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Die Gauklergesellschaft Shingra Mao

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 67:

 

Die Gauklergesellschaft Shingra Mao[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Ein Schrei in der Nacht

 

1. Kapitel.

Die ägyptische Tageszeitung „Kairo-Post“ brachte am 1. Dezember 19… einen Artikel über die 5 Attentate, die im Verlauf von vierundzwanzig Stunden auf den deutschen Liebhaberdetektiv Harald Harst in Kairo verübt worden waren.

Dieser Artikel liegt, während ich dies schreibe, neben mir:

Die Rache der Chrysostomos-Brüder.

Ungeheure Aufregung herrscht in der ganzen Stadt! Die Aufregung ist berechtigt. Wer kennt nicht Harald Harst?! Alle Welt kennt ihn. Sein Name ist Allgemeingut aller Kulturnationen geworden; Harald Harst ist international; Harald Harst ist die Zuflucht aller Bedrängten, ist das Genie und die Tatkraft, ist die Verkörperung eines idealen Detektivs.

Und diesen Mann, der vor zehn Tagen den Grafen Emanuelo Santa Rocca am Dulek Abi-See[2] im Nordteil der Libyschen Wüste aus den Händen der gefährlichsten aller italienischen Erpresser-Geheimbünde, der Loge zum heiligen Chrysostomos, befreit hat (welche Frechheit von dieser Bande, sich einen solchen Namen zuzulegen!), – diesen Mann hätte in den Mauern unserer Stadt beinahe fünf Mal der Tod ereilt!

Fünf raffiniert ausgeklügelte Attentate – fünf! Und doch war nicht ein einziger der Leute, die sie ausgeführt hatten, zu fassen gewesen – nicht einer! –

Nun hat die Polizei seit heute mittag etwas Ruhe.

Harst und sein Freund haben im Flugzeug Kairo auf Bitten des Polizeidirektors hin verlassen. Niemand weiß, wohin der große Doppeldecker sich gewandt hat.

Kairo wird aufatmen.

Und – was wird Harst nun tun?! Wird er darauf verzichten, diese Bande unschädlich zu machen?

Wir glauben es nicht.

– – – – – – – –

So schrieb die Kairo-Post als Einleitung. Dann folgte eine Schilderung der drei letzten Attentate. –

Während die Bevölkerung der ägyptischen Hauptstadt dies las, war der Doppeldecker längst unweit des Küstenortes Almaida westlich des Nildeltas gelandet.

Harald mietete hier einen Dampfer zur Überfahrt nach Brindisi, der abends 7 Uhr in See stach.

Am 3. Dezember elf Uhr nachts langten wir auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an, nahmen ein Auto und fuhren nach Schmargendorf, Blücherstraße 10, hinaus.

Harst ließ das Auto jedoch schon vorher halten. Wir schlugen mit unseren Koffern den Weg ein, der an dem Laubengelände entlang uns an die Rückseite des zur Harstschen Villa gehörenden Gemüsegartens führte.

Harald hatte noch im Auto zu mir gesagt:

„Wir müssen damit rechnen, daß die Chrysostomos-Brüder auch hier bereits allerlei für den Fall vorbereitet haben, daß ich ihnen in Kairo entschlüpfen und nach Hause reisen sollte.“

Doch – wir gelangten unangefochten in den Garten und bis an die Hintertür.

Harst läutete. Es dauerte recht lange, bis die alte Köchin Malwine und dann auch Harsts Mutter erschien.

Harald bat die beiden Frauen in sein Arbeitszimmer und sagte, ohne Licht zu machen, nur beim Scheine seiner Taschenlampe, die er ganz tief hielt, folgendes zu ihnen:

„Schraut und ich haben wieder eine große Sache vor. Ihr müßt uns den Gefallen tun und sofort verreisen – sofort! Ihr seid uns hier hinderlich. Liebe Mutter, sträube Dich nicht. Fahrt in den Harz, etwa nach Wernigerode. Wir werden Euch die Koffer packen helfen. Aber alles muß still und ohne viel Licht geschehen. Mehrere erleuchtete Fenster würden Verdacht erregen –“ –

Eine Stunde später brachten wir – wieder durch den Gemüsegarten – die beiden Frauen zu dem Auto, das wir hatten warten lassen. Das Auto rollte davon. Frau Harst wollte mit Malwine die Nacht in einem Hotel zubringen.

Wir kehrten um und betraten jetzt den Gemüsegarten. Harald schloß die Pforte ab. In der weißen Schneedecke der Gartenwege waren die Fußspuren genau zu erkennen, die wir beide auf dem breiten Hauptpfade nach dem Hause hin und dann die Frauen und wir vom Hause weg hervorgerufen hatten.

„Es ist, als hätten wir hier für alle Welt unsere Heimkehr angezeigt,“ meinte Harald und deutete auf die Fährten. „Wenn die Chrysostomos-Leute wirklich bereits einen Spion hier in Berlin haben, dann gehört für den Betreffenden nicht gerade viel Intelligenz dazu, aus diesen Spuren auf unsere Anwesenheit zu schließen. Wir tun also gut, heute früh den Weg zu fegen.“

„Weshalb nicht gleich?“

„Weil, falls ein Spion schon in Berlin weilt, der Mann sich vielleicht ebenfalls durch seine Fährte hier verrät.“

„Dann müßte er gerade in den Garten eindringen.“

„Das würde er auch sicherlich wagen.“

„Und wagt er es in dieser Nacht, so findet er die Eindrücke zweier Paare Männerstiefel und – weiß Bescheid!“

„Hm – nur halb. Denn wir beide werden ja wieder verschwinden. Ich habe meine Mutter und Malwine nur abreisen lassen, damit wir ihre Rollen hier spielen können.“

„Ah – das wäre allerdings eine famose Idee!“ –

In Haralds Schlafzimmer zogen wir die Vorhänge ganz dicht zu. Damit kein Lichtschein hinausdringe, befestigten wir noch zwei große Wolldecken vor den Fenstern und dann begann die Maskierung.

Es war so zwei Uhr morgens geworden, als wir durch die Hintertür den Hof abermals betraten und, gehüllt in würdige, dicke Umschlagetücher, langsam durch den Gemüsegarten zur Pforte gingen.

Der Mond hatte inzwischen sein freundlich-helles Angesicht halb hinter Wolkenschleier versteckt. Trotzdem konnten wir die Spuren noch genau erkennen.

Harald blieb schon nach wenigen Schritten stehen, bückte sich, richtete sich wieder auf und flüsterte:

„Also doch! Siehst Du die neue Fährte? – Bitte – nicht zu auffällig zu Boden starren. – Da – rechts von Deiner Spur am Rande des Weges läuft sie entlang –“

Ja – jetzt hatte auch ich sie bemerkt. Das war jedoch niemals die Spur eines Menschen!

„Das sollen Eindrücke von Stiefeln sein?!“ meinte ich. „Nein, das sind doch nur kaum faustgroße, halbkreisförmige Fährten! Diese Eindrücke könnten höchstens von einem Menschen herrühren, der zwei Stelzbeine hat! Und diese Stelzbeine müßten noch dazu unten nicht rund, sondern eben halbkreisförmig sein!“

„Hm,“ sagte Harald, „es gibt eben Menschen, die einen ganz besonderen Gang an sich haben –“

„So?! Glaubst Du, der Betreffende ist hier etwa nur mit den Absätzen aufgetreten?“

„Nein, mein Alter. Das ist unmöglich. Das würde eine andere Spur ergeben. Jedenfalls: es war jemand im Garten. Die Fährte läuft nach dem Hause hin und auch wieder zurück. – An der Pforte werden wir umkehren und dann feststellen, wie weit der Eindringling, der erst vor kurzem, eben nachdem wir das Haus schon wieder betreten hatten, hier entlang gegangen ist, sich bis an das Gebäude herangewagt hat.“

„Du vermutest also einen Spion in diesem Menschen?“

„Ganz sicher ist es ein Spion. Es ist ein Weib, darf ich ebenso mit aller Bestimmtheit behaupten.“

„Wie – ein Weib? Woher willst Du –“

„Die Spur verrät es,“ unterbrach er mich. „Das Weib ist Künstlerin von Beruf, ist tadellos gewachsen, jung, hübsch, und ist sehr oft im Theater und in Varietees gewesen.“

Ich war über diese Angaben so verdutzt, daß ich stehen blieb.

„Woher in aller Welt weißt Du das alles?!“ rief ich ungläubig. „Nicht wahr, Du kennst diese Person? Du hast irgendwie in Kairo schon mit ihr –“

Wir waren etwa fünfzehn Meter von der Gartenpforte und dem Fahrwege entfernt.

Ich konnte meinen Satz nicht beenden.

Durch die stille, winterliche Nacht war ein gräßlicher, schriller Aufschrei bis zu uns gedrungen.

Es war ein Schrei, wie man ihn nicht oft hört.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hatte Haralds Arm unwillkürlich umklammert. Wir beide schauten uns an – schauten uns in die geschminkten Gesichter.

„Das war ein Todesschrei,“ flüsterte Harst. „Und er kam drüben vom Hauptwege, der zwischen den Laubengärten entlangläuft. Oder – es war ein Lockruf! Eine Falle für uns beide! – Du verstehst: wir sollen veranlaßt werden, dort das Laubengelände zu betreten, und dann –“

Er hatte immer leiser gesprochen, schaute nun schweigend durch die Stäbe des hohen Eisenzaunes hinweg den Laubenweg hinunter.

Ich konnte dort nichts wahrnehmen. – Dann schritt Harald bis an die Pforte.

„Hier ist der Spion hinübergeklettert,“ meinte er und deutete auf das Schloß der Pforte, auf dem etwas festgeballter sandiger Schnee lag. „Kehren wir um. Ich traue diesem Todesschrei nicht! Sobald es Tag geworden, werden wir die Sache näher prüfen.“

Die merkwürdige Fährte ließ sich bis in den Hof unter den großen Walnußbaum verfolgen. Hier war das seltsame Geschöpf nach links bis hinter den Baum gegangen und war dann scheinbar zunächst laufend – die Eindrücke lagen weit auseinander – in den Garten zurückgekehrt.

Harald suchte zur Vorsicht noch dicht am Hause nach Spuren, tat dasselbe nachher auch im Vorgarten, fand jedoch nichts Verdächtiges. –

Wir verhängten dann auch noch in seinem Arbeitszimmer die Fenster. Nun erst drehte ich das Licht an. Die Birnen der schmiedeeisernen Krone flammten auf.

Wie angenehm diese Helle mir war! Wie geborgen ich mich nun fühlte!

 

2. Kapitel.

Da – die Flurglocke hatte geschrillt.

Es war die Glocke der Hintertür; die der Vordertür klang heller.

„Es wird doch ein echter Todesschrei gewesen sein,“ meinte Harald.

Er eilte die Treppe empor, öffnete dann das Flurfenster im Obergeschoß und schaute hinaus.

„Was wünschen Sie?“ rief er mit leidlich gut nachgeahmter Frauenstimme.

„Dürfte ich das Telephon benutzen?“ erklang die Antwort. „Habe ich Frau Harst vor mir? – So, danke, gnädige Frau – Kriminalwachtmeister Balk. Es ist ein Mord verübt worden.“

„Ich öffne sofort,“ rief Harald hinab. –

Dann ließen wir den Beamten ein. Wir kannten ihn. Es war wirklich der „dünne Balken“, wie seine Kollegen ihn seiner Länge und Magerkeit wegen nannten.

Er glaubte Frau Harst und die Köchin vor sich zu haben. Harald schloß hinter ihm ab. Erst im Arbeitszimmer sagte er:

„Balk, wir sind diese Nacht erst heimgekehrt –“

„Himmel – Herr Harst!“

„Leise, leise. – Also ein Mord, Balk? Drüben im Laubengelände. Das Opfer ist eine Frau –“

„Ja – Aber woher –“

Harald winkte ab. „Erzählen Sie, Balk. Schraut wird das Präsidium anrufen.“ –

Balk gehörte zu einer Patrouille, die das Laubengelände nachts beobachten sollte, weil dort häufig in letzter Zeit Diebesgut versteckt worden war. Er und sein Kollege Schendel hatten sich gerade im westlichen Teile der Laubengärten aufgehalten, als sie den Schrei vernahmen. Sie waren der Richtung nachgegangen, aus der der Schrei erklungen, und hatten auf dem Hauptwege dann hinter einem Müllhaufen eine gut gekleidete jüngere Frau mit einer Stichwunde im Herzen tot aufgefunden. Der Tod konnte erst vor wenigen Minuten eingetreten sein. Eine Waffe war nicht zu finden gewesen. In der Schneedecke hatten sie jedoch die Spur eines Mannes mit recht großen Stiefeln entdeckt, der durch ein paar Gärten von der Mordstelle nach der nächsten bebauten Straße im Süden in langen Sprüngen geflüchtet war.

„Balk,“ sagte Harald nun. „Sie dürfen niemandem verraten, daß wir hier sind. Geben Sie mir die Hand darauf. – So, danke Balk. Sie werden ja wohl in den hiesigen Zeitungen unter neueste Depeschen gelesen haben, daß Schraut und ich –“

„Weiß alles, Herr Harst, – weiß alles! Chrysostomos-Brüder! Herr Kommissar Bechert sagte noch gestern zu mir, daß er an Ihrer Stelle aus Europa verschwinden würde – recht weit weg!“

Harald bot ihm eine Zigarette an.

„Ist die Frau hübsch, blond?“

„Ja. – Kennen Sie sie etwa, Herr Harst?“

„Nein, bewahre. – Also gut gekleidet, sagten Sie vorhin? Lag ein Handtäschchen neben der Leiche?“

„Nein. Nichts.“

„Hat die blonde Frau Halbschuhe an?“

„Ja. Etwas abgetragene Lackschnürschuhe.“

„So – so. – Balk, Sie können mir einen Gefallen tun. Kommen Sie heute abend hierher und berichten Sie mir, was die Untersuchung des Mordes bis dahin ergeben hat. Wählen Sie die Verkleidung als Briefträger.“

„Gern, Herr Harst. – Ich muß mich jetzt verabschieden. Sie können sich auf mich verlassen – ich schweige! Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich sein zu können. – Hm, gestatten Sie eine Frage: hängt die ermordete Frau irgend mit den Chrysostomos-Brüdern zusammen?“

„Ja. Alles weitere heute abend, Balk. Bringen Sie auch ein Lichtbild der Toten mit. Achten Sie auf die Lackschuhe. Kratzen Sie das, was von Schnee und Schmutz zwischen Sohle und Oberleder haftet, heraus und sammeln Sie es in einem Tütchen. – Gute Nacht, Balk, Schraut wird Sie hinauslassen.“ –

Ich schloß hinter Balk ab, legte die Sicherheitskette vor und kehrte in das Arbeitszimmer zurück.

Harald hatte schon aus der Küche den gefüllten Kohleneimer geholt, kniete vor dem Ofen und setzte gerade einen Kohlenanzünder in Brand.

„Wir können den Schornstein ruhig rauchen lassen,“ meinte er. „Die Spionin ist tot. Sie wird allein gewesen sein. – Besorge den Kaffee, mein Alter –“

Wir rückten dann ein Tischchen vor die offene Ofentür, rollten zwei Klubsessel daneben, hüllten uns in Decken und tranken den heißen Kaffee.

„Sie ist tot,“ sagte Harald wieder. „Ein seltsamer Zufall: sie kam her, um eine Gelegenheit zu einem Verbrechen auszuspähen, und ist nun selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“

„Du glaubst bestimmt, daß es die Spionin war?“ fragte ich gespannt.

„Ja. – Überlege Dir: sie war kurz vorher bei uns im Garten; sie ging dann den Hauptweg des Laubengeländes entlang; und hier ereilte sie das Geschick. Ich behaupte, der Mörder war ebenfalls ein Italiener, der ihr heimlich gefolgt ist.“

„Und die merkwürdige Spur?“

„Sehr einfach,“ fiel er mir ins Wort. „Die Frau war Balletteuse[3]! Ihr war es daher leicht, nur auf Zehenspitzen zu gehen –“

„Ah – also deshalb diese Halbkreis-Fährte!“

„Ja – und deshalb sprach ich von tadelloser Figur, jung, hübsch und Theater! Nur eine geschulte Balletteuse kann solche Strecken so auf Zehenspitzen zurücklegen. Sie tat es, damit ihre Spur nichts verriete.“

All das leuchtete mir durchaus ein.

„Und der Mörder?“ fragte ich.

Harald lächelte ein wenig. „Du verlangst zu viel. Der Mörder ist aber kein Chrysostomos-Bruder. Nein – sogar ein Feind dieser Bande.“

Das Feuer prasselte im Ofen. – Harald hatte die Augen geschlossen, rauchte wie ein Automat seine parfümierten Zigaretten und sprach kein Wort mehr.

