mein Handtäschchen. In dem dunklen Flur des alten Hauses, in dessen erstem Stock wir eine Drei-Zimmerwohnung innehatten, erhielt ich jedoch einen Stoß vor die Brust, und die Handtasche wurde mir entrissen. Ich erkannte undeutlich einen bärtigen Matrosen, der über dem linken Auge ein längliches rotes Mal von der Größe einer Haselnuß hatte. Bevor ich noch um Hilfe rufen konnte, war der Mann verschwunden. Ich eilte zur Polizei und meldete den Vorfall. Man schenkte mir jedoch wenig Glauben. Ich gab die Wohnung in Amsterdam auf und zog nach London, wo ich im Vorort Chelsea ein kleines Häuschen mietete und mich durch Musikstunden ernähre. Von Tom ist nie mehr Nachricht gekommen. Ich betrachte mich als Witwe, obwohl die Polizei nach wie vor annimmt, Tom sei ein Dieb und mit dem kostbaren Schmuck entflohen.“
„Und der Mann mit dem roten Mal?“ fragte Harst.
„Oh – der blieb beständig in meiner Nähe,“ rief Frau Steenhoope, indem sie die kleinen Fäuste ballte. „Aber ich konnte ihn nie zur Rede stellen. Er sah stets anders aus. Oft durchschaute ich seine Verkleidung erst nach Wochen. Und dann besann ich mich, daß er immer zur Stelle gewesen, wenn ich einen Ausgang machte. Ich habe ja die meisten meiner Stundenschüler außerhalb und bin sehr viel unterwegs. Ich weiß nicht, wer der Mensch ist. Ich habe nicht einmal eine Vermutung.“
Harst nahm das Blatt mit der Geheimschrift vom Tische und reichte es wortlos der Dame.
Sie schaute auf die Schrift. Ihre Augen weiteten sich. Dann sprang sie auf.
„Das – das ist Toms Schrift!“ rief sie. „Ja – ohne Zweifel Toms Schrift! Wie sind Sie in Besitz dieses Blattes gelangt?! Mein Gott – was bedeutet das nun wieder?“
„Behalten Sie Platz, Frau Steenhoope.“ – Und Harald berichtete ihr von Saalborgs Brief, erklärte zum Schluß: „Ich glaube fast, dieses Blatt ist Ihr Eigentum. Denn die Buchstabenreihe unten lautet „Oase Tschamra finde!“ und der Ihnen gestohlene Brief Ihres Gatten sprach von einer Oase 1357, womit er Sie auf die Art der Entzifferung der Buchstabenreihe hindeuten wollte!“
Frau Steenhoope schluchzte leise auf. „Wieder ein Lebenszeichen von Tom!“ flüsterte sie schmerzlich. „Aber – was sollen diese Zahlen und Worte? Südpol, Nil, Atlas?! Was heißt das?!“
„Ja, wenn ich das wüßte!“ meinte Harald achselzuckend.
„Wollen Sie sich mit meinem Fall beschäftigen, Herr Harst?“ fragte Frau Steenhoope zaghaft. „Ich bin arm. Ich könnte Ihnen nicht einmal –“
„Oh – lassen Sie doch!“ sagte Harald rasch. „Dafür bin ich mehrfacher Millionär. Ich werde Sie besuchen, Frau Steenhoope. Wann fahren Sie nach London zurück?“
„Morgen früh. Diese Nacht muß ich noch hier im Hotel bleiben. Es geht kein Zug mehr nach Dover.“
„Dann werden wir, Schraut und ich, übermorgen mittag in der Bacon-Street sein, allerdings in Maske, Frau Steenhoope.“
Sie stand auf. „Ich möchte mich verabschieden. Herzlichen Dank im voraus, Herr Harst. Ich hatte ja auch bestimmt gehofft, hier etwas zu erreichen.“
Harald drückte ihr die Hand. „Sie haben etwas erreicht, Frau Steenhoope. Sie haben sich an die richtige Adresse gewandt,“ meinte er. „Bitte, nehmen Sie das Blatt nur mit. Es gehört ja fraglos Ihnen. Wir sprechen noch darüber.“
Die Dame bat, ob der Diener Lingfu sie nicht begleiten könnte. „Es ist schon so dunkel geworden –“
Mocrisam läutete. Wir schritten hinter ihm und Frau Steenhoope in die Vorhalle. Harst blieb etwas zurück. Als Lingfu erschien, flüsterte er ihm zu: „Geh’ ganz langsam mit ihr und mache einen Umweg.“
Kaum hatte die Dame mit Lingfu den Park betreten, als Harst dem Professor zurief: „Entschuldigen Sie uns. – In unsere Zimmer, Schraut! Vorwärts!“
Wir rannten die Treppe empor, rissen aus unserem Requisitenkoffer zwei Matrosenanzüge heraus. In acht Minuten hatten wir uns auch Bärte vorgeklebt. Dann eilten wir wieder hinab. Im hinteren Flur standen drei Fahrräder, die Mocrisam und seinen beiden Getreuen gehörten.
Wir schwangen uns jeder auf ein Rad und jagten davon. Bis zur Stadt hatte man etwa eine Viertelstunde zu gehen. Wir holten Frau Steenhoope und Lingfu in den Anlagen ein, die sich am Shipparl-Bache entlangziehen, bogen hinter ihnen jedoch in einen Seitenweg ab und erreichten so die Hauptstraße gut dreihundert Meter vor ihnen abermals, stiegen von den Rädern und stellten sie an den Straßenrand. Harst begann den einen Reifen zum Schein aufzupumpen.
Als die Dame und Lingfu vorüber waren, folgten wir ihnen, indem wir die Räder schoben. Bei den ersten Häusern gab Frau Steenhoope Lingfu ein Trinkgeld und schickte ihn zurück. Der Chinese schlenderte heim, ging achtlos an uns vorbei.
Frau Steenhoope war sehr mißtrauisch und blickte sich häufig um. Da sie die beiden Matrosen bereits vorher gesehen hatte, nahm sie keine Notiz von uns.
Sie betrat dann das einzige Hotel des Städtchens und sprach in der Vorhalle mit dem Besitzer. Harald übergab mir sein Rad und ging nach fünf Minuten ebenfalls hinein, kehrte aber sofort zurück.
„Sie hat bezahlt und will angeblich einen Wagen nach Dover mieten,“ sagte er hastig. „Warten wir also!“
Da kam sie schon auf die Straße. Sie hatte nur eine große lederne Reisetasche bei sich und ging rasch nach Süden zu in die Berge hinein. Es war dies ein Weg, der nach dem Küstendorfe Shipparlaton führte.
Wir stellten die Räder in einer Kneipe unter. Dann liefen wir in den Büschen neben dem Wege entlang, bis wir Frau Steenhoope dicht vor uns hatten. Es war ein dunkler, windiger Abend. Immer deutlicher hörten wir das Branden des Meeres. Das Dorf lag keine halbe Meile von dem Städtchen entfernt.
Bisher hatten wir keine Zeit gehabt, über dieses Abenteuer uns irgendwie auszusprechen. – Jetzt setzte sich Frau Steenhoope auf einen Stein etwas abseits des Weges und nahm etwas aus ihrer Handtasche. Ich konnte mir aus alledem keinen Vers machen.
„Sie schreibt,“ flüsterte Harald. „Näher heran. Aber vorsichtig.“
Wir krochen weiter. Sie war nur undeutlich zu erkennen. Dann faltete sie ein weißes Blatt Papier eng zusammen, bückte sich und richtete sich wieder auf.
Ihr ganzes Benehmen, auch nach Verlassen des Städtchens, bewies, daß sie überaus mißtrauisch war. Nun schaute sie auf ihre Armbanduhr.
Harst tat dasselbe, raunte mir zu: „Genau halb zehn!“
Frau Steenhoope blickte die gewundene Straße nach Shipparl zu hinunter. Sie schien unschlüssig zu sein. Sie schritt auf und ab. Dann nahm sie ihre Reisetasche und ging den Berg hinab auf das Dorf zu.
Harst holte den Zettel, den sie unter dem Steine verborgen gehabt hatte, hielt ihn unter die Jacke und beleuchtete ihn mit der Taschenlampe.
„Es steht lediglich: „Alles in Ordnung. Diese Nacht!“ darauf,“ erklärte er und brachte den Zettel an dieselbe Stelle zurück.
Abermals gaben wir uns alle Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren und uns auch von ihr nicht sehen zu lassen.
Der Weg führte über eine steinige Heide. Sehr bald schwenkte die Frau nach links ab. Hier lief ein Pfad zu einer kleinen Bucht der Steilküste hinab.
Frau Steenhoope hatte jetzt das schroffe Ufer der Bucht erreicht. Hier entschwand sie unseren Blicken.
Als wir an die Stelle gelangten, wo sie zuletzt sichtbar gewesen, sahen wir erst, daß hier eine ausgehauene Steintreppe zum Wasser hinabführte. Und – dort unten lag ein Boot, – nein, eine kleine Motorjacht von etwa zehn Meter Länge.
Harald zog mich sofort wieder zurück.
„Weg von hier,“ flüsterte er. „Das wäre hier gerade der Platz, uns verschwinden zu lassen!“
Wir eilten wieder in die Heide hinein.
„Warte,“ befahl Harald. – Er ging nach rechts hinüber. Die Dunkelheit verschluckte ihn schnell.
Mir war nicht behaglich zumute. Nein – ich hatte Sorge um Harald. Ich ahnte, was er vorhatte. Er würde versuchen, die Jacht schwimmend zu erreichen. Wenn er mich doch lieber mitgenommen hätte! – Ich überlegte. Ob ich nicht doch zur Bucht zurückkehrte und die Jacht beobachtete? Aber – dann traf mich Harald hier vielleicht nicht an, wenn er bald zurückkehrte!
Ich blieb. Ich saß hinter einem einzelnen, hohen Felsen. Vor mir stand eine verkümmerte Eiche. Der Ort war durch diesen einzelnen Baum leicht wiederzufinden.
Nach einer halben Stunde tauchte Harald wieder auf.
„Das Wasser war kalt,“ sagte er. „Vorwärts – nach Schloß Shipparl zurück! Dauerlauf! Ich will warm werden!“ –
Dann gingen wir im Schritt weiter.
„Die Jacht heißt Neptun, mein Alter,“ begann Harst und steckte sich eine Zigarette an. „Ich war drei Minuten auf Deck. In der Achterkajüte saßen zwei Männer und unsere schöne Klientin. Leider sprachen sie sehr leise.“
Ich hatte mir eine Zigarre angezündet.
„Was wollte die Steenhoope bei uns?“ fragte ich.
„Ich weiß es wirklich nicht. Jedenfalls hat sie uns belogen. Merktest Du nicht, wie genau sie jedes Wort überlegte, als sie die Geschichte von ihrem verschwundenen Manne erzählte?! Sie ist überaus gefährlich.“
„Sie hat an der Tür absichtlich gehorcht?“
„Das hat sie. Das wollte sie. Daß der Mann mit dem roten Mal an der Haustür läutete, war zwischen beiden verabredet. Lingfu sollte gezwungen werden, die Steenhoope in der Vorhalle allein zu lassen.“
„Ah – das leuchtet mir ein!“
„Ja – und ihre Erzählung war fraglos ein schlaues Gemisch von Wahrheit und Lüge. Ich zweifle nicht daran, daß ihr Gatte in Alexandria verschwunden ist. Ich bezweifle aber sehr stark, daß er tot ist und daß sie nicht wissen sollte, wo er sich befindet. Den Brief hat sie glatt erfunden, um in Besitz des Blattes mit der Geheimschrift zu gelangen.“
„So hat sie Kenntnis von diesem Blatt gehabt, bevor sie nach Schloß Shipparl kam?“
„Nein. Ich sagte ja schon, daß sie gehorcht hatte. Sie hat etwa vier Minuten regungslos in der Tür gestanden. Ihretwegen habe ich Mocrisam und Dir auch nicht mitgeteilt, was die Zahlen und die Worte über der Buchstabenreihe bedeuten. Ich sah Frau Steenhoopes verzerrtes Spiegelbild in der Nickelkanne, die auf dem Tische stand. – Dann log sie ihren Roman zusammen, um das Blatt als ihr gehörig mitnehmen zu können. Sie besitzt Phantasie, schnelle Auffassungsgabe und unheimlich viel schauspielerisches Talent.“
„Ja, mag sein. Aber wozu erschien sie auf Schloß Shipparl? Wozu das Märchen von dem Manne, der sie ständig belauert? Wozu der Zettel unter dem Stein? Wozu die Motorjacht Neptun?“
„Du fragst wie ein Kind. Wir stehen doch erst im Anfangsstadium dieses Abenteuers. Immerhin – nimm an, daß sich eine Bande von entschlossenen Gaunern zusammengetan hat, um Mocrisams Museum im Seitenflügel mit seinen Schätzen an altertümlichem Schmuck auszurauben. Hier kann man getrost von Schätzen sprechen, denn die altägyptischen Schmucksachen Mocrisams sind, wie Du weißt, mit vier Millionen versichert. Nimm weiter an, daß Frau Steenhoope nur das „Terrain besichtigen“ und dem Manne mit dem roten Mal Gelegenheit geben wollte, von dem Schlüssel der Hoftür einen Wachsabdruck herzustellen.“
„Halt – eine Zwischenbemerkung. Die Gauner würden doch keinen Streich gegen das Museum gerade jetzt unternehmen, wo Du Gast auf dem Schlosse bist – Du, Harald Harst!“
„Du irrst. Sie tun es vielleicht trotz meiner Anwesenheit, um uns beide als Verfolger für längere Zeit oder für immer auszuschalten. Dann könnten sie mit ihrer Beute in Ruhe das Weite suchen, nachdem sie uns haben verschwinden lassen. Und dazu eignet sich das alte Schloß vorzüglich. Teile davon stammen aus dem 15. Jahrhundert. Das war die Zeit, wo der englische Adel alle Ursache hatte, sich in seinen Schlössern allerlei Verstecke für die Stunde der Not anzulegen.“
Ich schwieg. – Das Städtchen Shipparl kam in Sicht. Wir holten unsere Räder aus der Kneipe ab und waren gegen halb zwölf nachts vor der Parkpforte des Schlosses. Auf unser Läuten öffnete Lingfu uns.
„Seine Gnaden sind schon recht ängstlich,“ sagte er in Bezug auf Mocrisam.
Wir schritten die Allee entlang der Freitreppe zu.
„Da – alle Fenster stark vergittert,“ meinte Harald und zeigte auf den düsteren Bau. „Da hinein kommt man nur mit Hilfe der rechtmäßigen Eingänge und mit Nachschlüsseln.“
Mocrisam hatte auf uns mit dem Abendessen gewartet. Er drückte uns die Hände.
„Ich war ihretwegen wirklich in Sorge. Dieses Weib, das hier ein paar Krokodilstränen vergoß, ist doch fraglos nicht ganz sauber! Es war eine Frechheit von ihr, unangemeldet bis zur Veranda vorzudringen.“
„– und zu horchen!“ fügte Harald hinzu.
„Das dachte ich mir!“ nickte der Professor. „Außerdem war –“
Da hatte Lingfu schon die Tür zum Speisezimmer geöffnet.
Am Tische saß bereits Mocrisams blinde Tochter Jane und deren neu engagierte Gesellschaftsdame Miß Helliops.
Erst nach der Tafel, als die Damen sich zurückgezogen hatten, sagte Harst im Rauchzimmer zu Lingfu, der Zigarren und das Spirituslämpchen reichte:
„Bring mir mal den Schlüssel der Hoftür.“
Lingfu erschien sofort wieder. Harald untersuchte den Schlüssel.
„Hm – keine Spur von Wachs!“ meinte er sinnend. Und dann teilte er Mocrisam seinen Verdacht mit, daß es sich hier um einen Anschlag auf die Schätze des Museums handeln könnte.