Ich störte ihn nicht. – Um halb vier legte ich mich auf den Diwan. Erst um zehn Uhr vormittags wurde ich munter. – Wir verließen das Haus nicht. Es kam auch niemand zu uns, der unsere Maskerade durchschauen konnte. Als um sechs Uhr die Abendzeitung in den Briefeinwurf gesteckt worden war, fanden wir in dem Blatt folgende Notiz über den Mord, aus der ich nur das Wichtigste hier anführen will:

„– Die Ermordete hatte nichts in ihren Taschen, das über ihre Person hätte Aufschluß geben können. Ihre Wäsche ist nicht gezeichnet. Ihre Kleidungsstücke – jeder Firmenname ist entfernt – besonders das Kostüm verraten die Zugehörigkeit zu den wohlhabenden Kreisen. – Sie trug einen kleinen geladenen Damenrevolver sowie ein Fläschchen Gift bei sich. An dem Ringfinger der linken Hand fand sich ein altertümlicher Ring mit goldener, hohler Platte. In dem winzigen Hohlraum des Ringes lag ein Kügelchen Gift.

Die Tote dürfte etwa 25 Jahre alt sein. Ihre schmalen Hände sind ebenso gepflegt wie die Zähne. Das Haar ist von Natur dunkel, wahrscheinlich blauschwarz, gewesen und zu einem hellen Blond gebleicht worden.

Die Fährte der Toten ließ sich nur bis auf den Fahrweg verfolgen, der an der Ostseite des Laubengeländes entlangläuft. Leider hat der kurze, aber starke Schneefall der verflossenen Nacht die Spuren – auch die des Mörders – völlig verdeckt.

Raubmord liegt nicht vor. Die Tote besaß noch ihre kostbare Armbanduhr und ihre Börse mit etwa 4000 Mark in deutschen Banknoten.“ –

„Revolver, Gift, blauschwarzes, Haar und Giftring – das bestätigt wohl meine Behauptung über die Absichten und die Herkunft der Toten,“ sagte Harald zu mir, nachdem wir den Artikel gelesen hatten. „Ich bin auf die Photographie gespannt, die Balk uns bringen wollte. Viel Neues wird er im übrigen nicht berichten können.“ –

Balk erschien gegen acht Uhr. Wir setzten uns um den Tisch in Haralds Arbeitszimmer.

„Ich habe das Bild,“ begann Balk. „Hier ist es –“

Harst und ich betrachteten es. Mir kam das Gesicht bekannt vor. Ich wußte jedoch nicht, wo ich diese Frau bereits gesehen hatte. Dann fiel mir etwas ein: sie hatte eine geringe Ähnlichkeit mit jenem Weibe, das zusammen mit einem schwarzbärtigen Italiener den Grafen Emanuelo Santa Rocca am Dulek Abi-See bewacht hatte!

„Margrita vielleicht?“ fragte ich Harald.

„Nein,“ meinte er. „Nur eine Ähnlichkeit.“

„Ah – Sie denken an die entflohene Frau, die den Grafen dort in Ägypten gefangen gehalten hat?“ rief Balk zu mir hinüber.

„Ja, Balk,“ erwiderte Harst für mich. „Eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Aber es ist jene Margrita nicht. Nase und Mund waren anders geformt. – Sonst Neues, Balk? Den Zeitungsartikel haben wir schon gelesen.“

„Dann kann ich nicht mehr viel hinzufügen, Herr Harst.“

„Haben Sie den Stiefelschmutz mitgebracht, Balk?“

Der Wachtmeister holte ein Tütchen hervor.

Harald schüttete den Anhalt auf ein weißes Blatt und breitete den bereits trockenen Sand und die winzigen Steinchen darauf aus.

„Hier sind acht Stückchen von Seemuscheln,“ sagte er dann. „Der Kies auf dem Wege des Gemüsegartens enthielt viele Muschelfragmente. Die Frau war in unserem Garten, bevor sie ermordet wurde. Sie ging auf Fußspitzen, und deshalb drückten sich die Schuhspitzen durch den Schnee bis in den Kies hinein.“

Balk hatte sich gespannt vorgebeugt und bat nun: „Dürfte ich nicht Näheres erfahren, Herr Harst?“

Harald erzählte ihm alles. – „Es ist eine Abgesandte der Chrysostomos-Brüder,“ sagte er zum Schluß. „Und zwar eine Verwandte jener Margrita, vielleicht ihre Schwester. Hier haben Sie Geld, Balk. Telegraphieren Sie nach Neapel an die Polizei als Kriminalwachtmeister Balk und fragen Sie an, ob es in Neapel zwei Schwestern gibt, die man im Verdacht hat, mit den Chrysostomos-Brüdern in Verbindung zu stehen und von denen die eine Tänzerin ist. Geben Sie mir dann morgen telephonisch Bescheid. Nur wenn etwas ganz Dringendes vorliegt, kommen Sie persönlich und nur verkleidet. Vielleicht wird unser Haus doch noch von anderen Leuten überwacht.“

Balk verabschiedete sich wieder. – Es war mittlerweile halb neun geworden.

„Gehen wir in den ersten Stock hinauf,“ meinte Harald. „Wir wollen feststellen, ob sich draußen etwas Verdächtiges zeigt. Wir nehmen Ferngläser mit.“

Nachdem wir sowohl den Vorgarten und die Straße als auch den Hof und den Gemüsegarten geduldig eine halbe Stunde beobachtet hatten, ohne daß uns ein Mensch oder sonst etwas aufgefallen wäre, machten wir uns zum Ausgehen fertig. Harald wollte nach dem Anhalter Bahnhof. Was er dort vorhätte, verschwieg er. Bevor wir das Haus verließen, taten wir noch etwas, das unsere Sicherheit bei unserer Rückkehr erhöhen sollte.

Dann betraten wir durch den Vorgarten die Blücherstraße. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.

Gleich darauf bestiegen zwei ältere Frauen mit altmodischen Hüten und schwarzen Schleiern vor den Gesichtern die Straßenbahn. Auf dem Anhalter Bahnhof begaben wir uns in den Wartesaal zweiter Klasse. Harst fragte hier sehr geschickt nacheinander die drei Kellner aus, ob nicht gestern abend nach Eintreffen des Elf-Uhr-Zuges eine junge Dame in einem grauen Kostüm hier gesessen und Schreibmaterial verlangt hätte.

Der letzte der drei Kellner bejahte mit einer Einschränkung.

„Die junge Dame,“ erklärte er, nachdem Harst ihm noch schnell eine Banknote in die Hand gedrückt hatte, „ließ sich zwei Umschläge und einen Briefbogen und Briefmarken geben. Sie hatte einen Füllfederhalter mit und benutzte eine Zeitung als Schreibunterlage – eine der eingespannten Zeitungen.“

„Ist die Zeitung noch da, die sie als Unterlage verwandte? – Ich will Ihnen im Vertrauen sagen, daß wir Privatdetektive sind.“

„Ich werde nachsehen,“ meinte der Kellner erstaunt und lächelte dann verständnisvoll.

Er brachte drei Nummern einer Zeitung, die eingespannt waren.

Harald musterte jede Seite genau. Er fand auch zwei ganz schwache Abdrücke von Schriftzügen, holte einen Taschenspiegel hervor und suchte sie zu entziffern.

„Da!“ flüsterte Harst. „Sehr wertvoll! Ich habe recht behalten. Sie hat ihren Gepäckschein vorsichtigerweise nicht bei sich tragen wollen, sondern ihn postlagernd an das Postamt Potsdamer Platz geschickt. Hier ist noch zu lesen:

agernd
damer Platz.

Das kann nur „postlagernd“ und „Potsdamer Platz“ heißen. Schade, daß der Name oder die Chiffre darüber fehlt. – Nun die zweite abgedrückte Stelle. Man erkennt noch:

He

Franzesc  Tosc 

Kru    Str     5

lotte    g

Das muß heißen: Herrn Franzesco Tosca, Tosco oder so ähnlich, Krumme Straße 5 oder 15 oder so ähnlich, Charlottenburg.“

„Ah – wirklich wertvoll!“ meinte ich eifrig.

Harst ließ sich das Adreßbuch von Berlin geben.

Krumme Straße 15 wohnte ein Sprachlehrer Franzesco Tosco in Charlottenburg.

„Ich bin zufrieden. Wir können heimkehren,“ sagte Harald in jenen lebhaften Tone, der mir verriet, daß er den Chrysostomos-Brüdern nun die Hölle gehörig heiß machen würde.

Als wir wieder in der Straßenbahn nebeneinander saßen, erklärte Harst leise: „Es war nicht eben schwer, auf den Gedanken zu kommen, daß die Ermordete ihr Gepäck hier vielleicht auf dem Bahnhof zur Aufbewahrung abgegeben und den Schein postlagernd abgeschickt hätte. Gepäck mußte sie doch gehabt haben. – Sie tauchte kurz nach unserer Heimkehr in unserem Garten auf. Also konnte sie denselben Zug wie wir benutzt haben. – Sie hat sich zwei Umschläge und nur einen Briefbogen geben lassen, sagte mir der Kellner. Schon dies sprach für meine Annahme. Den einen Umschlag benutzte sie für den Aufbewahrungsschein, dachte ich mir sofort, und den anderen und den Bogen schickte sie als Brief ab. Dieser Franzesco Tosco gehört fraglos ebenfalls zu der Geheimgesellschaft.“

Gegen halb zwölf nachts waren wir wieder daheim. Als Harald die Gitterpforte des Vorgartens aufschloß und wir beide das alte Harstsche Familienhaus nun so dicht vor uns hatten, bemerken wir gleichzeitig etwas, das uns dringend warnte, das Haus nicht zu betreten: Im ersten Stock war über das breite Flurfenster von innen ein greller Lichtschein über die bunten bleigefaßten Scheiben hingelaufen!

„Sahst Du es?“ flüsterte Harald. „Es war eine elektrische Taschenlampe –“

Wir warteten. Der Lichtschein zeigte sich nicht wieder.

„Bleibe hier an der Vordertür,“ sagte Harst. „Ich werde um das Haus herumgehen. Nach dem Schneefall der verflossenen Nacht muß sich jeder Eindringling, der nicht gerade hier durch die Vordertür seinen Weg nahm, durch seine Spuren verraten.“

Ich stellte mich fünf Schritt von der Steintreppe entfernt auf. Harald war kaum ein paar Meter nach rechts gegangen, als aus dem Hause ein wahnwitziger, schriller Aufschrei herausdrang – so deutlich, als müßte irgendwo ein Fenster offen sein.

Harst war herumgeschnellt, war sofort wieder neben mir.

Der Schrei war so furchtbar gewesen, daß auch seine Hand leise bebte, als er sie mir nun auf den Arm legte und sagte:

„Diese Nacht verspricht noch aufregender zu werden!“

Unsere Augen glitten fortgesetzt über die Fensterreihen hin.

Nichts ereignete sich mehr. –

Ein Polizeibeamter kam die Blücherstraße entlang. Sein Schritt hallte dumpf durch die schweigende Nacht. Er sah uns und blieb stehen. – Frau Harst war hier im ganzen Viertel wohlbekannt.

„Ist etwas vorgefallen?“ rief der Beamte uns zu.

Wir gingen bis zur Pforte.

„Wir sind Harst und Schraut, Herr Wachtmeister,“ flüsterte Harald schnell. „Sie dürfen uns aber nicht verraten. Ich kann mich wohl auf Ihre Verschwiegenheit verlassen. Treten Sie ein und behalten Sie die Haustür im Auge. Es ist jemand im Hause. Wir sahen einen Lichtschein und hörten einen Schrei. Meine Mutter und die Köchin sind verreist. Wir spielen hier jetzt –“

Da – abermals eine Reihe gellender Töne aus dem Hause. Jedoch kein Schrei. Nein – ein Lachen war’s, ein geradezu teuflisches Hohngelächter.

„Verdammt – das kam aus einem offenen Fenster,“ murmelte der Wachtmeister.

„Nein – das kam aus einem nur zweifingerbreit geöffneten!“ meinte Harst. „Aus dem dritten von rechts im ersten Stock, das zum Salon meiner Mutter gehört. – Also Sie passen hier auf. Wir beide werden erst mal um das Haus herumgehen. Du nach rechts, mein Alter, ich nach links!“

 

3. Kapitel.

Ich entsicherte die Clement. Ich ließ mir Zeit. Ich musterte die Schneedecke sehr sorgfältig. So kam ich langsam an die Seitenwand des Hauses. Hier schaltete ich meine Lampe ein. Das Haus warf einen dunkeln Schatten. Dann traf ich mit Harst auf dem Hofe zusammen.

„Nichts gefunden,“ erklärte ich.

„Auch nichts,“ meinte er. „Also kann jemand nur durch die Türen, entweder hier oder vorn, seinen Weg genommen haben, denn die Wege bis zu den Türen haben wir und andere – die Zeitungsfrau, der Postbote und der Gaskontrolleur – zerstampft. Freilich – der Eindringling muß tadellose Nachschlüssel mit sich geführt haben. Sicherheitsschlösser wie die unsrigen sind schwer zu öffnen.“

„Und im Vorder- und Hinterflur und auf der Treppe in den Oberstock liegt der Haferkakao, den Du in so dünner, bei seiner bräunlichen Farbe unsichtbarer Schicht ausgestreut hast,“ fügte ich hinzu. „Wir müssen also sofort bemerken, ob –“

„Komm’ nach vorn,“ unterbrach Harald mich.

Er schloß dann die Haustür auf. Der Wachtmeister stand neben uns. Unsere drei Lampen blitzten in den Flur hinein.

Er war leer. – Harald ging voran und leuchtete den braun bestäubten Boden ab.

„Eine feine Idee!“ brummte der Wachtmeister. „Nur der Geruch verrät vielleicht, daß hier Kakao verschüttet ist.“

Die braune Staubschicht war bis zur Hintertür völlig frei von Spuren.

Ich hatte die Flurbeleuchtung eingeschaltet.

„Wartet hier unten,“ meinte Harst. – Er stieg nun auch tief gebückt die breite Treppe empor, verschwand um die Biegung.

Dann von oben Harsts Stimme:

„Schraut – auf den Hof! Passe gut auf! Der Mörder muß sich noch im Hause befinden! Hier liegt ein Mann mit durchschnittener Kehle –“

Ich war schon hinausgeeilt, und zwar den Flur entlang. Die hintere Haustür ließ ich weit offen. Ein breiter Strom von Licht drang so auf den Hof.

Ich stellte mich fünfzehn Schritt vom Hause ab neben den Walnußbaum. Ich hörte, wie Harald die Treppe herabkam. Er sprach mit dem Beamten. Dann rief er mir zu:

„Ich bleibe vorn. Der Wachtmeister telephoniert von der nächsten Kneipe aus. Ich möchte mein Arbeitszimmer lieber nicht betreten.“

Nach einer halben Stunde hörte ich abermals etwas von der Blücherstraße her: zwei Autos, die die Mordkommission an Ort und Stelle brachten.

Ein Kriminalbeamter löste mich dann ab. Ich ging ins Haus und in den oberen Flur. Fünf Herren standen um die Leiche eines dunkelbärtigen Mannes herum.

Der Tote war gut gekleidet, trug einen kurzen, dunkelgrünen Ulster. Sein brauner, weicher Filzhut lag am Flurfenster. In den Taschen fand sich nichts als ein neues Dolchmesser mit Scheide. Die Waffe steckte in der rechten Manteltasche.

Gerade als ich hinzutrat, bückte Harald sich und löste vom Gesicht des Toten einen falschen Bart und vom Kopf die dunkle Scheitelperücke. Wir sahen nun, daß der Mann nur noch wenig eigenes Kopfhaar und einen kurzgehaltenen Schnurrbart besaß.

Dann wurde das ganze Haus durchsucht. Wir selbst beteiligten uns daran nicht. Wir saßen mit dem Polizeiarzt und dem Polizeirat in Harsts Arbeitszimmer.

Harst bat die Herren, die Beamten anzuweisen, daß sie nichts verrieten. „Wir wollen unsere Rolle als Frauen hier noch weiter spielen,“ meinte er. „Ich verspreche mir etwas davon.“

Der Polizeirat fragte darauf, ob Harald etwa die beiden Morde mit seiner eigenen Person in Zusammenhang brächte – eben mit den Nachstellungen der Chrysostomos-Brüder.

„Das kann ich wirklich noch nicht entscheiden,“ erwiderte Harst. „Ich möchte nur bitten, daß zwei Kriminalbeamte nachher hier bleiben und scheinbar zum Schutz der beiden Frauen, meiner Mutter und der Köchin, beordert werden. So mag auch die Presse unterrichtet werden.“

Der Polizeirat wollte alles nach Harsts Wunsch regeln.

Die Beamten suchten zwei volle Stunden. Dann kamen sie und meldeten, das Haus sei leer; es sei nirgends ein Fremder verborgen.

Wir alle schauten Harst fragend an. – „Der Mörder muß noch im Hause sein!“ erklärte er kurz. „Er kann –“

Da betrat Wachtmeister Balk das Zimmer und rief:

„Der Mann hat es sehr schlau angefangen. Ich weiß, wie er ins Haus hinein- und wieder hinausgelangt ist. Er ist vom Dache durch ein Dachfenster eingestiegen. Er ist auf dem Dachfirst entlangbalanziert. Man sieht die Spuren im Schnee. Dann hat er den einen Ast der großen Buche des Nachbargartens benutzt. Er ist vom Nachbargarten aus auf die Buche geklettert.“

Nun war das Rätsel gelöst, wie der Mörder hier eingedrungen war. Ohne Zweifel hatte der Ermordete denselben Weg gewählt.

Die Mordkommission hatte zwei Polizeihunde mitgebracht. Von der Buche führte eine einzelne Männerspur durch den Nachbargarten in das Laubengelände. Neben dieser Spur lief eine andere nach der Buche hin. Also war der Tote wirklich von dem Mörder verfolgt worden – über das Dach in das Haus hinein.