Mocrisam lachte. „Ausgeschlossen! Bester Harst, das Museum hat Stahltüren und Patentschlösser. Damit wir aber ruhig schlafen können, sollen Lingfu und Jupiter (das war der Neger) abwechselnd die Nacht über wachen. Wir können ja auch die beiden Hunde des Gärtners, der im Hofgebäude wohnt, ins Schloß nehmen.“
„Gut – also auch die Hunde!“ nickte Harst.
Es waren zwei echte amerikanische Bluthunde, starke Tiere, auf den Mann dressiert. Mit uns hatten die Bestien sich schnell angefreundet.
Mocrisam erteilte Lingfu die nötigen Befehle.
Eine halbe Stunde später wünschten wir Mocrisam gute Nacht und begaben uns in unsere Zimmer in den ersten Stock hinauf. Sie lagen im Mittelbau und waren durch zwei Flure mit Pendel-Glastüren von dem Seitenflügel getrennt, in dem das Museum des Professors sich befand.
Wir hatten drei Räume für uns, benutzten aber nur zwei. Aus dem Korridor führten zwei Türen in diese Zimmerflucht, die in sich abgeschlossen war. – Harald drehte die Schlüssel dieser beiden Türen von innen um und – steckte sie in die Tasche. Als ich ihn fragen wollte, weshalb er sie nicht in den Schlüssellöchern beließ, legte er rasch den Finger auf den Mund.
Ich schaute ihn an. Er schien völlig verwandelt. Sein Gesicht zeigte jenen Ausdruck aufs höchste gespannter Sammlung aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten, der den Zügen etwas unheimlich Starres gab. Und trotzdem sagte er in leichtem Plauderton: „Ich bin hundemüde, mein Alter! Wir hätten es uns sparen sollen, hinter Frau Steenhoope dreinzuschleichen. Mein Mißtrauen war diesmal unberechtigt.“
Dabei blickte er mich jedoch so scharf an, daß ich sofort begriff: Die Worte waren für einen Dritten bestimmt!
Wir befanden uns im mittleren der drei Räume. Rechts lag unser Schlafzimmer, links die Bibliothek des Schlosses, ein sehr großes Gemach mit Wandregalen, mehreren Tischen und Schränken und altertümlichen Sesseln. Die Flügeltür nach der Bibliothek stand offen.
Harst warf sich in die Sofaecke und gähnte. „Ich bin so müde, daß ich mich in Kleidern auf das Bett werfen könnte,“ sagte er abermals laut gähnend. „Hoffentlich weckt uns Lingfu nicht zu früh, obwohl wir ja ein paar Möwen am Strande schießen wollten.“ – Von Möwenjagd war bisher kein Wort gesprochen worden. Also ebenfalls Komödie – für einen Dritten!
„Gehen wir schlafen,“ fügte Harald hinzu. „Es ist ein Uhr geworden! Was bin ich bloß müde!“
Wir schalteten hier das Licht aus, betraten das Schlafzimmer und ließen die Tür offen.
Harald sprach jetzt über Frau Steenhoope, nannte sie eine recht sympathische Dame und – raunte mir zwischen zwei Sätzen zu: „In Kleidern ins Bett! Pistole und Taschenlampe mitnehmen!“
Wir taten so, als ob wir uns auszögen. Dann drehte ich das Licht aus. Unsere Bettstellen knackten. – „Gut’ Nacht!“ rief Harald noch, der nur seine Jacke abgelegt hatte.
Dann wurde es still.
Ich hatte die Taschenlampe in der Linken und in der Rechten die entsicherte Clementpistole. Ich lag wie im Fieber unter der Steppdecke. Die Erwartung dessen, was sich ereignen würde, ließ mein Herz jagen.
Wer konnte sich hier bei uns eingeschlichen haben? Woher wußte Harald dies? Wie konnte ein Fremder in das so gut versperrte Schloß Shipparl gelangt sein? Und – wer war dieser Fremde? – So zog immer eine Frage die andere nach sich; so zermarterte ich mir mein Hirn und fand nur dadurch einige Ablenkung, daß ich hin und wieder ein paar rasselnde Schnarchtöne nachahmte und andauernd in das Dunkel des Zimmers hinhorchte.
Auch Harald schnarchte. Mitunter warf er sich auch auf die andere Seite. Dann wieder wurde es für mehrere Sekunden totenstill. –
Die Schloßuhr schlug erst vier helle, dann zwei dumpfe Schläge, – also zwei Uhr morgens.
Da – kaum war der letzte Schlag verhallt, als ein weißes breites Messer die Dunkelheit zerschnitt – nur für einen Moment.
Eine elektrische Taschenlampe! Der, der sie eingeschaltet hatte, mußte auf dem Teppich nahe der Tür liegen. Der Lichtstrahl war von ganz tief aufgezuckt.
Harald schnarchte lauter, lallte auch wie im Schlaf ein paar Worte.
Mir lief der Schweiß über das Gesicht.
Die Entscheidung war da. – Was würde der Fremde tun?! – Ich blinzelte zwischen den Wimpern hindurch.
Und – es geschah nichts – nichts!
Die Schloßuhr schlug ½3. – Ich begann mich in Schweiß aufzulösen; ich wäre am liebsten emporgesprungen und hätte in das Dunkel alle neun Patronen meiner Clement hineingefeuert! Aber – ich mußte still liegen – mußte!
Das Bewußtsein, daß ein Fremder dicht neben meinem Bett mit einer Waffe oder einem mit Chloroform getränkten Tuche kniete, erzeugte in mir einen wilden Wunsch nach Rache. Wenn ich diesen Eindringling in die Finger bekam – dem sollte es gut gehen!
Dann – wie ein Hauch erreichte es mein Ohr:
„Ich bin’s – Harald!“
Er mußte sich am Kopfende meines[2] Bettes befinden.
„Du mußt ganz leise aufstehn. Ich werde an der Tür zum Bibliothekszimmer aufpassen,“ fügte er hinzu. „Zieh die Stiefel aus und folge mir. Diesmal sind wir scheinbar die Geleimten –“
Welch ein Genuß! Endlich konnte ich mich bewegen, endlich die Stiefel abstreifen!
Dann tastete ich mich Schritt für Schritt in den Wohnsalon und bis an die Flügeltür der Bibliothek. Hier waren die Vorhänge nicht zugezogen; hier gewöhnten sich meine Augen an das Dreivierteldunkel.
Vor mir ein langer dunkler Strich: Harald!
„Was ist eigentlich los?“ flüsterte ich.
„Etwas sehr Unangenehmes: wir sind eingesperrt worden!“ erwiderte er leise. „Der Kerl hatte mir völlig lautlos die beiden Türschlüssel aus der Jackentasche herausgeholt. Nun sitzen wir fest. Die Türen sind aus sehr dickem Eichenholz, und ehe wir die Schlösser mit unseren Werkzeugen zerstört oder die Riegel freigelegt haben, kann wer weiß was passieren. Jedenfalls ist der Eindringling nicht mehr hier. Ich hörte das ganz leise Knarren einer Tür. Es muß die gewesen sein, die aus der Bibliothek in den Flur führt.“
„Weshalb flüsterst Du so vorsichtig, wenn wir doch hier allein sind?!“
„Weil es noch eine zweite Möglichkeit gibt. – Ich habe gestern in der Bibliothek den Plan des Schlosses studiert, den Mocrisam gezeichnet hat. Er hat auch die Geheimtüren vermerkt. In der Bibliothek steht auf der Zeichnung ein Fragezeichen, von dem eine punktierte Linie durch die Mauern läuft und unten im Keller wieder in einem Fragezeichen endet. Das kann nur heißen: es soll einen geheimen Gang von der Bibliothek in den Keller geben, aber Mocrisam hat ihn nicht gefunden.“
„Ah – und Du denkst, der Eindringling –“
„Still!“
Auch ich hatte irgendwoher einen Ton gehört – etwas wie einen Schmerzenslaut, der sofort wieder verstummte.
„Wir müssen jetzt handeln!“ sagte Harald mit gedämpfter, aber sehr energischer Stimme. – Er schaltete seine Taschenlampe ein, eilte zur Flurtür der Bibliothek und hängte sein Schnupftuch über das Schlüsselloch.
Dann schaute er sich um und ließ den Lichtkegel über die Bücherregale und die alten, schweren Schränke gleiten.
Das Zimmer hatte eine Holztäfelung, die etwa drei Meter hoch reichte.
„Wenn es hier in der Täfelung eine Geheimtür gibt,“ erklärte Harst leise, „dann muß sie sich dort in jener Ecke befinden, wo die Wand der Bibliothek mit der des kleinen Querflurs zusammenstößt.“ – Der Lichtkegel blieb auf der Ecke haften.
In dieser Ecke stand ein Winkelregal, das nur etwa anderthalb Meter Höhe hatte. Harald beleuchtete jetzt die Bretter des Regals, das mit kleineren Büchern gefüllt war.
„Ah – siehst Du!“ meinte er lebhaft. „Hier sind die Regalbretter staubfrei; hier hat jemand die Füße aufgesetzt und hat das Regal als Leiter benutzt –“
Er tat dasselbe, trat genau auf dieselben Stellen, untersuchte dann die Wandtäfelung über dem Regal.
Auch ich hatte meine Taschenlampe aufblitzen lassen und verfolgte genau, wie Harald mit der großen Klinge seines Messers in die Ritzen der Täfelung, die geschnitzte Rankenornamente hatte, hineinfuhr.
Dann – zog er plötzlich das Eckstück der Täfelung auf. Es war eine quadratische Tür. Dahinter gähnte ein schmales Mauerloch, etwa anderthalb Meter hoch.
„Vorwärts!“ – Harald winkte mir. Ich kletterte ihm nach in das Loch hinein. Drei Schritt weiter lief eine Steintreppe steil in die Tiefe hinab. Nach fünfzehn Stufen stießen wir auf einen kurzen Gang und eine eiserne, niedrige Tür. Sie war nur angelehnt. Der Schlüssel steckte nicht im Schloß.
„Schnell – hole unsere Dietriche!“ meinte Harald.
Ich hastete zurück – die Treppe empor, kam vor die erste Eisentür, die wir weit offen gelassen hatten.
Aber – jetzt war sie zu – war nicht mehr zu öffnen!
Ein riesiger Schreck durchzuckte mich. Wir waren hier in den geheimen Verbindungsgang eingesperrt worden!
Ich eilte zu Harst zurück.
Kaum erblicke er mich, als er schon rief:
„Eingeschlossen – nicht wahr? – Ah, diese schlauen Schufte! Jetzt haben sie uns ganz fest! Hier aus diesen Granitquadern und Eisentüren gibt es kein Entrinnen!“
Ich stierte ihn an. Ich war keines Wortes mächtig.
„Der Eindringling ist natürlich noch in der Bibliothek verborgen gewesen,“ fügte er hinzu. „Die Bande hat das alles fein berechnet gehabt. Ich sage Dir: Das sind keine Neulinge, mein Alter! Das sind gewiegte Verbrecher, diese Verbündeten der schönen Frau Daisy!“
„Vielleicht kann man die Eisentüren doch irgendwie öffnen,“ meinte ich halb gegen meine Überzeugung.
„Nein – ohne Dietriche nicht! Das ist solide Arbeit.“ Und er setzte sich auf die zweite Treppenstufe, faßte in die Tasche und hielt mir sein goldenes Zigarettenetui hin.
„Bediene Dich und schalte Deine Taschenlampe gleichfalls aus. Hier gibt es nichts zu sehen – gar nichts!“
Seine Gelassenheit erschien mir etwas erkünstelt. Ich dankte für die Zigarette. Er aber rauchte und sagte dann nach einer Weile, als ich mich neben ihn gesetzt hatte:
„Ich will Dir jetzt erklären, weshalb ich den Mann mit dem roten Mal einen Schnelläufer[3] nannte – natürlich ironisch. Als ich an dem Schlüssel der Hintertür auch nicht die geringste Spur von Wachs fand, dachte ich mir gleich: dann ist der Mann mit dem roten Mal überhaupt nicht davongelaufen, sondern hat sich ins Schloß eingeschlichen! Und diese Annahme bestätigte ja die Bemerkung Lingfus, der sich dahin äußerte, der Bettler müsse noch sehr gut bei Kräften gewesen sein. Du besinnst Dich, daß ich dann sehr bald für kurze Zeit das Rauchzimmer verließ. Ich eilte leise in den ersten Stock und klemmte zwei kleine Papierstückchen geräuschlos so in die Drücker der beiden Türen unserer Zimmer, daß die Fetzchen herausfallen mußten, wenn jemand die Drücker bewegte. Ich hatte mir nämlich folgendes überlegt: Der Eindringling hat sich irgendwo im Schlosse versteckt. Er hat es fraglos auf uns abgesehen. Wir sind der Bande am gefährlichsten. Er wird jedoch nicht eher in unsere Zimmer sich hineinwagen, bis er überzeugt ist, daß wir beide nicht Verdacht geschöpft haben, es könnte der Bettler sich jetzt im Schlosse befinden. Und diese Überzeugung, daß eine Durchsuchung des ganzen Schlosses nicht erfolgen würde, mußte er in demselben Moment gewinnen, wo Mocrisam uns vom Fuße der Haupttreppe aus ein „Gute Nacht“ nachrief. Da erst ist der Mensch in unsere Zimmer geschlüpft, und zwar durch die Tür des Wohnsalons, denn der winzige Papierfetzen lag auf den Dielen vor der Tür. Deshalb wußte ich auch, daß wir zu dreien in unseren Zimmern waren –“
Er wollte noch etwas hinzufügen, unterließ es jedoch, legte mir nur die Hand auf den Arm.
Ich lauschte. – Drei Schritt vor uns lag die zweite Eisentür. Und von dorther vernahm ich leise Geräusche.
Dann wurde gegen die Tür geklopft.
Harald stand auf und schaltete seine Lampe ein.
„Wer da?“ rief er gegen die Tür.
„Daisy Steenhoope. – Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir das Museum bereits ausgeräumt haben, Herr Harst. Es tut uns leid, daß wir Sie fünf Tage lang hier einsperren müssen. Dann sind wir in Sicherheit. Wir werden am dritten Tage einen Brief an die Londoner Polizei senden, der am fünften in London sein wird. Sie sollen inzwischen nicht hungern und dürsten. Wir sind keine Mörder. Wenn Sie ehrenwörtlich versprechen, zehn Minuten lang an der oberen Tür zu bleiben, werden wir Ihnen Lebensmittel hineinstellen. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß wir Sie etwa vergiften wollen. Nein, das hätten wir nicht nötig. Wir könnten Sie ja einfach verhungern lassen. Diesen geheimen Gang kennt niemand, und die Granitquadern sind so dick, daß kein Hilferuf hindurchdringt.“
„Gut!“ rief Harald zurück. „Ich gebe Ihnen auch für Schraut die gewünschte Zusicherung. Ich möchte aber gleich bemerken, daß wir Sie nach Ablauf der fünf Tage verfolgen werden.“
„Das schadet nichts. In fünf Tagen geht jede Spur von uns verloren.“
„Noch eine Frage, Frau Steenhoope. Weshalb haben Sie diesen Plan [nicht][4] verschoben, bis wir abgereist waren?“sup>[5]
„Oh – einmal waren wir mit den Vorbereitungen fertig, und dann war es uns nur lieb, daß wir Sie beide für mehrere Tage einsperren konnten.“
„Danke. – Wir gehen jetzt nach oben an die erste Eisentür.“ –
Dort setzten wir uns nieder. Der Treppenschacht war wie ein Schalltrichter. Wir hörten von unten das Knirschen der Gelenke der Eisentür, Flüstern und Poltern – so, als ob eine Kiste hingestellt würde. Dann wieder Stille.
„Wenn sie uns nur nicht einen neuen Streich spielen!“ meinte ich beklommen.
Harald blieb stumm. Er rauchte wieder. Wir saßen im Dunkeln, und ich sah an dem Aufglühen seiner Zigarette, wie schnell er Zug auf Zug aus der Zigarette folgen ließ.
„Sie können zum Beispiel uns ersticken wollen,“ fügte ich hinzu.