Die Hunde blieben bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle auf der Fährte. Dann hatte der Mörder eine Elektrische bestiegen. –

Um halb vier morgens wurde die Leiche abgeholt. Die Wachtmeister Balk und Reckler übernahmen unsere Beschützerrolle. Die Mordkommission fuhr davon.

Wir vier hatten uns nun wieder in Harsts Arbeitszimmer gesetzt. Harald war ein sehr liebenswürdiger Wirt. Er hatte Kognak, Wein und Zigarren geholt, ebenso aus der Speisekammer einen Imbiß. Die beiden Beamten fühlten sich hier offenbar recht behaglich.

Nachdem Harst unserem Gespräch eine Weile schweigend zugehört hatte, sagte er zu Balk:

„Sie müssen uns helfen, ungesehen aus dem Hause herauszukommen. Wie machen wir das am besten?“

Balk überlegte. – Da fuhr Harald schon fort: „Rufen Sie das Präsidium an. Zwei Beamte sollen in einem Auto sofort hierherfahren. Es müssen zwei sein, die uns der Größe und Figur nach entsprechen. Sie sollen in der Verkleidung von bärtigen älteren Leuten erscheinen.“

„Verstehe, Herr Harst,“ nickte Balk. „Nachher verlassen Sie und Herr Schraut in derselben Verkleidung das Haus und fahren in demselben Auto davon. – Gut, ich werde telephonieren. Ich weiß schon, wer von den Kollegen sich hierzu eignet.“ –

Um halb sechs – inzwischen hatte ein Tauwind leichten Regen gebracht – entführte uns das Auto nach Charlottenburg. Die beiden Beamten sollten später einzeln durch den Gemüsegarten verschwinden.

Wir gaben scharf acht, ob jemand uns folgte. Es war nicht der Fall. Am Bahnhof Charlottenburg stiegen wir aus. Im Wartesaal tranken wir Kaffee und frühstückten.

Harald erklärte dann unvermittelt:

„Franzesco Tosco ist der, an den die ermordete Frau den Brief geschrieben hat, wie wir wissen. Sie wird ihm in diesem Brief ihre Ankunft in Berlin und ihre Absicht mitgeteilt haben, unser Haus zu beschleichen. Tosco hat dann in der Zeitung gelesen, daß sie ermordet worden ist. Er mag gedacht haben, mehr Geschick als Rächer beweisen zu können. Deshalb kletterte er über das Dach ins Haus und suchte einen wahrhaft teuflischen Plan in die Tat umzusetzen –“

Ich blickte Harst verblüfft an. „Teuflischen Plan? Er hatte doch, falls er wirklich der Tote ist, was ich allerdings vermute, nur ein Dolchmesser bei sich.“

„Du irrst, mein Alter. Das Andere, nämlich ein Paket, lag auf dem großen Kleiderschrank im oberen Flur unweit der Leiche. Schon als ich allein den Toten fand, fand ich auch das Paket. Ich weiß doch, was auf unseren Schränken steht und liegt. Ich habe es vorsichtig ausgewickelt. Rate, was darin war. Du rätst es nie: eine Tüte gebrannte Kaffeebohnen und ein halbes Brot!“

„Beides wird vergiftet sein?“ meinte ich gespannt.

„Beides wollte er in die Speisekammer an die rechte Stelle einschmuggeln, ohne Frage. Die Kaffeebohnen hätte er in die Büchse geschüttet, das Brot in den Brotkasten gelegt. Und – beides hätte wahrscheinlich meine Mutter und Malwine so schwer erkranken lassen, daß man mich an ihr Krankenlager gerufen hätte. – Kurz, Franzesco Tosco wollte dasselbe wie die Spionin: mich nach Hause zwingen! Beide wußten, daß wir in Berlin sind. Wo wir sind, wußten sie nicht. Sonst hätte Tosco sich nie ins Haus gewagt. Er hat es beobachtet, sah uns beide fortgehen, glaubte wirklich, es wären zwei Frauen. Er hielt sich für sicher. Er mag angenommen haben, daß wir uns mit meiner Mutter irgendwo treffen wollten. Deshalb wagte er den Gang über das Dach. Und der Mörder folgte ihm eben – derselbe Mörder, der auch die Spionin niederstach! Es muß ein Mann sein, der mit den Chrysostomos-Brüdern eine lange Rechnung auszugleichen hat; ein Mann, der wieder die Spionin nach Brindisi und weiter bis Berlin heimlich begleitete: ein Neapolitaner fraglos.“

Ich mußte das Gehörte erst geistig verdauen. Ich hatte auch nichts mehr zu fragen. Mir war schließlich auch das klar, was Harst unausgesprochen gelassen: daß die Spionin auf dem Anhalter Bahnhof nach Ankunft des Zuges uns aus den Augen verloren haben mußte! Sonst hätte sie ja gewußt, daß wir daheim waren. Und – das sollte sie nach Harsts Theorie nicht geahnt, vielmehr nur vermutet haben, wir hätten uns nicht nach Hause gewandt. –

Gegen neun Uhr vormittags betraten wir das alte schmale Haus Krumme Straße 15. – Es hatte drei Stockwerke. Oben in der Mansarde hauste Franzesco Tosco. Nur eine geschriebene Visitenkarte hing an der Tür.

Das Haus war wie ausgestorben. Wir waren auf der Treppe niemanden begegnet.

Wir standen vor Toscos Tür im Dämmerlicht des Bodenvorraumes und lauschten. Dann zog Harst an dem altmodischen Glockengriff. Wir hörten drinnen eine Glocke keifend bimmeln. Niemand erschien.

Harald holte die Dietriche hervor. Die Tür hatte ein altmodisches Schloß. – Wir riegelten sie hinter uns ab. Es war ein längliches, zweifenstriges, sehr helles Zimmer, in dem wir nun Umschau hielten. Rechts neben dem einen Fenster stand ein Schreibtisch mit Aufsatz. Das ganze Mobiliar war einfach, aber durchaus nicht ärmlich. An den Wänden hingen ein paar gute Bilder. Ein riesiges Bücherregal war bis oben gefüllt.

Links führte eine kleine Tür in eine einfenstrige Schlafstube. Auch hier herrschte peinliche Sauberkeit.

Dann folgte hinter der Schlafstube noch eine winzige Küche. – Wir stellten fest, daß wir hier allein waren. Harald begann nun die Fächer des Schreibtisches zu durchsuchen.

Er suchte so, wie nur er es versteht. Er nahm ein Lineal und maß die Tiefe und Höhe der Fächer aus. Doch – es gab hier kein Geheimfach!

„Hm,“ flüsterte er dann, „fällt Dir nichts an diesem Fichtenmöbel auf?“

„Ja – die vier Tischbeine sind anders gebeizt als das Übrige – sind rötlicher.“

Harald klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die Tischfüße – an verschiedenen Stellen. Der linke der hinteren Füße gab oben einen helleren Ton.

„Aha!“ schmunzelte Harst. „Daß der Tosco ein Versteck haben würde, mußte man annehmen! Hilf mir mal den Tisch etwas anheben.“

Ich tat es. – Wir beide standen mit dem Rücken nach der Schlafstubentür hin.

Und jetzt –

 

4. Kapitel.

– jetzt hüstelte jemand hinter uns.

Unsere Köpfe flogen herum.

An der Tür dort lehnte ein Herr mit schwarzem Spitzbart, einen Zylinder auf dem Kopf – sehr elegant gekleidet.

In der halb erhobenen Rechten hielt er nachlässig einen Revolver.

„Ich habe im Bett gelegen und mich zugedeckt gehabt,“ sagte er in gebrochenem Deutsch. „Mein Name ist Franzesco Tosco, Doktor der Philosophie. – Sie setzen mich wirklich in Erstaunen, Herr Harst. Wie haben Sie gerade mich herausgefunden?! Im übrigen warne ich Sie beide. Die Wohnung unter mir ist leer. Zwei Revolverschüsse würde niemand hören. – So – vielleicht antworten Sie mir, Herr Harst. Legen Sie aber bitte die Hände Ihrem Freunde Schraut auf die Schultern. Es ist für Sie sicherer. Ich könnte sonst annehmen, Sie wollten eine Waffe hervorziehen –“

Seine linke Hand hing frei herab. Am Ringfinger schimmerte ein Ring mit einem länglich viereckigen Amethyst, der einen leicht grünlichen Schimmer hatte. Es war dies der Brüderring der Chrysostomos-Loge, wie ich wußte.

Harald gehorchte, und legte mir die Hände auf die Schultern. Dann erklärte er ganz offen, wie wir Toscos Adresse in Erfahrung gebracht und überhaupt von seiner Existenz Kenntnis erhalten hatten.

Aber – war dieser Mann wirklich Franzesco Tosco? War es nicht vielleicht ein anderes Mitglied des Geheimbundes?!

„So so,“ meinte der Elegante bedächtig. „Also der Abdruck der Briefadresse auf der Zeitung! – Haben Sie Interesse für diesen Brief?“ fragte er nach kurzer Pause und faßte mit der Linken in die Tasche seines Mantels.

„Nicht viel,“ erklärte Harald. „Weit mehr Interesse habe ich für Sie!“

„Oh – der Brief ist nicht alltäglich,“ lächelte der angebliche Tosco. „Setzen Sie sich nebeneinander dort hinter den Sofatisch und legen Sie die Hände auf die Tischplatte – vorwärts! Machen Sie aber keine Dummheiten. Es wäre schade, wenn Sie so – billig wegkämen! Eine Revolverkugel ist keine Strafe, die der Menge Ihrer gegen den Bund begangenen Unverfrorenheiten entspricht. – Los – setzten Sie sich!“

Er zielte auf uns. Er behielt das eigenartige Lächeln bei.

Wir nahmen Platz. Dann warf er Harst den Brief zu.

Wir lasen ihn gemeinsam. Er war deutsch, aber mit lateinischen Buchstaben geschrieben.

Berlin, 3. 12. 19…

In aller Eile. Bin soeben eingetroffen. Unsere beiden Freunde benutzten denselben Zug. Auf dem Bahnhof kamen wir im Gedränge leider auseinander. Sie werden wohl in einem anderen Hotel als sonst absteigen. Ich will für alle Fälle sofort nach dem Hotel fahren und möchte dort einen Bescheid für die Angehörigen zurücklassen, der unserer brieflichen Abmachung über die Herbeiführung einer Zusammenkunft im Hotel entspricht. – Hole unter Deinem Namen mein Deponiertes als Schein vom Potsdamer Platz ab. Ich selbst traue mich nicht hin. Vorsicht ist den Freunden gegenüber stets geboten. Ich komme erst abends zu Dir. Rosarita.

Harst legte den Brief auf den Tisch. – „Was ist daran nicht alltäglich?“ meinte er.

„Verstehen Sie denn den Inhalt?“ fragte der Elegante sichtlich gespannt.

„Gewiß. Ich verstehe auch Sie! Sie verstehen den Brief nämlich nicht. Und da soll ich aushelfen. – Ich will Ihnen den Gefallen tun. Die „Freunde“ im Briefe sind Schraut und ich. Rosarita und der Briefempfänger –“

„Also ich!“ warf der Mann ein.

Harald lachte. „Machen Sie doch keine Witze! Sie sind niemals Tosco!“

„Wer denn sonst?!“

„Der Mörder Rosaritas und Toscos.“

Der Mann zuckte leicht zusammen. Er lächelte nicht mehr. Nein – er wurde offenbar verlegen, hüstelte und rief dann:

„Sie sind nicht bei Sinnen! Ich bin Tosco!“

„Nun gut – meinetwegen! – Die beiden hatten also vereinbart, mich nach Hause zu „zwingen“! Rosarita hatte ein Fläschchen Gift bei sich. Sie wollte meiner Mutter irgendwie das Gift beibringen –“ Harst entwickelte genau denselben Gedankengang wie mir gegenüber.

„Und „Potsdamer“, „Schein“ und „abholen“, – was bedeutet das?“ fragte der Elegante dann hastig.

„Ja – das weiß ich nicht. Leider nicht!“ erklärte Harst, und – er log! Denn es konnte sich ja nur um den postlagernden Gepäckaufbewahrungsschein handeln.

Der Mann machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. Nach ein paar Sekunden befahl er Harst:

„Öffnen Sie das Versteck in dem Tischfuß! Los!“ – Der barsche Ton gelang nicht recht. Es war überhaupt so, als ob der Elegante als Mensch von tadellosen Manieren der Rolle eines Verbrechers nicht recht gewachsen wäre. Daß er nicht Tosco sein konnte, stand bei mir bereits fest.

Harald ging zum Schreibtisch hin, kniete nieder, stützte die Schulter unter den Tisch und rüttelte an dem betreffenden Fuß. Dann begann er ihn herauszudrehen. Als er ihn nun in der Linken hielt und aufstand, rief der Elegante:

„Legen Sie ihn auf den Sofatisch!“

Jetzt kam der Wendepunkt.

Harald tat, als wollte er gehorchen.

Aber – er legte das Tischbein nicht hin. Er hatte es wie eine Keule in der Hand. Diese Hand zuckte hoch – blitzschnell.

Und das Tischbein flog dem Manne gerade gegen das Kinn – mit solchem Schwung, daß er etwas zurücktaumelte.

Harald war schon hinterdrein gesprungen.

Ein Faustschlag ließ den Revolver zu Boden fallen; ein zweiter – gegen die Herzgrube – genügte, den Mann wie einen Klotz niederzuwerfen.

Harst fing ihn auf, bevor er auf die Dielen aufschlug.

Ich schnitt rasch die Gardinenschnur ab.

Dann saß der Elegante nach Luft schnappend gefesselt in Toscos Schreibsessel.

Er erholte sich langsam. Harald hatte ihm schnell die Taschen entleert. Das, was der Mann bei sich hatte, gab doch keinen Aufschluß über seine Person.

Harst besichtigte nun das Tischbein. Es bestand aus zwei Stücken, die sich auseinanderziehen ließen. Es war hohl. Und in der Höhlung lagen in Seidenpapier verpackt drei – Rollen Briefe, die durch Gummibänder zusammengehalten wurden.

Als der Elegante diese Briefe sah, stöhnte er auf.

Ein Ausdruck von Verzweiflung glitt über sein Gesicht hin. –

Harald trat neben ihn.

„Wer sind Sie?“ fragte er. „Sprechen Sie die Wahrheit. Sie gehören offenbar den ersten Kreisen Italiens an. Es wäre besser, Sie würden alles gestehen.“

Der Mann ließ den Kopf auf die Brust sinken und schwieg.

Harald öffnete eine der Briefrollen. Sie enthielt acht Briefe ohne Unterschrift. Harst las hie und da eine Stelle.

„Ah – Politik!“ meinte er. „Solchen Dingen gehe ich aus dem Wege.“ – Er untersuchte die beiden anderen Rollen. Dann wandte er sich plötzlich an den Eleganten, verbeugte sich leicht und sagte:

„Herr Herzog, daß Sie ein Mörder sind, kann ich nach allem, was ich bisher über Sie gehört habe, nicht annehmen –“

Dem Gefangenen traten dicke Schweißperlen auf die Stirn. Aber er regte sich nicht.

Harst wartete ein paar Minuten. – „Wollen Sie wirklich, daß ich Sie der Polizei übergebe?“ fragte er dann. „Wäre es nicht besser, Sie würden uns mitteilen, weshalb Sie die beiden Mitglieder der berüchtigten Erpresserbande töteten?“

Wieder nichts. – Nur der Schweiß lief dem Herzog jetzt über das fahle Gesicht.

„Es ist klar,“ fuhr Harald fort, „daß Sie hier diese Briefe gesucht haben, die Sie aufs schwerste bloßstellen. Es ist Ihre Handschrift offenbar, und der Inhalt der Briefe beweist Ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, in der wohl keiner einen entfernten Verwandten des italienischen Königshauses vermutet. Diese Briefe würden genügen, Ihnen alles zu nehmen, was Sie besitzen: Rang, Vermögen, Ansehen, – würden Sie ins Gefängnis bringen. – Sprechen Sie offen mit uns!“

Der Herzog blieb stumm.

Harald wandte sich mir zu. „Bewache ihn hier,“ sagte er. „Ich bin in einer Stunde zurück.“

Er verließ das Zimmer. Ich riegelte hinter ihm wieder ab, setzte mich auf das Sofa.

Der Herzog wartete wohl zehn Minuten. Dann hob er den Kopf.

„Herr Schraut, ich biete Ihnen 100 000 Mark, wenn Sie –“

Ich hatte schon eine kurze Handbewegung gemacht.

Er schwieg und schaute mich traurig an, seufzte qualvoll und stierte wieder zu Boden.

Kein Wort wurde mehr zwischen uns gewechselt. –

Dann draußen Schritte. – Es klopfte. Ich fragte erst, wer Einlaß begehre.

„Harst!“

Ich öffnete. – Harald trat mit einem kleinen Rohrplattenkoffer und einer ledernen Reisetasche ein, stellte beides auf den Sofatisch und fragte den Herzog:

„Haben Sie es sich anders überlegt? Wollen Sie die Wahrheit eingestehen?“

Wieder keine Antwort. –

Da brach Harst, nachdem er in der Reisetasche nur Wäsche und Toilettenutensilien gefunden hatte, den Koffer auf.