Harst regte sich nicht.
„So sprich doch!“ rief ich ungeduldig. „Unsere Lage ist doch wahrlich nicht –“
„Nein,“ unterbrach er mich, „unsere Lage ist wahrlich ganz anders, als Daisy Steenhoope denkt! – Ich möchte Dich etwas fragen, mein Alter: Weshalb mag der Erbauer dieses ältesten Teiles des Schlosses wohl in den geheimen Gang nach den Kellern zwei eiserne, verschließbare Türen eingefügt haben?! Erscheint Dir das nicht recht unsinnig? Was sollen in einem so tadellos versteckt angelegten Geheimweg zwei starke Eisentüren?! Hast Du je etwas Ähnliches gefunden? Wir kennen doch viele Schlösser mit solchen verborgenen Ausgängen. Noch nie haben wir aber –“
Er hatte bei den letzten Worten seine Lampe aufleuchten lassen und auf seine Uhr geschaut.
„Die Zeit ist um,“ sagte er lebhaft, ohne den vorherigen Satz zu vollenden, und sprang empor. „Uns beide –“ – Das weitere flüsterte er mit einem Wink nach der Eisentür hin – „sperrt man nicht so leicht ein! Wenn der Erbauer dieses Schlosses hier in den Gang zwei Eisentüren eingefügt hat, so ist das meines Erachtens ein Beweis dafür, daß es zwischen diesen Eisentüren in diesem Gange noch einen Ausgang geben muß, also eine Geheimtür, deren Anlage nicht recht geglückt war, so daß –“
„– daß der Schloßherr die Befürchtung hegte, sie könnte vielleicht entdeckt werden, wenn für ihn die Stunde der Gefahr da war,“ beendete ich Harsts Ausführungen. „Das heißt: der Schloßherr wollte durch die Eisentüren die Möglichkeit schaffen, diesen Gang nach beiden Seiten hin abzusperren, falls etwa seine Feinde – und das werden politische Gegner jenen unruhigen Zeiten entsprechend gewesen sein – das finden sollten, was Du soeben den Ausgang nanntest.“
„Stimmt, mein Alter! Genau so habe ich mir’s überlegt – genau so! Gewiß – unsere Vermutung kann falsch sein. Aber – irgend einen Zweck müssen die Türen doch haben! Also – sehen wir zu, ob wir auf der richtigen Fährte sind! Daisy Steenhoope und ihre Verbündeten sind ja fraglos bereits auf dem Wege nach der Jacht. Immerhin ist es gut, die Stimme zu dämpfen.“
Er eilte die Treppe hinab. – Unten vor der zweiten Tür fanden wir einen flachen Kasten, der allerlei Lebensmittel enthielt. Daneben stand eine Blechkanne mit Wasser.
„Sehr anständig!“ meinte Harald und pochte an die Eisentür, rief: „Frau Steenhoope, noch eine Frage –“
Niemand meldete sich. Da begannen wir die Geheimtür zu suchen.
Wir suchten volle drei Stunden, befühlten jede Steinquader, jede Stufe der Treppe. Wir fanden nichts. Mir tat das Kreuz bereits weh vom vielen Bücken. Ich wurde immer mutloser, sagte schließlich: „Geben wir es auf, Harald!“
„Bitte – wir sind ja noch nicht fertig! Wir haben die Stufen, die Wände, den Steinplattenboden vor den Türen besichtigt, nur – die Decke fehlt noch!“
Er ließ den Lichtkreis seiner Lampe nach oben fallen. Er hatte bereits die letzte Ersatzbatterie in die Lampe eingeführt, und die kleine Birne glühte nur noch schwach.
„Ich werde auf Deine Schultern steigen!“ – Da war er schon oben.
Die Decke bestand ebenfalls aus Granitquadern und war leicht gewölbt.
„Geh’ langsam die Treppe hinab,“ befahl er. – Er reichte mit den Händen bequem bis an die Decke, die im Treppenhals bedeutend höher lag als in den kurzen Gängen.
Ich war acht Stufen hinabgestiegen, als er über mir fröhlich auflachte.
„Wir haben’s!“ meinte er. „Hier ist ein Stein, der kein Stein ist, und daneben ein zweiter und dritter! Es ist Holz, das man sehr geschickt angestrichen hat, also eine Falltür. – Warte – ich drücke jetzt! Steh’ fest! – Gewonnen!“ jubelte er. „Das Ding ist offen! Darüber gibt es einen kurzen Schacht und – ja – eine zweite Falltür in einer Zimmerdecke. So – auch sie ist jetzt hochgeklappt.“
Er schwang sich empor, verschwand. – Ich sah ein ovales Loch, in dem Harsts Füße baumelten. Dann zog er sie hoch, rief mir zu: „Es ist das Museum. Draußen wird es bereits hell. Ich werde einen der Vorhänge abreißen, damit Du daran hochklettern kannst –“
Wenige Minuten später stand auch ich in dem Museum Professor Mocrisams.
Wir fanden die Tür nach dem Flur weit offen vor. Wir hasteten die Haupttreppe hinab. Dann stutzte Harst. Auf der untersten Stufe lag der Bluthund mit eingeschlagenem Schädel auf dem Rücken. –
Als wir gegen die Schlafzimmertür Mocrisams hämmerten, waren wir beide überzeugt, daß die Diebesbande ihn betäubt hatte.
Aber – er meldete sich sofort, hüllte sich dann in einen Schlafrock und folgte uns, bleich vor Ärger über den Raub der kostbaren alten Schmuckstücke, die in ihrer Art unersetzlich waren. Nach zehn Minuten entdeckten wir Lingfu und Jupiter in einer Kammer neben der Küche – gebunden und geknebelt. Wir befreiten sie und stürmten ins Museum. Sämtliche Glaskästen waren hier leer.
Mocrisam hatte sich bereits wieder gefaßt. Als er die offene Falltür im Parkettboden besichtigte, erklärte er, daß er von ihrem Vorhandensein ebensowenig etwas gewußt hätte wie von der Geheimtür in der Bibliothek und von dem Geheimgang nach dem Keller.
Harst ließ Jupiter eine Leiter holen. Wir stiegen dann in den Gang hinab. Die Schlösser der beiden Geheimtüren widerstanden unseren Dietrichen nicht lange. Wir stellten fest, daß der Gang im Keller hinter einem großen, sehr alten Weinfaß mündete, wo es in der Mauer abermals eine verborgene Tür gab. Der Keller wieder hatte einen zweiten Ausgang durch eine Falltür, die in einen längst eingestürzten Pavillon im Parke führte.
Mittlerweile war es Tag geworden. In den Trümmern des Pavillons und um diesen herum fanden wir zahlreiche Spuren. Sie liefen nach der östlichen Parkmauer hin. Hier lag auch der zweite Bluthund, der offenbar vergiftet worden war.
Wir kehrten ins Schloß zurück. – Lingfu und Jupiter konnten nicht viel berichten. Sie waren einzeln im oberen Flur von drei Männern niedergerungen worden, nachdem man ihnen Schlingen um den Hals geworfen und zugezogen hatte.
Harst riet Mocrisam dann, die Plünderung des Museums vorläufig geheim zu halten. – „Ich hoffe bestimmt, die ganze Bande abzufassen,“ fügte er hinzu. „Wenn jedoch die Sache an die Öffentlichkeit kommt –“ – Er schwieg ein paar Sekunden. „Nein,“ erklärte er nun. „Sie müssen der Polizei doch Meldung erstatten. Nur von dem unterirdischen Gang und davon, daß Schraut und ich frei sind, dürfen Sie nichts verraten. Wir werden das Schloß gleich nach dem Frühstück verlassen und die Verfolgung der Flüchtlinge aufnehmen.“ –
Mocrisam war einverstanden. Um sieben Uhr morgens fuhr ein anscheinend leerer Jagdwagen, den Jupiter lenkte, zum Parktor hinaus. Unter den Sitzen des Wagens hockten Harald und ich in der Maske älterer Herren. Unsere Koffer standen zwischen uns.
Der Wagen hielt erst in einem Wäldchen nahe der Kanalküste. Hier stiegen wir aus, mieteten dann einen Fischkutter und landeten um zehn Uhr unweit Dover.
Abends passierten wir bereits Paris. Unser Ziel war Fiume, von wo wir einen Tourdampfer nach Alexandria benutzen wollten. –
Fünf Tage später verhandelten zwei blondbärtige Engländer in dem Dorfe Giseh[6] mit einem gerissenen Beduinen über den Ankauf von zwei Reitkamelen und eines Lastkamels. Der braune Sohn der Wüste glaubte uns gründlich übers Ohr hauen zu können. Er merkte jedoch sehr bald, daß wir etwas von Kamelen verstanden. Schließlich einigten wir uns. Nachdem das Geschäft abgeschlossen war, begann Harald den alten Spitzbuben auszufragen – ob er vielleicht wüßte, daß ein paar Europäer und eine Dame vorgestern oder gestern hier in Giseh oder in einem anderen Nildorfe Kamele gemietet oder gekauft hätten.
Der braune Gauner hielt erst mal die Hand auf. Harst drückte eine Banknote hinein. Worauf der Alte sagte, sein Bruder Jussuf hätte weiter südlich in Menil Schika vorgestern abend vier Reit- und zwei Lasttiere auf eine Woche gegen Sicherheitsleistung vermietet. Die drei Herren und die Dame hätten allein einen Ritt nach den Natronseen unternehmen wollen und seien gestern mittag aufgebrochen.
Harald warf mir einen triumphierenden Blick zu. Wir hatten es hier ja fraglos mit Daisy Steenhoope und den anderen Dieben zu tun. Seine Annahme, die Bande würde versuchen, das doch offenbar recht wertvolle Geheimnis der Oase Tschamra zu lüften, hatte sich bestätigt. Bisher hatten wir von den Flüchtlingen weder in Alexandria noch in Kairo etwas entdeckt: hier fanden wir sie wieder!
Am folgenden Morgen in aller Frühe verließen wir Giseh. Unsere Tiere waren leider recht mäßig. Sie hatten ihre Tücken[7], besonders das bissige Lastkamel, das unseren Proviant und die Wasserschläuche trug.
Gegen Mittag hielten wir ein paar Stunden Rast in einem tiefen, sandigen Tale. Harst hatte der Ritt so erfrischt und mitteilsam gemacht, daß er ganz von selbst auf das Blatt mit der Geheimschrift zu sprechen kam.
„Du sollst nun auch wissen, was die Zahlen und die Worte auf dem Blatt bedeuten,“ meinte er. „Die Oase Tschamra ist nach Süden zu von einem Palmenwald umgeben. Dieser ist ziemlich groß. Die Palmen stehen in weiten Abständen. Man wird also wohl das Richtige treffen, wenn man zunächst die fünf südlichsten Palmenstämme dieses Waldes sich heraussucht und dann beim „fünften vom Südpol“, also dem fünften nach Norden zu gerechnet, „zum Nil“, also nach Osten abschwenkt und in dieser Richtung bis zur vierten Palme geht, dann wieder bis zur dritten „zum Nordpol“, das heißt nach Norden, weiter nach Westen bis zur zweiten, denn das Atlasgebirge liegt ja im Westen der Oase, und schließlich von diesem Baume an das Ziel einen Baum nach Süden zu. – Ich denke, diese Lösung wird stimmen.“
Ich war verblüfft über diese einfache Erklärung, sah aber ein, daß sie gerade ihrer Einfachheit wegen stimmen mußte.
Um Haralds mitteilsame Stimmung auszunutzen, fragte ich das, was mir schon lange auf der Zunge brannte.
„Bei diesem großzügigen Plan der Diebesbande ist mir eins unklar, wie haben die Gauner Kenntnis von dem geheimen Gang erhalten, von dem nicht einmal Mocrisam etwas wußte?“ sagte ich äußerst gespannt auf Harsts Antwort.
„Du hättest der Bibliothek mehr Aufmerksamkeit schenken sollen,“ erwiderte er. „Dort befand sich auch eine Chronik des Schlosses mit Eintragungen bis in die jüngste Zeit. Der Professor hat das Schloß, das in den letzten dreißig Jahren viermal den Besitzer gewechselt hat, von einem gewissen Reginald Broux erworben, und dieser Broux war der Großvater mütterlicherseits der Frau Daisy Steenhoope, die mit Vatersnamen Pleaner hieß, wie ich auf eine telephonische Anfrage bei der Londoner Polizei erfuhr. Du besinnst Dich, daß ich in Dover vor Abfahrt des Kanaldampfers noch telephonierte. In der Chronik stand nun, von Reginald Broux persönlich geschrieben: „Meine kleine afrikanische Enkelin (Daisy Pleaners Vater war ja Farmer) hat heute eine Entdeckung gemacht, die nur ihrem Hang nach Geheimnissen aller Art zuzuschreiben ist und die sie, wie ich sie bat, verschweigen soll.“ Dann folgte das Datum des betreffenden Tages. Ich glaube richtig zu kombinieren, wenn ich diese „Entdeckung“ für den geheimen Gang halte. – Daisy hat ihre Entdeckung nun viele Jahre später entsprechend ihrer besonderen Veranlagung – sie dürfte wohl die geistige Führerin der Gaunerbande sein – zu ihrem Vorteil ausgenutzt. Natürlich ist ihr Gatte noch am Leben und wird mit zu den Dieben gehören, ebenso wie er auch das Brillanthalsband gestohlen hat. Ich sagte Dir ja bereits damals, als wir Frau Daisy kaum kennengelernt hatten, daß sie ein sehr gefährliches Weib ist. Wo Schönheit, Klugheit, Gewissenlosigkeit, schauspielerische Talente und verbrecherische Neigungen sich in einer Frau vereinen, hat man es stets mit einer Persönlichkeit zu tun, die weit mehr zu fürchten ist als ein Mann von ähnlichen Charaktermerkmalen. Wir müssen deshalb auch, sobald wir uns der Oase nähern, mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen. Wahrscheinlich werden wir sie übermorgen nacht[8] erreichen, was durchaus meinen Absichten entspricht. Es kommen nur sehr selten Touristen dorthin. Würden wir am hellen Tage auf die Oase zureiten, dann könnten wir leicht unangenehme Überraschungen erleben. Nachts aber ist uns die Möglichkeit gegeben, unbemerkt Daisy Steenhoope und ihre Freunde zu beschleichen und festzunehmen. So, jetzt wollen wir wieder aufbrechen –“
Elf Uhr abends.
Im Zauberlicht des bläulichen Vollmondes lag dort vor uns die Oase Tschamra. Der Abendwind wiegte die Kronen der schlanken Palmen hin und her.
Kein Laut ringsum. Nur ganz weit irgendwoher das häßliche Kläffen einer Hyäne. –
Wir hatten unsere drei Tiere in einem kleinen, steinigen Tale zurückgelassen, waren dann auf die Südspitze des Palmenwaldes zugeschlichen, die wir jetzt etwa hundert Meter vor uns sahen.
Harst und ich lagen hinter einer Sanddüne. Es erschien Harald noch zu früh, die Oase zu betreten. Wir hatten vor einer Viertelstunde noch zwischen den Palmen dunkle, sich hin und her bewegende Schatten gesehen.
Harald hatte sein Fernglas an den Augen. Dann sagte er, indem er es in das Futteral zurückschob: „Wir liegen hier genau südlich von der letzten, sehr starken Palme der Waldspitze. Ich habe soeben die Bäume abgezählt, die nach Norden zu in einer Richtung stehen. Der fünfte Baum –“
Der dünne Knall eines Revolverschusses, der nur in der Oase abgefeuert sein konnte, ließ ihn schweigen.
Wir lauschten. Es blieb still.
„Hm,“ meinte Harst, „es soll vorkommen, daß auch eine Diebesbande sich entzweit. Vorwärts – im Bogen nach links auf den Wald zu!“
Wir liefen tief gebückt hinter einer Sanddüne weiter. Dann schlüpften wir von Baum zu Baum, stets lauschend, stets die Clementpistolen entsichert bereit.
Wir mußten den Tempelruinen ausweichen, kamen an den kleinen Wassertümpel, der den Palmen die nötige Feuchtigkeit spendete. Wir bemerkten nichts Lebendes.
„Sie stecken irgendwo in den Ruinen,“ flüsterte Harst. „Kriechen wir – stets im Schatten der Palmenkronen.“
Der Boden war mit großen schwarzen Flecken betupft. Das waren die rundlichen Schatten der Bäume: das war der einzige Schutz für uns.
Harald bewegte sich nach links zu. Hier standen noch ein paar viele Meter hohe Wände; hier hatten sich Wüstenpflanzen angesiedelt.
Dann schlug eine schrille Stimme an unser Ohr.
Es war nur ein einzelnes Wort gewesen: „Schuft!“
Ein Lachen folgte. Nun erregtes Durcheinandersprechen, mehr ein Gemurmel, das durch die rauschenden Palmen noch undeutlicher wurde.
Harald kroch weiter. An dieser Stelle war es nicht möglich, in die Schuttmassen einzudringen. Herabpolternde Steine hätten uns sofort verraten.
Wir umrundeten so den östlichen Teil der Ruinen, der ein gesondertes Ganzes bildete. In diesem Teil befanden sich die Leute, die wir suchten. Aber das Gestrüpp und das lose Geröll waren für uns unüberwindliche Hindernisse.
Nun standen wir an der höchsten der noch erhalten gebliebenen Tempelwände. Dicht daneben erhob sich eine Palme. Und – in der Mauer gab es vier Meter über dem Erdboden ein viereckiges Loch.
Abermals die schrille Stimme. Abermals das hämische Lachen.
Harst drückte mich an die Palme heran, stieg mir auf die Schultern, kletterte an dem Stamm höher, der oben fast die Mauerkrone berührte.
Ohne jedes Geräusch schwang er sich dann in die ehemalige Fensteröffnung hinein, legte sich hier platt auf den Bauch und ließ seine Jacke herab, zog mich so gleichfalls empor.
Im Innern der Ruine versperrte uns ein steiler Schutthügel jede Aussicht. Wir konnten hier jedoch bequem hinabsteigen. Es gab hier überall feste Mauerklötze, die als Treppenstufen zu benutzen waren.
Dann drängten wir uns zwischen Schutthügel und Wand hindurch. Nach Westen zu erhob sich die andere Grundmauer des Tempels. Und dort über niedrigen Schuttmassen schimmerte ein rötlicher, flackernder Lichtschein.
Wir vermieden jeden Fleck, der mit Geröll bedeckt war. Wir stellten die Füße nur hin, nachdem wir kleinere Steine mit den Händen beiseite geschafft hatten. Dann endlich konnten wir zwischen den gelben Stauden der großen Wüstendistel auf einen tiefer gelegenen freien Platz hinabschauen.
Dort links standen sechs Kamele. Vor uns brannte ein kleines Feuer. An der Mauer saßen Daisy Steenhoope und ein Mann mit blondem Spitzbart – beide gefesselt. Dicht vor ihnen ruhte ein anderer Mann auf einer Wolldecke und rauchte eine Zigarre. Griffbereit lag ein Revolver neben ihm.
Weiter rechts aber, halb durch Gestrüpp verborgen, starrte ein bartloses Männergesicht mit gebrochenen Augen zum nächtlichen Himmel empor. Auf der Stirn dicht unter den Haaren befand sich eine schwärzliche Stelle, von der ein Strich nach der Nase hinlief: Blut! –
Der Mann, der so behaglich seine Zigarre rauchte, war ein stiernackiger Kerl mit wulstigen Lippen und einem ungepflegten dunklen Schnurrbart. Er lachte jetzt abermals kurz auf, sagte dann:
„Weshalb mußtest Du auch ausgerechnet die verrückte Idee haben, hier nach Schätzen zu suchen! Lächerlich! Was ging Dich der Wisch Papier an, den Du Harst abgeschwindelt hast! Gar nichts ging der Wisch Dich an! Wir hatten genug, um behaglich leben zu können. Deine Geldgier und Deine verdammte Eitelkeit sind an allem schuld. Du wolltest mir beweisen, daß Du den Wisch richtig gedeutet hättest, daß es sich um Himmelsrichtungen und Palmenbäume handelte! Na – wir haben die Bäume ja richtig abgezählt, haben die einzelne Palme „zum Südpol“ gefunden, haben dort die Erde aufgewühlt und nichts – nichts entdeckt als Sand! Ich war gleich dagegen, hier mit diesem Abstecher Zeit zu vertrödeln. Wären wir mit dem Neptun sofort in See gegangen, dann hätten wir, wie ursprünglich verabredet, längst in Lissabon in Sicherheit sein können. Die Jacht hätten wir an der Küste versenkt, und alles wäre gut und schön gewesen. Nun aber mußtest Du hier sogar noch darauf bestehen, daß wir noch weiter nach den Schätzen suchen sollen! Ne, Daisy, – ich fühle mich hier nicht mehr sicher, und Edward sagte auch, man könnte nie wissen, ob Harst nicht doch früher, als wir denken, sich befreit. Da mußte es zwischen uns zum Streit kommen. Das Tom dann gleich den armen Edward niederknallte, das war –“
„Lügner!“ rief Frau Steenhoope verächtlich. „Ihr beide hattet längst im Sinn, uns um die Beute zu betrügen! Ich las es aus Euren Blicken! Tom hätte nie abgedrückt, wenn Du mir nicht an die Kehle gesprungen wärest! – Schweig jetzt! Du bist es nicht wert, daß man Dich anspeit!“
Der Stiernackige zuckte die Achseln. „Wirst keine Gelegenheit mehr dazu haben,“ meinte er. „Ich werde Edward jetzt irgendwo einbuddeln, und dann reite ich nach Alexandria, wo ich als einzelner schon verschwinden werde. Was aus Euch beiden hier wird, ist mir gleichgültig. Die Tiere und den ganzen Raub nehme ich mit. Und – damit Ihr Euch nicht zu rasch gegenseitig die Fesseln abnehmt, werde ich Euch noch etwas in den Schlund gießen, wonach Ihr zwei Tage schön fest schlafen sollt. Solltet Ihr Euch zu trinken weigern, dann gibt’s ja noch Mittel. Euch –“
„Wir weigern uns nicht!“ rief Daisy Steenhoope wieder. „Mach’, daß Du uns aus den Augen kommst! Wir werden Dich zu finden wissen! Und – das sage ich Dir gleich, Harry: ich hetze auch Harst auf Deine Spur! Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Harst wird ohnedies vermuten, daß wir uns hierher gewandt haben –“
„Bestie!“ zischte der Stiernackige. „Dann werde ich Euch beide mitten in der Wüste aussetzen!“
Er hatte sich auf die Hände gestützt, halb aufgerichtet und Daisy die Drohung förmlich ins Gesicht geschrien.
Sie hatte mit angezogenen Beinen an der Mauer gesessen.
Was diese Frau vermochte, welche Kraft und Geschmeidigkeit sie besaß, das sollten wir jetzt erst merken.
Ihre gefesselten Füße mit den derben, braunen Schnüren schnellten empor – trafen den Mann gerade vor die Stirn.
Es mußten Schuhe mit schmalen Absätzen gewesen sein, denn der Stiernackige, dem der Kopf nach hinten fuhr, brüllte: „Meine Augen – meine Augen!“
Da erhielt er den zweiten Stoß. Da hatte sich auch schon Tom Steenhoope über ihn geworfen, drückte ihn zu Boden, während Daisy mit den gefesselten Händen nach dem Revolver langte. –
Harst sprang hinter den Disteln hervor.
„Genug!“ rief er und bedrohte die drei mit der Clementpistole. „Setzen Sie sich wieder an die Mauer! – Schraut – binde den Menschen!“
Die beiden Steenhoopes waren einen Moment wie gelähmt. Aber – sie gehorchten dann schweigend, und Daisy sagte sogar erleichtert aufatmend:
„Gut, daß Sie noch zur rechten Zeit eingriffen, Herr Harst! Ich hätte Harry Fleckser sonst niedergeschossen.“
Der Stiernackige gab gleichfalls jeden Widerstand auf, als Harst ihm nochmals mit einer Kugel drohte. Seine Augenhöhlen bluteten und tränten. Harald wusch sie ihm nachher aus. Der Mann erblindete trotzdem später im Untersuchungsgefängnis.
Aus dem Verhör, das Harst mit Frau Steenhoope anstellte, ergab sich, das Fleckser der Eigentümer der Motorjacht war, die jetzt in einem französischen Nordhafen lag. Die Bande bestand im ganzen aus sechs Leuten. – Daisy verschwieg nichts. Sie sah ein, daß das Spiel verloren war. Sie bestätigte, was Harst sofort vermutet hatte: sie war als Spionin nach Schloß Shipparl gekommen; sie hatte in das Märchen von ihrem unschuldig verfolgten Manne geschickt den angeblichen Brief eingeflochten, um das Blatt mit der Geheimschrift für sich beanspruchen zu können. Ihr Mann hatte den hungrigen Bettler gespielt, und der vorhin von ihm erschossene Edward war in gleicher Verkleidung auf dem Wege unterhalb der Schloßterrasse erschienen, damit niemand merken solle, daß Tom sich ins Schloß geschlichen hätte. Der Zettel unter dem Stein war für Edward bestimmt gewesen, der, um jeden Verdacht zu vermeiden, nicht nach der Jacht kommen sollte. – Die Beute der Diebe aber fand sich vollzählig in einer Ledertasche wieder, die in dem Tragkorbe des einen Lastkamels verwahrt war. Den Brillantschmuck hatte Tom Steenhoope längst zu Gelde gemacht. – Daß die Bande noch mehr Diebstähle verübt hatte, unterlag keinem Zweifel. Hierüber verweigerten die drei jedoch jede Aussage. –
Als der Morgen graute, begruben wir den Toten und führten die Gefangenen nach jener Palme, die durch die Angaben der Geheimschrift allein gemeint sein konnte.
Dieser alte Palmenstamm stand recht schräg. Seine Krone berührte die der nächsten Palme.
Harald musterte schweigend minutenlang die Umgebung. Es gab hier keine Ruinen in der Nähe, nur kahlen Sandboden und ein paar Wüstenpflanzen.
„Sie werden nichts finden, Herr Harst,“ sagte Daisy Steenhoope etwas spöttisch. „Wir haben, wie Sie sehen, die Erde rund um den Stamm meterweit durchwühlt.“
Harald erwiderte nichts. Seine Blicke glitten den Baum entlang und blieben oben an den beiden sich berührenden Kronen haften.
Dann begann er emporzuklettern. Er ließ sich Zeit. Er verschwand in den Zweigen.
„Haben Sie etwas entdeckt?!“ rief Frau Steenhoope neugierig nach oben.
„Nein – nichts!“
Er kam wieder herunter – tatsächlich mit leeren Händen.
„Wenn es hier etwas wie einen Schatz oder ein Geheimnis gegeben hat, dürfte es bereits zu spät sein, danach zu forschen,“ meinte er.
„Sie vermuten, jemand anders sei uns zuvorgekommen?“ fragte die Frau enttäuscht.
„Vielleicht!“
Und diese Antwort sagte mir, daß Harald doch etwas gefunden hatte. –
Wir brachen dann mit unseren Gefangenen auf. Als wir sie in Kairo abgeliefert und alles Nötige zu Protokoll gegeben hatten, erklärte Harst auf dem Wege nach unserem Hotel:
„Morgen, mein Alter, kehren wir nochmals nach der Oase Tschamra zurück. Oben in der Krone der Palme war eine Blechbüchse mit einem großen Nagel befestigt, offenbar eine Konservenbüchse. Sie dürfte das Rätsel der Oase enthalten – ein Rätsel, keinen Schatz! Wir werden damit noch viel Arbeit haben, fürchte ich. Aber es wird eine interessante Arbeit werden.“
„Woher weißt Du, daß die Büchse keine Kostbarkeiten birgt?“ fragte ich rasch.
„Weil ich den Deckel aufgebogen und hineingeschaut habe. Es war lediglich ein flacher, glatter Stein von Handgröße darin. Ich habe ihn nicht berührt. Ich will ihn mir in Ruhe ansehen.“ –
Der Stein führte uns zur leeren Tonne.
Harald Harst hatte sein Reitkamel mit einem Ruck zum Stehen gebracht.
Die Palmen der Oase lagen etwa hundert Meter vor uns. Nach rechts zu stand jener etwas schräge Baum, an dessen Fuß Daisy Steenhoope einen großen Schatz zu finden gehofft hatte. Die Palme erhob sich auf einer kleinen Lichtung und war auch von hier aus deutlich zu erkennen.
Als Harst so plötzlich halt gemacht hatte, wollte ich feststellen, was ihn hierzu veranlaßt haben könnte. Ich schaute ihn an. Ich sah, daß sein Blick auf die Palmen gerichtet war, nicht auf die Stämme, sondern auf die Kronen. Dieser Blick haftete beharrlich auf demselben Punkt.
„Was gibt’s?“ fragte ich dann.
„Einen eingeknickten Zweig. – Es dürfte sich empfehlen, mein Alter, die Pistolen zur Hand zu nehmen. Vorwärts!“
Aber – er ritt jetzt nicht mehr geradeaus, sondern im Bogen um die Oase herum.
Ich trabte hinter Harald drein. Als ich ihn eingeholt hatte, rief er mir zu: „Wir müssen feststellen, ob frische Fährten in die Oase führen. Der eingeknickte Palmenzweig gibt sehr zu denken!“
„Weshalb? Nur ein Zweig?! Ich begreife das nicht recht.“
„Du wirst es begreifen –“
Er ließ sein Tier schärfer traben. Ich hatte das Lastkamel am Riemen, und das träge Vieh machte wieder einmal Miene, bockbeinig zu werden. So blieb ich denn eine ganze Strecke zurück.
Harst ritt wirklich im Kreise um die Oase herum, bis wir wieder auf unsere eigenen Spuren stießen.
Er wartete jetzt auf mich. – „Na – etwas bemerkt?“ fragte er kurz.
„Ja. Eine recht schwache Fährte, die nach Norden lief,“ erwiderte ich.
„Stimmt. Eine Doppelfährte. Ein Kamelreiter kam gestern morgen von Norden her und hat die Oase sehr bald wieder nach Norden zu verlassen. Älter kann die Spur nicht sein.“
„So schätze ich auch. – Was geht uns der Reiter an?“
„Das wirst Du gleich sehen.“
Wir ritten bis zu der schrägen, dicken Palme, die mit ihrer Krone eine andere, etwas jüngere und schlankere berührte. Wir stiegen ab. Unsere Tiere begannen sofort die spärlichen Pflanzen abzuknabbern.
Jetzt sah auch ich, daß in der Krone der schrägen Palme ein Zweig eingeknickt war, herabhing und hin und her pendelte.
„Der Zweig war vor fünf Tagen, als wir von hier mit unseren Gefangenen wegritten, noch heil,“ meinte ich.
Harst nickte. „Das ist ja eben das Auffallende.“
Er begann dann die Palme zu erklimmen. Ich beobachtete, wie er jetzt den eingeknickten Zweig untersuchte.
„Frische Bruchstelle – von gestern früh etwa,“ rief er herab.
Nach einer Weile wieder: „Ich werfe die Blechbüchse hinunter – Achtung!“
Die leere Konservenbüchse, deren Deckel bis auf eine zentimeterlange Stelle rund aufgeschnitten war, rollte mir vor die Füße. Sie war leer, sehr verrostet und hatte im Boden ein Loch, in dem ein langer eiserner Nagel steckte. Mit diesem Nagel war sie oben in der Krone befestigt gewesen. Den Stein, den sie enthalten hatte, schien Harald an sich genommen zu haben.
Er kletterte jetzt wieder herab, stand vor mir und sagte bedächtig:
„Man kann hier viel lernen, sehr viel. Der Stein ist – verschwunden!“
„Ah – wirklich?!“
„Tatsache, lieber Alter, – verschwunden. Suchen wir uns einen schattigen Lagerplatz. Eine Stunde werden wir Rast machen. Dann müssen wir weiter.“
Wir nahmen die Tiere am Zügel und wandten uns den alten Tempelruinen zu.