Er enthielt Kleider, Blusen, Wäsche, – sonst nichts.

Scheinbar nichts weiter – scheinbar!

Harald maß den Koffer innen und außen, lächelte.

„Fünf Zentimeter fehlen hier innen im Deckel,“ meinte er. „Also!“ – Und er suchte, bis er den inneren Deckelverschluß gefunden hatte.

In dem Hohlraum lag ein seidener, zusammengerollter Unterrock.

Harst nahm ihn, befühlte ihn, rollte ihn vorsichtig auseinander.

Und – hatte nun in der Rechten ein Diadem von prachtvollen Diamanten – einen Schmuck von unschätzbarem Wert.

Der Herzog hatte beim Anblick des Diadems einen halb unterdrücken, gurgelnden Schrei ausgestoßen.

„Also deshalb!“ sagte Harald ernst. „Deshalb! Dieses Diadem ist weltberühmt. Es gehört Ihrer Gattin, Herr Herzog, der Tochter des amerikanischen Milliardärs Roulby!“

„Erbarmen!“ stöhnte der Herzog. „Haben Sie Erbarmen mit mir!“

Sein Gesicht war verzerrt, Angst und Seelenpein sprachen aus seinen halb irren Blicken.

 

5. Kapitel.

Harald band ihn los.

„Herr Herzog,“ sagte er dann, „ich wiederhole, daß ich Sie eines Mordes nicht für fähig halte –“

Der Herzog hatte jetzt das Gesicht mit beiden Händen bedeckt.

„Die Chrysostomos-Brüder sind irgendwie in Besitz der Sie so schwer belastenden Briefe gelangt,“ fuhr Harst fort und zündete eine Kerze an, die in einem Leuchter auf einem Nebentische stand. „Dies kann erst kürzlich geschehen sein. Ihre Gattin weilt, wie in allen Zeitungen zu lesen war, seit zwei Wochen bei ihrem Vater in Neuyork. Die Bande hat von Ihnen dann wahrscheinlich ungeheure Summen erpreßt, wird schließlich noch das Diadem verlangt haben. Die Brillanten Ihrer Gattin dürften im Tresor einer Bank in Rom verwahrt liegen. Sie haben dann vielleicht durch eine Fälschung der Unterschrift Ihrer Gattin sich Zugang zu dem Schließfach der Bank verschafft –“

Der Herzog nickte, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.

„Sie händigten der Bande das Diadem aus, hatten jedoch von vornherein die Absicht, es wieder an sich zu bringen. Die Bande wird Sie betrogen und Ihnen die Briefe nicht ausgeliefert haben –“

„Gefälschte Briefe – scheinbar nur die echten!“ murmelte der Herzog. Dann ließ er die Hände sinken, raffte sich auf.

„Sie sollen alles erfahren,“ sagte er fest. „Ein Weib unterhandelte mit mir. Sie gab mir die gefälschten Briefe. Ich blieb auf ihrer Spur, verfolgte sie bis Brindisi, weiter bis Berlin, konnte jedoch nie an ihr Gepäck heran. Sie gab ihren Koffer und ihre Handtasche auf dem Anhalter Bahnhof ab. Wieder folgte ich ihr bis in jenes Laubengelände. Hier wollte ich sie durch Drohungen zwingen, mir den Gepäckaufbewahrungsschein zu geben. Sie aber stach mit einem Dolch nach mir. – Da –“ – er riß seine Weste und sein Oberhemd auf – „da sehen Sie die Fleischwunde, die ich selbst mir verbunden habe. Der Dolch glitt an einem Westenknopf ab. Ich war sinnlos vor Wut. Ehe das Weib nochmals zustoßen konnte, gebrauchte ich mein eigenes Dolchmesser. Das Weib schrie gellend auf. Ich kam zur Besinnung, rannte davon, übernachtete in einem kleinen Hotel und schlich vormittags in das Haus, das dem Ihren gegenüberliegt, verbarg mich auf dem Boden und beobachtete, was Sie nun wohl unternehmen würden. Ich hatte ja im Zuge in einer Wiener Zeitung gelesen, daß dieselbe Bande hinter Ihnen her war. Ich hoffte, Sie würden den Koffer des Weibes irgendwie an sich bringen. Ich fror entsetzlich. Ich hatte nur ein Fläschchen Kognak bei mir. Aber – ich hielt aus. Dann wurde es dunkel. Da verließ ich den Bodenraum und begab mich in den Nachbargarten, nachdem ich in einer Kneipe hastig etwas genossen hatte. Es war etwa sieben Uhr, als ich mich in der Laube des Nachbargartens verbarg, von wo ich Ihre Haustür im Auge behalten konnte –“

„Das weitere weiß ich,“ sagte Harald da. „Sie sahen zwei Frauen das Haus verlassen. Und –“

„Und im selben Moment,“ fiel der Herzog ihm ins Wort, „bemerkte ich einen Mann, der mit Hilfe eines Strickes, den er über einen Aststumpf geworfen hatte, die dicke Buche erkletterte. Ich wußte nicht, daß Sie beide die Frauen waren. Ich kletterte dann ebenfalls auf das Dach und in das Dachfenster hinein, in dem der andere Mann soeben verschwunden war. Er muß mich gehört haben. Im oberen Flur lauerte er mir auf, packte mich bei der Kehle, warf mich zu Boden. Er würgte mich. – Da – sehen Sie meinen Hals! Sie müssen noch die Spuren seiner Finger erkennen. Ich täuschte Bewußtlosigkeit vor, lag still. Er leuchtete mir ins Gesicht. Und – da sah ich an seinem Finger den Ring der Brüderschaft. – Ich hörte ihn murmeln: „Ah – der Herzog! Mag er zum Teufel gehen!“ Er wollte zustoßen. Sein Dolch blitzte im Halbdunkel des Flurs auf – da warf ich mich zur Seite. Wir rangen miteinander. Auf gut Glück stieß ich zu. Und mit einem wilden Schrei stürzte der Mensch nieder.“

Der Herzog wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

„Dann eilten Sie wahrscheinlich an das Flurfenster,“ ergänzte Harald, „um zu sehen, ob der Todesschrei Toscos nicht Leute herbeigelockt hätte. Sie bemerkten uns an der Gartenpforte –“

„Ja – ich warf das Paket, das der Mann bei sich gehabt hatte, auf den Schrank, nahm ihm seine Brieftasche ab, eilte wieder ans Fenster, durchwühlte seine Taschen nochmals und öffnete dann in dem Salon neben dem Flur das eine Fenster und wollte die beiden Frauen durch das Gelächter abschrecken. Ich sah nun auch, daß die eine der Frauen eine Pistole in der Hand hielt. Da wurde mir klar, daß Sie beide es waren. – Ich entkam glücklich über das Dach, obwohl der Polizeibeamte vor der Haustür stand. Ich handelte wie im Traum, wie ein Automat. Mein Hirn war gleichsam vor Entsetzen gelähmt. Ich hatte zwei Menschen gemordet – ich, der nicht einmal Jäger ist, der noch nie ein Wild getötet hat!“

Wieder bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen.

„Von Mord kann hier keine Rede sein, Herr Herzog,“ sagte Harald nun und – hielt den ersten der Briefe über die Flamme des Lichtes, trug das brennende Papier dann schnell in den Ofen.

Der Herzog war aufgesprungen. „Oh – wollen Sie mich wirklich schonen?“ rief er. „Herr Harst, ich –“

Harald hatte schon die übrigen Briefe geholt und verbrannte sie im Ofen, sagte kurz:

„Stecken Sie das Diadem zu sich, Herr Herzog. Daß Sie die Unterschrift Ihrer Gattin gefälscht haben, müssen Sie mit sich selbst abmachen. Ein Mörder sind Sie nicht. Sie haben in beiden Fällen aus Notwehr getötet. Kein Gericht der Welt würde Sie deshalb verurteilen –“

Harald wühlte mit der Ofenkrücke die glimmende Asche durch, warf noch ein paar zerknüllte Zeitungen hinein und fügte hinzu: „Was haben Sie in Toscos Brieftasche gefunden? Vielleicht händigen Sie mir –“

„Ich habe leider alles verbrannt,“ sagte der Herzog schnell. „Ich fand in der Brieftasche unter anderem eine Quittung für Franzesco Tosco. So erfuhr ich seine Adresse. Ich bin heute früh hier eingedrungen, um die Wohnung zu durchsuchen. Ich hoffte, jenes Weib hätte vielleicht das Diadem hier an Tosco geschickt. Ich klammerte mich ja an jede Möglichkeit, beides zurückzuerhalten –“

Harald schraubte den Ofen wieder zu.

„Reisen Sie nach Hause, Herr Herzog,“ riet er dem noch immer halb verstörten Manne. „Schraut und ich werden schweigen. Sie verdienen diese Rücksicht. Die Bande, von der Sie derart ausgeplündert worden sind und die mit so vielseitigen Mitteln arbeitet, soll verschwinden. Es ist bestimmt anzunehmen, daß die Leute ihren Rachefeldzug gegen mich nach diesen beiden Todesfällen noch mit mehr Nachdruck betreiben werden. Jedenfalls dürfte jetzt eine größere Anzahl der Chrysostomos-Brüder nach Berlin kommen. Mögen sie! Wir werden auch mit ihnen fertig werden! – Noch eins. Sie haben Tosco auch den Ring vom Finger gezogen; Sie wollten eben seine Person in ein möglichst tiefes Dunkel hüllen. Geben Sie mir den Ring. Ich kann ihn vielleicht irgendwie brauchen.“

Der Herzog zog den Ring vom Finger und reichte ihn Harst, erklärte dann noch:

„Sie sollen nun auch erfahren, wo ich verborgen war, als Sie beide die Wohnung hier betreten hatten. Als ich Sie vor der Tür flüstern hörte, eilte ich in meiner Kopflosigkeit in das Schlafzimmer nebenan und stieg in den Kleiderschrank, zog den Schlüssel ab und schloß von innen ab. Das Schloß ist nämlich anders wie sonst bei Schränken, ähnlich wie ein Türschloß. Im Bett hatte ich mich nicht verborgen.“

„Das wußte ich. Ich hätte Sie dieserhalb auch noch gefragt,“ meinte Harald.

Er streckte dann dem Herzog die Hand hin. „Reisen Sie also noch heute ab, Herr Herzog. – Bitte – kein Wort des Dankes. – Und – seien Sie vorsichtig. Man kann nie wissen, ob die Bande nicht doch ermittelt, daß Sie es waren, durch dessen Hand die beiden den Tod fanden.“

Harst öffnete ihm die Tür nach dem Bodenvorraum und lauschte. „Alles still. – Glückliche Reise, Herr Herzog!“ flüsterte er.

Der Herzog schlich die Treppe hinab. Wir blieben an der Tür stehen und schauten ihm nach. Wir hörten das Knarren der Stufen. Nun mußte er auf dem Treppenabsatz des dritten Stockes angelangt sein. Harst wollte die Tür schon wieder schließen.

Da – von unten eine Stimme. Die Schritte des Herzogs waren verstummt.

Jetzt des Herzogs Stimme: „Ich wüßte nicht, was Sie mich zu fragen hätten!“ – Er lief nun die Treppe weiter hinab.

Wir waren bis zum Treppengeländer gegangen.

Unten im dritten Stock wurde eine Tür leise ins Schloß gedrückt. –

Harst lächelte mich so eigentümlich an, winkte mir –

Wir brachten die Wohnung Toscos in Ordnung. Dann entfernten auch wir uns. Wie wir in die nahe Kantstraße eingebogen waren, blieb Harald stehen, holte sein Zigarettenetui hervor und bot auch mir eine Mirakulum an, hielt mir das Feuerzeug hin und sagte:

„So, so – es ist jemand hinter uns! Das ist der dritte Beweis dafür, daß das Haus Nr. 15 scheinbar das deutsche Hauptquartier der famosen Loge ist!“

„Hinter uns?“ meinte ich atemlos.

„Ja – ein altes, gebücktes, weißbärtiges Männchen. Dreh’ Dich nicht etwa um. Wir werden jetzt nach dem Polizeipräsidium fahren –“

Als wir im Auto die Kantstraße entlangrollten, fragte ich gespannt:

„Du sprachst von drei Beweisen, Harald?“

„Ja – der zweite war die Tatsache, daß ein Bewohner des dritten Stocks den Herzog offenbar in seine Wohnung locken wollte. Du hörtest, wie der Herzog ablehnend rief: „Ich wüßte nicht, was – und so weiter!“ – Daraus geht hervor, daß der Betreffende ihn gebeten hatte, näher zu treten. Der Herzog wird aber wohl Unrat gewittert haben. Der, der ihn ansprach, ahnte nicht, daß wir oben horchten. Wäre der Herzog der Aufforderung gefolgt, dann dürfte er Italien kaum wiedergesehen haben. – Der dritte Beweis ist der Alte, der uns folgt. Es ist derselbe Mann ohne Zweifel, der den Herzog ansprach.“

Er nahm einen kleinen Hohlspiegel aus der Tasche und hielt ihn so, daß er nach rückwärts die Straße beobachten konnte.

„Ja, mein Alter, – ein Auto bleibt hinter uns. Also stimmt der dritte Beweis.“

„Und der erste, Harald? Den hast Du vergessen.“

„Nein, nicht vergessen. Ein Schrank, der sich auch von innen verschließen läßt, muß notwendig einen besonderen Zweck haben!“

Ich verstand sofort. „Der Schrank enthält noch ein Versteck für einen Menschen,“ sagte ich rasch.

„Vielleicht auch etwas anderes –“ –

Als wir vor dem Präsidium hielten, hielt auch das zweite Auto hundert Meter weiter, nachdem es an uns vorübergefahren war. Harst bezahlte den Chauffeur. Und dort drüben bezahlte ein altes, weißbärtiges Männchen. –

Zwei Stunden später waren wir einzeln in der Uniform von Polizeibeamten nach Blücherstraße 10 zurückgekehrt.

Hier empfing uns Balk mit der Nachricht, daß ein Herr, der seinen Namen verschwiegen hatte, vorhin telephonisch Harst hatte sprechen wollen. – „Ich soll bestellen,“ sagte Balk weiter, „daß der Herr „dort“ auf der Treppe von einem alten Manne angehalten worden sei, der die linke Wohnung im dritten Stock innehat; der Alte sei offenbar fragwürdig.“

Natürlich hatte der Herzog dies an Harst ausrichten lassen.

Harald nickte nur. „Es ist gut, Balk. – Sonst was Neues?“

„Ja. Etwas sehr Eigentümliches, Herr Harst.“

Was Balk dann erzählte, bringe ich als Einleitung unseres nächsten Abenteuers. –

Der Herzog verunglückte sieben Monate später mit seinem Rennauto und erlag den dabei erhaltenen Verletzungen. Damals war die Chrysostomos-Bande längst abgetan.

 

 

Die Gauklergesellschaft Shingra Mao

 

1. Kapitel.

Kriminalwachtmeister Balk erzählte:

„Kurz nachdem der Unbekannte Sie am Telephon verlangt hatte, Herr Harst, fuhr eine Taxameterdroschke vor dem Hause vor, der ein jüngerer gutgekleideter Mann mit blondem Schnurrbärtchen entstieg. Er ließ die Droschke halten und kam durch den Vorgarten zögernd auf das Haus zu –“

Balk machte eine kurze Pause und lächelte verlegen.

„Ich weiß nicht, ob ich nun nicht vielleicht eine Dummheit gemacht habe,“ fügte er dann hinzu. „Als der Fremde geläutet hatte, öffnete ich ihm. Er fragte sofort, ob er Herrn Harst vor sich hätte. – Und – da dachte ich mir: Gib Du Dich als Harst aus! Wer kann vorher sagen, ob der Mann nicht Wichtiges bringt?! – Also ich erklärte, ich sei Harald Harst.

„Gott sei Dank,“ rief der Herr da, wieder in etwas gebrochenem Deutsch. „Darf ich nähertreten, Herr Harst? Mein Name ist Fernando Rafalga – Graf Rafalga. Ich bin Spanier –“

Ich bat ihn nun in Ihr Arbeitszimmer. Nachdem wir Platz genommen hatten, begann der Spanier:

„Ich komme mit einem sehr seltsamen Anliegen zu Ihnen, Herr Harst. Meine Gattin ist mir vor anderthalb Jahren geraubt worden. Wir unternahmen damals nach erst dreimonatiger Ehe eine Reise nach Rom. Meine Frau war eine Französin. – Als wir von Rom aus eine Autotour in die Campagna –“

So weit war der Graf mit seinem Bericht, da schlug die Flurglocke abermals an. Ich eilte in den Flur und ließ die Tür offen, so daß der Spanier nicht unbeobachtet blieb.

Ich öffnete, und vor mir stand eine blonde Dame, tief verschleiert, schick angezogen.

Sie rief sofort: „Ist Graf Rafalga hier? – Sagen Sie ihm, daß er erwartet wird –“

Dann machte sie kehrt und schritt hastig auf die Straße zurück.

Plötzlich drängte mich der Spanier beiseite. Er war ganz blaß und stierte der Dame nach.

„Das war ihre Stimme, Herr Harst,“ keuchte er förmlich vor Aufregung.