„Also dem Reiter nach?“ meinte ich.
„Freilich – dem Reiter nach! Der Mann hat allen Anspruch auf unser Interesse.“
Wir banden die drei Kamele so fest, daß sie sich genügend bewegen konnten, gaben ihnen Futter und Wasser und setzten uns dann in den Schatten eines Mauerrestes, holten unsere Lebensmittel hervor und aßen.
Harald schwieg jetzt. Ich sah ihm an, daß seine Gedanken sich mit dem Reiter beschäftigten. Nach einer Viertelstunde waren wir gesättigt.
Harst zündete sich eine Mirakulum an, ich eine Zigarre.
Harald zog den Rauch mit Behagen ein und formte gut gelungene Rauchringe, die freilich sehr bald zerflatterten.
„Ein seltsamer Fall,“ sagte er dann unvermittelt. „Man muß sich die Hauptzüge klar machen, um zu erkennen, wie seltsam er ist. – Also: wir verhaften vor etwa vierzehn Tagen auf Schloß Shipparl einen Betrüger und Erpresser namens Stuart Jefferson, dessen Brieftasche der Gentlemangauner Vincent Saalborg stiehlt. Dieser findet in dem Portefeuille ein Blatt Papier mit einer Geheimschrift, die auf jene schräge Palme hinweist. Außerdem steht auf dem Blatt noch „Oase Tschamra finde!“ – Wir sind dann hergekommen, und ich stelle fest, daß auf der betreffenden Palme in einer Konservenbüchse ein flacher Stein liegt – sonst nichts! Wir kehren fünf Tage später zurück, um zu sehen, was der Stein bedeuten mag, und – der Stein ist weg! – Schade, hätte ich ihn doch zu mir gesteckt! Aber wie konnte ich ahnen, daß er gestohlen werden würde?!“
„Das Seltsame liegt darin, daß den ganzen Umständen nach uns jemand heimlich gefolgt sein muß, der beobachtete, wie Du vor fünf Tagen die Palme erklettert hast.“
Harst schaute mich sonderbar an.
„Wie schwer es doch ist, logisch zu denken, mein Alter,“ sagte er kopfschüttelnd. „Gestatte, daß ich Deine Ansicht korrigiere. Der Zweig ist frisch geknickt – gestern früh etwa. Der einzelne Reiter kam von Norden, ritt nach Norden zurück. Sonstige Fährten bemerkten wir nicht. Also kann nur er den Stein aus der Blechbüchse herausgeholt haben – nur er! Und – er kann mich hier in der Oase nicht beobachtet haben, als ich damals die Palme erstieg.“
„Hm – weshalb nicht?!“
„Weil, wenn er mich vor fünf Tagen hier beobachtet hätte, er wohl kaum bis gestern früh gewartet, sondern sofort nach unserem Wegritt den Stein sich geholt und die Oase verlassen haben würde. Außerdem – Du hast ja selbst seine Spuren gesehen: sie führten von Norden in die Oase und nach Norden aus der Oase! – Er hat sich hier nur kurze Zeit aufgehalten.“
Harst machte eine kleine Pause, fügte dann mit Betonung hinzu:
„Das Seltsame liegt also darin, daß ein Unbekannter uns nicht beobachtet hat und trotzdem uns noch rechtzeitig, das heißt vor unserem Eintreffen hier, den Stein entzog, der fraglos als Schreibtafel benutzt worden war, also eine eingeritzte Mitteilung enthalten haben muß.“
„Du hast recht,“ nickte ich ganz begeistert.
Aber – diese Begeisterung erweckte ein merkwürdiges Echo.
Ein Echo von oben her, von der Mauerkrone herab.
„Glänzend – ohne Frage!“ sagte eine höhnische Stimme.
Unsere Köpfe fuhren empor.
Wir schauten in die Mündung eines Revolvers, den ein sonnverbrannter Mensch im gelben Leinenanzug und schmutzigen Korkhelm in der Linken hatte.
„Bleiben Sie beide hübsch artig sitzen!“ fuhr er fort. „Strecken Sie ebenso artig die Arme hoch! Sie können mir glauben – auf ein Menschenleben kommt es hier wahrhaftig nicht an!“
Wir gehorchten. Der schwarzbärtige Kerl hatte ein Paar richtige Mörderaugen, aus denen eine eisige Brutalität sprach.
In der Rechten hielt er schon einen Lederriemen mit einer Schlinge bereit.
„Falten Sie die Hände, Herr Harst!“ befahl er dann.
Die Schlinge glitt über die Hände und wurde mit einem Ruck zugezogen.
Der Kerl zerrte Harst bis an den etwa zweieinhalb Meter hohen Mauerrest, bis Harald dicht an der Mauer stand. Er knotete den Riemen dann straff gespannt oben um eine Zacke.
Mit mir machte er es genau so.
Dann sprang er herab, zog uns Schlingen über die Füße, wobei er stets in der Linken den Revolver bereit hatte, und band diese Riemen so an ein paar Mauertrümmer, daß wir nun langgereckt schräg in der Luft schwebten.
Die Schmerzen der in die Haut und das Fleisch der Handgelenke einschneidenden Schlingen entlockten mir ein leises Stöhnen.
Der Kerl lachte roh.
„Ja, ja, Herr Schraut, man soll seine Nase nicht in die Geschäfte Fremder stecken! Nein, das soll man nicht! Man kann dabei leicht das Leben verlieren!“
Er setzte sich vor uns auf einen Mauerblock und rauchte sich eine von Harsts Mirakulum an.
„Eine Ehre für mich, Ihre Zigaretten proben zu dürfen, Herr Harst,“ höhnte er. „Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Daß Sie kein Dummkopf sind, bewies die Theorie, die Sie vorhin entwickelten. Sie ist leider in vielen Punkten falsch. Doch – das Richtige konnten Sie unmöglich Kraft Ihres Geistes erraten. Nein, so einfach ist dieses Rätsel denn doch nicht! – Was tue ich nun mit Ihnen beiden? Sie sind mir recht unbequem. Zwei Revolverkugeln und ein Grab hier in den Ruinen würden die Geschichte ja sehr einfach erledigen –“
Er grinste satanisch.
„Aber – Sie sind ja reich, Herr Harst. – Würde ein Scheck von Ihnen bei einer Bank in Kairo anstandslos eingelöst werden?“
„Ja. Bei der Filiale der Englischen Bank.“
„So so. – Wieviel ist Ihnen Ihr und Ihres Freundes Schraut Leben wert?“
„10 000 Pfund,“ erwiderte Harst gelassen.
„Hm – sagen wir 15 000, Herr Harst. Einverstanden?“
„Ja – falls Sie uns beide sofort menschlicher behandeln.“
„Das können Sie haben.“ – Er band die Riemen unserer Füße von den Steinen los, so daß wir nun wieder aufrecht standen, lockerte auch unsere Handfesseln.
„Sie sehen, ich lasse mit mir reden,“ lachte er. „Sie werden also den Scheck ausfüllen, Herr Harst?“
„Ja – sobald ich die Gewißheit habe, daß Sie Schurke uns nicht nachher ermorden,“ sagte Harald verächtlich.
Der Mann zuckte die Achseln.
„Schurke?! – Ich weiß nicht, ob ich diese Bezeichnung verdiene. Jeder ist sich selbst der Nächste. – Welche Sicherheit verlangen Sie denn, Herr Harst?“
„Darüber müßten wir uns einigen. Ich schlage vor, Sie begnügen sich mit unserer ehrenwörtlichen Zusage, nichts gegen Sie zu unternehmen, bis Sie das Geld erhalten und Kairo wieder verlassen haben. Wir reiten also mit Ihnen zusammen nach Kairo. Ich denke, das ist am einfachsten.“
„Hm. Man sagt, Sie seien ein Gentleman, der sein Wort unbedingt hält. – Und nachher, wenn ich Kairo verlassen habe?“
„Dann werde ich Ihnen das Geld wieder abnehmen.“
Der Kerl kniff das eine Auge zu. „Dazu gehören zwei, Herr Harst. – Wieviel Vorsprung geben Sie mir?“
„Zwölf Stunden, von Empfang des Geldes an gerechnet.“
„Und Sie werden sich während des Rittes nicht an mir vergreifen.“
„Nein. Sobald Sie uns die Fesseln abgenommen haben, herrscht Friede.“
Ich horchte auf. – In diesen letzten Sätzen Haralds lag ein besonderer Ton, etwas wie geheime Nebengedanken, die unausgesprochen blieben.
Der Schwarzbärtige merkte nichts davon.
„Sehr vernünftig von Ihnen,“ meinte er und legte den Revolver hin. „Dann werde ich Sie losbinden –“
Er trat auf Harald zu und reckte die Hände hoch.
Er stand dicht vor ihm.
In demselben Moment, als er die Arme hob, zog Harald die seinen mit einem Ruck nach unten.
Mit einem solchen Ruck, das die Mauerzacke, um die der Riemen oben geschlungen war und die fraglos schon vorher sich gelockert hatte, herabflog.
Es war ein Mauerstück von gut zwei Zentner Gewicht. Es sauste haarscharf an Haralds Kopf vorüber und dem Schwarzbärtigen auf den Korkhelm.
Mit einem Ächzen brach der Mann zusammen. –
All das war so blitzschnell geschehen, daß ich erst richtig das Vorgefallene begriff, als Harst die Schlinge um seine Handgelenke löste und seine Fußfesseln zerschnitt.
Dann war auch ich frei.
„Er hatte uns die Fesseln noch nicht abgenommen, also herrschte noch nicht Friede,“ sagte Harst kurz. „Das hätte der Bursche bedenken sollen.“
Er kniete nieder und fesselte den Bewußtlosen, leerte ihm dann auch die Taschen.
Viel hatte der Mann nicht bei sich. Aber – in der inneren Brusttasche seiner Jacke steckte der flache, glatte Stein.
„Ich hatte es gehofft,“ meinte Harald.
Voller Neugier betrachtete ich den rotbraunen Stein. Es war ein ovales Stück Ziegelstein. Offenbar ein aus Nilschlamm gebrannter Ziegel.
Auf der einen Seite war etwas eingekratzt: Zahlen und Worte.
Nil – Wind 2 Sonnen, Sperber 1, Osiris ⅓, Wasser 0, Ziel.
Harst steckte den Stein in die Tasche. „Damit können wir uns später befassen,“ sagte er nur.
Der Bärtige kam zu sich, richtete sich auf, glotzte uns wild an.
„Schufte!“ knirschte er. „Elende Schufte! Ihr habt mich betrogen! Ihr sollt dafür büßen! Das Fleisch soll Euch lebend von den Knochen faulen!“
„Seien Sie vernünftig,“ meinte Harst ruhig. „Nur ein Schwächling droht in Ihrer Lage!“
Ich fühlte mir die blutigen Handgelenke. Ich hatte mein Taschentuch in nassen Streifen herumgewickelt.
„Sie sind Italiener,“ fuhr Harst fort. „Man hört es Ihrer Aussprache des Englischen an. Sie waren zu zweien auf einem Kamel hier in der Oase. Ihr Begleiter ist dann wieder davongeritten, damit wir die Spuren fänden und uns ganz sicher fühlten. Dieser Begleiter wird wohl in der Nähe geblieben sein und erwartet von Ihnen jetzt ein Zeichen, daß er zurückkehren kann. – Sie haben da im Futteral ein gutes Fernglas. In dem Futteral steht die Firma „S. Lipello, Neapel“ eingedruckt. Auch das deutet auf Italien als Ihre Heimat hin. Außerdem tragen Sie einen sehr eigenartigen Ring am linken kleinen Finger.“
„Ich möchte wissen, was an dem Ring eigenartig ist,“ spottete der Kerl.
Ich hatte mir den Ring nun ebenfalls betrachtet.
„Erinnert er Dich nicht an etwas?“ fragte Harald.
Der Schwarzbärtige lag still und starrte uns an. In seinen Augen lag ein Ausdruck ängstlicher Spannung.
„Ich besinne mich nicht!“ erwiderte ich nach einer Weile. „Solche Ringe mit einem viereckigen Amethyst sind so sehr häufig.“
„Hm – nur Amethyst?!“ meinte Harst. „Na – lassen wir das vorläufig. – Wir werden jetzt aufbrechen. Entleere bitte den linken Tragkorb unseres Lastkamels. Wir müssen das Gepäck anders verteilen. Der Gefangene kommt in den Tragkorb hinein und wird dort mit angezogenen Knien festgebunden und mit einer Decke bedeckt.“
Nachdem wir den Gefangenen untergebracht hatten, brachen wir auf – nach Süden zu. Es war jetzt drei Uhr nachmittags.
„Nachher schwenken wir nach Norden ein,“ sagte Harald. „Vielleicht fassen wir den Gefährten des Italieners ab.“ – Er sprach leise. Wir ritten nebeneinander. Das Lastkamel führte ich am Leitseil. – „Es ist ein Italiener, mein Alter,“ erklärte er noch leiser. „Der Ring ist der beste Beweis. Dir dürfte bekannt sein, daß gerade in Neapel wie in ganz Süditalien die Geheimbündelei sehr beliebt ist. Außer den großen Geheimbünden der Maffia[9] und der Kamorra existieren noch unzählige kleinere geheime Vereinigungen. Je kleiner die Zahl der Mitglieder, desto gefährlicher die Ziele und die Mittel zur Erreichung dieser Ziele. Ich habe mich mit diesen italienischen Geheimbünden viel beschäftigt.“
„Ah – nun besinne ich mich,“ meinte ich eifrig. „In Deiner Bibliothek befindet sich ein Werk über dieses Thema. – Deshalb fragtest Du mich wohl auch, ob ich mich beim Anblick des Ringes nicht an etwas erinnere.“
„Ja. In jenem Buche sind auch die Erkennungszeichen der Mitglieder einiger politischer Geheimbünde beschrieben, so auch ein Ring mit länglich viereckigem Amethyst, unter dem eine zweite Platte, nämlich ein ganz dünner Chrysoberyll liegt, wodurch der Amethyst einen eigenartig grünlichen Schimmer erhält. Das Benehmen des Italieners verriet zur Genüge, daß er sehr wohl die Bedeutung seines Ringes kennt. Ich bin überzeugt, der Mann ist Mitglied der sogenannten „Loge zum heiligen Chrysostomos“, wie sich eine Gesellschaft von Erpressern nennt, die nur zum Schein politische Ziele verfolgen. – So, jetzt können wir hier hinter diesen kahlen Felshügeln die Richtung ändern. Ich werde vorausreiten. Du brauchst ja nur meiner Fährte zu folgen.“
Das sogenannte Libysche Wüsten-Plateau westlich des Nildeltas, dessen Ausläufer nördlich der Oase Tschamra beginnen, ist eine eintönige Fels- und Steinwildnis. Der östliche Teil, an dessen Südrand sich die Karawanenstraße von Alexandria nach der berühmten Oase Siwah hinzieht, ist gänzlich unbewohnt. Dagegen liegen im Nordwesten zahlreiche Beduinendörfer. – Diese kurzen Angaben mögen für die Fortsetzung unseres Abenteuers genügen. –
Harald war in scharfem Trab allein davongeritten. Nach einer Stunde erst erreichte ich nördlich der Oase die Stelle, wo die Spur des Kamelreiters, des Gefährten unseres Gefangenen, aus der Sandwüste in die Felsenhügel des Wüsten-Plateaus einbog. Hier erwartete Harald mich. Er saß auf einem Stein, rauchte und rief mir entgegen:
„Der Reiter hat nirgends haltgemacht. Ich habe die Fährte bis in die nächste Sandebene verfolgt. Wir können also unseren Weg fortsetzen.“ –
Die Sandebene war bald passiert. Jetzt begannen die eigentlichen Berge des Plateaus. Und hier verloren wir gegen sechs Uhr nachmittags die Fährte des Reiters aus den Augen.