Ich wollte ihn nun doch nicht länger über meine Person im Unklaren lassen und sagte:

„Herr Graf, ich bin nicht Harst. Ich bin der Kriminalwachtmeister Balk. Hier im Hause ist ein Mord verübt worden. Harst ist überhaupt nicht in Berlin.“

Er drückte mir jetzt einen Brief in die Hand.

„Senden Sie ihn Herrn Harst. Hier ist Geld für das Porto. Ich muß der Frau nach. Es war die Stimme meiner Gattin.“

Er rannte davon. Ich folgte ihm bis auf die Straße. So sah ich denn, wie er in ein geschlossenes Auto stieg, aus dem die Dame ihm zugewinkt hatte. Das Auto fuhr sehr schnell weiter. – So, das ist die Geschichte, Herr Harst. Und hier ist der Brief.“

Harald und ich schauten uns die Adresse an. Da stand nur:

„Herrn Harald Harst“ – weiter nichts. – Es war eine sehr dünne, weibliche, charakterlose Schrift, die Buchstaben sozusagen nur hingehaucht.

Harst schnitt den Umschlag auf. – Der Brief lautete:

Sehr geehrter Herr Harst!

Für den Fall, daß ich Sie nicht daheim antreffe, wollte ich diesen Brief Ihrer Frau Mutter übergeben. Vielleicht interessiert Sie mein Fall. Meine Frau wurde in der römischen Campagna vor anderthalb Jahren (genau sind es heute 17 Monate und 12 Tage) von fünf Banditen entführt. Da wir abends ins Theater wollten (wir wohnten als Touristen in Rom), war sie in Gesellschaftstoilette und trug unter dem seidenen Staubmantel all ihre Juwelen – Ringe, Perlenkette, Armbänder und so weiter. – Obwohl ich sechs englische bekannte Privatdetektive engagierte, wurde von Eugenie nie eine Spur entdeckt. Das heißt: bis vor vier Wochen! – Dann fand ich in einer Zeitschrift ein Bild einer persischen Tänzerin namens Fatima Mansora, das meiner Eugenie derart glich, daß ich sofort von Madrid, meiner Heimat, nach Mailand reiste, wo die Perserin zuletzt aufgetreten war. Ich traf sie dort nicht mehr an. Sie war abgereist. Niemand konnte mir sagen wohin. – Ich wollte Sie nun höflichst bitten, mir Eugenie suchen zu helfen. Ich liebe sie über alles. Meine Mutter war eine Deutsche. Ich bin also ein halber Landsmann von Ihnen. Geld würde bei den Ermittlungen keine Rolle spielen. – Ich bleibe vorläufig in Berlin.

Ich bin Ihr ergebenster

Fernando Graf Rafalga,
z. Z. Berlin W, Knesebeckstr. 199,
Pension Mutius.

Harald hatte den Brief laut vorgelesen, damit auch Balk von dem Inhalt Kenntnis erhielte.

„Nun – wie denken Sie über den Fall des Grafen, Balk?“ fragte er dann den dürren Wachtmeister.

„Hm – der Graf hat sich natürlich, was die Perserin angeht, durch eine Ähnlichkeit täuschen lassen,“ meinte Balk.

„Ganz bestimmt,“ nickte Harst. „Das Wesentliche ist jetzt aber dieses plötzliche Wiederauftauchen der Gräfin. Und dann muß sich einem die durch die jetzigen Umstände so naheliegende Frage aufdrängen: Gibt es überhaupt einen Grafen Rafalga?! Kann dieser Herr nicht lediglich ein Spion gewesen sein? – Ich will diesen Punkt sofort klären und die spanische Gesandtschaft anrufen. Der Legationsrat de Panerta ist mir zu Dank verpflichtet. Er wird mir gern Auskunft geben.“

Fünf Minuten später wußten wir, daß Graf Rafalga gestern beim spanischen Gesandten zum Souper geladen gewesen war und daß er seit vorgestern abend in Berlin weilte.

„So,“ meinte Harald, „jetzt erst kann dieser Besuch des Grafen von uns zum Ausgangspunkt weiterer Kombinationen gemacht werden. Sein Brief ist keine Täuschung. Das, was er über seine Gattin angibt, ist Tatsache.“

Inzwischen hatte sich auch Wachtmeister Reckler, der zweite Beschützer der „alten Damen“, im Arbeitszimmer eingefunden. Wir gingen dann in die Küche. Es waren genügend Vorräte da. Den beiden Beamten machte es offenbar viel Spaß, hier „so quasi als Sommergäste in einer Villa“ zu hausen, wie Balk sich ausdrückte.

Ich konnte Balk und Reckler die Zubereitung der Mahlzeit allein überlassen und ging wieder zu Harald ins Arbeitszimmer. Ich war nur etwa zehn Minuten in der Küche gewesen. In dieser Zeit hatte er es fertig gebracht, den großen Raum vollständig mit Zigarettenrauch anzufüllen.

„Himmel – hier erstickt man ja!“ rief ich. „Ich werde das Fenster öffnen!“

„Tu’s nicht! Es könnte auffallen, daß in Harald Harsts Arbeitszimmer in seiner Abwesenheit so viel geraucht worden ist. Mit einem guten Fernglas kann man selbst den aus einem Fenster entweichenden Zigarettenqualm erkennen, besonders wenn es sich um eine kurze Entfernung handelt.“

Ich wurde stutzig. – „Also beobachtet jemand das Haus mit einem Fernglas?“ fragte ich gespannt.

„Es sind zwei. Sie wechseln sich ab. Als Ihr in die Küche gingt, fuhr drüben vor Nr. 21 ein Auto vor. Ihm entstiegen zwei Herren. Sie verschwanden im Hause. Nach vier Minuten kam der eine wieder heraus und half dem Chauffeur zwei große Koffer nach oben in die erste Etage links tragen. Du weißt, dort wohnt die etwas eigenartige verwitwete Frau Doktor Rebholz, die gefährlichste Klatschbase unseres Viertels. Jetzt haben die Herren dort gemietet und sind auch bereits wacker auf dem Posten. Die Vortruppen sind also eingetroffen. Und, wie ich schon heute gegen halb elf sagte, das Hauptquartier der Armee dürfte sich in Charlottenburg, Krumme Straße 15, bei Herrn C. Bassano, dritten Stock links, befinden.“

„Also Bassano heißt der Alte,“ sagte ich. „Woher wußtest Du denn bereits um ¼11 heute vormittag, daß der Mann, der den Herzog angesprochen hatte, gerade links im dritten Stock wohnt?“

„Das hängt mit dem ersten Beweispunkt zusammen, über den ich noch nicht gesprochen habe und auch nicht sprechen werde, bis wir heute gegen Abend wieder in Toscos Mansardenbehausung sind, die jetzt von der Kriminalpolizei bereits versiegelt sein dürfte.“

„Was willst Du noch in der Wohnung Toscos?!“ meinte ich. „Bedenke das Risiko für uns! Eine Treppe tiefer soll sich Deiner Ansicht nach das deutsche Hauptquartier dieser italienischen Banditen befinden, und –“

Harst hatte sich schnell vorgebeugt.

„Banditen!“ sagte er mit Betonung und legte mir die Hand auf den Arm. „Ganz recht – Banditen! Ich merke, Du spielst auf den Brief des Grafen Rafalga an, der seine heißgeliebte Eugenie sucht.“

„Hm – Banditen,“ murmelte ich grübelnd. „Und der Brief des Grafen – hm, – nein, darauf habe ich nicht anspielen wollen, obwohl seine Gattin ja von –“ – Ich schwieg. Ein Gedanke kam mir! Und ich fuhr hastig fort: „Ah – Du meinst, daß die Chrysostomos-Leute auch die Gräfin geraubt haben?“

„Ja – ohne Zweifel haben sie die Gräfin – mitgenommen,“ erwiderte er langsam.

Ich merkte den Unterschied: ich hatte „geraubt“ gesagt. Er sagte „mitgenommen“. – In Harsts Worten muß man alles beachten, wenn man hinter die Bedeutung dieser Worte kommen will.

Da trat Balk ein und meldete, daß der Tisch gedeckt sei.

„Gut – eßt Ihr drei im Speisezimmer. Ich bleibe hier,“ erklärte Harald. „Bitte bringen Sie mir meine Portion des Speckeierkuchens hierher, lieber Balk. Ich bin zu faul aufzustehen. – Schraut, hole auch zwei Flaschen Rheinwein aus dem Keller.“ –

Als ich um ½3 mit etwas rotem Gesicht – wir drei hatten oben im Speisezimmer jeder zwei Flaschen Rheinwein uns zu Gemüte geführt – wieder das Arbeitszimmer betrat, hatte „Frau Harst“ ein Fernglas im Schoße liegen.

„Du, die Geschichte hat ein anderes Aussehen erhalten,“ flüsterte Harald. „Kurz nach zwei Uhr fuhr drüben im Auto Graf Fernando Rafalga mit einer verschleierten Dame vor. Sie betraten das Haus. Gleich darauf trat der Graf bei der Rebholz oben ans Fenster. Das Auto fuhr wieder davon, nachdem ein Mann in einer Art Livree den Chauffeur abgelohnt hatte. Es muß ein Diener des Grafen gewesen sein.“

Die Rheinweingeister waren im Nu ob dieser Mitteilung aus meinem Schädel geflüchtet.

„Der Graf – bei der Rebholz?!“ Ich war geradezu sprachlos. „Was mag das nun wieder bedeuten?!“

„Es bedeutet den Sieg der Sirene über einen minderbegabten Odysseus,“ lächelte Harald. „Die Sirenen suchten den Irrfahrer Odysseus durch ihren Gesang auf ihre Insel zu locken. Bekanntlich verstopfte er seinen Gefährten die Ohren und ließ sich selbst unverstopft an den Mast des Schiffes binden. So hörte er den Gesang und entging der Lockung. Unser Graf mit der charakterlosen Schrift ist ein Schwächling und ein Dummkopf; er unterlag der Verführung.“

„Was soll das alles?“ fragte ich mißtrauisch. „Soll das ein Scherz sein?! Der Graf hat doch offenbar sich mit seiner plötzlich wieder aufgetauchten Gattin vereinigt und –“

„Ohne Zweifel hat er das. – Und – dort stelzt er über die Straße. Er will zu uns. – Schnell, sage Balk, daß er ihn oben in den Salon führt und daß er ihn bittet, dort zu warten; Frau Harst würde sofort erscheinen. Du selbst kannst Dich nebenan ins Speisezimmer setzen. Laß die Tür etwas offen –“

 

2. Kapitel.

Ich brauchte im Speisezimmer nicht lange zu warten.

Kurz nach dem Grafen betrat „Frau Harst“ hüstelnd den Salon. Mit heißerer Stimme entschuldigte sie sich bei Rafalga, daß ihr das Sprechen schwer fiele: sie sei sehr erkältet.

Inzwischen war bereits die Dämmerung hereingebrochen. Der Graf konnte kaum merken, daß er einen verkleideten Mann vor sich hatte. – Er merkte es auch nicht. Das ging aus der ganzen Art hervor, wie er mit „Frau Harst“ die Unterhaltung führte.

„Gnädige Frau,“ sagte er jetzt nach einigen Höflichkeitsphrasen, „ich war, wie Sie wissen dürften, heute schon einmal hier.“

Harst: „Ja, Herr Graf. Der Kriminalwachtmeister Balk hat mir den Brief für meinen Sohn ausgehändigt. Leider, leider kenne ich Haralds genaue Adresse nicht. Und deshalb mußte ich den Brief nach Kairo senden, wo Harald sich zuletzt aufhielt.“ – Schmerzlicher Seufzer, tränenverschleierte Stimme: „Harald wird ja jetzt von irgend welchen Geheimbündlern verfolgt. Ach – welche Angst muß ich ausstehen! Seit einer Woche bin ich ohne jede Nachricht von ihm –“

Der Graf: „So, so – ohne jede Nachricht. – Hm – und der Brief ist bereits nach Kairo unterwegs?! – Schade, ich hätte ihn gern zurückverlangt, gnädige Frau. Die Angelegenheit hat sich nämlich von selbst erledigt. Ich habe meine Gattin wiedergefunden. Ich bin überglücklich – überglücklich!“

Harst: „Oh – das freut mich, Herr Graf. Meinen herzlichen Glückwunsch. Wachtmeister Balk erzählte mir von Ihrem schweren Verlust. War Ihre Gattin denn wirklich gewaltsam entführt worden?“

Der Graf: „Ja. Mein Auto wurde überfallen. Mich plünderten die Banditen aus. Und Eugenie raubten sie mir. Denken Sie, gnädige Frau, diese Schurken haben Eugenie während dieser anderthalb Jahre hier in Berlin gefangen gehalten. Wo – das weiß Eugenie nicht. Man hat sie hypnotisiert gehabt, hat ihr Gedächtnis gleichsam getötet. Sie konnte sich auf nichts besinnen, was ihre Vergangenheit betraf. Erst heute, als ich an ihr in einer Taxameterdroschke vorüberfuhr, zerbrachen die Fesseln ihres Gedächtnisses gleichsam. Sie folgte mir in einem Auto, und dann – dann hatten wir uns wieder!“

Harst: „Sie Glücklicher! Nun werden Sie wohl sofort nach Ihrer sonnigen Heimat zurückkehren –“

Der Graf: „Nein, gnädige Frau –“ Sehr zögernd und unsicher. „Eugenie hat den Wunsch ausgesprochen, noch einige Zeit in Berlin zu bleiben. Sie möchte zu gern erfahren, wo man sie hier gefangen hielt. Es soll ein kleines, einsames Häuschen an einem See gewesen sein. Nur eine ältere Frau bewachte sie dort.“

Harst: „Sehr romantisch. – Ihre Gattin ist heute dann wohl geflüchtet. – Wie kam sie denn in die Stadt hinein und allein? – Sie werden begreifen, als Frau hat man doch Interesse für alles Herzeleid –“

Der Graf: „Gewiß – verstehe, gnädige Frau. Meine Gattin ist tatsächlich entwichen – gerade heute! Mit Hilfe zweier Männer, die einmal für die alte Frau Brennholz nach dem Häuschen brachten. Es sind zwei arme Teufel, die einst bessere Tage gesehen haben. Als Eugenie und ich sie in dem Wartesaal des Potsdamer Bahnhofs trafen – Eugenie hatte sich dort mit ihnen verabredet, war ich überrascht, daß die Leute so gut gekleidet waren. Ich habe sie dann zum Dank als Diener engagiert, habe sie auch gleich eingekleidet. Oh – was hätte ich nicht alles aus Freude getan!“

Harst: „Wie hofft Ihre Gattin denn erfahren zu können, wo man sie bewacht hat, Herr Graf?“ – Hüsteln. – „Die beiden Männer müßten es doch wissen, meine ich.“

Ich konnte mir das Gesicht des Grafen deutlich vorstellen. Der Narr war noch gar nicht auf den doch so selbstverständlichen Gedanken gekommen, daß die „armen Teufel“ diese Frage sehr einfach lösen könnten.

Der Graf: „Hm – Sie haben recht, gnädige Frau –“ Das klang sehr nachdenklich. „Hm – ich verstehe nicht, daß mir das nicht gleich eingefallen ist. Vielleicht – vielleicht –“

Lange Pause.

Dann Harst: „Die beiden Leute mögen selbst nicht wissen, wo das Häuschen zu suchen ist. Vielleicht hatten sie das Brennmaterial aus Not gestohlen und wollten es schnell irgendwo loswerden.“

Der Graf: „Aber – aber sie haben Eugenie doch häufiger gesprochen, wie sie betonte.“ – Ganz leise: „Hier – hier stimmt irgend etwas nicht –“

Aha – das Mißtrauen regte sich.

Harst: „Lieber Herr Graf, verderben Sie Ihrer Gattin nicht dadurch die Wiedersehensfreude, das Sie ihr von Ihren Bedenken Mitteilung machen. Fragen Sie nichts, wenigstens nicht sofort. Schonen Sie Ihre Gattin. Die Sache wird später schon eine Erklärung finden. Und – wenden Sie sich dieserhalb auch nicht an Ihre neuen Diener. Diese würden dann mit Ihrer Gattin darüber sprechen –“

Der Graf: „Ja, ja – ich werde Ihren Rat befolgen, gnädige Frau. Eugenie ist sehr nervös – sehr. – Deshalb sind wir auch hier nach Schmargendorf gekommen, gnädige Frau. Wir haben im Hause Ihnen gegenüber zwei Zimmer für uns und eins für Baptiste und Charles bei einer Frau Doktor Rebholz gemietet. Eugenie meinte, so in der Nähe Ihres Herrn Sohnes fühlte sie sich sicherer. Sie fürchtet ja, das alte Weib könnte sie suchen. Außerdem wollte sie ja auch, sobald Ihr Sohn zurückgekehrt ist, diesen bitten, für sie tätig zu sein. Sie verstehen, gnädige Frau: des Häuschens wegen –“ – Des Graf war jetzt offenbar sehr zerstreut.