Harald blieb trotzdem ruhig und zuversichtlich. Um seine Lippen spielte sogar ein Lächeln, als ich der Befürchtung Ausdruck gab, daß wir vielleicht das Rätsel der Oase Tschamra nunmehr ganz fallen lassen müßten. „Die Spur des Reiters war für uns doch sozusagen der Faden, der uns mit dem nächsten Punkte des Geheimnisses verband,“ erklärte ich. „Jetzt ist dieser Faden zerschnitten. Was nun?“
Da erst gewahrte ich sein Lächeln.
„Und der ovale Ziegelstein, mein Alter? Und unser Gefangener?“ meinte er. „Das sind doch noch zwei wertvolle, dicke Fäden, denke ich, – dick genug, um dorthin zu gelangen, wohin der Reiter sich gewandt hat. – Reiten wir zunächst noch weiter. Dort nach Norden zu beginnt eine neue Sandebene, die von Bergen eingeschlossen ist. Am Rande der Ebene werden wir lagern.“ –
Am Rande der Sandebene lag eine einzelne, halbkreisförmige Felsgruppe. Hier lagerten wir, setzten unseren Gefangenen mit dem Rücken gegen den größten Felsen, zündeten ein kleines Feuer an, kochten Tee und gaben dann auch dem vor sich hin brütenden Italiener zu essen. Harald fesselte ihm die linke Hand los, damit er sich selbst bedienen könnte.
Dann begann Harst mit mir über den Stein und die Inschrift zu sprechen. Er hatte ihn aus der Tasche gezogen und meinte:
„Hm – „Nil – Wind 2 Sonnen“, dann folgt ein Komma. – Was mag dieser erste Abschnitt bedeuten?“
Er kniff die Augen halb zu und schien angestrengt nachzudenken.
„Die Sache ist nicht so einfach!“ murmelte er.
Ich sah, wie des Italieners Mundwinkel höhnisch zuckten.
„Nilwind – in zwei Worten geschrieben, – Nil … Wind, – ob das absichtlich geschehen ist?“ wandte er sich an mich. „Wie denkst Du darüber? Und dann – „2 Sonnen“, zwei mit der Zahl 2 geschrieben – vielleicht auch Absicht – vielleicht! – Ich gebe zu, diese Inschrift ist zu fein ausgeklügelt, selbst für mich. Nur eins ist mir klar: weil am Schluß „Ziel“ steht, wird das Vorausgehende wohl, ähnlich wie bei dem Blatt Papier mit der Geheimschrift, eine Richtungsangabe sein.“
Der Italiener starrte jetzt Harst halb erwartungsvoll, halb ängstlich an. Offenbar fürchtete er, dieser könnte doch eine Lösung der seltsamen Zusammenstellung von Nil-Wind, Sperber und so weiter finden.
Harald setzte dieses halbe Selbstgespräch noch eine Weile fort und sagte dann zu dem Gefangenen ganz unvermittelt in recht triumphierendem Ton:
„Jetzt hab’ ich’s! Jetzt werde ich all Ihre Geheimnisse aufdecken! Es ist besser, Sie legen ein Geständnis ab, ehe es zu spät ist!“
Der Italiener lachte ihm ins Gesicht. „So – Sie haben es?! Also die Lösung der Inschrift?! Ah – da bin ich wirklich gespannt! Dann wissen Sie nämlich mehr als ich.“
„Sie lügen!“ rief Harst. „Sie selbst haben dies in den Ziegel eingekratzt, nur Sie! Mann – seien Sie nicht töricht! Gestehen Sie alles! Sie gehören der Loge der Chrysostomos-Brüder an!“
Der Kerl feixte ironisch. „Mit dieser Kenntnis werden Sie nicht weit kommen, Herr Harst! Der, der lügt, sind Sie! Sie haben keine Ahnung, was die Inschrift bedeutet!“
Harst zuckte die Achseln, schob den Stein wieder in die Tasche und bat mich um eine Zigarre.
Ich hielt ihm meine Zigarrentasche hin und sah scheinbar gleichgültig zu, wie er mit seinem Taschenmesser die Spitze abschnitt, das Messer neben sich legte und die Zigarre anbrannte.
Nach den ersten Zügen schien er plötzlich gespannt in die Ferne zu lauschen.
„Hörtest Du?“ flüsterte er. „Da – wieder –“
Ich hörte nichts – gar nichts! Aber ich kenne Harald. Er spielte hier fraglos eine fein berechnete Komödie, deren Zweck mir freilich bisher unverständlich blieb.
„Ja – es klang wie – wie –“, sagte ich leise und zögernd, und er fügte auch wirklich schnell hinzu:
„Wie Hilferufe. – Komm’, gehen wir ein Stück um die Felsen herum!“
Wir standen auf und schritten rasch bis an die rechte Ecke des Felsenhalbkreises. Hier machen wir halt.
„Schlendere langsam zurück,“ flüsterte Harald. „Schau’ Dich aber wiederholt nach mir um –“
Ich gehorchte. – Unser Lagerfeuer war fast ganz niedergebrannt. Ich rupfte dabei ein paar Distelstauden aus, während ich mich nach Harst umdrehte. Der Italiener war nur undeutlich zu erkennen.
Dann setzte ich mich wieder, warf die Stauden in die Glut und – bemerkte Haralds offenes Taschenmesser, das er im Sande hatte liegen lassen. Ich wollte es schon an mich nehmen. Wie leicht hätte der Gefangene entschlüpfen können! – Da sagte ich mir: er hat das Messer absichtlich einzustecken vergessen! Absichtlich hat er den Gefangenen ein paar Minuten unbeobachtet gelassen! –
Harst kehrte zurück. „Wir müssen uns geirrt haben,“ meinte er. „Es wird eine Hyäne gewesen sein.“ – Er hob wie spielend das Messer auf und pustete den Sand aus der Klingenöffnung heraus.
Dann fügte er hinzu: „Wenn wir abwechselnd wachen, schlafen wir beide nicht aus. Wir werden den Italiener sitzend dort an den Stein binden. Dann kann er nicht entschlüpfen.“
Er fesselte den Gefangenen eigenhändig an den Stein, der etwa vier Meter vom Feuer entfernt lag.
Jetzt war mir klar, was Harst vorhatte: der Italiener sollte entfliehen.
Alles kam diesmal so, wie Harald es berechnet hatte.
Wir hatten uns nebeneinander zum Schlafe ausgestreckt, nachdem wir die Tiere im Innern der Felsgruppe angebunden hatten. Der Mond war inzwischen aufgegangen. Ich war müde. Trotzdem schlief ich nicht ein. Harald schnarchte zuweilen. Wir hatten die Sättel uns als Kopfpolster untergelegt. Der Italiener saß halblinks von uns.
Nach einer Stunde sah ich, daß er die rechte Hand bereits frei hatte. Ich blinzelte zwischen den Wimpern hindurch.
Er hatte also mit dem Messer die Riemen dreiviertel durchgeschnitten, als wir uns entfernt hatten. Und dies hatte er auch tun sollen. Deshalb hatte Harst die Zigarre verlangt, deshalb das Messer aus der Tasche genommen – scheinbar der Zigarre wegen! – In der Tat, fein ausgeklügelt war das – wie immer! –
Der Italiener behielt uns dauernd im Auge und knotete nun die anderen Riemen auf.
Nun war er ganz frei.
Nun – schlich er davon – begann dann zu laufen, verschwand um die Ecke der Felsgruppe.
Harst war schon auf den Beinen, glitt am Rande des Felsens entlang, duckte sich.
Ich bemerkte, wie er sein Fernrohr aus dem Futteral nahm, wie er es an die Augen führte.
Ich schritt langsam auf ihn zu, tief gebückt.
„Da rennt er!“ lachte Harst. „Nach Norden zu. – Jetzt biegt er links ab –“
Ich konnte den Flüchtling in der mondscheinhellen Wüste noch mit bloßem Auge erkennen. Bald jedoch tauchte er in der fernen, bläulichen Dämmerung unter.
„Er behält die Richtung bei,“ meldete Harst, der das Glas nicht von den Augen ließ. „Also Nordwest! Er macht keinen Umweg. Er will nur schnell an das – Ziel. Und das Ziel liegt im Nordwesten, im – Nil-Wind – N W Nordwest – Nil-Wind!“
„Nil-Wind ist Nordwest,“ meinte ich rasch. „N W! – Es ist doch so?“
„Natürlich ist es so! – Und 2 Sonnen sind zwei Tage, also zwei Kameltagesritte, wie ja hier in der Wüste die Entfernungen meist nach Kameltagesritten bestimmt werden, das heißt also: zwei Sonnen gleich 160 Kilometer etwa, der Tagesritt zu 80 Kilometer wie üblich gerechnet.“
Er ließ das Glas sinken.
„So, nun ist er verschwunden, der Chrysostomos-Bruder! Und bildet sich ein, uns überlistet zu haben! – Wir aber wissen jetzt, wo wir ihn und seine Geheimnisse finden werden: am Ziel! – Du verstehst doch, was ich prüfen wollte, mein Alter? – Der Stein gibt durch seine Inschrift einen bestimmten Ort an. Ich wollte feststellen, ob der Italiener nicht etwa sich anderswohin wenden würde, sobald er frei wäre. Dann hätten wir die Wahl gehabt, entweder ihm zu folgen oder das „Ziel“ aufzusuchen. Jetzt haben wir keine Wahl, da der Mensch nach Nordwest flieht. Und – dort liegt das Ziel.“
Er ging dem nur noch glimmenden Feuer zu, warf neue Stauden auf, blies hinein und ließ die Flammen hochflackern.
Ich setzte mich neben ihn. Er nahm ein paar Pflanzenstengel, drei, und schnitt sie zu verschiedener Länge zurecht.
„So,“ meinte er, „nun gib acht. In der Steininschrift heißt es „Nil-Wind 2 Sonnen“. – Hier ist der längste Stengel; hier dieses Steinchen ist die Oase Tschamra. Ich lege diesen Stengel von der Oase nach Nordwest. Das sind die beiden ersten Tagesritte. – Nun Sperber 1: das heißt, ein Tagesritt nach S–perber, nach S–üden; der eine Tagesritt ist dieser Stengel. Ich lege ihn nach Süden zu an das Nordwestende des ersten. – Dieser ganz kurze Stengel ist Osiris ein Drittel, also ein Drittel Tagesritt nach O–siris, O–sten. – Dann folgt Wasser 0, also Wasser Null oder Nichts. Das dürfte heißen: nach dem ein Drittel Tagesritt nach Osten kommt man an ein Wasser, und von dort geht es mit Null-Tagesritt bis zum letzten Wort der Inschrift, dem „Ziel“, – also ist das „Wasser“ das Ziel, denn Null-Tagesritt heißt eben: bleibe dort, reite nicht weiter, Du bist am Ziel!“
„Famos!“ rief ich.
„Noch nicht ganz famos mein Alter. Erst müssen wir dort sein! – Dieses Ziel liegt also, wie Du aus dieser Figur der Pflanzenstengel ersiehst, etwa einen Tagesritt von der Oase Tschamra entfernt nach Nordwest zu. Nicht genau Nordwest. Etwas südlicher.“
Er holte seine Karte des Nordteils der Libyschen Wüste hervor, breitete sie aus und fuhr fort:
„Hier ist die Oase Tschamra. Nun nach Nordwest in die Berge des Libyschen Plateaus hinein – etwa 80 Kilometer. – Da – hier ist ein See eingezeichnet; daran steht geschrieben: „Natronsee Dulek Abi.“ – Dieser See dürfte das „Ziel“ sein. Denn ein andere Gewässer oder eine Wasseransammlung gibt es in weitem Umkreise nicht mehr.“
Er legte die Karte zusammen und steckte sie wieder ein. – „Wir werden sofort aufbrechen. Wir dürfen den Italiener nicht vor uns an das Ziel gelangen lassen. Ich bin durch seinen Ring auf eine neue Theorie gebracht worden. Sie ist recht abenteuerlich. Aber die Anhaltspunkte sind ja ebenso abenteuerlich. Meine Theorie baut sich auf einen hervorstechenden Charakterzug der Süditaliener auf: die Rachgier!“ –
Der nächtliche Ritt brachte nichts Interessantes. Ich war so müde, daß ich häufig im Sattel einnickte.
Vor Tagesanbruch machten wir eine Stunde an einer natürlichen Zisterne inmitten kahler Felsenhügel halt, tränkten die Tiere, füllten die Schläuche und aßen und tranken kalten Tee.
Dann ging es weiter. Nach einer halben Stunde bogen wir in eine Schlucht ein, die steil aufwärts führte.
Harald war zehn Schritt voraus.
Er riß plötzlich sein Tier zurück, ließ es niederknien, sprang ab.
Ich war schon neben ihm.
„Wir sind am Ziel,“ meinte er leicht erregt. „Dort jenseits der Schlucht geht es in ein weites Tal hinab; dort liegt der See, und mitten darin eine Insel, auf der die Palmen stehen –“
Er nahm sein Kamel am Zügel. „Wir müssen die Tiere gut verstecken. Da weiter westlich war eine enge Schlucht. Beeilen wir uns. Ich möchte die Frau überraschen.“
„Eine Frau?“
„Ja – ein Weib ruderte in einem kleinen Boot nach der Insel hinüber, ein Weib, der man die Italienerin sofort ansah –“
Ich merkte, daß ihn dieses Abenteuer mehr erregte, als weit spannendere Situationen, die wir durchgemacht hatten.
„Dich scheint das Weib ja außerordentlich zu interessieren,“ meinte ich, um vielleicht etwas mehr noch aus ihm herauszulocken.
„Das Weib?! – Nein, die Tonne interessiert mich! Du wirst ja sehr bald selbst feststellen können, daß sie interessanter als alles andere hier ist – interessanter und – grausiger.“
Wir banden die drei Kamele so fest, daß sie etwas Bewegungsfreiheit hatten, fütterten sie und schritten dann wieder der steilen Schlucht zu.
„Der Italiener kann frühestens gegen drei Uhr nachmittags hier sein,“ meinte Harald. „Ich glaube, daß wir es jetzt also nur mit dem Weibe zu tun haben werden. Wir müssen uns vorläufig darauf beschränken, die Frau zu beobachten, bis wir ungefähr wissen, was die Leute hier treiben und wo sie ihren Schlupfwinkel haben. Daß sie bereits längere Zeit hier leben, unterliegt keinem Zweifel, da das Blatt Papier mit der Geheimschrift nur im April dieses Jahres in den Besitz Stuart Jeffersons gelangt sein kann und da dieses Papier wieder mit dem ovalen Ziegel und dieser wieder mit dem See hier und den Italienern zusammenhängt. Also halten die Italiener sich hier mindestens seit April auf; das wären sechs Monate.“
Die steile Schlucht war erreicht. Die letzten Schritte krochen wir auf allen Vieren. Dann konnten wir zwischen Geröll von der höchsten Stelle der Schluchtsohle in das Tal hinabschauen.
Ich schätzte seine Länge auf einen Kilometer, die Breite auf etwa fünfhundert Meter. Der Natronsee mehr nach unserer Seite, nach Westen zu, und mochte bei unregelmäßig eirunder Form einen größten Durchmesser von zweihundert Meter haben. Das mit Palmen bestandene Inselchen war von unserem Beobachtungsplatze aus nur etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Die Palmen reichten bis nahe an das Ufer heran. Nach Osten war die Insel felsig und türmte sich zu zerklüfteten Hügeln auf.
Meine Blicke blieben nun auf der Tonne haften, die am Westufer des Inselchens unserem Versteck gegenüber etwa bis zur Hälfte im Wasser lag.
Es war eine sehr große Tonne mit sechs verrosteten Eisenreifen. Sie war oben offen.
Und – aus der Tonne heraus hing, ebenfalls nach Westen zu, die Hand eines menschlichen Skeletts.