Harst: „Ich verstehe. – Leider kann ich Ihnen gar nicht sagen, wann Harald hier wieder eintrifft und ob er überhaupt herkommt. Ich hoffe ja, daß der hier in unserem Hause verübte Mord ihn veranlassen wird, schleunigst herbeizueilen. Ist es nicht furchtbar, daß ich und meine treue Malwine uns nun hier von zwei Beamten schützen lassen müssen! Ach, ich wünschte, Harald wäre erst hier. Diese Neapolitaner, die Chrysostomos-Brüder stellen ihm nach! Und –“

Der Graf: „Verzeihen Sie die Unterbrechung, gnädige Frau. Chrysostomos-Brüder sagten Sie? – So – also wirklich Chrysostomos Brüder! Merkwürdig – sehr – merkwürdig –“

Harst: „Weshalb denn?“

Der Graf lebhaft: „Weil, wie[4] mir erst jetzt einfällt, einer der Banditen damals uns zurief, als sie mit Revolverschüssen das Auto zum Stehen brachten: „Im Namen des Chrysostomos – wagt keinen Widerstand!““

Harst: „Darf ich Ihnen noch einen guten Rat geben, Herr Graf? – Sprechen Sie auch hierüber nicht mit Ihrer nervösen Gattin. Die Erinnerung an den Überfall könnte vielleicht bei Ihrer Gattin einen Nervenchoc und einen Rückfall in jenem hypnotischen Zustand hervorrufen –“

Der Graf: „Ganz recht. – Tausend Dank, gnädige Frau. Ich werde schweigen. Aber mit Ihrem Herrn Sohn möchte ich darüber sprechen.“

Harst: „Tun Sie es. – Und, Herr Graf, sollten Sie sonst mal noch etwas auf dem Herzen haben, das Sie aus Rücksicht auf Ihre Gattin mir nur insgeheim anvertrauen wollen, dann rufen Sie mich telephonisch an –“

Der Graf erhob sich.

„Sollte wirklich etwas vorfallen,“ meinte er, offenbar beunruhigt, „dann erfahren Sie es zuerst, gnädige Frau. – Sie gestatten, daß ich mich nun verabschiede.“

„Empfehlen Sie mich Ihrer Gattin, Herr Graf. Ich habe mich gefreut, Sie kennen zu lernen.“ –

Graf Rafalga durchschritt sehr langsam den Vorgarten – ganz so, als bedrückten ihn allerlei Gedanken.

Harst und ich schauten ihm, durch die Gardinen des Arbeitszimmers geschützt, so lange nach, bis er im Hause drüben verschwunden war.

Dann zog Harald die Vorhänge zu und schaltete die Krone ein, legte mir beide Hände auf die Schultern und sagte:

„Ein kompletter Narr! Diese Eugenie hat ihn völlig in den Krallen! Ist Dir so etwas von Weltfremdheit schon vorgekommen?! Der Graf merkt nicht, daß seine entführte Gattin ihn nur geheiratet hat, damit sie mit den Juwelen verschwinden könnte! Und ihm selbst werden die Banditen damals wohl auch eine gehörige Summe abgenommen haben! – So kurzsichtig zu sein! Ich wette, diese Eugenie hat Rafalga heute ganz zufällig in der Droschke wiedergesehen und hat ihn sofort für ihre weiteren Pläne wieder mit Beschlag belegt, hat ihre Spießgesellen als Diener bei sich behalten und wird den Grafen fraglos zu einem Attentat gegen uns irgendwie ausnutzen!“

„Also ist sie ein Mitglied der Chrysostomos-Brüder?“

„Ohne Zweifel ist sie’s! – Denke mal an das Lichtbild des im Laubengelände ermordeten Weibes –“

Er setzte sich und griff nach einer Zigarette.

„Die Ermordete hatte Ähnlichkeit mit jener Frau, die den Grafen Emanuelo Santa Rocca zusammen mit jenem Manne, den sie Testio nannte, am Dulek Abi-See bewachte. Und – die Ermordete war Tänzerin!“

„Ah – Graf Rafalga sprach von der persischen Tänzerin, die er für seine Gattin hielt.“

„Ja – und diese persische Tänzerin war eben Rosarita, die an Tosco nach Krumme Straße 15, Mansarde, jenen Brief sandte, den sie auf dem Bahnhof geschrieben hatte und den der Herzog uns dann gab. Du verstehst doch diese Beweisführung? – Nun gut. Es muß also zu der Bande eine zweite Frau gehören, die Rosarita ungefähr gleicht – eben unsere Bekannte vom Dulek Abi-See her, die sich Margrita nannte. Und diese Margrita muß weiter, was mit den ganzen Tatsachen übereinstimmt, die Gattin Rafalgas sein. Vor anderthalb Jahren wurde sie „geraubt“. Also hat sie Emanuelo Santa Rocca ganz gut in Ägypten bewachen können. Jetzt ist sie auf der Suche nach uns in Berlin angelangt – nebst Begleitung, hat vorher ihr schwarzes Haar blond werden lassen und spinnt jetzt ein Netz für uns beide!“

Er blies lächelnd den Rauch in die Höhe. „Ich betone: auf der Suche nach uns, mein Alter! Sie weiß nicht, daß wir hier sind. Sie hat Rafalga hergeschickt, damit meine Mutter verraten sollte, wann und ob wir bald heimkehren würden. Sie denkt, Rafalga kann keinerlei Verdacht erregen. Na – sie irrt sich! Bis jetzt haben wir alle Trümpfe in der Hand!“

„Hm – und jener Bassano aus der dritten Etage von Nr. 15? Wird der nicht vermuten, daß wir es waren, die er heute im Auto bis zum Präsidium verfolgte?“

„Vermuten – ja! Er wird aber keine Beweise dafür haben. Die beiden, die uns hätten verraten können, eben Tosco und Rosarita, sind tot.“ –

Es läutete an der Vordertür. Es war Kommissar Bechert.

Er setzte sich in die Sofaecke, schüttelte den Kopf.

„Diese Maskerade – unglaublich!“

„Aber erfolgreich, lieber Bechert,“ schmunzelte Harst. „Wir haben alle Aussicht, die Chrysostomos-Brüder zu fangen. Haben Sie Ihr Auto warten lassen?“

„Ja –“

„Dann werden Schraut und ich nun in Ihrer Begleitung nach dem Präsidium fahren und uns dort in Ihrem Dienstzimmer umkleiden. Den Karton mit unseren Sachen mag Balk durch den Gemüsegarten dorthin schaffen.“ –

Gegen sieben Uhr abends verließen zwei bärtige Männer in dicken Winterjoppen das Präsidium durch einen Nebenausgang. Die Männer trugen Lederstiefel mit Gummisohlen, ohne Absätze; die Männer waren Harst und ich.

Um halb acht stiegen wir in Nr. 14, Krumme Straße, die Treppen hinan bis zum Boden. Wir öffneten die Vorbodentür mit einem Dietrich, schlossen hinter uns wieder ab und befanden uns fünf Minuten drauf auf dem flachen Dach, von dem wir bequem auf das von Nr. 15 hinüberklettern konnten.

Es war windig, und es schneite ein wenig.

Das Öffnen der Dachluke von Nr. 15 hielt uns zehn Minuten auf.

Während Harald hiermit beschäftigt war, sagte er unvermittelt:

„Nun der Beweispunkt Nummer eins, den ich bisher für mich behalten habe. – Besinne Dich, daß der Herzog von dem eigentümlichen Schloß des Schrankes im Schlafzimmer Toscos sprach. Ein Schrankschloß, das auch von innen abzuschließen geht, deutete vielleicht darauf hin, daß in dem Schrank sich eine Geheimtür befindet, zu der eine Geheimtreppe gehört – eine Treppe, die nach – unten zu Bassano, dem Weißbart, führt. Dieses Haus Nr. 15 ist sehr alt. Möglich, daß ein früherer Besitzer die Treppe angelegt hat. Jedenfalls: die Treppe ist vorhanden. Ich habe dies sehr einfach festgestellt.“

„Da bin ich neugierig –“

„Der Herzog hatte den Schrank hinter sich abgeschlossen, als wir in die Wohnung eindrangen. Während ich dann die Briefe im Ofen verbrannte, schaute ich nach der eine Handbreit offenen Schranktür hin. Der Herzog war ja inzwischen wieder herausgekommen. Sie war also etwas offen, und als wir dann die Wohnung verließen, da – war sie um gut zwei Handbreit weiter geöffnet!! Also muß jemand sie aufgedrückt haben. Jemand, der horchen wollte und doch nichts verstanden haben kann: Bassano, der Unterwohner! – Er kann nichts verstanden haben; wir sprachen zu leise –“

„Allerdings – der Beweis genügt! Bassano wollte ja nachher den Herzog in seine Wohnung locken.“

„Ja – und Bassano wird nun die Nacht abwarten und dann mit Hilfe der Geheimtreppe in die versiegelte Wohnung eindringen, um dort festzustellen, ob die Briefe noch vorhanden sind. Am Tage hat er das nicht gewagt. Die Polizei konnte ja jeden Augenblick zurückkehren.“ –

Dann war die Dachluke offen.

 

3. Kapitel.

„So,“ meinte Harst, „nun werden wir sehr bald vor Toscos Tür sein. Dann müssen wir die Siegel vorsichtig entfernen, ich lasse Dich ein und bringe die Siegel wieder an. Du aber öffnest mir das Fenster der Küche. Dort kann man vom Dache aus am leichtesten einsteigen. Auf diese Weise bleiben die Siegel unverletzt, und wir brauchen auch keine Scheibe einzudrücken.“

Harald stieg nun die schmale Holztreppe von der Dachluke hinab. Wir schritten den Gang zwischen den Bodenkammern entlang. Die mit Eisenblech benagelte Tür, die auf den Vorboden führte, war leicht zu öffnen. Als der Schloßriegel zurückgeschnappt war, schalteten wir unsere Lampen wieder aus. Harst drückte die Tür auf.

Da – wir hörten von links her allerlei Geräusche. Harald schlüpfte auf den Vorboden, kam sehr bald zurück und meldete, daß in der Waschküche eine alte Frau am Waschfaß stände.

Wir huschten nun beide auf den Vorboden; Harst wieder voran. Er ließ seine Lampe nur ein Mal aufleuchten.

Durch die angelehnte Tür der Waschküche fiel ein schmaler trüber Lichtstreifen auf die Wand hinter uns. Ich hörte Wasser plätschern, spürte Seifengerüche.

Nun waren wir dicht vor der Wohnungstür Toscos.

Und – merkwürdig! – Harald machte plötzlich kehrt!

Noch merkwürdiger: er zog mich nach der Tür der Waschküche hin, nachdem er seine Lampe abermals eingeschaltet und die Dielen des Vorbodens abgeleuchtet hatte.

Vor dieser Tür machte er halt. Zum dritten Male blitzte die elektrische Lampe auf. Der Lichtkegel fiel auf den Fußboden, erlosch nach wenigen Sekunden.

Harald hauchte mir schon ins Ohr: „Schließe die Tür hinter uns ab, sobald wir drinnen sind –“

Dann riß er die Tür auf, eilte sofort auf die Frau zu.

Die Waschküche war mit Dämpfen angefüllt. Das Weib stand mit dem Gesicht nach der Tür hinter dem Waschfaß. Sie wusch jedoch nicht mehr; sie trocknete sich die Hände ab.

Ich schob den Schloßriegel von innen vor, hörte, wie Harald fragte:

„Weshalb haben Sie den grauen Zwirnfaden vor Toscos Tür bis hierher eine Handbreit über dem Boden gespannt gehabt?“

Ich drehte mich rasch um und trat näher.

Das alte Weib mit dem wirren grauen Haar stierte Harst blöde an, schüttelte den Kopf und stieß ein paar lallende Töne aus, deutete auf ihren Mund und schüttelte wieder den Kopf.

„Komödie!“ rief Harald leise und packte zu, hielt die Handgelenke der Frau fest und sagte zu mir: „Schnell – ein nasses Wäschestück zum Fesseln!“

Das Weib wehrte sich nicht. Wir banden ihr die Arme auf dem Rücken zusammen.

Dann ein Griff – und Harald hielt die graue Perücke in der Hand. Darunter kam ein kahl geschorener Schädel zum Vorschein.

Er nahm sein Taschentuch und wischte der Frau über das Gesicht.

Die Runzeln verschwanden und wurden zu breiten grauen Streifen: Schminke! – Das Taschentuch war gleichfalls angeschmutzt.

„Ein Mann!“ sagte Harst kurz. „Wahrscheinlich Herr Varieteeagent Bassano! Denn als solcher steht Bassano im Adreßbuch. – Gib auf ihn acht. Ich suche den Faden.“

Er fand ihn leicht. Der Faden lief durch die Türritze. Das Ende war an einem Stück feuchter Seife befestigt gewesen, die wahrscheinlich auf dem Rande des Herdes gelegen hatte und bei dem geringsten Ruck an dem Faden herabfallen mußte.

„Sehr schlau!“ meinte Harst. „Nur nicht schlau genug. Ich spürte, daß mein Fuß gegen einen elastischen Widerstand stieß. Sie hätten den Faden dünner wählen sollen, Herr Bassano. Im Adreßbuch sind Sie und Ihre Wirtschafterin, eine Frau Toffio, für Nr. 15 dritten Stock links angegeben. Diese Frau Toffio dürften Sie selbst stets gespielt haben.“

Dann holte er aus des Verkleideten Rocktasche ein Schlüsselbund hervor.

Unter dem Weiberrock trug der Mann schwarze Herrenbeinkleider. – Harald lachte ihm ins Gesicht.

„Ah – ein Revolver in der Schlüsseltasche, und vorn ein Dolchmesser befestigt!“ meinte er. „Herr Bassano, es wäre Zeit, auf jedes Leugnen zu verzichten. Ihre Größe stimmt mit der des Mannes überein, der uns heute im Auto nachfuhr. Sie sind Bassano. Wollen Sie es zugeben?“

Der Mensch schaute nicht auf. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt.

„Gut – dann werden wir in Ihre Wohnung gehen,“ sagte Harst achselzuckend. „Dort wird sich das weitere finden –“

Er beobachtete scharf das Gesicht des Italieners. Doch – nichts verriet darin, daß der Mann etwa hoffte, er würde dort vielleicht befreit werden.

„Sie scheinen keinen der Chrysostomos-Brüder bei sich verborgen zu halten,“ fügte Harald hinzu. „Trotzdem werden wir vorsichtig sein!“

Er band ihm jetzt auch die Füße zusammen, löschte die Gaslampe aus und nahm den kleinen hageren Menschen in die Arme, flüsterte: „Geh’ voran, Schraut. Aber leise. Dann schließe die Flurtür auf. Am Schlüsselbund hängt auch ein moderner Schlüssel zu einem Sicherheitsschloß. Der wird es sein –“

Wir betraten den Vorboden, lauschten.

Im Treppenhause war alles still.

Hastig eilten wir hinab. Ich schloß Bassanos Flurtür auf, leuchtete in den Wohnungsflur hinein. Harst schob mich zur Seite. „Schließe ab und laß den Schlüssel von innen stecken.“ –

Harald nahm Bassano hier die Fußfesseln ab, zog seine Clement, entsicherte sie, schaltete auch seine Taschenlampe ein.

„Sobald wir angegriffen werden, feuere ich, Herr Bassano,“ sagte er ganz ruhig. „Schraut, zünde die Flurlampe an –“

Das Gas[5] puffte auf.

Harald ging in die Küche, in das Badezimmer. – „Nichts!“ meinte er. „Nun die Zimmer. – Bitte, gehen Sie voran, Herr Bassano – Sie sind zwar klein, aber immerhin ein Schutzschild –“ –

Ich will mich hier nicht mit Einzelheiten zu sehr aufhalten. In der Wohnung, die aus drei Zimmern bestand, war niemand versteckt.

Jetzt nahmen wir Bassano mit ins Schlafzimmer. Hier stand an der Außenwand ein ähnlicher Kleiderschrank wie oben bei Tosco. Es war ein Schrank aus gebeiztem Fichtenholz, sehr breit, ohne jede Verzierung.

„Herr Bassano,“ begann Harald nun, „vielleicht sind ein paar Ihrer Freunde auf der Geheimtreppe versteckt –“

Ein Blick ohnmächtiger Wut traf da Harsts gleichmütiges Gesicht.

„Endlich doch ein Lebenszeichen von Ihnen – wenn auch nur ein Blick!“ lächelte Harald. „Sie haben offenbar gehofft, daß ich das Geheimnis des Schrankes oben nicht entdecken würde –“

Er trat an Bassanos Kleiderschrank heran. Der Schlüssel steckte.

Er öffnete die Tür, warf die Anzüge auf das Bett. Der Schrank stand ganz dicht an der Mauer. – Sehr bald hatte Harst in der Rückwand ein bewegliches Stück herausgefunden, schob es nach außen auf.

Und – nun kam die Überraschung! – Ich habe mit Absicht dieses Kapitel „Der Fuchsbau“ überschrieben. Harsts Vermutung, es müßte hier eine Geheimtreppe geben, wurde durch das, was wir fanden, bei weitem übertroffen.

In der Mauer gab es ein viereckiges Loch. Und an der anderen Seite dieses Durchschlupfs wieder die Rückseite eines Schrankes.

Wir nahmen Bassano mit – mit in die Wohnung des Nebenhauses Nr. 16. Sie hatte ebenfalls drei sehr ärmlich möblierte Zimmer. Sie war leer – das heißt, auch hier war niemand verborgen.