Sie zeichnete sich scharf gegen das Holz der Tonne ab. Man erkannte sofort, was jener gelbweißliche Gegenstand war, der dort über den Rand der Tonnenöffnung hinwegragte.
Harald hatte die Tonne vorhin „grausig“ genannt. Ich gebe zu, daß auch mich ein eigentümliches Gefühl beschlich, als ich mir vorstellte, daß der andere Teil des Skeletts fraglos in der Tonne ruhte.
Das Grausige dieser Totenhand war nicht die Hand selbst. Nein – diese Hand rief nur allerlei Gedanken wach über die näheren Umstände, wie das Skelett in die Tonne hineingelangt sein könne, zumal hier an diesem weltabgeschiedenen Orte, in dessen Nähe nicht einmal Beduinen hausten. –
Noch mehr erblickte ich. Links von der Tonne lag, halb versteckt zwischen Steinblöcken, das kleine Boot. Gerade jetzt trat auch das Weib, das eine Art Sportkostüm und einen Strohhut trug, unter den Bäumen hervor, schob das Boot ins Wasser, sprang hinein und trieb es stehend mit einem Ruder nach dem Nordufer des Sees hin, wo eine hohe Felswand in das Wasser wie ein kleines Vorgebirge hineinragte.
Als das Boot etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, ließ die Frau, deren langes, schwarzes Haar ihr aufgelöst über den Rücken hing, plötzlich das Ruder sinken und verharrte sekundenlang regungslos. Dann ruderte sie weiter. Das Boot verschwand sehr bald hinter der Felswand.
„Weshalb mag sie haltgemacht haben?“ sagte Harst, indem er sich aufrichtete. „Irgend etwas hinter dem Vorgebirge muß ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Was wohl? – Sie starrte angestrengt geradeaus.“
„Das können wir sie ja selbst fragen,“ meinte ich etwas erregt. „Bringen wir die Sache hier rasch zum Abschluß, Harald! Die Tonne dort drüben mahnt uns, diesen Ort bald wieder zu verlassen.“
„Rasch, mein Alter?! Ich denke, wir haben allen Grund, nichts zu übereilen. Immerhin – das Weib können wir festnehmen. Hinab also zum Strande! Die Steine dort bieten genügend Deckung, und das Vorgebirge ist dann unschwer zu erklettern.“
Kaum fünf Minuten später hatten wir die Felswand erstiegen und lugten nach Osten zu auf die kleine Bucht hinab, die sie hier bildete.
Dort lag das Boot am Ufer. Und neben dem Boote saß die Frau auf einem Stein und rauchte eine Zigarette. Wir hörten deutlich, daß sie ein Lied vor sich hin summte. Wir hatten sie etwa dreißig Meter vor uns. Sie war nicht mehr ganz jung, hatte aber ein edles Profil und schmale, wenn auch stark gebräunte Hände. Den Hut hatte sie mehr ins Genick geschoben. In ihrer ganzen Haltung drückten sich Sorglosigkeit und gute Laune aus.
Wir krochen nach links zu den Abhang hinab, kamen so ans Ufer und ihr in den Rücken.
Harald schritt jetzt aufgerichtet weiter.
Das Weib fuhr hoch, fuhr herum.
Sie ließ die Arme vor Schreck sinken. Die Zigarette entfiel ihr. Mit halb offenem Munde stierte sie uns entsetzt an.
Harst grüßte, sagte höflich:
„Entschuldigen Sie, daß wir Sie erschreckt haben. Mein Name ist Harst. Dort mein Freund Schraut –“
Es kam wieder Leben in ihre Gestalt.
„Was wollen Sie hier?“ fragte sie unliebenswürdig.
„Ich möchte von Ihnen Aufschluß über etwas erhalten, das uns interessiert. – Kennen Sie dieses Blatt Papier?“ – Er zeigte ihr die Geheimschrift, die Saalborg uns zugeschickt hatte.
Sie nahm das Blatt, betrachtete es flüchtig und erwiderte:
„Ja. Ich kenne es. Mein Mann hat es geschrieben.“
„Ihr Mann?“
„Ja. Ich bin Frau Ramietto. – Sie dürfen aber nichts mehr fragen. Ich antworte nicht. Es wäre besser, Sie würden diesen See schnell wieder verlassen.“
„Weshalb wäre es besser?“
Sie warf ärgerlich den Kopf zurück. „Tun Sie, was Sie wollen! Ich wünsche nicht weiter belästigt zu werden.“
„Hm – wissen Sie, wer ich bin?“
Sie zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich ein Deutscher. Sie nannten ja Ihren Namen.“
„Wahrscheinlich? – Nun gut! – Was hat es mit der Tonne dort drüben am Inselufer auf sich?“
„Das weiß ich nicht. Wir fanden sie hier so vor. Sie ist leer und steckt zum Teil im Ufersand.“
„Leer? Es muß doch ein Skelett darin sein. Man sieht ja die Skeletthand über den Rand der Tonne hinweghängen.“
„Ja, ein Skelett liegt allerdings darin. Aber im übrigen ist sie leer.“
„Hm – das nennen Sie leer?! Ich denke, ein Skelett darf man doch kaum als ein Nichts bezeichnen, Signora. Ein Skelett kann vielleicht ganze Romane erzählen. Und eine Tonne desgleichen.“
Das Weib verzog höhnisch die Lippen. „Ich bin nicht Romanschriftstellerin. – Wünschen Sie noch etwas?“
„Ja – Ihr Boot! Außerdem wünsche ich, daß Sie uns nach der Insel begleiten. Sollten Sie sich weigern, werden wir Sie zwingen. Sie kennen mich ganz genau. Sie haben soeben gelogen. Sie waren es, die allein die Oase Tschamra verließ, wo Schraut und ich von dem Mitgliede der Chrysostomos-Brüderschaft auf diese oder jene Art erledigt werden sollte, weil – Sie beide unsere Einmischung fürchteten.“
Sie zuckte wieder die Achseln. „Ich verstehe zwar von alldem Unsinn nichts, aber – gut, ich werde Sie begleiten! Was tut’s?!“
Sie ging auf das Boot zu. Wir drei hatten gerade darin Platz. – Harst ruderte. Nach einer Weile sagte er: „Es ist ein zerlegbares Boot. Es besteht aus acht Teilen. Es wird von der Küste hier ins Innere geschafft worden sein, ebenso die Tonne.“
Die Frau, beachtete uns nicht. Sie plätscherte mit der Linken spielend im Wasser.
Harst legte links von der Tonne zwischen den Felsblöcken an. Als wir ausgestiegen waren, erklärte er sehr energischen Tones:
„Wir wollen die Masken fallen lassen, Signora! Sie sind die Frau oder Verbündete eines Mannes, den ich für einen Verbrecher halte. Wir beide aber sind Detektive, die das Rätsel der Oase Tschamra restlos lösen wollen – ebenso das der leeren Tonne, wie Sie sie bezeichnen. Wir werden Sie jetzt dort an jene Palme fesseln, damit Sie uns nicht entschlüpfen.“
Die Frau blickte uns an, als müßte sie sich verhört haben.
„Mich – mich fesseln?!“ meinte sie. „Mich, ein Weib?! – Ja, weshalb denn?! Ich begreife nichts, nichts von alledem, was Sie sprechen! Detektive sind Sie? Und doch keine Italiener! Was geht dann Sie beide das Ehepaar Ramietto an?!“
„Lassen Sie die Komödie!“ sagte Harald kurz. – Er packte sie bei den Handgelenken. „Sie vergessen eins: daß mein Freund und ich mehr zu sehen pflegen als andere Menschen! – Schraut, die Riemen!“
„Sie benehmen sich wie Banditen!“ fauchte die angebliche Frau Ramietto. „Sie werden sehr bald zur Einsicht kommen. Und dann –“ – Sie vollendete den Satz nicht. Sie wehrte sich auch nicht. Sie ließ sich ruhig an eine Palme binden. In ihren Augen leuchteten scheinbar nur Verachtung und beleidigte Frauenwürde. –
Ich verstand Haralds Benehmen und Worte nicht recht.
Weshalb mußte das Weib gefesselt werden? Weshalb nahmen wir sie nicht weiter mit? Sie war doch ganz fügsam! –
Wir stiegen wieder in das Boot. Bis zur Tonne waren es kaum zwanzig Meter. Als wir uns eine Strecke vom Ufer entfernt hatten, flüsterte Harald:
„Wenn ich jetzt die Tonne untersuche, wirst Du die Insel genau beobachten. Halte Deine Clement unauffällig bereit. Die Untersuchung wird ziemlich lange dauern. Ich habe das Weib absichtlich an eine Palme gebunden, die vom Nordufer des Sees deutlich zu erkennen ist. Ich will den Mann herüberlocken. Er wird sie befreien wollen.“
„Den Mann?“ fragte ich verblüfft.
„Ja, den Schwarzbärtigen! – Er ist doch bereits hier angelangt. Er muß irgendwo noch ein Reitkamel versteckt gehabt haben, oder er hat eins gestohlen. Du bemerktest ja ebenfalls, wie die Frau, als sie nach dem Seeufer vorhin ruderte, plötzlich stutzte. Allerdings dauerte diese Körperhaltung und die Gesichtsveränderung, die ihre Überraschung ausdrückten, nur Sekunden. Sie hat sich tadellos in der Gewalt. Der Mann muß hinter der Felswand, dem kleinen Vorgebirge, gestanden haben. Er wird ihr ein paar Zeichen gegeben haben, daß die Luft nicht rein sei und daß sie ihre Überraschung verhehlen solle. Der Schwarzbärtige wußte also, daß wir hier sind und daß wir den See beobachteten. Ihn zu fangen wäre in dieser Bergwildnis sehr schwer gewesen, zumal er hier doch alle Pfade und Schlupfwinkel genau kennt. Nun wird er wohl die Frau befreien wollen. Du mußt also auch sie heimlich im Auge behalten. Die Palmen haben nur wenig Unterholz, wir werden den Mann schon rechtzeitig wahrnehmen.“
Wir hatten die Tonne erreicht. Mit dumpfem Stoß schrammte der Bootsrand daran entlang.
Harst stieß das eine Ruder in den Grund und band das Boot fest. Ich hatte mich neugierig erhoben und über die Öffnung der Tonne gebeugt.
Ja – es war ein Skelett darin. Und – an den Knochen hafteten sogar noch einzelne Reste von Sehnen.
Das Merkwürdigste aber – und dies war uns bisher entgangen –: in die Tonnenwand war nach der Insel zu ein viereckiges Loch geschnitten. Gerade vor diesem Loche aber befand sich der Schädel des Skeletts, so daß man ihn von der Insel aus wie in einem Fenster sehen konnte, wenn man der Tonne gerade gegenüberstand.
Ich setzte mich wieder und legte die Clement entsichert auf die Ruderbank.
Harald begann nun seinerseits die Tonne zu besichtigen.
„Das viereckige Loch, das Fenster, muß einen besonderen Zweck haben,“ sagte er nach einer Weile. „Bitte – die Augen nicht zu fest auf die Frau richten! – Welchen Zweck wohl? – Ist Dir nicht auch sofort klar geworden, daß man das Skelett niemals mit dünnen Drähten und Nägeln im Innern der Tonne so befestigt hätte, daß der Schädel mit der Gesichtsseite vor dem Fenster liegt, wenn man hiermit nicht eine bestimmte Absicht verfolgte?“
Mir waren die Nägel und die Drähte nicht aufgefallen. Ich hatte allerdings nur flüchtig in die Tonne hineingeschaut.
„Es ist fraglos das Wasserfaß eines Segelschiffes kleinerer Art,“ fuhr Harald fort. „Man erkennt noch den Anstrich. Ah – hier kann man noch etwas wie einen Namen unterscheiden. Man hat ihn ausgekratzt. Ich will versuchen, ihn noch zu entziffern. – Der erste Buchstabe muß ein R gewesen sein. Der zweite ist völlig entfernt. Der dritte – hm – ja, es ist ein M, der vierte ein A. Dann folgt eine freie Stelle, dann ein kleines e, weiter ein a, wieder etwas ganz Unleserliches und dann e und l. Also:
R M A ea el.
Die ersten großen Buchstaben, von denen uns der zweite fehlt, können nur –“
Er unterbrach sich, rief erregt:
„Schraut, Schraut, es stimmt, – meine zweite, verbesserte Theorie stimmt! Der Name heißt:
R O M A, Neapel,
also die Jacht Roma aus Neapel! Ein Wasserfaß vielmehr, das zu dieser Jacht gehörte! Besinnst Du Dich auf die Depesche, die uns im Februar nach Indien nachgeschickt wurde. Wir hatten damals gerade den Fall des goldenen Gongong (Bd. 48) in Arbeit! Wir waren nicht abkömmlich. Die Depesche kam aus Neapel von dem Grafen Santa Rocca. Sie lautete etwa:
Segeljacht Roma meines Bruders Emanuelo im Mittelmeer verschwunden. Vermute Verbrechen. Bitte um Ihren Besuch. Kosten gleichgültig. Bitte verkleidet kommen. Große Gefahr. – Generalstaatsanwalt Graf Vittoro Santa Rocca, Neapel, Palais Rocca.
Das Wichtigste aus diesem Telegramm ist jetzt für uns einmal der Beruf des Absenders: Generalstaatsanwalt,“ fuhr Harst fort, „dann aber auch seine Mahnung, in Maske bei ihm zu erscheinen, weil „große Gefahr“ vorläge. Wenn ein so hoher Justizbeamter sich an mich wendet, mein Alter, dann müssen fraglos bei dem Verschwinden der Jacht Nebenumstände mitgesprochen haben, die den Grafen befürchten ließen, mit Hilfe der italienischen Behörden nichts ausrichten zu können. Ich denke jetzt an jenen Prozeß gegen die Loge des heiligen Chrysostomos. Der Prozeß fand in Neapel statt, wie ich schon erwähnte.“
„Ah, Du nimmst an, daß die Jacht aus Rache von Mitgliedern des Geheimbundes gekapert und der Graf Emanuelo Santa Rocca entführt und – hierher verschleppt worden ist?“ unterbrach ich ihn hastig.
„Ja, das nehme ich an. Du siehst: die Tonne hat wirklich die Schleier gelüftet! – Unser kleines, zerlegbares Boot hier dürfte gleichfalls zu der Jacht gehört haben. Und das Fenster in der Tonne ist genau so vielsagend. Es dürfte ein ständiges „Memento mori!“ (Gedenke des Todes!) sein, eine dauernde Drohung! – Ist von dem Bärtigen noch immer nichts zu sehen?“
„Nein. – Weshalb aber eine Drohung?“
Harst band das Boot los und zog das Ruder aus dem Seegrunde heraus.
„Das wirst Du sofort sehen, mein Alter. – Bitte, steh’ auf und schau’ mal geradeaus zwischen den Palmen hindurch. Zwischen zweien ist eine gestrüppfreie Lücke. Und dahinter bemerkst Du einen Haufen Felsblöcke, von denen aus man die Tonne und das Fenster und den Skelettschädel vor sich hat.“
Ich sah das alles. Aber – das „Memento mori!“ blieb mir unklar.
Harald ruderte dem Ufer zu. „Wir sind jetzt mit dem Rätsel der Oase Tschamra im klaren,“ sagte er. „Wir brauchen nicht länger Versteck zu spielen.“
Wir zogen das Boot bis unter die ersten Bäume und legten ein paar zentnerschwere Steine auf Harsts Geheiß hinein. Dann gingen wir, die entsicherten Pistolen in der Hand, zu unserer Gefangenen hinüber.
Harald blieb vor ihr stehen.
„Ich werde Sie jetzt losbinden. Aber die Hände bleiben Ihnen gefesselt. Ich werde Ihnen auch um den einen Fuß einen Riemen schlingen, den ich in der Hand behalte.“
Er tat es, fügte dabei hinzu: „Sie und der Schwarzbärtige – möglich, daß Sie beide ein Ehepaar sind – bewachen hier einen Gefangenen, vielleicht den – Grafen Emanuelo Santa Rocca!“
Das Weib wurde aschfahl. Ihr Unterkiefer sank ihr vor Schreck herab. Ihr Gesicht war zur Maske eines ungeheuren Entsetzens geworden.