Bassanos Gesicht troff jetzt von Schweiß. In seinen Augen flackerte die Angst. –

In einem der Vorderzimmer stand ein alter Schreibtisch mit Aufbau. Harald durchsuchte ihn, wühlte in allerhand Papieren, sagte dann: „Hier ist ein Musiklehrer Alfio Ricosta polizeilich seit drei Jahren gemeldet. Also auch diesen Ricosta haben Sie gemimt, Bassano. Sie sind ein vielseitiger Fuchs in einem richtigen Fuchsbau. Tosco war Sprachlehrer; Sie Musiklehrer und Varieteeagent. – Sehen wir uns hier genauer um.“

Was wir in Schubladen und Schränken fanden: alles wertvolle Gegenstände – alles fraglos Diebesgut!

„Herr Ricosta war also Hehler!“ meinte Harald. „Die Loge des heiligen Chrysostomos dürfte für die Kriminalwissenschaft ein sehr lehrreicher Beitrag werden – ohne Frage!“

Wir befanden uns jetzt im Wohnungsflur, wo Harst soeben eine alte Kommode durchwühlt hatte. Er schaute sich nun hier nochmals um. Neben einem Kleiderständer lag eine Lodenpelerine auf dem Fußboden. Die Pelerine schien von dem Kleiderständer herabgefallen zu sein. Harst hob sie auf. Und – darunter stand ein kleiner Koffer.

Bassanos Gesicht verzerrte sich für den Bruchteil einer Sekunde. Es war, als ob ein Krampf die Wangenmuskeln gespannt hatte.

„Hm – der Koffer!“ sagte Harst da. „Es scheint Ihnen unangenehm zu sein, daß wir ihn gefunden haben. – Ah – er ist schwer! Nun weiß ich auch, weshalb Sie oben in der Waschküche Wache hielten. Sie wollten feststellen, ob Harst und Schraut die Mansardenwohnung Toscos besuchen würden und wollten sich dann zur Flucht bereithalten, falls wir das Geheimnis des Schrankes Toscos fänden. Der Koffer ist gepackt. Sie hätten also nur nach oben auf den Boden dieses Hauses Nr. 16 zu gehen brauchen, wo Sie wahrscheinlich als Ricosta die Bodenstube gemietet haben, in die man durch Toscos Schrank gelangt. Hätten Sie gehört, daß wir die Stube betraten, also diesen Verbindungsweg von Toscos Behausung zu Ricosta entdeckt hätten, dann war für Sie alles verloren, dann mußten Sie eben fliehen. – Auch dies ist nun klar. – So, kehren wir in Ihre Wohnung zurück. Den Koffer werde ich dort durchsuchen.“

Harald überzeugte sich noch, daß der Schlüssel der Flurtür hier von innen im Schloß steckte. Es war auch die Sicherheitskette vorgelegt. Wir hatten also auch von dieser Seite keinerlei Überraschungen zu befürchten. –

In Bassanos Wohnung war das größere der Vorderzimmer als Büro eingerichtet. Hier hatte Bassano als Agent seine Tätigkeit ausgeübt.

Wir banden ihn auf einem Stuhl fest, damit wir ihn nicht ständig zu bewachen brauchten. – Auf dem Tische vor dem Sofa brach Harst nun das Schloß des kleinen Koffers auf.

In dem Koffer lagen Umschläge mit allerhand Papieren, Schmucketuis, in denen kostbare Perlenschnüre, Diamantenkolliers auf weicher Seide ruhten, Flaschen und Fläschchen mit allerlei Aufschriften, ein Kasten mit Schminken, falsche Bärte, Perücken, zwei künstliche Gebisse, deren Vorderzähne Goldplomben hatten, zwei Dolche, drei Repetierpistolen und ein einziger Männeranzug.

Obenauf hatte ein dünner gelber Umschlag gelegen. Diesen nahm Harst zuerst vor. Er las jetzt einen Zettel. – Ich schaute ihm über die Schulter. Auf dem Zettel stand:

Baptiste Fenner
bei H. Graf Rafalga
Berlin-Schmargendorf
Blücherstraße 21
(Frau Doktor Rebholz).

Harald blickte mich an.

„Das ist der eine Diener, mein Alter, den Frau Eugenie ihrem Gatten aufgeschwatzt hat. Sehr wertvoll!“ Und zu Bassano gewandt: „Sie sehen, wir wissen Bescheid!“

Bassano rührte sich nicht. Sein Gesicht blieb unbeweglich.

Dann zog Harst einen großen Bogen aus dem Umschlag. Es war die Abschrift eines Engagementsvertrages, nach dessen Inhalt die persische Gauklertruppe Shingra Mao vom 15. Dezember des Jahres ab für sechs Wochen für das Berliner Alhambra-Theater verpflichtet worden war, im ganzen sieben Personen, vier Männer, drei Frauen.

Harst hielt Bassano den Vertrag hin. „Da – diese Perser dürften Italiener sein, Bassano!“ sagte er. „Rosarita trat ja ebenfalls als persische Tänzerin auf. – Sie haben Pech, Bassano. So schlau Sie auch sein mögen – jeder macht Fehler. Ihr Fehler war der zu dicke Zwirnfaden. Manchmal hängt wirklich das Unheil an einem Fädchen –“

Er tat alles in den Koffer zurück, nur den Vertrag und den Zettel steckte er in die Tasche.

„Ich möchte doch noch mal Bassanos Schreibtisch dort mir ansehen,“ meinte er. „Für alle Fälle. Man kann nicht wissen, ob das plumpe Ding nicht weniger plumpe Geheimfächer enthält.“

Harald setzte sich und zog die Mittelschublade auf, die nicht verschlossen gewesen war. Ich hatte mich an den Tisch gelehnt und schaute zu. – Die Schublade enthielt Pappschächtelchen, zwei flache Zigarrenkisten und ein paar Pappdeckel, in denen Papiere lagen.

Harald beugte den Oberkörper plötzlich tiefer über die Schublade – so tief, daß seine Stirn den Rand der Tischplatte berührte.

Das Gewicht drückte die Schublade herab. Sie knarrte.

Was gab es da zu sehen? Weshalb regte Harst sich nicht mehr!?

Ich bog mich halb über ihn. Ein böser Verdacht war in mir aufgezuckt.

Mit einem Male drehte sich alles um mich her in wahnwitzigem Wirbel.

Ich taumelte – wollte mich irgendwo festhalten.

Und – wußte nichts mehr – nichts!

Und – kam zu mir – ganz allmählich – fand mich auf dem schäbigen Teppich neben dem Schreibtisch liegen.

Ich war so umgesunken, daß mein Kopf sich wie auf ein Kissen auf den umgestürzten Papierkorb stützte. Ich hatte die Augen offen, sah alles, erfaßte auch richtig die Vorgänge trotz der Trägheit meiner Gedanken, konnte aber kein Glied rühren.

Der Zustand, in dem ich mich befand, glich einem Starrkrampf. So, schoß mir ein flüchtiger Gedanke durch das Hirn, muß jenen Unglücklichen zu Mute sein, die man für tot hält und die im Sarge liegen mit jener wahnwitzigen Angst im Herzen, das nun bald der Sargdeckel geschlossen werden und man sie lebend begraben würde.

So empfand ich jetzt – genau dieselbe Angst, denn – Bassano hatte seine Fesseln bereits abgestreift und stand mit einem satanischen Hohngrinsen dicht vor mir, sagte nun:

„Ein unangenehmer Zustand, nicht wahr?! – Ja, ja, Herr Schraut, Ihr berühmter Freund hat uns doch unterschätzt! Wir verfügen über Waffen, von denen er nichts ahnte. Ich fürchte, er wird zu viel von dem Gas geschluckt haben. Sie sind vorläufig besser weggekommen – vorläufig!“

Er hob mich auf und warf mich in einen der verschossenen Plüschsessel. Mein Kopf baumelte hin und her, hing mir nun tief auf die Brust herab.

Im anderen Sessel lag Harald mit geschlossenen Augen und halb offenem Munde, aus dem die Zungenspitze ein Stückchen hervorragte.

Bassano lehnte sich an den Schreibtisch. „Sie sehen, Herr Schraut, viel Leben steckt in dem Körper nicht mehr!“ meinte er mit grausamem Hohn und deutete auf Harst. „Der geniale Amateurdetektiv wird nie mehr seine Fähigkeiten zum Schaden der Chrysostomos-Brüder verwerten können. Ich gebe zu: er hat mit seinen Kombinationen das Richtige getroffen: ich spielte hier drei Rollen, spielte Bassano, dessen Wirtschafterin und Ricosta. Ich wollte auch fliehen, falls der Boden mir hier zu heiß würde, hatte jedoch noch eine Aussicht: die Schublade dieses Schreibtisches! Der, der sie widerrechtlich wie vorhin Harst öffnete, öffnete auch gleichzeitig das Ventil der Gaszuleitung hinten in der Schublade, und das Gas strömte also dem Neugierigen gerade entgegen. Sie bemerkten ja, wie blitzschnell es wirkte. Es ist ein Gasgemenge, das unsere Erfindung ist. Wir haben stets gute Erfolge damit gehabt. – So, nun möchte ich Sie noch einiges fragen. Antworten können Sie in diesem Zustande nicht. Ich werde Sie daher in dem Sessel festbinden und Ihnen etwas einflößen, das den Starrkrampf löst. Sie können Ihr Leben retten, wenn Sie ehrlich sind. Um Hilfe rufen – dazu sind Sie zu schwach. Überlegen Sie sich, ob Sie sich um den Preis einiger Antworten das Leben erhalten wollen.“

 

4. Kapitel.

Er band mich fest, nur recht oberflächlich. Dann beugte er mir den Kopf nach hinten, schob mir eine kleine Nickelspritze zwischen die Zähne.

Ich fühlte etwas die Kehle entlangrinnen. Ein Hustenanfall folgte. Dann war die Muskelstarre vorüber.

„Wo haben Sie beide sich hier in Berlin verborgen gehalten?“ fragte Bassano.

Er stand vor mir, mit dem Rücken nach Harald hin. Ich konnte an ihm vorübersehen.

Und – ich glaubte zunächst an eine Sinnestäuschung, denn – Harst hatte die Augen plötzlich offen, schüttelte den Kopf.

Ich schaute schnell weg, damit Bassano nicht aufmerksam wurde.

Sinnestäuschung?! – Nein – das war es nicht gewesen! Harst war fraglos bei vollem Bewußtsein!

Ein köstliches Gefühl der Sicherheit durchströmte mich plötzlich.

Und – Harald hatte den Kopf geschüttelt. Das konnte nur heißen: „Nicht die Wahrheit sagen!“

Ich überlegte blitzschnell. Dann lallte ich mühsam:

„Im – im Polizei–präsidium –“

Bassano nickte zufrieden. „Das habe ich mir gedacht. – Wer hat Rosarita und Tosco ermordet? War es der Mann, der mit Ihnen beiden in Toscos Wohnung war?“

Ah – Bassano kannte den Herzog also nicht!

„Ja!“ lallte ich wieder.

„Wer war der Herr?“

„Ein – ein – englischer – Detektiv,“ sagte ich auf gut Glück.

„So?!“ – Bassano schien dies nicht zu glauben. „In wessen Diensten stand er?“

„Des Grafen – Santa – Rocca – zu unserem Schutz –“

„Wo ist der Mann jetzt?“

„Nach – London – zurückgekehrt – wegen der beiden – Toten –“

Bassano blickte mich prüfend an. „Weiß die Polizei, daß Sie beide heute abend in Toscos Wohnung eindringen wollten?“

Jetzt hielt ich es für richtig, nicht zu lügen.

„Nein – Harst – will den – Detektiv – schützen –“

„Wie heißt der Mann?“

„Grallay – Thomas – Grallay –“

„Wie hat Harst erfahren, daß Eugenie Rafalga mit zu uns gehört?“

„Der Graf – war nachmittags – bei Frau Harst. – Und –“

Ich schwieg plötzlich. Mein Blick war für den Bruchteil einer Sekunde zu Harald hinübergeglitten.

Harald saß aufrecht da, hatte die Clement in der Rechten.

„Weiter!“ drängte Bassano.

Eine andere Stimme mischte sich ein – die Harsts!

„Ich denke, wie beenden die Unterredung,“ sagte er gelassen.

Bassano schnellte herum. Und starrte gerade in das kleine schwarze Mündungsloch der Clementpistole.

„Binden Sie Schraut wieder los,“ befahl Harald ebenso gleichmütig. „Gewiß – Sie sind schlau, Bassano,“ fügte er etwas ironisch hinzu. „Nur – Sie hätten bei der Anlage des Betäubungsapparates eins beachten müssen: daß so eine Schublade das Geräusch des ausströmenden Gases verstärkt wie ein Schalltrichter! – Als ich die Schublade aufzog, hörte ich das Zischen. Und – hielt sofort den Atem an, sank scheinbar nach vorn über. Als Schraut taumelte und Sie ihn auffingen, kollerte auch ich vom Stuhl herab. Ich war nicht bewußtlos, nicht eine Sekunde. Die kleine Komödie hat jetzt ihnen Zweck erfüllt: ich weiß, daß Sie und Ihre Verbündeten Harst und Schraut nicht in der Blücherstraße Nr. 10 vermuten, daß also unsere List geglückt ist –“

Ich hatte mir inzwischen schon selbst die Fesseln abgestreift und war aufgestanden.

„Gut so –!“ meinte Harald nun. „Setzen Sie sich an Ihren Schreibtisch, Bassano, und schreiben Sie einen Brief, den ich Ihnen diktieren werde – italienisch – an Baptiste Fenner. – Gehorchen Sie, Mann!“

„Und wenn ich nicht gehorche?!“ fuhr der Italiener mit einem Versuch den Unverschämten zu spielen, auf.

„Dann binden wir Sie über der aufgezogenen Schublade fest. – Wählen Sie also: Entweder das Gas oder der Brief –“

Bassano setzte sich an den Schreibtisch. Die Schublade war geschlossen. Wir beobachteten ihn scharf.

Dann diktierte Harst:

„In aller Eile folgendes. Halte es für besser, anderes Quartier zu suchen. Das Freundespaar macht den Bau ungemütlich. Falls wichtige Nachrichten, dann nur postlagernd Postamt Lützowstraße unter B. A. Sano. Vorsicht dringend nötig. Freundespaar nicht in Nr. 10, aber hinter mir her.“

Bassano schrieb dann auch die Adresse auf den Umschlag. Inzwischen hatte Harald den kleinen Koffer wieder geöffnet und sich verschiedene Briefe angesehen, die an Bassano gerichtet waren.

„So,“ meinte er, „nun fügen Sie dem Brief noch die Chrysostomos-Beglaubigung hinzu, Bassano, damit Fenner nicht eine Fälschung argwöhnt.“

Bassanos Augen wurden vor Wut unnatürlich weit.

„Die Bundes-Briefe mit ihrem scheinbar harmlosen Inhalt, der natürlich eine ganz andere Bedeutung hat, sind ja sämtlich unten links in der Ecke mit einem „Chr.“ versehen,“ erklärte Harald. „Also bitte!“

„Satan!“ zischte der Italiener. „Deine Spürnase sei verflucht!“ – Er warf den Federhalter hin.

„Schraut!“ rief Harst. „Ich werde ihn festhalten. Zieh’ die Schublade auf!“

Bassano trat der Schaum auf die Lippen. Er nahm die Feder und malte das Chr. hin.

„So, danke. – Hole ein Auto, mein Alter. Der Hausschlüssel befindet sich am Schlüsselbund.“

Er hatte Bassanos Handgelenke gleichzeitig gepackt, riß ihn hoch, drückte ihm die Arme nach hinten. Ich schlang wieder das feuchte Tuch um die Hände, knotete es recht fest zu. –

Als ich nach fünf Minuten zurückkehrte, hingen wir Bassano die Lodenpelerine um und stülpten ihm einen Hut auf. Er hatte sich in sein Schicksal ergeben. Harst nahm den Koffer mit. Auf der Treppe begegneten wir niemandem. Wir drängten Bassano in das geschlossene Auto und setzten uns neben ihn.

So fuhren wir nach dem Polizeipräsidium. Bassano sprach kein Wort.

Gegen ¾12 langten wir im Präsidium an. Bechert arbeitete noch in seinem Dienstzimmer.

„Hier bringe ich den ersten der Chrysostomos-Brüder, lieber Bechert,“ sagte Harald. „Morgen werden wir wohl die übrigen fangen können. Bassano ist der Mann, der im dritten Stock unter dem toten Sprachlehrer wohnte –“

Er berichtete kurz die Ereignisse der letzten Stunden. – Als Bechert dann die Etuis mit den Juwelen sich ansah, rief er erstaunt: „Harst – hier diese Perlenkette wird seit vier Monaten gesucht! Sie gehört der Lady Banbury. Und dieses Brillantgeschmeide wurde der Fürstin Astarmoff in Paris vor einen halben Jahre gestohlen!“

„Ja!“ nickte Harald. „Dort, wo die Gauklergesellschaft Shingra Mao auftrat, wird wohl stets gestohlen worden sein. Diese angeblichen Perser verdienten auf doppelte Weise Geld: als Varieteekünstler und Gauner! – Dort in dem Koffer befindet sich ihr Briefwechsel mit Bassano, bei dem das Diebesgut verborgen wurde. Es dürfte keine zweite so gut organisierte Verbrecherbande geben wie diese. Sie machten alles: sie erpreßten Geld, sie stahlen, sie mordeten, ließen Leute spurlos verschwinden, verheirateten ihre weiblichen Mitglieder mit reichen Herren, entführten deren Frauen dann zum Schein – und so weiter. – In dem Koffer liegt auch eine Liste der Mitglieder, die ständig in Neapel wohnen. Die ganze Bande bestand aus 23 Köpfen zuletzt. – Nun werden wir uns wieder umziehen, lieber Bechert, und als Frau Harst und Malwine nach der Blücherstraße zurückkehren. Alles weitere erledigen wir gemeinsam. Ich erwarte Sie morgen um elf Uhr vormittags, Bechert.“ –

Bassano wurde von zwei Beamten in eine Zelle geführt. Bechert ließ es sich dann nicht nehmen, uns nach Hause zu begleiten.

Am Auto sagte er plötzlich:

„Lieber Harst, der Mörder der beiden ist der Herzog von –, – nicht wahr?“

„Ah – haben Sie ihn etwa verhaftet?“

„Nein, dazu war es zu spät. Aber seine Wohnung hier habe ich ermittelt. Sie kennen ja den Riesenapparat, den wir zu solchen Zwecken in kurzem in Bewegung setzen können. Im Hotel Koburg am Bahnhof Friedrichstraße war einem Kellner aufgefallen, daß ein Gast in der Waschschüssel offenbar ein blutiges Kleidungsstück gereinigt hatte. Die Beschreibung paßte auf den Mann, von dem Sie mir ein Signalement gegeben hatten. Der Hotelgast hatte sich Tiffano genannt. Der Hoteldirektor aber vermutete in ihm den Herzog von – Sie sehen, lieber Harst, wir haben den Mörder. Aber von einem Haftbefehl wird Abstand genommen werden, falls Sie zu Protokoll geben, daß nur Notwehr vorliegt.“

„Gut – das Protokoll können wir gleich daheim aufsetzen, Bechert. Der Herzog hatte eine Wunde auf der Brust und Würgemale am Halse. Sie sollen nun alles erfahren –“

So kam es, daß wir uns erst gegen zwei Uhr morgens zur Ruhe begaben. –

Morgens um neun Uhr läutete Bechert an. Wir waren soeben aufgestanden. Er teilte uns mit, daß Bassano sich in seiner Zelle erhängt hätte. – Harald bat den Kommissar, die Verhaftung und den Tod des Italieners unbedingt geheim zu halten. Dann meldete Bechert noch, daß die Shingra Mao-Truppe in Berlin SW, Belle Alliance-Straße 188 in drei möblierten Zimmern bei einem Kunsthändler Maggiori wohne, wie seine Beamten bereits festgestellt hätten. – Harst schlug vor, die Gauklergesellschaft vorläufig nur zu beobachten. „Ich habe nämlich so die Ahnung, lieber Bechert, als ob die schöne Eugenie Rafalga hier noch „ein Ding drehen“ wird. Sie ahnt ja nicht, daß wir sie bereits so gut wie fest haben. Kommen Sie jedenfalls um elf her. – Schluß.“ –

So begann dieser ereignisreiche Tag.

Als wir mit Balk und Reckler, unsern Beschützern, beim Frühstück saßen, schlug das Telephon abermals an.

Diesmal war es – der Graf Fernando Rafalga.

„Hier Frau Harst,“ meldete Harald sich.

Das Gespräch währte zwei Minuten. Ich stand neben Harald. Er nickte mir mehrfach bedeutungsvoll zu.

Dann erzählte er mir über Rafalgas neueste Seelennöte folgendes:

Rafalga hatte heute früh gesehen, daß der Diener Baptiste mit der ersten Post einen Brief erhielt. (Also den Brief, den wir gestern in den Kasten geworfen hatten – den von Bassano geschriebenen Brief.) Als er seiner Gattin dies mitgeteilt hatte, die noch bei der Toilette war, hatte er gemerkt, wie sie unruhig wurde. Sie ging dann sofort unter einem Vorwand in das Dienerzimmer hinüber und kehrte von dort recht verstört zurück. Sie hatte dann gesagt, sie wolle vormittags Wäsche einkaufen. Der Graf solle sie jedoch nicht begleiten. Um ½10 war sie davongefahren. Gleich darauf hatten auch die beiden Diener um Urlaub gebeten. – Rafalga war trotz seiner Harmlosigkeit jetzt doch stutzig geworden und hatte „Frau Harst“ gefragt, ob ihr Sohn von nichts von sich habe hören lassen: er hätte ihn zu gern persönlich gesprochen. – „Frau Harst“ hatte erwidert, von Harald sei keine Nachricht eingetroffen. Der Graf möge ihr aber für alle Fälle schon jetzt sagen, wo er im Laufe des Tages zu finden sein würde.

Und – dann war das Wichtigste gekommen: Rafalga erklärte, er und seine Gattin seien abends zu Legationsrat de Panerta geladen – zu einer Tanzfestlichkeit, und seine Gattin hätte ihn vorhin gebeten, die beiden Diener zu Ihrem Schutz dorthin mitzunehmen, da sie noch immer sich so sehr vor den Nachstellungen der Leute fürchte, von denen sie so lange gefangen gehalten worden war. – Der Graf hatte ihr dies sofort zugesagt, um die Übernervöse nicht noch mehr aufzuregen. –

„Du denkst jetzt fraglos dasselbe wie ich, lieber Alter,“ meinte Harald nun. „Die Bande will die Gelegenheit benutzen und bei de Panerta etwas unternehmen! Deshalb sollen Baptiste und Charles mit zu de Panerta.“

„Allerdings –“

„So – dann werden auch wir heute Gäste des Legationsrats sein. Ich werde Bechert zu ihm schicken, damit er alles ordnet. Ich bin nur gespannt, was die blonde Gräfin eigentlich plant –“

 

5. Kapitel.

Der Legationsrat wohnte im Berliner Westen in einer gemieteten Villa. Sein Reichtum war bekannt. Er hatte eine Amerikanerin zur Frau – genau wie der Herzog von – Um ¾9 fuhr ein Auto vor dem Portal der Villa vor. Zwei schwarzbärtige Herren, der Gesichtsfarbe nach Südländer, stiegen aus und wurden dann oben von dem Legationsrat den anderen Gästen als Gebrüder Rabiro, brasilianische Plantagenbesitzer vorgestellt.

Die beiden Herren hielten sich stets etwas abseits und saßen dann auch am unteren Ende der Tafel neben einem jungen deutschen Assessor, der sich freute, daß die Rabiros leidlich deutsch sprachen.

Es waren etwa vierzig Personen anwesend. Der Hausherr hatte die Gräfin Rafalga zu Tisch geführt, deren seltsame Schicksale sie zu der am meisten beachteten Dame des eleganten Kreises machten.

Der Graf saß seiner Gattin gegenüber. Er schien recht zerstreut. Die Brüder Rabiro – und das waren Harst und ich – merkten, daß er seine Frau häufig mit seltsam qualvollen Blicken musterte.

„Das Mißtrauen gegen sie ist erwacht,“ flüsterte Harald mir zu.

Die Gräfin trug bereits wieder kostbaren Juwelenschmuck, den Rafalga ihr offenbar schon in der ersten Wiedersehensfreude gekauft hatte. Auch die anderen Damen waren zum Teil „wandelnde Anreize für Brillantendiebe“, wie Harst mir einmal zuraunte.

Nach Tisch wurde der Mokka in den Nebenräumen gereicht. Gräfin Eugenie bildete auch hier bald den Mittelpunkt eines Kreises, der ihrer eigenartigen Schönheit und Ihrem geistsprühenden Witz huldigte.

Daß sie tatsächlich niemand anders als jene Margrita war, mit der wir es am Dulek Abi-See zu tun gehabt hatten, war uns schon bei der Vorstellung klar geworden. Sie hatte uns jedoch in keiner Weise beachtet. Sie fühlte sich eben als Gräfin Rafalga ganz sicher.

Wir standen jetzt in der Nähe des Kreises ihrer Bewunderer. Es wurde hier deutsch gesprochen, da über die Hälfte der Gäste Deutsche waren. Ein bekannter Nervenarzt, Professor Simsberg, nebenbei ein großer Lebemann, machte ihr stark den Hof. Die schöne Eugenie rief jetzt halb scherzend:

„Nervenärzte sind gefährlich, Herr Professor. Ich besinne mich noch mit Schrecken auf jenen Arzt in meiner Heimatstadt Marseille, der mich als kleines Mädel bereits zu hypnotischen Versuchen mißbrauchte –“

Harst stieß mich an. „Gib acht – das ist Absicht!“ flüsterte er.

Das Gespräch wandte sich dem unheimlichen Thema seelischer Beeinflussung zu. Professor Simsberg bestritt manches, was andere Ärzte auf dem Gebiete der Suggestion als möglich zugegeben hatten. Die Gräfin kam nochmals auf den Marseiller Arzt zu sprechen. Sie erzählte von einem Experiment der Gedankenübertragung, das er häufig mit ihr vorgenommen hätte. – „Ich glaube, dieses Experiment würde noch heute glücken, wenn mein Mann es mit mir versuchen wollte.“

Man bat den Grafen, sich an dem Experiment zu beteiligen. Er weigerte sich erst. Man bestürmte ihn jedoch von allen Seiten derart, daß er schließlich einwilligte, zumal seine Gattin erklärte, das Experiment sei ganz harmlos.

Die Gräfin ließ sich von acht Damen des Kreises deren Brillantgeschmeide reichen, die sie sehr genau musterte. Jedes Geschmeide wurde dann in Papier gehüllt und mit dem Namen der Besitzerin versehen. Mit den acht Päckchen sollte der Graf sich in einen kleinen Salon einschließen lassen, nachdem die Päckchen numeriert worden waren, ohne daß die Gräfin die Numerierung kannte. Professor Simsberg erhielt eine Liste der Päckchen mit den Namen der Besitzerinnen, damit er das Experiment kontrollieren könnte.

„Merkst Du was?!“ meinte Harald leise, als der Graf nun in den Damensalon der Hausfrau feierlich eingeschlossen wurde. „Wie leicht die Leute sich doch täuschen lassen! Niemand ahnt, daß diese Päckchen heute den Eigentümer wechseln sollen.“

In dem Nebensalon nahm die Gräfin nun mitten auf dem Teppich in einem Sessel Platz. Der Legationsrat hatte schon auf ihren Wunsch einen Dreifuß und eine Schale besorgt, in der auf glühenden Holzkohlen ein paar Muskatnüsse schwelten.

Das Becken wurde dicht vor die Gräfin gestellt.

Die übrigen Gäste zogen sich nun bis an die Flügeltür des dritten Gemaches zurück. Nur wir beide hatten uns heimlich hinter eine der Fensterportieren gedrückt.

Des Grafen Aufgabe bestand nun darin, die Päckchen der Reihe nach in die Hand zu nehmen und den Namen der Besitzerin scharf zu fixieren und an nichts anderes zu denken, als daß seine Gattin diesen Namen erraten möchte. – Die Gräfin wieder wollte diese Namen dann laut nennen. –

Ich gebe zu: hätte ich nicht gewußt, daß wir es hier mit einer Betrügerin und einem raffiniert ersonnenen Schwindel zu tun hatten, – ich wäre dann mit demselben Eifer bei der Sache gewesen wie alle übrigen Gäste. So aber war mein Interesse auf etwas ganz anderes gerichtet: ich war gespannt, wie die schöne Eugenie die acht Päckchen rauben lassen wollte, ohne daß ein Verdacht auf sie fiele. –

Harald war vorhin, nachdem die Einzelheiten des Experiments festgelegt worden waren, schnell in den Flur hinausgegangen und hatte sich hier mit Bechert, der in der Verkleidung eines Lohndieners gleichfalls anwesend war, verständigt, wie er mir mitgeteilt hatte.

Professor Simsberg ging jetzt bis zur Tür des Damensalons, klopfte an und rief:

„Herr Graf – bitte – wir können beginnen –“

Dann kehrte er zu den übrigen zurück.

Die Gräfin saß mit geschlossenen Augen da. In der Schale qualmten die Muskatnüsse. Der beißende Dunst erfüllte den Raum mit einem eigentümlichen Geruch.

Wir hatten die Portiere etwas zurückgeschlagen. Der Raum war nur schwach erhellt.

Die schöne Eugenie regte sich nicht.

Dann – mit schriller Stimme rief sie einen Namen.

„Falsch!“ erklärte der Professor triumphierend, der dies Experiment als unmöglich bezeichnet hatte.

Die Gräfin zuckte die Achseln und drückte beide Hände vor das Gesicht.

Wieder Totenstille – minutenlang.

Und – wieder ein Name, wieder mit schriller Stimme.

„Falsch!“ rief Simsberg lachend. Und fügte hinzu: „Ich denke, wir geben es auf, Frau Gräfin –“

Sie erhob sich jetzt rasch aus dem Sessel, meinte verwirrt: „Lassen Sie mich bitte einen Moment im Wintergarten frische Luft schöpfen. Dann wird es gelingen.“

Sie eilte nach links durch den Speisesaal davon und verschwand.

„Ihr nach“ flüsterte Harald. – Wir erreichten die Treppe, als sie gerade durch die Haustür den Garten betrat. Und – wir hatten sie eingeholt, bevor sie noch das vor dem Portal haltende Auto besteigen konnte.

Harald packte sie. Im selben Augenblick sprangen aus den Büschen drei Kriminalbeamte zu, überwältigten den Chauffeur des Autos.

„Margrita,“ sagte Harst schneidend, „erkennen Sie mich? Am Dulek Abi-See waren Sie vom Glück mehr begünstigt. Heute nacht hört die Chrysostomos-Brüderschaft auf zu existieren!“

Das Weib war wie gelähmt. Einer der Beamten legte ihr Handschellen an. Wie eine Träumende ließ sie sich wieder in die Villa führen.

Die Gäste strömten die Treppe herab.

In der Vorhalle stand Bechert mit zwei anderen Beamten und den beiden bereits gefesselten Dienern Baptiste und Charles.

Dann schwankte am Arm des Hausherrn der bedauernswerte Graf auf die schöne Verbrecherin zu.

„Eugenie!“ rief er und streckte die Rechte wie abwehrend aus. „Eugenie, – Du – Du wolltest mich ermorden lassen?! Im kleinen Salon hinter dem Wandschirm war Baptiste verborgen! Hätte der Kommissar mich nicht –“

Margrita lachte verächtlich auf.

„Blinder Narr, damit Du es endlich weißt: mich lockte Dein Geld! Du selbst warst mir stets zuwider!“

Bechert trat vor und bat streng dienstlich, daß die Vorhalle geräumt würde.

Die Gäste entfernten sich wieder nach oben. Graf Rafalga warf noch einen letzten Blick auf die Frau, der seine Liebe gehört hatte. –

Gleich darauf fuhren wir mit Bechert nach dem Präsidium. Die Verhafteten folgten in einem zweiten Auto.

Zur selben Zeit hatte auch die Shingra Mao-Truppe das Schicksal ereilt: ein Kollege Becherts hatte die ganze Gauklergesellschaft mit Hilfe eines großen Beamtenaufgebots verhaftet. – Ebenso waren in Neapel auf telegraphische Mitteilung der Berliner Polizei die dort lebenden Chrysostomos-Brüder festgenommen worden.

Als wir dann in Becherts Dienstzimmer der sofortigen Vernehmung Margritas, Baptistes und Charles beiwohnten, erkannten wir in Baptiste jenen Menschen wieder, der sich in Ägypten Testio genannt hatte.

Margrita und die beiden „Diener“ versuchten es zunächst mit hartnäckigem Schweigen. Harst flüsterte Bechert etwas zu. Die drei wurden nun in die Leichenkammer geführt, wo Bassano lag. Hier brach Margrita angesichts des Toten zusammen.

Bassano war ihr Vater, und Rosarita ihre Schwester, wie sie nun eingestand. Sie selbst war mit Baptiste-Testio seit vier Jahren verheiratet.

Ihr Geständnis enthüllte einen solchen Sumpf moralischer Verworfenheit und raffinierter Gewissenlosigkeit, daß man mit diesen Weibe auch nicht das geringste Mitleid haben konnte. Nicht ein einziger versöhnender Zug zeigte sich in ihrem Charakter. Genau so war es bei den übrigen Mitgliedern der Bande, die nun, als sie alles verloren sahen, sich gegenseitig aufs schwerste belasteten, nur um selbst den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Die in Berlin Verhafteten wurden sämtlich nach Italien ausgeliefert, wo acht von ihnen, darunter auch Margrita und Testio, den Tod durch Henkershand starben. – Von der Loge des heiligen Chrysostomos hat man nie wieder etwas gehört.

In Haralds Raritätensammlung befindet sich als trauriges Andenken an diese Verbrecherbande jener Amethyst-Ring, den der Herzog von – dem Sprachlehrer Tosco vom Finger gezogen und Harst gegeben hatte.

 

Nächster Band:

Der Klub der Zuchthäusler.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































74:
75:
76:
77:
78:
79:
80:
81:
82:
83:
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95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“. Abweichend von den übrigen Heften wurde hier auch im Innentitel die zweite Geschichte benannt, so daß die erste Geschichte vom Verlag nochmal eine separate Überschrift erhielt.
  2. „Dulek-Abi-See“ / „Dulek Abi-See“ – Einheitlich auf „Dulek Abi-See“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Balleteuse“ – Zwei Vorkommen auf „Balletteuse“ geändert.
  4. In der Vorlage steht: „wir“.
  5. In der Vorlage steht: „Glas“.