„Ihr Erbleichen genügt mir,“ sagte Harald kalt. „Wir werden den Grafen finden. Auch der Zweck der Geheimschrift auf dem Papierblatt und des Ziegelstücks ist nun ermittelt. Es gibt kein Geheimnis der Oase Tschamra mehr. – Vorwärts, gehen Sie voran! Nach dem Haufen von Felsen unter den Palmen gegenüber der Tonne! – Vorwärts! Was zögern Sie! Ich machte Sie ja bereits vorhin darauf aufmerksam, daß Schraut und ich mehr sehen als andere Leute – weit mehr! Wir sehen durch Felsen hindurch! Wir sahen vom Boote aus in dem Felsenhaufen etwas wie eine Kerkerzelle für einen Unglücklichen, der den Totenschädel ständig vor Augen haben sollte! Also muß es in den Felsen eine Öffnung, einen Sehschlitz, nach dem Wasser hin geben! – Ihr Gefährte scheint Sie übrigens im Stiche gelassen zu haben. Er winkte Ihnen doch zu, als Sie über den See ruderten. Sie waren sehr überrascht über sein Erscheinen oder über die Zeichen, die er Ihnen machte. Dann haben Sie mit ihm hinter dem Vorgebirge schnell besprochen, wie Sie beide uns fangen sollten. Sie setzten sich, rauchten, trällerten ein Lied. Ihr Schreck, als wir nahten, war erkünstelt. Nun werden wir den Grafen befreien – aus den Händen zweier Mitglieder der Brüder der Chrysostomos-Loge! – Ah – schon wieder erblassen Sie! Jetzt kommt die Angst! Vielleicht merken Sie auch, daß Ihr Gefährte Sie betrogen hat und – entflohen ist, weil er das Spiel verloren gab!“
Die Frau stand regungslos. In ihren Augen flammte es plötzlich auf.
„Wenn Sie recht hätten!“ murmelte sie mit zuckenden Lippen. „Wenn Testio sich in Sicherheit gebracht hätte!“
Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück.
„Ich will alles gestehen!“ stieß sie hervor. „Testio hatte eine gute Doppelbüchse! Er hätte Sie erschießen können, als Sie im Boote die Tonne besichtigten. Er wollte es auch tun. Ich sollte Sie hier nach der Insel locken. Er wollte vom Südufer herüberschwimmen! – Der – der elende Verräter!“ zischte sie, und ihr ungezügeltes Temperament offenbarte sich jetzt in ihren verzerrten Mienen und dem Funkeln der schwarzen Augen. „Ich werde Sie hinführen, wo der Mann in dem Felsloche schmachtet, der meinen Bruder an den Galgen brachte! Sie sollen alles erfahren – alles!“
Harald nahm ihr die Fesseln ab.
„Kommen Sie!“ rief das Weib. „Und dann – werde ich Ihnen Testio suchen helfen!“
Sie eilte voran. Sie war von Wut und Rachegelüst völlig verändert. Und – sie war eine glänzende Schauspielerin, wie wir sehr bald merken sollten.
Wir waren am Fuße des etwa fünf Meter hohen Felshaufens angelangt. Wir sahen jetzt, daß unter den Steinen sich ein altes Gemäuer befand.
„Es hat hier einst ein Koptenkloster gestanden,“ sagte das Weib. (Kopten sind die christlichen Ureinwohner Ägyptens.) „Dort links muß man die Felsen erklettern –“
Sie eilte nach links uns voraus, erklomm die ersten Steine.
Harst war dicht hinter ihr.
Da – sie bückte sich.
Ein Stein flog Harald von oben gegen den Kopf.
Ehe ich noch zurückspringen konnte, erhielt ich einen furchtbaren Schlag gegen die Stirn.
Ich flog ebenfalls nach hinten über. Harst stürzte über mich weg.
Minutenlang verlor ich die Besinnung. Als ich mich gerade wieder aufgerichtet hatte, warf mir jemand eine Decke von rückwärts über den Kopf.
Mehrere Leute rangen mich nieder.
Das Letzte, was ich noch gesehen hatte, war Harst, der von zwei anderen Männern in grauen Touristenanzügen festgehalten wurde.
Man band mir die Hände auf dem Rücken zusammen. Ich hörte flüstern.
Dann – drei – vier Schüsse ganz in der Nähe.
Ich lag auf dem Bauche. Man zerrte mich hoch, stieß mich vorwärts.
Jetzt band man mich an eine Palme, – brutal fest, so fest, daß ich nur den Kopf bewegen konnte.
Die Decke wurde weggerissen.
Fünf Männer standen vor mir – gut angezogen; drei jüngere Leute, zwei ältere. Ohne Frage Italiener. – Harald war an die nächste Palme gefesselt.
Ein Mann mit grauem Spitzbart und goldener Brille trat näher, blickte uns nacheinander durchdringend an.
Also hatten sich hier am Natronsee Dulek Abi doch weit mehr Mitglieder des Geheimbundes befunden, als Harald vermutet hatte! Und nun waren wir in ihrer Gewalt! Das Weib hatte uns überlistet! –
Der graubärtige Mann betrachtete uns noch immer. Irgend etwas an uns schien ihm aufzufallen.
Da – neben mir vom Nachbarbaum Haralds Stimme:
„Nicht wahr, Herr Graf, wir sehen Ihnen zu wenig italienisch aus!“ Er bediente sich des Italienischen.
Graf – Graf?! Etwa der Graf Santa Rocca?! schoß es mir durch den Kopf. Sollte etwa der Absender der Depesche mit zu dem Geheimbunde gehören?! – Aber – Vittoro Santa Rocca war doch Generalstaatsanwalt!
Ich blickte nach Harst hin. Er lächelte ganz wenig.
Der graubärtige Herr fragte barsch:
„Wer sind Sie, he?! Aber keine Lüge! Sonst –!“
„Mein Name lautet genau so wie der des Empfängers jener Depesche, die nach Indien gesandt wurde der Roma wegen –“
„Wie, – Sie behaupten – Harald Harst zu sein?“ rief der Graf zweifelnd.
„Ich bin es. Und das dort ist mein leidlich bekannter Freund Schraut, der unsere kleinen Erlebnisse schriftstellerisch verwertet.“
Der Graf trat noch näher an Harst heran. Man sah ihm an, daß er noch immer Zweifel hegte, ob Harald die Wahrheit spräche.
„Die Bande ist schlau, mit der wir es zu tun haben,“ sagte er dann. „Und das Weib, das in dem kleinen Boot über den See floh, –“
„– hatte uns vorher durch Steinwürfe betäubt,“ ergänzte Harst. „Als Sie uns festnahmen, Herr Graf, waren wir wehrlos. Schon der Umstand müßte Ihnen genügen. Im übrigen brauchen Sie nur meine Brieftasche herauszunehmen. Mein Ausweis mit Lichtbild wird Ihnen den Beweis erbringen, daß wir –“
„Ja, ja!“ rief der Graf da. „Sie müssen Harst sein! Ihre Gesichtszüge kommen mir von zahlreichen Abbildungen in Zeitschriften her jetzt recht bekannt vor –“ – Er winkte. Die anderen Männer sprangen zu. Wir wurden losgebunden. Harst zeigte dem Grafen den Ausweis. Santa Rocca wehrte ab und reichte uns die Hand. „Verzeihen Sie, meine Herren,“ sagte er liebenswürdig. „Wir mußten aber wirklich annehmen, in Ihnen beiden zwei Mitglieder einer äußerst gefährlichen –“
„Geheimgesellschaft, der Chrysostomos-Brüder, vor uns zu haben,“ nickte Harst. „Wissen wir alles, Herr Graf. – Jetzt wollen wir jedoch erst Ihren Bruder Emanuelo befreien –“
Des Generalstaatsanwalts Gesicht leuchtete auf. „Wie – auch Sie kennen den Ort, wo man ihn gefangenhält?“ fragte er freudig. „Oh lassen Sie uns eilen, Herr Harst!“
„Wir haben es nicht weit. Folgen Sie mir!“ –
Wir kletterten die Felsen hinan. – Das Gemäuer des ehemaligen Koptenklosters bestand aus einem Turm, der von den Felsblöcken, wahrscheinlich infolge eines Erdbebens, halb verschüttet worden war.
Nachdem wir eine Weile gesucht hatten, stieg Harald wieder hinab, indem er nach dem Seeufer auf die Tonne zeigte – „Wir werden Ihren Bruder anrufen, Herr Graf!“ sagte er.
Wir umschritten den Hügel, machten dann halt, als wir die Tonne durch die beiden Palmen hindurch vor uns hatten. Aus dem Fenster der Tonnenwand grinste der Totenschädel heraus. – Graf Santa Rocca rief leise:
„Wenn Emanuelo nur nicht ermordet worden ist. Dieser Brüderschaft ist alles zuzutrauen!“
Harald nahm den Grafen bei der Hand und drehte ihn den Felsen zu.
Da – wie aus den Tiefen der Erde heraus ein dumpfer Schrei:
„Vittoro – Vittoro!“
Dann schob sich durch eine enge Spalte des von den Felsen bedeckten Gemäuers eine schmutzige Hand hervor.
„Herr Graf, wo befindet sich der Eingang zu Ihrem Kerker?“ rief Harst überlaut.
„An der anderen Seite. Zwei Felsplatten stehen vor der eisernen Tür –“
Wir liefen abermals halb um den Hügel herum. Harald rollte die Felsplatten beiseite. Die kaum meterhohe Eisentür war von außen durch ein Vorhängeschloß verwahrt. Harst zertrümmerte es mit einem Stein.
In Lumpen gehüllt schwankten uns – zwei Männer entgegen – zwei: Graf Emanuelo und der Steuermann der Jacht Roma.
Sie waren so entkräftet, daß sie hier in der frischen Luft in Ohnmacht fielen. Sie kamen jedoch bald wieder zu sich. –
Harst und ich hatten unsere drei Tiere inzwischen an das Seeufer geholt, wo wir nun lagerten. Auch Graf Vittoro und die vier italienischen Geheimpolizisten waren im Kamelsattel mit drei Lasttieren von Kairo hierher gekommen. Der Generalstaatsanwalt erzählte folgendes:
Auf sein Betreiben war man endlich in Neapel vor anderthalb Jahren scharf gegen die Erpresserbande vorgegangen. Nachdem drei Mitglieder des Geheimbundes gehenkt worden waren, hatte er dauernd Drohbriefe erhalten. Er nahm Urlaub und tat so, als würde er mit seinem Bruder Emanuelo eine Kreuzfahrt im Mittelmeer unternehmen. In Wahrheit reiste er nach der Schweiz. – Die Jacht Roma aber wurde kurz nach der Ausfahrt von Neapel von einem Schoner nachts gekapert. Die drei Matrosen der Jacht fielen bei diesem Kampf. Der Kapitän der Roma wurde schwer verwundet, wie nun Graf Emanuelo weiter berichtete. Man brachte ihn, den sterbenden Kapitän und den Steuermann nach der Küste Ägyptens und dann auf Kamelen weiter hierher. Der Kapitän starb. Seine Leiche warf das verbrecherische Paar, das hier die Wächter der Gefangenen gespielt hatte, in die Tonne, die sie unweit des Ufers eingruben. Die enorme Hitze ließ die Leiche schnell verwesen.
Hier mischte Harald sich ein. „Das weitere kann ich Ihnen auf Grund meiner Kombinationen ergänzen, Herr Graf,“ sagte er zu Emanuelo Santa Rocca. „Der Schwarzbärtige zwang Sie, jenes Blatt mit der Geheimschrift zu versehen –“
Emanuelo nickte eifrig.
„Dann hat der Mensch an Sie, Herr Graf Vittoro, der Sie der Bande entgangen waren, Erpresserbriefe geschrieben oder schreiben lassen. Sie sollten Ihren Bruder auslösen. Sie würden, falls Sie hierzu bereit wären, eine Nachricht von Ihrem Bruder erhalten. Diese Nachricht war ein zweites Blatt Papier mit einer Geheimschrift, denn das erste hatte der, der es an Sie senden sollte, für sich behalten. Der Mann, der es unterschlagen hatte, war ein gewisser Stuart Jefferson gewesen.“
„Ja,“ rief Graf Emanuelo, „ja, ich habe zwei solche Blätter schreiben müssen, das zweite nach vier Monaten.“
„Und ich,“ erklärte der Generalstaatsanwalt, „erhielt es zugleich mit einem Drohbrief, in dem ich gewarnt wurde, nicht etwa Polizeibeamte mit an den Ort zu nehmen, den die Geheimschrift näher bezeichnete.“
„Ganz recht,“ sagte Harst. „Es war eben eine Falle für Sie, Herr Graf Vittoro. Die Bande wollte Sie allein nach der Oase Tschamra locken.“
„Das vermutete ich gleichfalls,“ meinte der Generalstaatsanwalt. „Die Geheimschrift wurde durch einen Beamten endlich entziffert. Dann traf ich meine Vorbereitungen. Ich reiste scheinbar allein nach Kairo. In Kairo gelang es dann den Detektiven, die mich heimlich begleitet hatten, drei Leute vor vier Tagen festzunehmen, die mit zu der Bande gehörten. Einer ließ sich bestechen und verriet uns, daß Emanuelo hier nach dem See Dulek Abi gebracht worden sei. Wir ritten erst noch nach der Oase Tschamra, fanden jedoch nichts unter jener Palme, die auf dem Blatt Papier –“
Harald unterbrach ihn. „Nicht unter, sondern auf der Palme war etwas zu finden, Herr Graf.“ – Er schilderte kurz unsere eigenen Erlebnisse und fügte hinzu:
„Die Absicht der Chrysostomos-Brüder ist klar: Sie sollten zunächst nach der Oase Tschamra gelockt werden, Herr Graf Vittoro. Hätten Sie hier den Ziegelstein gefunden, dann würde die Bande inzwischen Zeit gehabt haben, festzustellen, ob Sie nicht doch Beamte mitgebracht hätten, die Sie schützen sollten. Der Ziegelstein war also nichts als eine Vorsichtsmaßregel. Inzwischen war die Bande dann auf Schraut und mich aufmerksam geworden, und die Ereignisse entwickelten sich zum Schaden der Mitglieder dieser Verbrechergesellschaft. – Dieser Plan, sowohl Sie als auch das Lösegeld ohne Gefahr in den Besitz der Bande zu bringen, war ohne Frage sehr fein ausgeklügelt. Andere Leute glaubten, in der Oase Tschamra wären Schätze verborgen. Und – es handelte sich lediglich um einen Ziegelstein, dessen eingekratzte Ortsangaben zwar stimmten, die aber doch so verschleiert waren, daß der Erfinder dieser zweiten Geheimschrift wohl fest überzeugt gewesen sein mag, kein Sterblicher könnte sie deuten. Er hat also sozusagen aus Selbstgefühl in den Stein die Wahrheit eingegraben. Er hätte auf ihn ja ganz verzichten können. – Wissen Sie, wie die beiden Leute hießen, Herr Graf Emanuelo, von denen Sie hier bewacht wurden?“ wandte er sich an den Bruder des Generalstaatsanwalts.
„Nein, Herr Harst. – Die beiden nannten sich gegenseitig Testio und Margrita. Ihre Vatersnamen sind mir unbekannt.“
„Nun – wir werden auch das erfahren!“ meinte Harst. „Es ist höchste Zeit, daß die Chrysostomos-Brüder endgültig verschwinden! Es reizt mich, den Kampf gegen sie aufzunehmen!“ –
Ich habe, was das Rätsel der Oase Tschamra und das der leeren Tonne betrifft, nichts weiter hinzuzufügen.
Unser Feldzug gegen die Verbrecher-Loge begann sehr bald. Wie er verlief und endete, erzähle ich im folgenden Band.
Verlagswerbung:
Wie
benehme ich mich?
Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte
Von W. v. Neuhof
Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Anmerkungen: