Sie sind hier

Das blasse Antlitz

 

 

Walther Kabel

 

Das blasse Antlitz …[1]

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Papierkugel.

… Wenn er die endlosen Zahlenreihen addierte, wenn er den ganzen Stumpfsinn dieser seiner eintönigen Beschäftigung bei der Bank mit geheimem Widerwillen bewältigte, dann gab es Sekunden des Trostes, der innerlichen Erfrischung …

Sekunden, in denen ihm wie dem müden, durstigen Wüstenpilger[2] eine köstliche Fata Morgana von einer blühenden Oase das blasse, liebliche Antlitz vorschwebte.

Das schmale, krankhaft bleiche Gesicht jenes Mädchens, von der er nichts wußte, als daß sie jeden Tag, jeden Wochentag um dieselbe Nachmittagsstunde in den verschlungenen Wegen des Tiergartens auftauchte und eine Stunde mit stets gleichen gemessenen Schritten dahinwandelte, ohne rechts und links zu blicken, ohne je ein Zeichen von Interesse für die Umwelt zu geben …

Seit zwei Wochen kannte er sie nun …

Kannte sie nicht …

Durch einen Zufall war er auf sie aufmerksam geworden …

Hatte an einem der kühlen Apriltage auf einer der Bänke Platz genommen, und da war sie an ihm vorübergeschritten – kühl, stolz, unnahbar, umflossen von dem unaussprechlichen Reiz wahrer Vornehmheit – trotz der fadenscheinigen Kleidung, trotz der schadhaften Handschuhe …

Und er, Graf Tasso Algenberg, hatte Blick für jeden Typ von Frauen …

Von früher her …

Als er noch den bunten Rock getragen und das Leben so leicht genommen hatte, so erstaunlich leicht, daß er’s heute nicht mehr begriff.

Freilich – zwischen dem Damals und dem Jetzt lag der unselige Krieg, lag der Zusammenbruch zahlloser Existenzen …

Damals hätte es sich Tasso Algenberg nie träumen lassen, daß er einmal auf einem Büroschemel reiten und für hundertzwanzig Mark monatlich „Bankmensch“ spielen würde … Mit seiner Pension als charakterisierter Rittmeister a. D. konnte er nicht leben … Also: Verdienen!! So kam er denn bei der Germania-Bank an … War eine winzige Null in dem großen Betriebe … War Tasso Algenberg, hatte den Grafentitel gestrichen, war der Letzte derer von Algenberg – der Allerletzte …

Hatte sich mit seinem Geschick leidlich abgefunden, tat seine Pflicht, mied jeden Verkehr, lebte als Sonderling – ein Greis fast mit seinen dreißig Jahren. Die Kollegen wichen ihm aus … Die Vorgesetzten übersahen ihn … Tasso Algenberg hatte so etwas Besonderes an sich, das eine unsichtbare Schranke um ihn zog.

Drei Jahre dieses Daseins, das nur ein Vegetieren war, lagen hinter ihm. Drei Jahre ohne irgendwelche Merksteine am Wege endloser Monate …

Und nun – vor vierzehn Tagen … – endlich einmal etwas, das ihn aus seinem Dämmerzustand ein wenig herausriß …

Das blasse Antlitz …

So nannte er die Fremde …

Das blasse Antlitz …! – So und so oft war er ihr schon heimlich gefolgt …

Niemals irgendwie aufdringlich …

Hatte festgestellt, daß sie jedesmal eine Straßenbahn der Linie 23 am Brandenburger Tor bestieg und davonfuhr … nach Moabit zu …

Das war alles, was er von ihr wußte …

Und – von sich selbst wußte er das eine: er hatte sich in die Unbekannte verliebt …

Ehrlich verliebt …

Sie war ihm die blasse Madonna des Tiergartens, die Madonna dieses Frühlingsmonats …

Eine Madonna, die ihm noch nie einen Blick geschenkt hatte … –

Und heute war’s nun Sonnabend …

Ein trüber, kühler Tag …

Windstöße fauchten durch die alten Bäume … wirbelten Staub auf …

Um fünf Uhr wie immer kam die Fremde die Siegesallee entlang …

Wie immer bog sie in einen Seitenweg ein …

Wie immer schritt sie dahin mit der ruhigen, ausgeglichenen Grazie der Dame von Welt …

Wie immer folgte Tasso Algenberg in respektvoller Entfernung …

Wie immer malte er sich in Gedanken aus, daß er heute den Mut finden würde, sie anzusprechen – unter irgendeinem Vorwand …

Sein einsames Herz war erfüllt von einer weichen Sehnsucht …

Er dachte es sich so wunderschön, gemeinsam mit der Fremden die Wunder des Tiergartens zu genießen.

Die Wildenten auf den Kanälen zu beobachten, die Feldmäuse zu belauschen und die Wildtauben in ihrem[3] Liebesspiel zu bewundern …

So schön müßte das sein …

Müßte …!

Und doch – er würde ja auch heute nicht den Mut dazu finden, hier eine Bekanntschaft anzuknüpfen, die ihm den Frühling erst zum wahren Wonnemond machen würde … –

Fünfzig Schritt war er hinter ihr …

In der Nähe des Rosengartens war’s …

Da … bemerkte er plötzlich denselben Herrn, der schon gestern und vorgestern dem blassen Antlitz nachgegangen – wie er …

Denselben mittelgroßen Herrn, der wie ein Ausländer ausschaute …

Überelegant gekleidet … Ein bartloses rundes Gesicht mit vorspringenden Backenknochen …

Ein Mann, der in seinen Bewegungen etwas Lauerndes, Schleichendes hatte …

Tasso Algenberg haßte diesen Menschen …

Haßte ihn, weil er gestern gemerkt, daß zwischen dem blassen Antlitz und diesem Mann irgendein geheimes Einverständnis bestand …

Weil der Fremde gestern im Rosengarten irgendetwas hatte fallen lassen, das die Frau blitzschnell aufhob und weiterschritt …

Und dann hatte das blasse Antlitz sich umgewandt und mit dem Kopf eine grüßende Bewegung gemacht …

Das war alles gewesen. …

Und doch genug, um in Tasso Algenbergs Herzen die Eifersucht auflohen zu lassen …

Eifersucht, Haß, … Beides sinnlos, beides grundlos … Und doch nicht wegzuscheuchen … –

Heute nun ein Neues …

Heute ließ im Rosengarten das blasse Antlitz etwas zu Boden gleiten …

Ein Papierkügelchen …

Ein Windstoß kam … entführte es …

Und die Fremde stand und blickte suchend, ratlos umher …

Auch der Ausländer … Der erst recht …

Und beide hatten nicht beobachtet, daß Tasso Algenberg rasch den rechten Fuß auf das weiße Kügelchen gestellt hatte und sich jetzt nur zum Schein sehr umständlich eine Zigarre anzündete und … sein Feuerzeug fallen ließ … Es aufhob – – und gleichzeitig das plattgedrückte Kügelchen …

Woher er diese Gewandtheit, diesen Gedanken überhaupt genommen, er wußte es nicht … Er war im Grunde ja ein so überaus nüchterner, einseitiger Mensch, dem die Schablonenerziehung im ehemaligen Kadettenkorps jede freie Entfaltung persönlicher Eigenart lahmgelegt hatte …

Liebe – – Eifersucht …!!

Vielleicht war’s das gewesen …

Jedenfalls: er hatte das Papierkügelchen, und um keinen Preis hätte er’s wieder hergegeben …

Daß[4] er hier soeben etwas getan, das sich mit seinem strengen Ehrenstandpunkt kaum vereinbaren ließ, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein …

Liebe – – Eifersucht …!!

Und schleunigst wandte er sich nun mit seinem Raube heimwärts …

Im alten Westen wohnte er, in der Elßholzstraße[5], bei einer verwitweten Geheimrätin, in der dritten Etage.

Ein zweifenstriges Zimmer, bescheiden möbliert … Aber mit der Aussicht auf den nahen Kleistpark …

Hastiger als sonst schritt er heute die Treppen empor …

Hörte wohl, daß jemand dicht hinter ihm war …

Achtete nicht darauf …

Bis etwas sehr Seltsames geschah …

Gerade auf dem zweiten Treppenabsatz war der Jemand dicht hinter ihm …

Und da sah Tasso Algenberg in dem als Spiegel wirkenden Flurfenster, daß der Herr hinter ihm den Arm zum Schlage hob – daß er in der Hand ein graues Etwas hatte – wie einen gefüllten Beutel …

Algenberg duckte sich …

Der seinem Kopf zugedachte Hieb traf nur das Genick …

Trotzdem knickte Algenberg zusammen, war aber blitzschnell wieder auf den Beinen …

Der Angreifer floh die Treppe hinab …

Der Überfallene wollte ihm nach …

Doch die Beine versagten ihm den Dienst …

Er mußte sich am Geländer festhalten … Mußte warten, bis er sich etwas erholt hatte …

Da war’s zu spät, den Mann zu verfolgen …

Den Mann … den … Ausländer aus dem Tiergarten …

Algenberg hatte ihn deutlich erkannt …

Den Mann, den er … haßte … – sinnlos, grundlos …

 

2. Kapitel.

Doktor Mandelstamms Rat.

Tasso Algenberg saß in seinem Zimmer und hielt die Papierkugel in den Fingern, glättete sie vorsichtig zum viereckigen Zettel …

Der Zettel war mit Tinte beschrieben …

Eine zierliche Damenhandschrift … Aber das, was Algenbergs Blicke jetzt an Worten überflogen, ergab keinen Sinn …

Da stand:

Dampfer Vorsicht bereit größte in Weiter acht beschafft Tagen alles auch sonst.

Algenberg hielt sich für kein Genie. Er litt nicht an Selbstüberschätzung. Er machte nur flüchtig den Versuch, den Sinn dieser Worte zu enträtseln. Es gelang ihm nicht. Es würde ihm auch nie gelingen …

„Tolle Geschichte!“ dachte er … „Der Kerl ist mir natürlich nachgeschlichen und hat mich auf der Treppe mit einem Sandsack niederschlagen wollen, um mir den Zettel wieder abzunehmen … – Tolle Geschichte …!!“

Dann lauschte er …

Sein Zimmernachbar war daheim … Und mit diesem Nachbar hatte er sich so ein wenig angefreundet – ganz wenig nur …

Doktor Jakob Mandelstamm war Arzt in holländischen Kolonialdiensten gewesen, lebte jetzt als Pensionär hier in Berlin … Wohnte bei der Geheimrätin bereits zehn Jahre.

War Jude … Ein alter Herr mit einem klugen, gütigen Gesicht … Eine hagere, ehrwürdige Erscheinung … –

Algenberg hatte das Vorurteil gegen die Juden abgelegt, als er ein Jahr bei der Bank tätig gewesen. Da hatte er erkannt, daß die christlichen Kollegen weit unangenehmer waren als die jüdischen … Sein Pultnachbar links war ein Israelit … Der hatte ihm geholfen, der hatte Verständnis für die Begriffsstutzigkeit des früheren Offiziers gehabt. Sein Pultnachbar rechts dagegen hatte ihn durch verletzende Bemerkungen mehr als einmal schwer gereizt …

Seitdem war Algenberg bekehrt …

Und Doktor Jakob Mandelstamm hatte in diesem Sinne weiter gewirkt … Als er einmal abends mit Algenberg zusammengesessen hatte, war man auf die Judenfrage zu sprechen gekommen … Der alte Arzt, der volle dreißig Jahre in der tiefsten Wildnis auf Sumatra auf entlegener Station gehaust hatte, erklärte damals in seiner liebenswürdig-bescheidenen Art: „Haben Sie schon je gehört, Herr Graf, daß ein Jude verhungert ist?! Herr Graf, wir Juden haben etwas vor allen anderen Völkern voraus: wir lassen keinen Glaubensgenossen im Elend umkommen! Wir helfen einander. Unbedingt. Wir besitzen ein Gemeinschaftsgefühl, das sich in Taten auswirkt, nicht nur in Worten. Kann ein solches Volk im Grunde seines Herzens schlecht sein?! – Wir haben unsere Eigenart … unsere guten und schlechten Seiten … Man haßt uns, weil wir intelligenter sind … Das ist’s …“

Und Algenberg hatte beipflichten müssen. –

Jetzt nahm er den Zettel und klopfte bei seinem Nachbar an.

Der alte Herr saß am Schreibtisch und hatte sich mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigt …

Erhob sich …

Das schwarze Seidenkäppchen auf seinem weißen Haar, der schwarze altmodische Gehrock und die schwarzseidene Krawatte wirkten vornehm und schlicht …

Er reichte Algenberg die schmale Hand … Eine tadellos gepflegte Hand …

„Ich komm mit einem Anliegen, Herr Doktor,“ … sagte Tasso ohne Umschweife …

„Nehmen Sie Platz, Herr Graf … Wenn ich Ihnen nützlich sein kann – sehr gern …“

Algenberg erzählte … Er hielt sich ohne Scheu an die Wahrheit …

„Die Fremde interessierte mich, Herr Doktor, … Ich bin kein Schürzenjäger. Wäre mir eine ehrbare Annäherung möglich gewesen, so wüßte ich längst, wer die Dame ist …“

Doktor Mandelstamm hatte eine eigene Art der Reglosigkeit. Auch jetzt saß er in seinem Lehnsessel wie ein Steinbild.

Algenberg reichte ihm nun den Zettel …

„Vielleicht können Sie die Worte richtig zusammenstellen, Herr Doktor … Darum wollte ich Sie bitten.“

Der alte Herr nahm seine Hornbrille vom Tische und schob sie auf die schmale, leicht gekrümmte Nase …

Algenberg wurde etwas nervös, als der Doktor Minuten verstreichen ließ, ehe er erklärte:

„Dürfte ich Ihnen einen Rat geben, Herr Graf? – Vielleicht wird sich Ihr Gefühl dagegen sträuben, diesen Rat zu befolgen, weil Sie der Unbekannten zugetan sind. Man soll jedoch im Leben niemals Rücksichten nehmen, wenn es sich um Gefühle handelt, die einseitig sind. Ihr Interesse für diese blasse Frau wird doch in keiner Weise erwidert …“

Algenberg fragte leicht beklommen:

„Und – dieser Rat wäre, Herr Doktor?“

„Gehen Sie zur Polizei und melden Sie Ihr Erlebnis, denn meines Erachtens handelt es sich um eine kriminelle Angelegenheit, um Vorbereitungen zu einem Verbrechen …“

Tasso war starr …

Im ersten Moment glaubte er, er müsse sich verhört haben. Dann aber schaute er in des alten Herrn ernstes, kluges Gesicht und sah in den dunklen, klaren Augen einen mahnenden, warnenden Ausdruck.

Doktor Mandelstamm sprach schon weiter:

„Der Zettel, Herr Graf, genügt schon an sich als Beweis für meine Behauptung … Der Inhalt lautet:

Dampfer bereit in acht Tagen. Auch sonst alles beschafft. Weiter größte Vorsicht.

Diese Sätze hat die Frau sehr einfach durcheinandergemischt, indem sie zuerst das erste und das letzte Wort niederschrieb, dann das zweite und das vorletzte – und so weiter … – Wenn nun der Inhalt dieses Zettels harmlos gewesen wäre, würde der Ausländer wohl niemals hier in einem großen, von vielen Personen bewohnten Hause auf der Treppe versucht haben, Ihnen den Zettel wieder abzunehmen. Er wagte sehr viel, als er Sie niederschlug. Und weil er es wagte, muß der Zettel in Ihrem Besitz für die Frau und den Mann eine große Gefahr bedeutet haben.“

Algenberg nickte …

„Das sehe ich ein, Herr Doktor … Nur – muß es sich gerade um die Vorbereitungen zu einem Verbrechen handeln?!“

Mandelstamm lächelte nachsichtig …

„Der Fremde ist ein Verbrecher … Wer überfällt einen Menschen auf der Treppe?!“

Tasso seufzte leicht … Er konnte sich diesen klaren Beweisen des alten Arztes gegenüber nicht länger verschließen. Und doch: alles in ihm sträubte sich dagegen, die blasse Madonna zu denunzieren …

Unwillkürlich sagte er warmen Tones:

„Herr Doktor, wenn Sie die Frau nur ein einziges Mal gesehen hätten, würden Sie bestimmt Ihren Verdacht korrigieren. Diese Frau kann keine …“

Er schwieg … Mandelstamm hatte eine müde Handbewegung gemacht …

„Herr Graf, ich fürchte, Sie kennen das Leben sehr wenig – sehr wenig …! Nichts trügt so sehr wie Gesichter …“

Pause …

Und leiser fügte der alte Doktor hinzu:

„Wenn Sie mich hier vor sich sehen, Herr Graf, – würden Sie dann glauben, daß ich … ein Mörder bin, ein Totschläger, ein Mensch, der das Leben eines anderen Menschen auf dem Gewissen hat?! Und doch ist es so. Ich bin nicht ohne Grund als junger Arzt in die Fieberwildnis von Sumatra gezogen … Ich habe dort büßen wollen für ein … ärztliches Versehen, das einem Patienten das Leben kostete. Ich habe dort in der Wildnis dreißig Jahre zugebracht und … Tausenden das Leben erhalten, die ohne mich verloren gewesen. So habe ich gesühnt, Herr Graf. Und Gott wird mir einst ein milder Richter sein …“

Algenberg streckte dem alten Herrn impulsiv die Hand hin …

„Wer Sie anschaut, Herr Doktor, schaut in Ihr Herz …“

Der Greis lächelte mild …

„Gesichter trügen … – Gehen Sie zur Polizei, Herr Graf. Es ist Ihre Pflicht …“

Tasso schüttelte energisch den Kopf …

„Nein, Herr Doktor … Das nicht … Das kann ich einfach nicht … Aber ich werde einen ähnlichen Weg einschlagen …“

Er wollte noch mehr hinzufügen. Es hatte geklopft …

Es war die Geheimrätin …

„Herr Graf, Sie werden am Telephon verlangt …“

 

3. Kapitel.

Das Stelldichein.

Das Telephon hing im Flur …

Tasso meldete sich …

„Hallo – hier Tasso Algenberg …“

Und als er dies in den Trichter hineinsprach, fieberte er vor Erwartung … Er ahnte, daß es sich um den Zettel handeln würde, daß vielleicht die Blasse am Apparat sei … Denn – wer sollte ihn sonst zu sprechen wünschen?! Freunde hatte er nicht …

Eine weiche Stimme drang an sein Ohr …

Frauenstimme …

Weich und müde … mit einem melancholischen Beiklang …

So hatte er sich stets die Stimme des blassen Antlitzes vorgestellt – genau so …

„Herr Graf, Sie besinnen sich auf den Rosengarten …?“

„Ja …“

„Es geschah gegen meinen Willen, daß man gegen Sie der Kugel wegen in so brutaler Weise vorging. Ich bitte Sie, mir die Kugel wieder auszuhändigen und zu schweigen. Sie können überzeugt sein, daß die Kugel trotz ihres eigentümlichen Äußeren harmlos ist … – Haben Sie über die Kugel bereits mit jemandem gesprochen?“

„Ja …“

„Mit wem?“

„Mit meinem Zimmernachbar Doktor Mandelstamm …“

„Oh – – und Sie kennen den Inhalt?“

„Durch den Doktor …“

„Dann … dann … bitte ich Sie herzlich, den Doktor zu bestimmen, daß er schweigt … Und auch Sie werden es tun, Herr Graf … Ich kenne Sie besser als Sie glauben … – Die Rückgabe der Kugel hätte nun keinen Zweck mehr. Werden Sie und der Doktor diskret sein?“

Tasso überlegte …

„Ja – unter einer Bedingung … Gewähren Sie mir eine Unterredung – sofort …!“

Pause …

Dann: „Gut, es sei … Doch verschweigen Sie dem Doktor, daß wir uns treffen wollen …“

„Gern …“

„Dann kommen Sie um neun Uhr nach der Siegesallee … Gehen Sie dort auf und ab …“

„Neun Uhr … Ich werde pünktlich sein …“

„Und: Doktor Mandelstamm wird schweigen?“

„Er wird, meine Gnädige …“

„Dann auf Wiedersehen …“

„Wiedersehen …“

Tasso hängte ab …

Er freute sich … Endlich würde er das blasse Antlitz kennen lernen – endlich!! Und dann würde sie ihm alles erklären … Er würde sie geradezu fragen: „Was bedeutet der Inhalt des Zettels? Sie müssen mir darüber Aufschluß geben … müssen!“

Er freute sich …

Kehrte in Doktor Jakob Mandelstamms Studierzimmer zurück, denn der Kolonialarzt a. D. konnte sich den Luxus leisten, zwei möblierte Räume zu bewohnen und besaß sogar einige eigene Möbel – alles mehr Kunstgegenstände als Möbel.

Mandelstamm saß mit seiner ehernen Ruhe im Lehnsessel.

Algenberg setzte sich wieder …

Dann berichtete er von dem Telephongespräch …

„Herr Doktor, ich kann mich also auf Ihre Diskretion verlassen …,“ schloß er fragend. Der alte Arzt schaute seinen um ein halbes Menschenalter jüngeren Stubennachbar voll an … In den dunklen, mandelförmigen Augen des greisen Juden lag wieder wie vorhin ein mahnender, warnender Ausdruck.

„Sie spielen mit dem Feuer, Herr Graf?“ sagte er leise … Seine Stimme klang stets gedämpft. „Gewiß werde ich schweigen, es sei denn, es treten Umstände ein, die mir das Gegenteil zur Pflicht machen.“

Tasso wehrte in jugendlicher Sorglosigkeit ab …

„Diese Umstände werden ausbleiben, verehrter Herr Doktor …“

„Hoffen wir … Seien Sie vorsichtig … Falls Sie noch eine Waffe aus Ihrer früheren Zeit her besitzen, stecken Sie sie zu sich … Ich erinnere an den Mann mit dem Sandsack …“

Algenberg lachte … „Zum zweiten Male passiert mir derartiges nicht …“

Mandelstamm meinte sinnend: „Sie sind ja auch gewissermaßen dadurch geschützt, daß ich gleichfalls den Inhalt des Zettels kenne und daß die Leute also auch mich … ausschalten müßten, wenn sie ihre Geheimnisse um jeden Preis gewahrt haben wollten …“

Dabei glitt ein flüchtiges Lächeln über sein faltiges, fahles Gesicht, dem die Jahre bereits die Farbe der Frische genommen hatten – die Jahre und die Sümpfe Sumatras, was gleichbedeutend war …

„Mich wird man nicht überrumpeln, Herr Graf … Ich habe Gefahren mancher Art kennen gelernt … Und heute auf meinem abendlichen Spaziergang werde ich die Augen doppelt scharf offenhalten … Man soll vorbeugen, Herr Graf … – Wie ist’s – haben Sie eine Waffe?“

„Gewiß … Und ich werde die Mauserpistole in die Manteltasche stecken … Diese Pistole hat mir bereits gute Dienste geleistet …“

Algenberg verabschiedete sich jetzt, da er noch sein bescheidenes Abendbrot einnehmen wollte, bevor er sich auf den Weg machte …

 

4. Kapitel.

Hedwig …!

Der trübe Apriltag hatte abends eine noch unfreundlichere Miene angenommen.

Es regnete. Nicht allzu stark. Aber die fallenden Tropfen, die auf Tassos Gummimantel und Ledersportmütze aufschlugen (an einen Schirm hatte er sich noch immer nicht gewöhnen können), – diese fallenden Tröpflein erschienen ihm als schlechte Vorbedeutung. Der Himmel weinte … Und wie schön wär’s gewesen, wenn am Firmament die Sterne friedlich gestrahlt hätten! Das wäre dann Rendezvous – Poesie gewesen …

So aber machte alles ringsum einen verdrossenen, mißvergnügten Eindruck …

Auch die Siegesallee mit ihren hellen Gespensterfiguren in Marmor …

Gespensterfiguren – Gespenster einer ruhmreichen Vergangenheit …

Jedesmal dachte der Rittmeister a. D. Graf Tasso Algenberg dasselbe, wenn er diese Allee des Gewesenen durchschritt …

Auch heute …

Heute nur flüchtiger als sonst …

Heute war das blasse Antlitz die Hauptsache …

Er spähte umher …

Er schaute nach der Uhr …

Drei Minuten bis neun …

Machte kehrt …

Musterte jede Frauengestalt …

Und wußte genau, daß er seine Tiergarten-Madonna unbedingt schon von weitem erkennen würde … Gang und Haltung waren ja so überaus charakteristisch.

Wieder befragte er seine Stahluhr unter einer Laterne …

Ah – bereits fünf Minuten nach neun …

Damenpünktlichkeit!!

Kaum gedacht – neben ihm eine Stimme:

„Verzeihung – Graf Algenberg?“

Er fuhr ordentlich zusammen …

Wandte sich um …

Vor ihm stand … der elegante Ausländer, der Kerl mit dem Sandsack … Der Angreifer vom Nachmittag …

In Tassos Brust stieg es siedendheiß auf …

„Herr, Sie wagen es, sich …“

Aber seine gereizten Worte wurden durch ein höfliches Lächeln des Fremden schnell und jäh unterbrochen.

„Ich komme im Auftrage meiner Schwester, Herr Graf,“ meinte der Dunkelhäutige und lüftete den Hut. „Das kleine Mißverständnis vom Nachmittag wird sich beseitigen lassen … Sie gestatten: Karl Maria Eberhard, Herzog von Trescona …“

Algenberg verneigte sich verblüfft und vergaß die regennasse Mütze abzunehmen …

Der Herzog fügte hinzu:

„Wenn Sie mich bitte begleiten wollen, Graf … Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie keinerlei Gefahr laufen. Wir sind keine Banditen …“ Und er lächelte etwas ironisch …

Algenberg fiel Mandelstamms Warnung ein …

Herzog konnte sich jeder nennen … Was bedeutete heutzutage ein Herzog – oder ein Graf?! Das war Schellengeläute von einst …

So erwiderte er denn kühl: „Nach der Probe Ihrer … Vielseitigkeit von heute nachmittag, Herr Herzog, können Sie es mir nicht verargen, daß ich Sie auf meine geladene und entsicherte Mauserpistole hier in meiner rechten Manteltasche aufmerksam mache …“

Der Herzog hatte seinen tadellosen Filzhut wieder aufgesetzt und hielt den ebenso tadellosen aufgespannten Schirm nun wieder über sein Haupt …

„Ich verarge Ihnen das keinen Augenblick, Graf,“ erklärte er. „Halten Sie Ihre Waffe getrost bereit … Sie werden Sie nicht brauchen … zumal ich Sie gar nicht begleiten werde. Sehen Sie – dort steht ein geschlossenes leeres Privatauto. Der Schofför weiß Bescheid. Steigen Sie ein, und Sie werden Gelegenheit haben, mit Hedwig zu sprechen. Bevor ich mich empfehle, bitte ich Sie hiermit noch in aller Form um Entschuldigung wegen meines brutalen Angriffs. Ich war über Ihre Person nicht genügend orientiert. – Guten Abend, Graf …“

Er grüßte und ging davon …

Ließ Tasso in sehr zwiespältiger Stimmung zurück …

Tasso schaute nach dem Auto hinüber …

Ob er’s wagen sollte?!

Doch – Teufel nochmal! – er war doch keine Memme …

So schritt er auf das große elegante Auto zu …

Blickte den Schofför an …

Stutzte …

Der Schofför war … das blasse Antlitz …

„Ah … Sie, meine Gnädige …,“ stammelte er …

„Steigen Sie ein!“ sagte die melancholische Stimme halb befehlend …

Algenberg gehorchte …

Sank in weiche Polster …

Der Kraftwagen fauchte davon …

Die Charlottenburger Chaussee entlang – immer weiter …

Hielt dann auf einem Seitenweg des Nordostzipfels des Grunewaldforstes an einsamer Stelle …

Kiefern ringsum … nichts weiter …

Nur Kiefern, Sand und die Straße aus schwedischen Kopfsteinen.

Algenberg war nervös …

Kletterte hastig heraus … Seine blasse Schlanke blieb auf dem Fahrersitz …

Algenberg trat ganz nahe …

Grüßte …

„Gestatten: Tasso Algenberg …“ Er wußte wirklich nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte.

„Mein Bruder hat Ihnen unseren Familiennamen genannt, Herr Graf …,“ sagte die Blasse gleichmütig. „Ich kenne Sie von Ansehen nun acht Tage … Sie sind mir regelmäßig in sehr diskreter Weise gefolgt … Ich hatte Grund, mich über Ihre Person zu erkundigen … Ich argwöhnte zunächst, daß Sie der Detektiv Harald Harst seien. Sie haben einige Ähnlichkeit mit ihm. Ich ließ Sie beobachten …“

Algenberg kam sich bei alledem unglaublich töricht vor …

Er war gewiß nicht auf den Mund gefallen. Aber hier versagte er …

„Mein Bruder Eberhard dürfte sich bei Ihnen gebührend entschuldigt haben,“ fuhr das blasse Antlitz, das jetzt Schofförtracht trug, mit derselben abgeklärten Selbstverständlichkeit fort. – „Und nun, Graf Algenberg, äußern Sie Ihre Wünsche …“

„Hm … Wünsche, meine Gnädige … Oder, pardon, – ist die Anrede Hoheit angebracht? Sie müssen entschuldigen, ich bin über Ihre Person noch nicht recht im Bilde …“

„Nennen Sie mich Hedwig,“ meinte die blasse Madonna schlicht. „Unsere Angelegenheit, Graf Algenberg, endet ja in wenigen Minuten …“

Er glaubte ein flüchtiges Lächeln um ihre feingeschwungenen Lippen wahrzunehmen …

Vielleicht täuschte er sich auch …

Jedenfalls war er bitter enttäuscht …

Und nebenbei noch sehr verlegen – richtig verlegen …

„Ich … ich habe wohl ein geringes Recht,“ sagte er bedächtig und jedes Wort abwägend, „von Ihnen, Herzogin (denn das „Hedwig“ wollte ihm doch nicht über die Lippen), um Aufschluß darüber zu bitten, was der Inhalt des von mir – hm, ja – gefundenen Zettels bedeutet … Doktor Mandelstamm, mein Zimmernachbar …“

„… er war übrigens ebenfalls in der Siegesallee,“ warf die Blasse mit ganz leichter Ironie ein …

Algenberg rief sofort: „Pardon – nicht mit meinem Wissen und Wollen … – Also der Doktor meinte, der Zettel ließe vielleicht auf die Vorbereitungen zu einem Verbrechen schließen …“

„Da hat der Herr Doktor recht, Graf Algenberg …“

Der gute Tasso war sprachlos …

„Ja – er hat recht …,“ wiederholte die Frau auf dem Schofförsitz … Und ihre klare, feine Stimme klang schärfer. „Ein Verbrechen, Graf, das einen Akt der Notwehr darstellt … Und deshalb erlaubt – vor meinem Gewissen!“

Sie beugte sich vor …

Ihr Gesicht war dem Algenbergs ganz nahe …

„Graf, trauen Sie mir etwas Schlechtes zu?!“

„Nein – nein!“

Er schaute ihr in die Augen …

„Nein, Herzogin … Nur … nur – – ein Verbrechen, – – das ist ein so … so häßlicher Ausdruck …“

„Ich nenne die Dinge so, wie sie genannt werden müssen, Graf … Ein Verbrechen – und doch ist das gute Recht auf unserer Seite! Wenn auch nicht nach dem starren Buchstaben des Gesetzes … – So, jetzt reichen Sie mir die Hand zum Abschied … Versprechen Sie mir, unseren Namen unter allen Umständen zu verschweigen …“

Sie hatte den Handschuh halb von der Rechten gestreift …

Algenberg küßte ihre Hand …

Behielt sie in der seinen …

Seine Stimme vibrierte plötzlich …

„Ich … verspreche es … Aber – wir sollen uns nie wiedersehen, Hedwig, – nie?!“

Jetzt hatte er Mut …

Liebe gab ihm die leidenschaftlichen Worte ein … Liebe ließ ihn den Vornamen nennen, den man so weich und zärtlich aussprechen konnte …

„Hedwig, Sie müssen doch ahnen, wie es um mich steht … Hedwig, Sie waren mir ein Trost in der Einöde meiner Tage … Sie müssen doch gemerkt haben, daß ich …“

Sie entzog ihm ihre Hand …

Der leerlaufende Motor knatterte …

Das Auto … jagte weiter …

Und Tasso Algenberg stand allein im rieselnden Regen am Wegrande und starrte dem Kraftwagen nach.

In seinen Fingern hielt er … ein Andenken an das blasse Antlitz – – ein feines Spitzentüchlein …

Im letzten Moment hatte sie es ihm in die Hand gedrückt …

Tasso Algenberg führte das Tüchlein an die Lippen.

Zarter Parfümduft …

Und – er küßte das Tüchlein, während er schmerzlich-bewegt dachte:

„Vorbei … vorüber … Ein Traum ist zu Ende!“

Dachte es …

Und – trat jäh zur Seite …

Riß die Pistole aus der Tasche …

Hinter einem Busche, dicht am Wege, hatte sich eine Gestalt aufgerichtet …

Algenberg hob die Waffe …

Trotz der Dunkelheit sah er, daß er einen zerlumpten Strolch vor sich hatte …

Rief energisch: „Bleiben Sie mir vom Leibe, Freundchen, sonst knallt’s …!“

Der Mann ließ eine Taschenlampe aufblitzen, richtete den Lichtkegel gegen sein eigenes Gesicht und nahm sich mit der Linken die schäbige Mütze, die zerraufte Perücke und den falschen Vollbart ab …

Sagte nun:

„Herr Graf, mein Name ist Harald Harst … Ich bin Privatdetektiv …“

Tasso war Bildsäule …

„Herr … Herr Harst?!“

„Allerdings … Und dort kommt mein Freund Schraut mit unseren Fahrrädern …“

Tasso sah eine zweite Gestalt unter den Kiefern auftauchen …

 

5. Kapitel.

Das Tüchlein.

Algenberg sah noch mehr …

Der bekannte Detektiv hatte tatsächlich einige Ähnlichkeit mit ihm … –

Wer kannte Harst nicht?! Und wer kannte Schraut nicht?!

Aber Tasso war keineswegs erfreut, hier die Bekanntschaft dieser beiden Berühmtheiten zu machen.

Er ahnte schon, daß Harst hinter Hedwig her war, daß Harst Fragen stellen würde, daß diese Fragen sehr peinlich werden konnten.

Anderseits: Vielleicht würde der Detektiv ihm über Hedwig genaueres angeben können! Und – diese Hoffnung war für Tasso bedeutungsvoller als alles übrige … Danach richtete er sein Verhalten ein … –

Harst hatte sich in aller Gemütsruhe Perücke, Mütze und Bart übergestreift und die Taschenlampe wieder ausgeschaltet …

„Ich fürchte, ich habe Sie etwas erschreckt, Herr Graf,“ meinte er höflich … „Stecken Sie Ihre Waffe nur ruhig wieder ein … Und seien Sie froh, daß Sie … so billig bei dieser Bekanntschaft mit einer unserer geriebensten Hochstaplerinnen weggekommen sind … Den Hieb mit dem Sandsack haben Sie ja längst überwunden …“

Tasso ließ die Arme schlaff herabhängen …

„Hoch … Hochstaplerin?!“ murmelte er völlig geistesabwesend …

„Ja – leider, Herr Graf … – Schraut, hierher! Hier ist Graf Algenberg … Er wird uns vielleicht manches mitzuteilen haben … – Darf ich die Herren miteinander bekannt machen … Schraut sieht freilich ebensowenig kavaliermäßig aus wie ich … – Kommen Sie, Herr Graf … Drüben über der Anhöhe liegen ein paar Laubengärten … In der einen Laube können wir es uns gemütlich einrichten … Hunde sind nicht vorhanden, und die Tür öffne ich schon … Hier draußen im Regen ist’s denn doch zu unbehaglich …“

Er schritt voran …

Algenberg folgte ihm zögernd – und sehr niedergedrückt …

Der Frühlingstraum, das Frühlingslied, betitelt „Das blasse Antlitz“, war nun wirklich zu Ende …

Also Hochstaplerin – das war die Lösung!

Wenn ein Harst derartiges behauptet, stimmt es auch …

Ein Mann wie Harst beschuldigt niemand ohne Grund. –

Es regnete stärker …

Tasso dachte: „Jetzt weint der Himmel um eine Verlorene!“

Und sah ohne Interesse zu, wie Harst eins der Laubenhäuschen mit einem Dietrich öffnete, wie er seine Taschenlampe einschaltete und Schraut half, die Fahrräder in die Hütte zu bringen …

Müde und gleichgültig setzte Algenberg sich in die Ecke eines altersschwachen Sofas … Müde und stumpf schaute er dem Beginnen der beiden Detektive zu, die nun in dem kleinen eisernen Ofen ein Holzfeuer anzündeten und die Ofentür offen ließen.

Das brennende Holz prasselte und fauchte …

Der rote Lichtschein fiel gerade auf Tassos zusammengesunkene Gestalt.

Harst setzte sich neben ihn …

„Sie müssen sich die Sache nicht so nahegehen lassen, Herr Graf,“ meinte der Detektiv und zog aus der zerlumpten Jacke ein goldenes Zigarettenetui hervor, hielt es Tasso hin …

„Bitte … Meine Spezialmarke …“

Algenberg rauchte geistesabwesend …

Der Detektiv meinte:

„Seit acht Tagen kennen wir Sie, Herr Graf – von Ansehen … – Ich will Ihnen nichts vorenthalten. Aber auch Sie müssen alles sagen – alles … Dieses Weib schonen, hieße nichts anderes als sich zu ihrer Mitschuldigen machen …“

Algenberg nickte … Ihm war jetzt wie einem Kinde zumute, dem man sein liebstes Spielzeug zerstört hat …

„Vor einem Monat etwa,“ begann Harst und streckte die Beine von sich und versank tiefer in die Sofaecke, „– vor einem Monat kam ein Herr zu uns, der sich als italienischer Kollege auswies – aus Venedig … Gionino mit Namen – Privatdetektiv wie Schraut und ich. Er bat uns, ihm bei der Aufspürung einer internationalen Bande von Hoteldieben zu helfen, die zuletzt in Venedig dem Herzog von Trescona eine Schatulle mit Familienjuwelen gemaust hatten …

Gionino hatte die Spur dieser vier Gauner, zwei „Damen“ und zwei „Herren“ vom Typ der Gentleman-Verbrecher, bis Berlin verfolgt, hier jedoch nur einen der „Herren“ ausfindig machen können, was ihm nichts nützte … Er mußte sie alle vier einkreisen … Nur so durfte er hoffen, daß er die Schatulle beschlagnahmen konnte, und darauf kam es ihm an …

Dieser eine Gentleman – Name unbekannt – war nun überaus vorsichtig … Schraut und ich bekamen aber schließlich doch heraus, daß er auffällig häufig nachmittags den Tiergarten besuchte … Und – so stießen wir auf Ihre Person, weil Sie der Blassen getreulich folgten, und das ist eben eine der „Damen“ – Name unbekannt … Denn die Namen, die sich solche Spezialisten im Vornehmtun zulegen, sind Talmi, Herr Graf … Jedenfalls stellten wir fest, daß der Gentleman und die Blasse zuweilen durch Papierkügelchen verkehrten … – Ich will mich kürzer fassen … Die Wohnung der Blassen konnten wir nicht ermitteln … Eine Schande für uns, aber nicht zu ändern. Das Weib schlug uns jeden Tag ein Schnippchen … Jeden Tag erfand sie einen neuen Trick, spurlos zu verschwinden … – Heute nun waren wir Zeugen, wie Sie, Herr Graf, die Papierkugel an sich brachten … Der „Gentleman“ schlich Ihnen nach … Wir hörten von unten im Treppenflur, wie er Sie niederschlug … Ließen ihn flüchten … Als Sie um halb neun fortgingen, und als der alte Doktor hinter Ihnen denselben Weg einschlug, sprach ich Mandelstamm an und gab mich zu erkennen … Er verheimlichte mir nichts … So konnten wir uns denn noch schnell für alle Fälle mit Rädern versehen und dem Auto folgen … – Das wäre alles, Herr Graf … Und jetzt sind Sie an der Reihe …“

Tasso fand die Schilderung Harsts ziemlich nüchtern, aber gerade deshalb so sehr überzeugend …

Er erzählte …

Daß der Fremde, der „Gentleman“ sich Herzog von Trescona genannt habe … Und daß „Hedwig“ eingestanden, es handele sich wirklich um die Vorbereitungen zu einem Verbrechen …

„Haben Sie den Zettel bei sich?“ fragte Harst dann.

„Ja … Bitte …“

Harst schaltete eine Taschenlampe ein … Las … las nochmals …

Gab den Zettel seinem etwas korpulenten Freunde.

Tasso Algenberg rauchte und trauerte dem zerstörten Frühlingstraum nach …

Schraut meinte:

„Du, das ist merkwürdig …“

„Allerdings, sehr merkwürdig …“

„Ein Schiff …?!“

„Begreife ich vorläufig auch nicht … Bin gespannt, was Kollege Gionino dazu sagen wird …“

Und zu Algenberg: „Der Italiener ist nämlich hinter dem „Gentleman“ her … Gionino hat noch einen seiner Angestellten hier … Denen entgeht der Mann nicht …“

Tasso heuchelte Interesse …

„Wo wohnt er denn, der Fremde?“

„Moabit, Rathenower Straße 64, Hochparterre[6], bei einer alten Frau … – nach vorn heraus …“

„Die Blasse fuhr auch stets nach Moabit,“ meinte Algenberg …

„Irrtum … Sie stieg immer sehr bald um oder nahm ein Auto oder entwischte sonstwie …“

Pause …

Schraut warf neues Holz in den Ofen …

Draußen goß es jetzt …

Der Regen trommelte auf das Pappdach …

Harst studierte wieder den Zettel …

Meinte dann:

„Es ist der erste, den wir zu Gesicht bekommen – – die erste Papierkugel …“

„Und es fällt Ihnen daran etwas auf?“

„Ja, Herr Graf … Die Damenhandschrift … Ich verstehe etwas von Schriftdeutung …“

„Nun – – und?!“

„Ich würde diese Schrift unfehlbar für die einer Dame von lauterem Charakter halten …“

„Ach – – Vielleicht ……“

„… nein, nicht „vielleicht“, Herr Graf … An der Tatsache, daß Ihre Blasse, Interessante eine gefährliche Hochstaplerin ist, läßt sich leider nicht rütteln … – Geben Sie mir doch mal das Taschentüchlein …“

Tasso holte das zum weißen Ball zusammengeknüllte Tüchlein hervor …

Harst faltete es auseinander …

„Ein Zettel!“ rief Algenberg …

Ja, es stimmte: in dem Tüchlein hatte ein Zettel gelegen … Und darauf stand:

Lassen Sie sich auch durch Harst nicht an mir irre machen!

Hedwig.

 

6. Kapitel.

Der Mann am Eisenzaun.

Als Tasso diesen Satz gelesen hatte, war es ihm, als ob ein starkes Glücksgefühl allmählich seine dumpfe Niedergeschlagenheit verdrängte.

Er blickte vor sich hin, denn er fürchtete, der Ausdruck seiner Augen könnte Harst seine innersten Gedanken verraten.

Auffallend war es, daß auch Harst sich zu dem Inhalt dieser Taschentucheinlage nicht äußerte.

Nur Schraut sagte leise: „Eine Frechheit von der Person!“

Person!! – Algenberg zuckte zusammen. Es war ihm, als ob ihn ein Schlag getroffen hätte, als ob diese Beleidigung ihm selbst galt …

Schweigen wieder …

Seltsame Stimmung – noch seltsamere Umgebung.

Ein flüchtiger Gedanke ging Algenberg durch den Kopf: daß sie hier ohne Erlaubnis eingedrungen waren, daß sie sich hier benahmen, als seien sie die Besitzer des Häuschens.

Nur ein flüchtiger Gedanke …

Gleich darauf war er bereits wieder bei … Hedwig … bei Hedwigs Abschiedsgruß … und bei seinem stillen Hoffen, daß selbst ein so berühmter Mann wie Harst sich getäuscht haben könnte …

Das blasse Antlitz konnte schuldlos sein … Personenverwechslung … Sonst etwas …

Sonst etwas … Das genügte Tasso … Sonst etwas … Er war wie ein Spieler, der sein Geld verloren hat und nun noch hofft, in der Brieftasche eine vergessene Banknote zu finden, die ihm Glück bringen würde … –

Noch immer war es still in der Hütte …

Schraut kniete jetzt vor dem eisernen Ofen und drückte mit dem Schürhaken das Feuer aus, warf die brennenden Scheite durcheinander, daß die Flammen erstickten, und sagte plötzlich:

„Der Regen läßt nach … Ich denke, wir brechen auf … Es ist spät genug …“

Tasso sah nach der Uhr …

Unmöglich – – schon nach Mitternacht?! Wo war nur die Zeit geblieben?! Wo nur?!

Harst meldete sich …

„Hast recht, mein Alter …“ – Erhob sich … reckte sich … „Gehen wir … Sie bekommen noch eine Untergrundbahn, Herr Graf … Morgen ist auch noch ein Tag … Wir sind immerhin einen Schritt weiter.“

Schraut wandte den Kopf, schloß die Ofentür und fragte:

„Einen Schritt weiter?! Wodurch?!“

„Das wird sich zeigen … – Nehmen wir unsere Räder …“

Algenberg wollte jetzt die beiden Zettel, die auf dem Tisch lagen, zu sich stecken …

„Gestatten Sie,“ meinte der Detektiv Harst da … „Überlassen Sie mir lieber die Zettel, Herr Graf … Ich hebe sie Ihnen schon auf …“

Tasso zog die Hand zurück …

„Bitte …“ Es klang enttäuscht … –

Dann wanderten die drei schweigend dahin … Bis sie den Bahnhof Heerstraße erreichten … Hier trennten sie sich.

Die beiden Stromer schwangen sich auf ihre Räder … Algenberg schaute ihnen nach … Der neue Tag war angebrochen, ein Sonntag … Der Himmel nur noch stellenweise mit Gewölk bedeckt. Sterne blitzten am Firmament … Die regenfeuchte Frühlingserde duftete kräftig und atmete den Hauch der Verjüngung, des neuen sprossenden Lebens aus …

Sonntag … heute … Und heute vormittag elf Uhr sollte Tasso sich Blücherstraße 10 bei den „Stromern“ einfinden …

Er schritt weiter, fuhr heim …

Müde, abgespannt, und doch nicht mehr verzagt.

Nein – er war nicht an dem blassen Antlitz irre geworden … Er war voller Hoffnung, sogar erfüllt von einer gewissen Freudigkeit …

Dachte –: Wenn nur der alte Doktor noch munter wäre!! Mandelstamm ging ja stets spät zu Bett … Mit Mandelstamm hätte er das Erlebte noch durchsprechen mögen … Er gab etwas auf des greisen Doktors Meinung … Wer weiß, wie der Hedwigs Abschiedsgruß beurteilen würde …

Er kam heim …

Schaute an dem Hause in der stillen Elßholzstraße empor … Bei Mandelstamm war noch Licht … Gott sei Dank …

Und er [lief][7] nun hastig die Treppen nach oben … immer drei Stufen …

Pochte bei Mandelstamm an …

„Bitte …!“

Der alte Herr saß am Schreibtisch … Das Zimmer war mit Tabaksqualm gefüllt …

Tasso reichte dem Arzte die Hand …

Umklammert die schmale Greisenhand …

„Ich habe viel erlebt, Herr Doktor, und ich möchte mich mit Ihnen darüber aussprechen … Erlauben Sie, daß ich Platz nehme …?“

„Legen Sie ab, Herr Graf … – Sie waren wohl mit dem Detektiv Harst zusammen?“

„Ja …“

Mandelstamm setzte sich in den Lehnsessel …

Algenberg erzählte …

„… Harst hat mir nicht verboten, Ihnen über dies alles Bericht zu erstatten …“

Nichts vergaß er … Der Zettel in dem Tüchlein war ihm die Hauptsache … Das Tüchlein besaß er – dieses feine Spitzentüchlein, zeigte es Mandelstamm … In die eine Ecke war eine Krone eingestickt … darunter ein H …

Mandelstamm in seiner ehernen Reglosigkeit beschränkte sich zunächst auf eine einzige Zwischenfrage …

„Wiederholen Sie mir Harsts Worte nochmals, Herr Graf … Was sagte er über die Handschrift der Frau?“

„Er sagte wörtlich, er hielte diese Schrift für die einer Dame von lauterem Charakter …“

„Seltsam – wie ich!“ nickte Mandelstamm … „Genau wie ich … Ich habe es Ihnen vorenthalten, Herr Graf, daß die Handschrift mich verwirrte … Sie stand im Widerspruch zu dem Inhalt des ersten Zettels … Ich mochte keine Hoffnungen in Ihnen wecken … Gesichter können trügen … Handschriften selten … sehr selten …“

Er blickte Tasso gütig an …

„Sie sind jung … Sie haben Ihr Herz verloren gehabt … Eine Liebe wie eine Dichtung … Das blasse Antlitz … – Ich möchte Ihnen so gern helfen … Wenn es Ihnen ein Trost ist, bestätige ich gern: die Handschrift war die einer Frau von aufrichtiger Gesinnung. Der Handschrift fehlten all die kleinen Zeichen verbrecherischer Neigungen … Eine schlichte Schrift, etwas stolz und doch ein gutes Herz … Ja – in alledem ist ein schwerer Widerspruch, Herr Graf … Eine Hochstaplerin?! Nein – der Schrift nach niemals!“

Algenberg sagte mit bewegter Stimme:

„Und – Sie hätten sie reden hören sollen, Herr Doktor …! So offen, so ehrlich … Reden von dem geplanten Verbrechen, das ihr Gewissen nicht belasten würde … – Das war keine Komödie, Herr Doktor … Diese Frau, dieses Mädchen – und das vermag ich zu beurteilen – besaß den unnennbaren Reiz wahrer Vornehmheit …“

Der greise Jude nickte … Seine welke Hand hielt noch das Spitzentüchlein …

„Ja – wenn nur nicht gerade Harald Harst diese Frau so anders einschätzte …,“ meinte er. „Ein Harst wird niemals leichtfertig behaupten, jemand sei eine gefährliche Hochstaplerin – niemals! – Ich habe mich ja auch viel mit Kriminalistik beschäftigt, viel mit den anerkannten Genies unter den Detektiven … Harald Harst ist ein Genie und ein tadelloser Ehrenmann. – – Ich möchte Sie heute vormittag begleiten, Herr Graf … Ich möchte Harst einen … einen Wink geben … Mir ist da etwas eingefallen, was vielleicht den Dingen eine andere Wendung gibt … vielleicht …“

Tasso Algenberg stand plötzlich auf, trat neben den Lehnsessel, beugte sich zu Mandelstamm hinab und flüsterte:

„Herr Doktor, – auch mir … ist … ein besonderer Gedanke gekommen … Vielleicht … denken wir dasselbe … Herr Doktor, wenn dieser italienische Detektiv Gionino ein … Schwindler wäre, wenn er lediglich mit Hilfe falscher Papiere Harst für seine Sache gewonnen hätte! Für eine – unreelle Sache … Für eine Treibjagd gegen Leute, die er haßt …! Wenn Gionino überhaupt kein Detektiv wäre, sondern ein geriebener Verbrecher, sogar einem Harst überlegen!!“

Mandelstamm schaute auf …

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich …

Der greise Arzt erwiderte langsam:

„Wir haben dasselbe gedacht, Herr Graf … Genau dasselbe … Aber – wir wollen diese Gedanken nicht zu vorschneller Hoffnung umwandeln … Herr Graf: Ein Harst läßt sich nicht betrügen. Und – dieser Betrug, den der vielleicht „angebliche“ Gionino verübt haben sollte, wie wir vermuten, wäre doch so grobkörnig, daß ein Harst kaum darauf hineinfallen dürfte. Trotzdem werden wir mit aller Vorsicht heute vormittag dieses Thema berühren, diese Möglichkeit andeuten … Man darf Harst auch nicht verletzen, obwohl er nicht empfindlich ist …“ –

Algenberg wäre ja noch so sehr gern in Gesellschaft des greisen Herrn noch weiter diesen Vermutungen durch behutsames Ausspinnen von Gedanken nachgegangen. Aber er sah ein, daß er sich verabschieden müsse. Die Uhr ging auf drei …

So sagte er Mandelstamm denn Gute Nacht, bedankte sich herzlich für dessen Anteilnahme und betrat sein eigenes Zimmer …

Wie immer standen beide Fenster offen …

Die Geheimrätin wußte schon, daß Algenberg frische Luft liebte …

Tasso stellte sich an das eine Fenster und blickte hinaus auf den frischgrünen Park … Und über den uralten Bäumen des Kleistparkes wölbte sich jetzt ein klarer ausgestirnter Nachthimmel …

Ein Zufall, daß Tasso dann hinab auf die Straße blickte …

Dort rechts das Kammergericht …

Links die Augusta-Schule …

Dazwischen Garten … ein hohes Gitter …

Und an dem Gitter lehnte eine Gestalt – ein Mann …

Den Kopf zurückgebogen …

Blickte zu dem Hause empor …

Ob er Tasso bemerken konnte, war fraglich … Denn Algenberg hatte das Licht in seinem Zimmer noch nicht eingeschaltet …

Trat jetzt ein wenig zurück, der Graf …

Langte nach links – nach dem Schreibtisch, wo auch sein Feldglas stand …

Er nahm’s und stellte es ein …

Der Mann dort unten rieb jetzt gerade ein Zündholz an, setzte eine Zigarre in Brand …

Das Flämmchen beleuchtete sein Gesicht … erlosch.

Die wenigen Sekunden und das scharfe Glas hatten genügt …

Algenberg hatte gesehen, daß der dort unten unfehlbar ein Ausländer war … Es konnte ein Italiener sein … Konnte …

Vielleicht … Gionino …

Und dieser Gedanke erzeugte neue …

Tasso Algenberg schlüpfte in den Mantel …

Verließ die Wohnung …

Treppe hinab …

Bis zur verglasten Haustür …

Sah den Mann wieder …

Wartete …

Stand und sagte sich: „Ich bleibe, bis er geht!“

Brauchte nicht lange zu warten … –

Noch nie hatte Tasso im entferntesten es für möglich gehalten, daß eine Nacht käme, in der er hier im Häusermeer Berlins jemandem nachschleichen würde …

Das Unwahrscheinliche wurde Tatsache …

Algenberg folgte dem Manne …

Erinnerungen an Patrouillengänge aus der Zeit des großen Völkermordens tauchten in ihm auf …

Erinnerungen an Nächte, in denen er durch den Schlamm vor den Schützengräben gekrochen war, vorbei an stinkenden Leichen, die in zerfetzten Drahtverhauen hingen … Vorbei an anderen Toten, deren fahle Gesichter in der Dunkelheit unheimlich zu grinsen schienen.

Und jetzt: Patrouillengang gegen einen anderen Feind!

Er wunderte sich, daß er’s fertig bekam, von dem Manne nicht bemerkt zu werden …

Wunderte sich, woher ihm plötzlich die Einfälle kamen, dem mißtrauischen Menschen zu entgehen, der sich immer wieder umschaute, der deutlich zeigte, daß er all und jedem gegenüber Argwohn hegte …

Tasso Algenberg lächelte …

„Für dich, Hedwig!!“

Liebe – – vielleicht hatte die Liebe ihn so erfinderisch gemacht …

So erfinderisch, daß er zuweilen den Mantel auszog, über den Arm nahm … Ihn dann wieder umhängte … Um anders auszusehen …

Billige Tricks eines Laien … –

Der Mann ging bis zur Bülowstraße, bis in die Nähe des Wittenbergplatzes … Hier verschwand er in Nummer 111 …

Algenberg gab acht, wo ein Fenster in 111 hell würde …

Es wurde ein Fenster hell: Hochparterre rechts …!

Tasso schritt heim … wie ein Sieger …

Noch heute würde er wissen, wer der Mann war, der dort Bülowstraße 111 im Pensionat Wenter wohnte.

Denn: an der Haustür war ja ein großes Porzellanschild angebracht:

Fremdenheim Wenter:

Eleg. Zimmer. Hochparterre.
Mäßige Preise.
Zimmer frei.

 

7. Kapitel.

Was Harst zu sagen hatte …

Harst und Schraut daheim …

Jetzt ohne Masken, in bequemen Hausröcken …

In Harsts Arbeitszimmer …

Auf dem Sofatisch summt die Kaffeemaschine … Schraut stellt Mokkatäßchen auf den Tisch …

Harst liegt im Klubsessel, Mirakulum im Mundwinkel, hält in der Rechten die beiden Zettel … –

Vor zehn Minuten sind die Freunde heimgekehrt … Wollen noch plaudern, wollen das Erlebte bei duftendem Mokka erörtern.

Schraut füllt die Tassen …

Fragt zum zweiten Male – mit Engelsgeduld:

„Die Handschrift macht dich stutzig?“

Jetzt antwortet Harst …

„Ja – sehr stutzig … Wir werden Gionino nichts von den Zetteln sagen … Es war ganz gut, daß ich ihm abends verschwieg, wie der Graf die Papierkugel fischte … sehr gut …“

Schraut hält seine Tasse in der Hand und blickt den Freund forschend an …

„Wie – du mißtraust Gionino?“

„Längst …“

„Längst?! Und – – das hast du mir verschwiegen?“

„Weil ich annahm, daß auch dir der Kollege nicht mehr ganz einwandfrei erschien …“

„Ausrede!!“

„Aber lieber Alter, du kennst mich doch …“

„Ja – dein Versteckspielen …“

„Üble Bezeichnung für das, was es in Wahrheit ist … In Wahrheit ist’s ja nur der Wunsch, dich fortzubilden, deine Augen zu schärfen, deine Ohren hellhöriger zu machen … Nur das …“

„Danke!!“ Und Schraut trinkt, nimmt eine Zigarre und setzt sich …

Meint: „Wann begann dein Argwohn gegen den Kollegen aus Venedig?“

„Schon, als er hier zum ersten Male bei uns war … Er zeigte seinen Ausweis mit Lichtbild, er zeigte auch eine Empfehlung der Kriminalpolizei Venedig … Es war scheinbar gegen ihn nichts einzuwenden. Er bezahlte einen Teil des Honorars im voraus … Er legte uns das Schriftstück, daß der Herzog von Trescona ihn beauftragt habe, die Schatulle wieder herbeizuschaffen, vor … Alles stimmte … Nur eins nicht …“

Und Harst lächelte, trank einen Schluck Mokka …

„Nur eins nicht, Max Schraut …“

„Und das war?!“

„Seine Augen …“

„Augen?!“

„Ja, seine schwarzen Italiener-Augen … Die hatte er schlecht in der Gewalt … Die leuchteten in wildem Haß auf, wenn er von den Hochstaplern, den Hoteldieben sprach, besonders von der Blassen … – Mein Alter, dieser Gionino muß die Blasse besser kennen als wir’s ahnen … Dieser Gionino liebt die Blasse …“

Schraut schüttelte den Kopf …

„Hm – was du zuweilen vermutest!! Ein Detektiv – – eine Gaunerin lieben?! Woher – wieso?! Er betonte doch, daß er sie vorher nie gesehen habe, daß er erst durch diesen Diebstahl …“

„Er lügt,“ – und Harst langte nach einer neuen Mirakulum. „Er lügt bestimmt … Ich sah den Haß in seinen Augen, so deutlich, daß ich stutzig wurde … Er log … Er kennt die Blasse, und diese Lüge hielt meinen Argwohn wach …“

„Und ist dir sonst noch etwas aufgestoßen?“

„Nein … Denn Gionino ist schlau … – Es ist ja überhaupt ein Kriminalfall, der seine außerordentlich merkwürdigen Seiten hat … Vier Gauner sollen es sein, die die Schatulle stahlen … Gestohlen wurde eine Schatulle im Palast-Hotel in Venedig. Es stand in allen Zeitungen … Im Palast-Hotel, um uns auch dies ins Gedächtnis zurückzurufen, war das alte Herzogspaar abgestiegen. Nachts drangen Diebe in das Schlafzimmer ein und nahmen die Schatulle mit, Inhalt: Juwelen im Werte von rund einer Million! – Für den alten Herzog war das insofern ein unersetzlicher Verlust, als die Juwelen die letzten Vermögenswerte der Familie darstellten, denn die Landgüter der Tresconas, überschuldet und unter der Verwaltung betrügerischer Pächter, gehörten ihnen nur noch dem Namen nach … Erwähnenswert ist noch, daß die Herzogin eine Deutsche ist oder war, daß das alte Ehepaar vier Kinder besitzt und sich zurzeit bei Verwandten in Sizilien aufhält. – Und jetzt, mein Alter,“ fuhr Harst nach einem neuen Schluck Mokka fort, „können wir die Besonderheiten dieses Kriminalfalles ein wenig beleuchten. Zunächst die Person Gioninos, der auf den kriegerischen Vornamen Caesare hört. Er ist Inhaber eines Detektivinstituts in Venedig und unterhält zu der dortigen Polizei gute Beziehungen. Vor etwa vier Wochen erscheint er mit einem seiner Angestellten hier in Berlin und beglückt uns mit seinem Besuch. Bei uns ist gerade flaue Zeit … sehr flaue Zeit. Wir greifen also zu. Er erzählt uns, wie er in Venedig die Spur von vier internationalen Gaunern ausfindig gemacht und herausgebracht hat, daß dieses Konsortium moderner Raubritter den Diebstahl ausgeführt haben muß. Er kann uns nur die Beschreibung von zwei Leuten dieses Vierkleeblattes geben: der blassen Schlanken und des „Eleganten,“ der unter dem Namen Gomez Arlesio, angeblich Kaufmann aus Mailand, in der Rathenower Straße 64 wohnt. Unsere Bemühungen, die Wohnung der Blassen festzustellen oder die beiden übrigen Mitglieder des Konsortiums herauszufinden, bleiben ergebnislos. Heute nun erfahren wir durch den Grafen Algenberg, der sich in die Blasse verliebt hat, daß der „Elegante“ sich ihm als Herzog von Trescona vorgestellt hat und daß die „Blasse“ sich Hedwig mit Vornamen nannte und den Herzogstitel ihres angeblichen Bruders bestätigte …“

Schraut erlaubte sich jetzt, unauffällig zu gähnen, denn diese Ausführungen erschienen ihm überaus zwecklos, uninteressant und geradezu langweilig.

Harst meinte, denn ihm war dieses Anzeichen müder Gleichgültigkeit keineswegs entgangen:

„Du solltest alldem gegenüber weniger den … Blasierten markieren, mein Alter … Ich werde dich sofort wachrütteln … Reiche mir mal bitte aus dem sechsten Fach links den Band der illustrierten Zeitungbeilagen … – – So, danke … Du siehst, ich habe hier letztens die Beilage des Römischen Boten zugeheftet – letztens, vorgestern nämlich … Willst du dir freundlichst das Gruppenbild der vom Papst im Februar in Audienz empfangenen Vertreter des italienischen Uradels ansehen … Die Aufnahme ist sehr scharf und gut beleuchtet … In der vierten Reihe siehst du eine Dame und einen Herrn, die dir nicht fremd sind, und unter dem Bilde findest du auch ihre Namen …“

Schraut rückte seine Hornbrille zurecht …

Schaute hin … starrte hin …

„Donnerwetter – das ist ja die Blasse!!“

„Allerdings …!“

„Und der Name: Hedwig, Herzogin von Trescona!“

„Allerdings …!“

„Und der Herr, – – das ist … der „Elegante“ aus der Rathenower Straße … Und – – ich staune: Eberhard, Herzog von Trescona!!“

Schraut machte dabei ein Gesicht wie ein Südseeinsulaner, der zum ersten Male ein Flugzeug erblickt!!

Dann ließ er die Mappe sinken und fragte unsicher:

„Du hast das also schon gewußt, daß die beiden Hochstapler die Kinder des alten Herzogs sind?!“

„Ja – seit drei Tagen … Das heißt: ich vermutete, daß sie es sein könnten und daß hier nicht lediglich eine Ähnlichkeit vorliegen dürfte … Jetzt weiß ich’s durch Tasso Algenberg ganz bestimmt … Denn mag der Graf auch gerade kein großes Kirchenlicht sein, eins versteht er sicherlich: Echte und unechte Aristokraten zu beurteilen! Und er betonte, daß sowohl der „Elegante“ als auch „Hedwig“ auf ihn durchaus den Eindruck von …“

Harst brach mitten im Satz ab …

Schraut, der neben dem Klubsessel stand, beugte sich tiefer …

„Was gibt’s, Harald?!“

Harsts schmales Gesicht – dieses Gesicht mit all den Kennzeichen hochentwickelter Intelligenz, hatte sich jäh verändert …

Um einen Vergleich zu gebrauchen: Über eine helle klare Landschaft war ein Sonnenstrahl hingeglitten, hatte die Schönheiten noch deutlicher hervortreten lassen!

So auch in Haralds Antlitz die sprechenden Merkmale eines regen, nimmermüden Geistes …

Und wieder fragte Schraut:

„Dir ist ein neuer Gedanke gekommen?“

„Ja … vielleicht die Lösung … vielleicht die richtige Theorie … Was widerspruchsvoll erschien, zeigt sich mir in einer Reihe von Bildern, die man „Kampf um Gut und Ehre“ nennen könnte …“

Er trank die Tasse Mokka leer …

Stand auf …

„Nun zu Bett, mein Alter …! – Ich brauche dir wohl keine weiteren Erklärungen darüber abzugeben, was ich unter diesem Kampf verstehe … In den Hauptzügen wirst du dir das selbst sagen können … Und die Einzelheiten erfährst du noch frühzeitig genug …“

In dieser Weise wurde Schraut nicht zum ersten Male abgespeist. Nein, er war schon daran gewöhnt, in aller Bescheidenheit so zu tun, als wüßte er etwas, das er in Wahrheit nicht wußte …

Wie heute – wie jetzt …

So wünschten die Freunde sich denn gute Nacht und zogen sich in ihre Schlafzimmer zurück …

Max Schraut rauchte im Bett – eine üble Angewohnheit – noch eine halbe Zigarre … Rauchte und sann über die „Theorie“ nach, die Harst gefunden haben wollte …

Kampf um Gut und Ehre …!

Gewiß – es kam ihm wohl eine Art Erleuchtung … Aber diese Erleuchtung verblaßte wieder …

Unmöglich schien’s, was er sich da zusammenreimte …

Unmöglich …!!

Und doch hatte Harst die Blasse eine gefährliche Hochstaplerin genannt …

Die Blasse – die Herzogin Hedwig von Trescona.

Unmutig schaltete Schraut seine Nachtlampe aus und legte die Zigarre weg …

Er fand keinen Reim für all diese Dinge, die mit zum Falle des blassen Antlitzes gehörten …

Und schlief ein …

 

8. Kapitel.

Die unechte Nichte.

Ein Frühlingssonntag für Berlin …

Morgens um acht bereits zwölf Grad Wärme. Tiefblauer Himmel, Windstille, lachender Sonnenschein …

In den Straßen geputzte Menschen – Ausflügler … Junge Mädchen, gekleidet wie für eine Temperatur von zwanzig Grad …

Trupps von Wandervögeln … Frohe Gesichter … Sonne in den Augen, Frühlingsahnen im Herzen …

Ein Tag der Freude, der Erholung, des Naturgenusses … –

Dort, wo in den nördlichsten Straßen Moabits sich noch winzige Fachwerkhäuschen zwischen neueren Mietskasernen scheu zusammenducken, als schämten sie sich ihrer Kleinheit und ihres Alters, dort besaß der Schmiedemeister Georg Henniger, der fünfundsechzigjährige[8], ein von Eltern und Großeltern ererbtes Grundstück, eins dieser Häuschen mit Vorgarten und hinter dem Hause liegenden Obstgarten …

Blitzsauber das niedere Gebäude … Vor Wochen frisch gestrichen, das Dach ausgebessert, der Zaun erneuert …

Links eine Toreinfahrt, mächtige Torflügel: die Schmiede! Rechts davon zwei Fenster, dann die eigentliche Haustür, wieder zwei Fenster … Darüber ein altmodisches geschweiftes Dach, unter dem noch zwei Mansardenstübchen Platz gefunden hatten. –

Vater Georg Henniger saß mit Frau und Sohn am Kaffeetisch hinten in der an die Hauswand angeklebten Weinlaube.

Mutter Annas Sonntagskuchen fand kaum Beachtung …

Die drei Hennigers zeigten bedrückte, ernste Gesichter.

Und doch: wie erquickend, wie schön war der Ausblick auf den Obstgarten mit den alten Bäumen … Die Pfirsichbäumchen blühten … Die Obstbäume waren wie beschneit … Tulpen reckten vielfarbig in den Beeten ihre Glockenköpfchen zum Himmel empor …

Henniger sagte nach längerem Schweigen:

„Mutter, sie ist noch nie die Nacht über weggeblieben … Überhaupt …“

Das weitere verschluckte er …

Robert, der verwachsene Sohn, dessen edelgeformter Kopf so tief zwischen den mächtigen Schultern saß und dessen braune Augen beständig den stillen inneren Jammer über die körperliche Mißgestaltung verrieten, führte auf seine Art den Satz des Vaters fort …

„Überhaupt hätten wir sie energischer warnen sollen … Berlin ist nun mal ein gefährliches Pflaster …“

Frau Anna hatte Tränen in den Augen …

„Ihr macht mich ganz bange, ihr beiden … Sie hat ihre eigenen Wege … Sie wird schon noch kommen … Und …“

… Und schwieg … Die Angst um den jungen Gast schnürte ihr die Kehle zusammen … Sie glaubte selbst nicht an ihre Worte …

„Wenn sie bis zehn nicht da ist,“ erklärte Meister Henniger energisch, „dann gehe ich zur Polizei …!“

Frau Anna fuhr auf …

„Nur das nicht …! Das darfst du nicht, Vater! Was willst du dort angeben?! Hat sie uns nicht immer wieder gebeten, sie in jedem Falle für unsere Nichte gelten zu lassen?! – Vater, niemals dulde ich das!“

Henniger lachte rauh …

„Weiß Gott, ich habe sie gern … Aber – so manches Mal ist mir bei all der Geheimniskrämerei nicht wohl gewesen! Wochenlang einen Gast im Hause – – und doch keine Ahnung, was sie hier treibt!! Das geht wider meine Natur …! Ich ahnte schon, daß all das mal ein böses Ende nehmen würde …“

Robert Henniger meinte kampflustig:

„Vater, traust du ihr etwas Schlechtes zu?! Ich – – niemals!“

Der alte Schmiedemeister warf seinem Einzigen einen eigentümlichen Blick zu … Halb bedauernd, halb gereizt …

„Schlechtes – nein! Die feinen Leute sind von anderem Schlage wie wir … Was wir mit unserer unverdorbenen Moral vielleicht als Sünde betrachten würden, das halten die, denen in den Adern anderes Blut fließt, für erlaubt …“

Jetzt rief auch Frau Anna ganz empört:

„Vater, du redest um die Sache herum … Eine junge Dame wie sie, die uns hier liebe Hausgenossin geworden, tut nichts Unrechtes …!“

„Bravo, Mutter!“ bekräftigte der Verwachsene diese Verteidigung. „Vater ist zu altmodisch geblieben … Genau wie mit unserem Grundstück … Eine viertel Million hat man uns geboten … Wir könnten sorgenlos leben und eine kleine Fabrik …“

„Narrenspossen!“ fauchte Henniger. „Ich weiß, was ich tue … Mein Lebtag habe ich’s gewußt … Dieser Grund und Boden bleibt unser …! Leiden wir denn Not?!“

Schweigen …

Im Garten pfiffen die Stare …

Und rechts und links von dieser Oase des Friedens erhoben sich die grauen himmelhohen Mauern der Mietskasernen …

Wie in einem Felsental lagen Häuschen und Garten.

Mutter Henniger fragte schüchtern:

„Und – und wenn sie nun wirklich bis … bis zehn nicht wiederkommt, Vater?!“

Der Meister blickte in seine Tasse … neben seine Tasse …

Dort lag die Morgenzeitung …

Dort fiel ihm in dem aufgeschlagenen Blatt ein Name ins Auge …

Er faßte in die Westentasche, klemmte den Kneifer auf die Nase und las …

Mit einem Male nickte er …

„Jetzt weiß ich, was ich tue … Hier steht was, Mutter … Ein Name … Hier steht was über den Detektiv Harald Harst … Über die Geschichte vom rätselhaften Gast in Wannsee[9] … Ihr besinnt euch … Harst hat die Sache nun aufgeklärt … Harald Harst …! – Mutter, wenn sie bis zehn nicht hier ist, fahre ich zu Harst. Geschehen muß etwas. Wir können die Hände nicht in den Schoß legen … Ihr muß etwas passiert sein … Gestern, Sonnabend, begab sie sich nachmittags wie immer in den Tiergarten … Und ist seitdem weggeblieben, hat uns keinerlei Nachricht geschickt … Die ganze Nacht weg … Das darf man nicht so hingehen lassen, Mutter … Und bei Harst, Mutter, – das ist ganz etwas anderes als mit der Polizei … Herr Harst redet nicht. Ihm kann man alles mitteilen …“

Robert Henniger nickte eifrig …

„Vater, das ist ein guter Gedanke … Wär’s nicht am besten, wenn du sofort nach dem Kaffee hinfahren würdest?! Weshalb noch anderthalb Stunden warten?!“

Der Meister überlegte …

„Eigentlich hast du ja recht, Robert … Weshalb warten?! Wenn ihr nichts zugestoßen wäre, würde sie uns doch angerufen haben … Wir haben ja Telephon … Und sie weiß auch, daß wir uns sorgen um sie … – Gut, ich fahre …!“

* * *

Im Harstschen Familienhause ein ähnliches Bild …

Hier nur an der Rückseite des Hauses eine Glasveranda …

Hier ebenfalls ein Kaffeetisch … Drei Personen darum: Frau Auguste Harst, ihr Sohn und Max Schraut!

Auch hier ein Sonntagskuchen, den die Köchin Mathilde gebacken …

Nur – hier aß man mit bestem Appetit …

Harst sagte lachend:

„Mein lieber Alter, du hast bereits das achte Stück Napfkuchen am Wickel! Und dann wunderst du dich, wenn dein Bäuchlein Speck ansetzt?! – Fett ist Ballast.“

Schraut zog ein trauriges Gesicht …

„Ein Elend ist’s, wenn man zum Starkwerden neigt!! – Nun, dafür werde ich nachher den Gemüsegarten sprengen und …“

„… zum Frühstück doppelten Appetit entwickeln …,“ ergänzte Harst …

Die drei lachten …

Hier herrschte Sonntagsstimmung …

Dann – es war ein Viertel zehn – erschien Mathilde …

Ihr Anblick war für Schraut stets ein Trost …

Denn so dick wie Mathilde war er noch lange nicht.

„Ein alter Herr ist da,“ meldete die Köchin. „Herr Schmiedemeister Henniger aus Moabit … Er möchte Sie sprechen, Herr Harald … Ich habe ihn ins Herrenzimmer geführt …“

Und sie watschelte davon wie eine eilige fette Ente.

„Hm – Moabit?!“ meinte Harst … „Vielleicht Rathenower Straße 64 … Wer kann wissen …“

Schraut verstand sofort …

„Wegen Gomez Arlesio alias Eberhard Trescona vielleicht …“

Frau Harst seufzte kläglich …

„Selbst Sonntags läßt man euch nicht in Ruhe!!“

„Ach nein, Mutter … selbst Sonntags nicht … Um elf kommt Graf Algenberg, vielleicht auch der edle Kollege Caesare Gionino …“

Meister Henniger saß in Harsts Arbeitszimmer und staunte …

Also so sah es bei dem berühmten Detektiv aus!

Vornehm – gediegen – alles … Dafür hatte der Meister einen Blick …

Dann traten Harst und Schraut ein …

Henniger atmete erleichtert auf, als die Herren ihn äußerst liebenswürdig begrüßten …

Schraut hielt ihm eine Zigarrenkiste hin … „Sonntagsmarke, Herr Henniger …“

Oh – das ging alles so gemütlich zu … So ganz anders, als er sich’s vorgestellt hatte …

„So, Herr Henniger,“ meinte Harst, der eine Zigarette rauchte, „– was quält Sie?“

„Herr Harst, das ist eine lange Geschichte … Ich darf wohl hoffen, daß die Herren über all das schweigen werden …“

„Selbstverständlich …“

„Nun denn – ich wohne Moabit, Bahnstraße 6 … Eigenes Häuschen … Es gehört uns Hennigers seit zweihundert Jahren … – Meine Frau war nun als Mädchen Zofe bei der Komtesse Hedwig Praßmar, die nachher den italienischen …“

„Herzog von Trescona heiratete …,“ vollendete Harst …

Meister Henniger ruckte zusammen …

„Wie, Sie kennen die Herzogsfamilie, Herr Harst?“

„Einige Mitglieder … Das Herzogspaar hat eine Tochter namens Hedwig, die jetzt in Berlin weilt …“

Henniger stammelte:

„Ja – bei uns – – als Gast … seit einem Monat, Herr Harst … Denn meine Frau und die Frau Herzogin stehen im Briefwechsel, und wir haben aus alter Anhänglichkeit die Hedwig … die junge Herzogin Hedwig sehr gern bei uns aufgenommen, obwohl sie doch – ich bin nicht für Geheimniskrämerei, Herr Harst – sofort erklärte, wir sollten sie für unsere Nichte ausgeben und nicht weiter fragen, was sie hier in Berlin zu erledigen hätte … Wir wissen denn auch nichts davon, was sie hier trieb, Herr Harst … Sie ging oft aus, und manchmal kam sie erst um Mitternacht heim … Dabei trug sie sich sehr bescheiden, half meiner Frau in der Wirtschaft und besorgte den Garten … Gestern, Sonnabend nun, besuchte sie nachmittags wie immer den Tiergarten … Seitdem ist sie nicht zurückgekehrt, Herr Harst … Die ganze Nacht nicht … Sonst, wenn sie mal länger ausblieb, telephonierte sie, damit wir uns nicht ängstigen sollten … Ich … ich fürchte, daß ihr etwas zugestoßen ist. Deshalb kam ich zu Ihnen … Denn zur Polizei möchte ich nicht gehen … Hedwig – – die junge Herzogin Hedwig, hat uns so dringend gebeten, ihren wahren Namen niemandem zu verraten …“

Harst und Schraut tauschten einen langen Blick …

Dann fragte Harst:

„Empfing die Herzogin Besuch bei Ihnen?“

„Nie …“

„Ist sie allein in Berlin oder noch mit einem ihrer Angehörigen, der vielleicht anderswo wohnt?“

„Allein, Herr Harst. … Ihre Eltern und Geschwister sind in Sizilien …“

„Und die Herzogin hat sich nie im geringsten darüber geäußert, was sie hier in Berlin zu erledigen hat? Haben Sie nicht vielleicht durch Zufall etwas darüber erfahren?“

„Nichts – nichts, Herr Harst … Sie hat nur gestern vormittag gesagt, daß sie in den nächsten Tagen abreisen würde – vielleicht Mittwoch, meinte sie … Meine Frau war ganz traurig darüber … Man muß die Hedwig ja liebgewinnen … So gar nicht stolz und so arbeitsfreudig … Nur … immer traurig, Herr Harst … Gerade so, als ob irgend etwas sie bedrückt … Sie muß einen geheimen Kummer haben … Vielleicht der Schatulle wegen … Ihren Eltern sind nämlich in Venedig die Familienjuwelen gestohlen worden, Herr Harst … Ich las das schon in der Zeitung, bevor Hedwig noch zu uns kam …“

Harst meinte nur: „Ja – ich weiß von dem Diebstahl … – Erhielt die Herzogin Briefe?“

„Nie, Herr Harst …“

„Hat Sie viel Gepäck mitgebracht?“

„Nur einen kleinen Koffer, eine Handtasche und einen Schirm – alles sehr einfach …“

„Dann, Herr Henniger, müssen wir zunächst mal ihren Koffer durchsuchen … Das ist absolut nötig … Wir werden im Auto zu Ihnen fahren, mein Haus aber durch den Gemüsegarten verlassen …“

Er trat ans Fenster …

Die Tüllvorhänge waren geschlossen, und durch die Vorhänge beobachtete er nun eine Weile die Straße, wandte sich dann an Schraut:

„Halte mal am Hinterzaun erst Ausschau, mein Alter …“

Schraut verschwand …

Henniger meinte zögernd:

„Herr Harst, es widerstrebt mir, den Koffer der jungen Herzogin zu öffnen … Ginge es nicht ohne …“

„… nein, es geht nicht, Herr Henniger. Es muß sein. Ich will Ihnen auch nicht vorenthalten, daß ich Ihre Besorgnisse um das Wohl und Wehe der Herzogin durchaus teile … Es spielen hier Dinge mit, über die ich noch nicht sprechen möchte. Seien Sie aber überzeugt, daß ich nur so handele, wie ich es für meine Pflicht erachte …“

Schraut kehrte zurück …

„Alles in Ordnung,“ meldete er …

In demselben Augenblick schlug die Flurglocke an …

Es war Tasso Algenberg …

 

9. Kapitel.

Blutspuren am Fenster …

Harst begrüßte ihn im Flur …

„Herr Graf, Sie werden so freundlich sein müssen und hier eine Stunde warten … Schraut und ich haben noch etwas zu erledigen … Setzen Sie sich bitte hier in Schrauts Arbeitszimmer …“

Algenberg wollte die große Neuigkeit von der verflossenen Nacht doch nicht länger für sich behalten …

„Herr Harst, ich habe vielleicht Wichtiges zu melden,“ meinte er. „Ein Mann hat nachts mein Haus beobachtet … Ein Italiener anscheinend … Ich bin ihm nachgeschlichen … Er wohnt Bülowstraße 111 im Pensionat Wenter …“

Harst stutzte …

„Ein Italiener, glauben Sie?“

„Ja … Vielleicht ist es Gionino oder dessen Angestellter gewesen …“

„Nein, die wohnen anderswo … Wie sah der Fremde aus?“

„Mittelgroß, schlank, schwarzen, etwas herabhängenden Schnurrbart und starke X-Beine … Die Körperhaltung vornübergebeugt … schlaff … Der Gang schleppend …“

„Bravo!“ lobte Harst ehrlich. „Sie arbeiten sich schnell ein, Herr Graf … Nicht lange, und Sie können mir Konkurrenz machen.“

„… Täte ich gern! Besser, als Kontorschemelreiter spielen, weit besser! Ich würde mich freuen, wenn Sie mir dergleichen Arbeit zuweisen wollten, Herr Harst.“

„Oh – das kann geschehen, Herr Graf … – Bitte – hier hinein … So, drüben bei mir ist nämlich ein neuer Klient … Setzen Sie sich …“ Seine Stimme klang ernster … „Ich muß Ihnen ebenfalls eine Neuigkeit berichten, Herr Graf … Nichts Gutes für Sie … Ich weiß ja, daß Sie den Glauben an Ihr „blasses Gesicht“, an Hedwig, nicht verloren haben und daß dieser Glaube … vielleicht berechtigt ist … Die junge Dame ist seit gestern nachmittag nicht in ihre Wohnung zurückgekehrt, und der Herr, bei dem sie als Gast weilt, hat soeben hier bei uns …“

Algenberg sprang auf …

„Verschwunden?!“ rief er erschrocken. „Etwa – verunglückt?!“

„Ruhe bitte – – Ruhe! – Vorläufig kann man weder von Verschwinden noch von Verunglücktsein sprechen … Wir wissen nur, daß die Herzogin Hedwig Trescona das Häuschen des Schmiedemeisters Henniger seit gestern halb fünf Uhr nicht wieder betreten hat … Ich würde Sie nun bitten, lieber Graf, hier bei uns zu warten, und, falls Signor Gionino erscheint, sich mit ihm harmlos zu unterhalten, wobei Sie jedoch folgendes nicht erwähnen dürfen …“

Er gab ihm ganz genaue Verhaltungsmaßregeln, die Tasso denn auch aufs genaueste einzuhalten versprach.

Harst ließ den Grafen dann allein, sagte noch der Köchin Mathilde Bescheid, und befahl ihr, Algenberg Zigarren, Zigaretten und Likör in Schrauts Arbeitszimmer zu bringen.

Dann begaben sich die beiden Detektive und Meister Henniger durch den Gemüsegarten auf den Feldweg, erreichten die Blücherstraße weit ab vom Harstschen Hause und fuhren im Auto nach Moabit, nachdem Harst noch sehr sorgfältig darauf achtgegeben hatte, ob auch kein Spion in der Nähe – keiner von Gioninos Spionen, denn daß der italienische Kollege hier in Berlin nicht lediglich mit einem Gehilfen arbeitete, erschien Harst nunmehr gewiß.

In einer knappen Viertelstunde waren die drei in der Bahnstraße vor dem blitzsauberen Häuschen angelangt, wo Frau Henniger die Detektive[10] freudig begrüßte, da sie von deren Eingreifen sich eine schnelle Lösung der sie so sehr beunruhigenden Frage versprach, ob das Ausbleiben der jungen Herzogin wirklich ernstere Ursachen haben könnte.

Robert, der verwachsene Sohn des Ehepaares, hielt sich scheu und bescheiden im Hintergrund, obwohl gerade er durch das Verschwinden des hochstehenden Gastes mit am härtesten getroffen worden war.

In dem schlichten Herzen des mißgestalteten Schmiedegesellen war ja nur zu bald nach Hedwigs Einzug in das behagliche Häuschen eine tiefe, schmerzliche Neigung für die schlanke, freundliche italienische Kontessa aufgekeimt – schmerzlich, weil er sehr wohl wußte, daß diese Liebe stets vollkommen aussichtslos bleiben mußte.

Vater Henniger führte nun die Herren in den Oberstock hinauf, wo Hedwig die beiden Mansardenzimmer innehatte – das kleinere als Schlafraum, das größere als Wohngemach …

„Ich muß die Wohnzimmertür mit einem Sperrhaken öffnen,“ meinte Henniger jetzt. „Die Herzogin hat abgeschlossen und die Schlüssel mitgenommen … – So … das wäre gemacht … Bitte einzutreten …“

Im Wohnzimmer gab es nichts Besonderes zu sehen …Anders in dem Schlafstübchen … Die Verbindungstür war nur angelehnt gewesen …

Das Stübchen hatte nur ein Fenster … Harst bemerkte sofort, daß die eine Scheibe eingedrückt war …

Und gleichzeitig rief auch schon der alte Henniger:

„Ah – – der Koffer ist erbrochen …!! Der Inhalt zur Hälfte auf den Dielen …! Hier haben Einbrecher gehaust …!“

Harst äußerte sich zunächst nicht …

Winkte dem Meister … „Bleiben Sie bitte in der Tür stehen …“

Auch Schraut stellte sich neben Henniger, der nun das Tun und Treiben des berühmten Detektivs mit jener Neugier beobachtete, die die einfacheren Leute aus dem Volke für die ihnen ebenso unbegreiflich wie geheimnisvoll erscheinende Arbeit eines so weltbekannten menschlichen Spürhundes empfinden mögen.

Harst stand mitten in dem kleinen Raume und ließ seine grauen, halb zugekniffenen Augen langsam über die einzelnen Gegenstände hingleiten …

Zuweilen haftete sein Blick eine längere Zeit auf eine Stelle …

Dreimal drehte er sich bei dieser Prüfung der Örtlichkeit um sich selbst …

Dreimal schaute er mit einem kaum merklichen nachsichtigen Lächeln den erbrochenen Koffer an …

Dann schritt er zu dem schmalen Fenster …

Das Loch in der mittleren Scheibe war mit Hilfe eines mit grüner Seife beschmierten Leinwandlappens eingedrückt worden. An den Rändern des Loches hafteten noch Seifenreste, und an einer spitzen Zacke zeigten sich geringe Blutspuren …

Harst wandte sich nun Meister Henniger und seinem Freunde Schraut zu …

„Anfängerarbeit!“ sagte er. „Ein vollkommener Neuling war hier tätig … – Ich will jetzt einmal sehen, welchen Weg der Mann genommen, der nicht einmal klug genug war, Handschuhe anzuziehen, und der daher auf den Fensterscheiben die wunderbarsten Fingerabdrücke zurückgelassen hat, die ich jemals an einem Tatorte fand …“

Er öffnete das Fenster und kletterte auf das Dach hinaus, wo er sehr bald an Schrammen und Kratzern in den Ziegeln genau feststellen konnte, daß[11] der Dieb sich nach links, nach einer Bodenluke zu bewegt hatte.

Inzwischen war Schraut nach kurzer Besichtigung des Koffers niedergekniet und hatte den verstreuten Inhalt des im übrigen sehr einfachen und billigen Koffers Stück für Stück auf das unbenutzte Bett gelegt, so daß Harst bei seiner Rückkehr ins Zimmer mit einem Blick diese kleine Ausstellung der verschiedenartigsten Gegenstände überfliegen konnte.

Vater Henniger stand dabei und schwieg …

Harst trat neben ihn …

„Ob die Herzogin denn Wertgegenstände mit sich führte?“ fragte er etwas zerstreut.

Henniger schüttelte mit einem halb traurigen Lächeln den Kopf …

„Wertsachen?! Woher?! Die Tresconas sind ein armes Geschlecht. Ihr letztes wirklich wertvolles Gut waren die Juwelen der alten Herzogin, der geborenen Gräfin Praßmar … Die Schatulle wurde gestohlen, und unser lieber Gast betonte hier mehr als einmal, daß sie nur über ganz geringe Mittel verfüge …“

Harst beschaute dann flüchtig die Gegenstände auf dem Bett … Er tat es ohne Interesse. Wer ihn näher kannte, merkte, daß er mit seinen Gedanken weit weg war …

Oder – doch nicht so weit weg?!

Denn jetzt bat er Meister Henniger, ihm doch auch die übrigen Bodenräume zu zeigen. Schraut ging mit. Harst kam es offenbar nur auf das eine Bodenfenster an, das dem Diebe zum Hinaussteigen auf das Dach gedient hatte. Davon erwähnte er jedoch nichts, obwohl er unterhalb dieses Bodenfensters auf den Dielen etwas bemerkte, das ihm sehr zu denken gab.

Man begab sich dann wieder nach unten, wo Mutter Henniger den beiden Herren in der Laube eine Erfrischung anbot. Robert, der Verwachsene, hielt sich wieder scheu abwärts, wurde dann aber doch von Harst in ein kurzes Gespräch verwickelt.

Harst erklärte nachher beim Abschied den Hennigers, daß er vorläufig über den Verbleib der jungen Herzogin natürlich nichts Bestimmtes äußern könne, daß er aber vielleicht schon abends etwas Sicheres werde berichten können.

Dann verließen die beiden Detektive das kleine Paradies und fuhren in einem Auto, dem sie zufällig begegneten, nach der Rathenower Straße 64, wo sie im Hochparterre links an der Flurtür die Karte des Signore Gomez Arlesio mit einer Heftzwecke befestigt fanden …

Gomez Arlesio war nicht daheim, wie die alte Frau, bei der er möbliert wohnte, mit einem ungeheuren Wortschwall erklärte …

„Der Herr Arlesio ist in dieser Nacht zum ersten Male, seit er mein Mieter ist, überhaupt nicht heimgekommen … Er ist sonst sehr solide, der Herr Arlesio, und ich wünschte, daß alle …“

Sie wollte sich jetzt unfehlbar auf das Gebiet moralischer Grundsätze verirren und war überaus enttäuscht, als die beiden freundlichen Herren ihr kurzerhand für die Auskunft dankten und wieder verschwanden.

Harst hatte das Auto warten lassen. Als es wieder anruckte, meinte er zu Schraut:

„Nun, mein Alter?! Also auch Hedwigs Bruder ist verschwunden … Wie denkst du darüber?“

Schraut entgegnete kurz:

„Man hat Bruder und Schwester … geklappt …“

„Ja … – man!! Wer aber?!“

„Nach deinen Reden der verflossenen Nacht kommt Gionino in Frage …“

„Gewiß … Und nun bleibt uns die Aufgabe, herauszubekommen, wo Gionino die beiden gefangen hält …“

„Stimmt, Harald … Und Gionino oder einer seiner Leute hat auch den Einbruch bei Henniger verübt.“

Harst lachte leise auf …

„Irrtum!! Den Einbruch hat der bucklige Robert Henniger auf dem Gewissen … nur der!!“

Schraut blickte den Freund unsicher an …

„Machst du Witze mit mir?!“

„Nein … Dazu liegen die Dinge denn doch zu ernst … Frage nicht weiter … Ich habe nachzudenken.“ Und er zog sein Zigarettenetui und rauchte mit geschlossenen Augen vier seiner parfümierten Mirakulum. Dann war das Auto in der Blücherstraße vor Nummer 10 angelangt …

 

10. Kapitel.

Dichtung und Wahrheit.

Tasso Algenberg saß in Schrauts Arbeitszimmer und studierte die Sonntagmorgenzeitung, die ihm Mathilde gleichfalls gebracht hatte, damit er sich nicht langweile …

Aber Tassos Gedanken waren nicht bei der Sache.

Die Nachricht, daß sein geliebtes blasses Antlitz verschwunden sei, beunruhigte ihn stets von neuem …

Unwillkürlich malte er sich allerhand Möglichkeiten aus, was Hedwig zugestoßen sein könnte. Seine Phantasie erhitzte sich dabei immer mehr, und schließlich legte er die Zeitung beiseite und begann unstät in dem elegant eingerichteten Zimmer hin und her zu laufen.

Zuweilen blieb er stehen und musterte die Bilder an den Wänden, von denen zahllose Photographien noch aus Schrauts Schauspielerzeit stammten.

Dann hörte er draußen vor dem Hause ein Auto vorfahren …

Er nahm an, es seien die Detektive, schaute hinaus, gewahrte nun aber einen kleinen geschmeidigen bartlosen Herrn von südländischem Typ, der den Schofför ablohnte und dann mit merkwürdig gezierten tänzelnden Schritten auf die Haustür zukam …

Gionino – Caesare Gionino ohne Zweifel! dachte Algenberg und erinnerte sich an die Instruktionen, die Harst ihm erteilt hatte.

Gionino läutete.

Mathilde ließ ihn ein und öffnete links die Tür …

„Bitte … Hier wartet schon Herr Graf Algenberg …“ – Auch sie hatte ihre genauen Anweisungen erhalten … Sie betonte das „Graf“ besonders, denn ebenso sehr wie ihr Tasso Algenberg auf den ersten Blick gefallen hatte, genau so sehr war der Italiener, der ja schon häufiger dagewesen war, geradezu widerwärtig …

Gionino tänzelte auf Algenberg zu, verneigte sich, lächelte süßlich, stellte sich vor …

„Caesare Gionino, Detektiv aus Venedig …“

Hinter ihm schloß Mathilde die Tür und zog ein Gesicht, als ob sie Essig getrunken … „Affe!!“ dachte sie … Und sie wählte diese Injurie, weil sie annahm, daß in Italien Affen hausten wie hier die Eichhörnchen …

Algenberg verbeugte sich genau so liebenswürdig …

„Ich hab bereits von Ihnen gehört, Herr Gionino … Herr Harst scheint große Stücke auf Sie zu halten …“

Gionino rief theatralisch:

„Wirklich?! Oh – das freut mich sehr – – sehr! Von einem so hervorragenden Manne wie Harst gelobt zu werden, ist besser als eine Anerkennung Mussolinis … unseres Nationalhelden … Sie kennen ihn doch, verehrtester Herr Graf?“

„Ja – durch die Zeitungen … Setzen wir uns, Herr Gionino …“

Der Italiener streifte langsam die braunen Lederhandschuhe von den seiner ganzen Figur entsprechenden schlanken Händen.

Die ungekünstelte vornehme Ruhe Algenbergs veranlaßte ihn, seine quecksilbrige Beweglichkeit einzudämmen. Er verstand es trefflich, sich stets den Eigentümlichkeiten dessen anzupassen, mit dem er sich gerade unterhielt.

Nur seine dunklen, ruhelosen Augen hatte er schlecht in der Gewalt. Wenn sein Blick dem kühl-abwartenden des deutschen Grafen begegnete, huschte dieser Blick stets wieder wie ein flinkes Mäuslein zur Seite.

Algenberg deutete auf die Zigarren, Zigaretten und den Likör …

„Wenn Sie sich bedienen wollen, Herr Gionino …“

Der Italiener beherrschte das Deutsche ziemlich fließend …

„Wenn’s gestattet ist …“ – und er nahm eine Zigarette …

Tasso Algenberg war kein bedeutender Menschenkenner … Aber dieser Gionino – nein, der Mann behagte ihm nicht … Bei dem fühlte man geradezu heraus, daß alles Mache und Theater war … Das war einer von jenen Vertretern des Detektivberufes, die den gesamten Stand in Mißkredit bringen …

Und wie recht er mit dieser Beurteilung hatte, zeigte sich nun, als Gionino so ganz von hinten herum ihn auszufragen suchte …

Algenberg war auf der Hut …

Erklärte, daß er die „blasse Dame“ gestern abend nun endlich persönlich kennen gelernt habe und daß dann die beiden Freunde Harst und Schraut plötzlich aufgetaucht seien …

Weder von der Papierkugel noch dem zweiten Zettel erwähnte er auch nicht eine Silbe, ganz wie Harst es gewünscht hatte …

Gionino forschte nach Einzelheiten …

„Sie wissen also nun, daß die Dame eine Hochstaplerin ist, Herr Graf …?“

„Freilich, Herr Gionino … Und ich bin recht schmerzlich berührt davon, daß ein äußerlich so vornehmes Wesen wie diese meine Tiergarten-Bekanntschaft Ihnen Arbeit bereitet …“

Kein Wort, daß die „Blasse“ sich ihm als die Herzogin von Trescona zu erkennen gegeben …

„Ihre Aussprache mit der das Auto lenkenden … Person dauerte also nur kurze Zeit?“ meinte Gionino mit wohlberechneter Gleichgültigkeit …

„Ein paar Minuten … Und der Inhalt dieser Unterredung war leider gänzlich belanglos …“

„Hm – belanglos vielleicht nach Ihrer Ansicht … – Was sagte denn Harst dazu?“

„Er war enttäuscht … – In der Hauptsache betonte die Blasse nur, daß ich an ihr nicht irre werden solle, was auch passieren möge …“

„Redensarten!!“ lächelte Gionino. „Diese Weiber, die dem Gesetz bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen schlagen, verstehen es vorzüglich, sich in Szene zu setzen.“

Ah – – da glomm in des Italieners Augen ein besonderes Funkeln auf …

Algenberg spürte den Haß, den Gionino gegen Hedwig Trescona hegte … spürte ihn mit aller Deutlichkeit …

Und lächelte trotzdem, dieser edle Caesare Gionino.

Algenberg hätte … zuschlagen mögen …

Biß so kräftig auf das Mundstück seiner Zigarette, daß seine Zähne leise knirschten …

Gionino hörte den unangenehmen[12] Ton, blickte den Grafen einen Moment prüfend an …

Pause …

Die beiden rauchten …

Zwischen ihnen lagerte eine Wolke versteckter Feindseligkeit … –

Gionino war in seinem Fach kein Dummkopf …

Er empfand unklar, daß der Graf ihm mancherlei vorenthalten hatte … Grübelte nun darüber nach, ob etwa Harst hier diesem harmlosen Menschen Verhaltungsmaßregeln erteilt haben mochte … Ein Gefühl der Unsicherheit überkam ihn … Seine erkünstelte Ruhe schwand unter dem Druck dieser Gedanken …

Dann fragte er wieder:

„Wissen Sie eigentlich, Herr Graf, wo die beiden Herren hingefahren sind?“

„Nein … Jedenfalls holte ein neuer Klient sie ab. Es war eine eilige Sache …“

Wieder Schweigen …

Die Wolke von Feindseligkeit verstärkte sich …

Gionino dachte jetzt immerfort daran, daß das „blasse Antlitz“ und dieser deutsche Graf miteinander in Beziehungen getreten waren, die deutlich bewiesen, daß die „Blasse“ an Algenberg Gefallen gefunden …

Und Gioninos Blicke wurden noch dunkler von verstecktem Haß und boshafter Tücke …

Um seine Mundwinkel zuckte es …

Hämische Freude erfüllte ihn … –

Draußen das Geräusch eines Autos …

Der Kraftwagen hielt …

Es waren Harst und Schraut.

Algenberg atmete jetzt doch erleichtert auf. Dieses Beisammensein mit dem Italiener hatte an seine Nerven, an seine geistige Spannkraft doch fast zu hohe Anforderungen gestellt. Er fühlte sich erschöpft und müde. Er begrüßte die beiden mit festem Händedruck und war froh, als er nun lediglich den Zuhörer zu spielen brauchte.

Aber dieses Zuhören war hier ein Genuß besonderer Art …

Man war in Harsts Arbeitszimmer hinübergegangen. Man saß zu vieren um den Sofatisch herum …

„Kollege,“ wandte Harst sich lebhaft an den Italiener, „wir können Ihnen eine Neuigkeit mitteilen, die Sie niemals ahnen werden – auch Sie nicht, Graf Algenberg … – Denken Sie, Gionino, wir haben endlich die Wohnung der „Blassen“ ermittelt …“

Harst spielte hier ein feines Spiel …

Harst handelte nach einem sorgfältig erwogenen Plane …

Und – Gionino biß auf den Köder an …

„Nicht möglich!“ rief er … „Wie haben Sie das zustande gebracht?“

„Wir sind der „Blassen“ gefolgt …“

„Heute?!“ platzte der Italiener dazwischen … Und sein Gesicht verriet dabei mancherlei …

„Lassen Sie mich doch aussprechen … Wir sind der „Blassen“ gefolgt – viele Tage, stets ohne Erfolg! Das wollte ich sagen … Heute fiel uns der Erfolg mühelos in den Schoß – – eine reife Frucht … Wir haben die „Blasse“ …!“

Gionino saß wie erstarrt …

Stammelte: „Sie … Sie haben die „Blasse“?! Wie meinen Sie das?“

„Nun – wir kennen ihre Gastgeber … ihren Schlupfwinkel … Sie wohnt in Moabit bei einem Schmiedemeister … Der Mann war vorhin hier bei uns …“

„Ah – – und was wollte er?!“

„Ihm waren an der jungen Dame so allmählich mancherlei Kleinigkeiten aufgefallen … Schließlich verdichteten sich diese zu direktem Verdacht … Und als die Dame diese Nacht nicht heimkehrte, trieb es den wackeren Meister hier zu uns … Wir begleiteten ihn … Aus seiner Beschreibung erkannten wir ja sofort, um welches Vöglein es sich handelte. Die „Blasse“ bewohnte bei Henniger …“

„Pardon – – Hen … ni … ger?“

„Ja, Henniger, Bahnstraße 6 …“

„Bahnstraße 6 …“ wiederholte Gionino, und man merkte, daß er Namen, Straße und Nummer seinem Gedächtnis fest einprägte …

„… bewohnte bei Henniger zwei Mansardenstuben … Im Schlafzimmer fanden wir einen fest verschlossenen Koffer, um den noch eine dünne Eisenkette mit zwei Patentschlössern geschlungen war, und …“

„… Sie haben den Koffer geöffnet?“

„Nein, Kollege … Das wollte ich denn doch nicht ohne Sie tun …“

„Sehr richtig …!“ Man fühlte, daß Gionino erleichtert aufatmete …

„Fanden Sie sonst etwas?“ fuhr der Italiener ebenso nervös und fahrig fort …

„Nichts als Dinge, die unwichtig sind … Wir können ja nachher zu Hennigers fahren und den Koffer öffnen … Vielleicht steckt die Schatulle darin, worauf die Kette und die Patentschlösser eigentlich hindeuten.“

Gionino wehrte energisch mit der Hand ab …

„Nein – – nicht heute, Herr Harst … Warten wir noch … Ich werde das Haus heute beobachten, und morgen lösen Sie mich dann ab … Mir liegt daran, wie Sie wissen, auch die beiden anderen Mitglieder dieser Bande dingfest zu machen …“

Harst nickte gleichmütig. „Wie Sie wollen, Gionino … Ich hätte auch wenig Lust, an diesem prächtigen Sonntag in einer Verkleidung mich auf der Straße herumzudrücken. Mit Herrn Henniger habe ich vereinbart, daß, falls die „Blasse“ …“

„… Wie nennt sie sich dort?“ fuhr Gionino abermals dazwischen …

Harst lachte. „Ja, denken Sie, Kollege, – diese Unverschämtheit: sie nennt sich dort Hedwig Trescona.“

„Unverschämtheit!“ murmelte der Italiener plötzlich sehr zerstreut …

Und Harst …: „… habe also mit Henniger vereinbart, daß er sich nichts anmerken lassen soll, falls die „Blasse“ sich wieder einfindet …“

Gionino sann vor sich hin …

Dann meinte er so nebenbei – scheinbar ganz nebenbei: „Hennigers halten wohl einen Hund?“

„Nein … – Weshalb fragen Sie gerade danach, Kollege?“ – Harst tat nur so, als wüßte er diese Frage nicht richtig einzuschätzen …

Tat nur so …

Und Gionino erwiderte achselzuckend: „Mir … fiel das so ein … Denn für die Gaunerin wäre ein Hund vielleicht unbequem, weil sie dann nicht so ohne weiteres nachts heimlich das Haus verlassen könnte …“

„Ach so …!“ sagte Harst nur …

Und dann langte er nach einer frischen Mirakulum.

Schraut, der von Harsts Feldzugsplan nichts geahnt hatte, war innerlich einfach sprachlos über dieses Gemisch von Dichtung und Wahrheit, das Harst hier dem italienischen Kollegen vorsetzte …

Nicht minder sprachlos war Graf Algenberg …

Er, der von dem Verlauf des Besuches der beiden Freunde nur das wußte, was Harst hier soeben berichtet, vermochte sich in alledem noch weniger zurechtzufinden als Schraut … –

Gionino blieb dann nur noch ein paar Minuten, verabschiedete sich sehr liebenswürdig und fragte Algenberg, ob er nicht mitkommen wolle …

Harst erklärte darauf sofort, er habe den Grafen zu Tisch eingeladen …

Gionino verließ das Haus allein und fuhr … nach der Bülowstraße 111 – – zu demselben Manne, der nachts Tasso belauert hatte und nachher doch gründlich bei dieser Spioniererei hereingefallen war …

 

11. Kapitel.

Doktor Mandelstamm meldet sich …

Kaum war der Italiener verschwunden, als Schraut rief:

„Um alles in der Welt, Harald: was sollte diese Komödie mit Gionino?“

„Werdet ihr nachmittags merken,“ erklärte Harst nur. Und dann erzählte er Tasso, was in Hennigers Häuschen sich zugetragen hatte …

„Wie,“ meinte Algenberg ganz kopflos und verwirrt, „Sie glauben, daß der Sohn der Hennigers der Einbrecher gewesen?!“

„Er war es … Er hatte am Zeigefinger der rechten Hand ein frisches Pflaster, und seine Fußspuren fand ich in der Staubschicht unter dem Bodenfenster … Er geht wie viele Bucklige stark auswärts und hat sehr kleine Füße … Ein Irrtum in dieser Hinsicht ist ausgeschlossen. Er hat die Sache sehr wenig begabt angefangen, indem er durch das Bodenfenster auf das Dach kletterte und so vortäuschen wollte, als sei ein Dieb von außen eingedrungen …“

Tasso war diese Einzelheit auch weniger wichtig als Harsts Ansicht über den Verbleib der Geschwister Trescona …

Harst wiederholte ihm gegenüber nun dieselbe Behauptung: Hedwig und Eberhard Trescona seien von Gionino irgendwie verschleppt worden …

Algenberg, dem es unmöglich war, die Sachlage zu überschauen, rieb sich unwillkürlich die Stirn, als ob das ihm helfen würde, Ordnung in dieses Chaos zu bringen …

Schließlich meinte er ganz benommen:

„Wenn Sie die Geschwister Trescona bisher als … Diebe verfolgt und beobachtet haben, Herr Harst, so begreife ich …“

„Halt!“ fiel der Detektiv ihm ins Wort. „Vergessen Sie nicht: der Fall liegt hier weit verzwickter, als ich je dachte … Ich werde rechtzeitig die nötigen Erklärungen liefern …“

Doch Tasso konnte sich bei dieser Antwort nicht beruhigen …

„Herr Harst, sollen denn etwa die Geschwister ihre eigenen Eltern bestohlen haben?! Entschuldigen Sie schon: aber … mir ist von alledem so dumm, als ginge mir ein Mühlrad im Kopf herum!“

„Glaub’ ich gern, lieber Graf … Es wird noch Überraschungen hageln, und Kollege Caesare Gionino wird schließlich der Fuchs sein, der sich in der eigenen Falle fängt … – Da – – Mathilde läutet schon zum dritten Male zu Tisch … Vorwärts, lassen wir meine Mutter nicht warten …“ –

Nach dem Mittagessen hielten die drei Herren im Gemüsegarten in Liegestühlen bis gegen fünf Siesta. Dann tranken sie noch zusammen mit Frau Harst auf der Veranda Kaffee und begaben sich hierauf in das Ankleidezimmer mit den hohen Stehspiegeln, wo Harst und Schraut in kurzem auch aus Tasso Algenberg eine völlig neue Erscheinung zurechtgemacht hatten.

Einzeln verließen die drei nun das Haus durch den Gemüsegarten, trafen sich am Bahnhof Halensee, wußten bestimmt, daß sie nicht beobachtet wurden und fuhren mit der überfüllten Stadtbahn bis Station Putlitzstraße, von wo sie es bis zu Hennigers nicht mehr weit hatten. Harst hatte nur erklärt: „Wir gehen zu Hennigers!“ Wir – – die drei Herren, die jetzt aber keine „Herren“ mehr waren … Nur sonntäglich gekleidete Arbeiter etwa … mit schönen Bärten, die leider nur nicht echt waren …

Und – auch zu Hennigers ging’s nicht …

Nein, Harst bog in eine Straße mit modernen Mietskasernen ein …

Vor Nummer 81 blieb er stehen …

„So – bitte hinein …!“

Und er durchschritt den Flur, den ersten Hof den zweiten Hof …

Hier gab’s eine hohe Mauer …

Hinter der Mauer lachte der Frühling: grüne Bäume – – ein Garten!

Neben der Mauer ein Balkengestell zum Teppichklopfen …

Harst turnt hinauf … Hilft Tasso und Schraut … Dann flink über die Mauer – hinein in einen Berg von Ästen, Zweigen, verdorrten Blumen …

„So, das ist Hennigers Garten,“ schmunzelte Harst … „Nun kann Gionino dort vor dem Häuschen noch so viel Spione haben, – – wir sind dort, wo wir sein wollen!“ –

Hennigers sitzen in der Laube …

Sehen die drei fremden Gestalten … Des Meisters Stirn kraust sich drohend. Und er und Robert erheben sich … Da links neben dem Eingang zur Schmiede lehnen immer ein paar Eisenstangen … Falls die drei Eindringlinge dort etwa frech genug sein sollten, hier so am hellen Sonntagnachmittag einen Raubzug … – – aber nein, – der vorderste der drei grüßt schon …

Henniger lacht mit einem Male …

Eilt den Ankömmlingen entgegen …

„Herr Harst, Ihre Augen verraten Sie!“ – und er schüttelt dem Detektiv die Hand …

„Meine Augen pflege ich in solchen Fällen zuzukneifen,“ meint Harst gutgelaunt. „Sie sollten mich erkennen, Meister … Gestatten Sie – hier unser Begleiter ist der Graf Tasso Algenberg, von dem ich Ihnen schon erzählte …“

Mutter Henniger nähert sich … Auch sie begrüßt die drei Herren mit der Freudigkeit, die man stets für hilfsbereite Menschen in aller Ehrlichkeit bereit hat.

Nur der verwachsene Robert steht wieder abseits, hat nur seine Verbeugung gemacht, möchte jetzt am liebsten sich drücken …

„Hallo, Herr Henniger junior,“ ruft da Harst mit all seiner zwanglosen Güte, „hallo – – wollen Sie etwa sich von uns verdrängen lassen?! Ich denke, wir haben auch zu sechs in der Laube Platz … Oder auch nur zu fünf, denn ich habe noch auf dem Boden etwas zu tun … Vielleicht begleiten Sie mich erst einmal, Herr Robert … Ich weiß da oben doch noch nicht recht Bescheid …“

Der Verwachsene, dessen gutgebauter Kopf so angenehm-sympathische Züge aufweist, zaudert etwas …

Dann öffnet er die Tür, hinter der die Treppe zur Mansarde emporläuft. Ihm ist heiß geworden … Sein Gesicht glüht … Er fühlt sich unsicher, ängstlich.

Harst streift ihn mit einem besonderen Blick … Winkt – und sie schreiten die Treppe empor …

Mutter Henniger ruft ihnen noch nach:

„Bitte, nicht zu lange … Der Kaffee ist unter der Mütze noch so schön warm geblieben …“

Harst öffnet die Tür zu Hedwig Tresconas Wohnzimmer … „Bitte, Herr Robert …“

Mitten in dem kleinen Zimmer stehen sie dann, wo der zarte Hauch von diskretem Parfüm an den weiblichen Gast erinnert …

Der Verwachsene starrt zu Boden … Ein Bild der Hilflosigkeit, der Verlegenheit …

Harald Harst legt ihm die Hand leicht auf die Schulter … „Herr Henniger, Ihr Vater erzählte mir, daß Sie mit der Herzogin auf recht vertraut-freundschaftlichem Fuße standen … Hat Hedwig Trescona vielleicht eine besondere Bitte an Sie gerichtet für den Fall, daß ihr etwas zustoßen sollte …?!“

Robert Henniger atmet schwer …

Aber von seinen Eltern her ist ihm etwas eingeimpft, das heutzutage immer seltener wird: Wahrheitsliebe und ein strenges Gerechtigkeitsgefühl …!

Er hebt den Blick …

Sagt fest: „Herr Harst, ich habe zu schweigen versprochen …!“

„Das dachte ich mir, Herr Robert … Nur – es gibt Umstände, in denen Schweigen gleichbedeutend mit Gefährdung der Person ist, die … man verehrt …“

Eine heiße Blutwelle schlägt dem armen Buckligen ins Gesicht …

Harst nimmt jetzt seine Hand …

„Robert Henniger, mir hat Mutter Natur einige Gaben verliehen, die mich befähigen, aus Geringfügigkeiten meine Schlüsse zu ziehen … Ich vermute, daß die Herzogin Hedwig Sie gebeten hat, aus ihrem Koffer etwas verschwinden zu lassen, falls sie einmal nicht mehr hierher zurückkehren sollte … Und zwar sollten Sie dann … einen Einbruch vortäuschen … – Mein lieber junger Freund, das Einbrecher-Spielen ist doch nicht so einfach wie man denkt …“

Robert Henniger hat den Kopf wieder ganz tief gesenkt …

Ist noch röter geworden …

„Sie müssen ehrlich sein – im Interesse der Herzogin …,“ meint Harst eindringlich. „Sie wissen ja auch, wem Sie sich anvertrauen … Sie haben nichts Ehrenrühriges getan, haben nur Ihr Versprechen gehalten. – Was entnahmen Sie dem Koffer und verbargen es anderswo?“

Robert flüstert heiser:

„Eine versiegelte kleinere Pappschachtel … Einen Karton für Herrenkragen …“

„Und wo ist der jetzt?!“

„Im Garten … In dem Baumloch der alten Kastanie …“

„Hatten Sie dies Versteck mit der Herzogin vereinbart?“

„Ja …“

„Und der Karton ist dort sicher?“

„Vollkommen, Herr Harst … Ich habe ihn ja noch mit ein paar Ziegelsteinen bedeckt … Das Baumloch ist recht tief …“

„Die Herzogin Hedwig wünschte also, daß ein Einbruch inszeniert würde, falls sie eine Nacht nicht heimkehrte … Gab sie Ihnen für dieses merkwürdige Verlangen keinerlei Erklärung?“

„Nein …“

Harst nickte nur … Harst ahnte, wie es in dem Herzen dieses armen Verunstalteten aussah … Aussichtslose Liebe – blinde Ergebenheit …!! Armer Robert!

„Was sollte später mit dem Karton geschehen?“ fragte er wieder …

„Ich sollte ihn in dem Baumloch belassen und, wenn unser Gast nach zwei Tagen nicht wieder erschien, zu … Ihnen gehen, Herr Harst, – aber erst nach achtundvierzig Stunden, nicht früher … Dann sollte ich Ihnen mitteilen, wer „die Blasse“ aus dem Tiergarten war und Sie bitten, den „italienischen Kollegen“ – so drückte die Herzogin sich aus – scharf zu überwachen und – als Gentleman zu handeln … Ich habe mir die Worte genau gemerkt, Herr Harst … Und ich war heute vormittag von Herzen froh, als mein Vater ganz von selbst an Sie dachte … – Mehr weiß ich nicht, Herr Harst …“

„Es genügt …“ Und der Detektiv drückte Roberts Hand … „So, nun wollen wir hinabgehen … Abends nach Dunkelwerden müssen Sie mir den Karton hier nach oben bringen – ganz unauffällig, denn wir wollen hier diese Nacht wachen, weil ich vermute, daß ein gewisser Jemand in die Falle hineintappen wird, die ich ihm gestellt habe …“

Dann kehrten sie in die Laube zurück, wo Harst nun auch dem Ehepaar Henniger alles Nötige eröffnete: daß Schraut, der Graf und er selbst mit einem zweiten Einbruch rechneten und oben in dem Zimmer sich verbergen würden.

Namen nannte er nicht …

Weder den des ersten Einbrechers noch den des Italieners … –

Das Gespräch glitt in andere Bahnen über … Harst wollte die anderen ablenken und erzählte harmlose Geschichten aus seiner Studentenzeit …

Es wurde ein angenehmer Nachmittag und Abend für die Hennigers … Sie lebten sonst so ganz zurückgezogen hier in ihrer grünen Oase zwischen den „Talwänden“, den Mietskasernen … Sie taten nun einen Blick in ein anderes Leben – in Harsts Vergangenheit … Sie lernten Schrauts trockenen Humor schätzen und den Grafen Tasso als einen Mann von bescheidener Eigenart kennen … Es waren Feierstunden für die Hennigers, in Wahrheit Feierstunden. – Als man dann gegen halb neun wieder in der Laube beim Lichte der elektrischen Hängelampe beim Abendbrot saß, hörte Robert – die Fenster standen offen – drinnen im Hause das Telephon anschlagen …

Er eilte hinein, kam sofort zurück …

„Herr Graf, Sie werden verlangt … Ein Herr Doktor Mandelstamm möchte Sie sprechen …“

Tasso schüttelte den Kopf …

„Der Doktor?! Wie in aller Welt hat der erfahren, daß ich hier in Moabit, Bahnstraße 6 bin?! – Mir unverständlich!!“

„Ich komme mit,“ sagte Harst …

Dann meldete Algenberg sich. Harst stand neben ihm …

„Hallo – – hier Tasso Algenberg … – – Verstehe, Herr Doktor … – … Nicht möglich, – – Sie haben das erreicht?! Also deshalb kamen Sie vormittags nicht mit zu Harst – – deshalb!! – – Ja, Harst ist hier dicht neben mir … Wenn Sie ihn sprechen wollen …“

Und er reichte dem Detektiv den Hörer …

„Herr Harst,“ sagte der greise Arzt nun drüben am anderen Ende der Leitung, „ich habe mir erlaubt, Ihnen so etwas ins Handwerk zu pfuschen … Ich habe Gioninos Gehilfen, der Bülowstraße 111 wohnt und Gamello heißt, nicht aus den Augen gelassen … So ein ganz klein wenig Abenteurerblut fließt ja auch in meinen Adern … Dreißig Jahre in der Wildnis – da lernt man so manches, Herr Harst … – Jedenfalls begab sich Gionino mittags von Ihnen direkt zu Gamello, und beide fuhren dann mit der Bahn nach dem Vorort Nikolassee, wo Gionino, wie ich herausbrachte, vor zwei Wochen ein kleines, abgelegenes Blockhaus gemietet hat … Es liegt in einem Garten, der sehr dicht ist, und in dem zugehörigen Stalle fand ich ein braunrotes Auto … Als ich gerade nachmittags zu Ihnen wollte, um das Beobachtete zu melden, erkannte ich in der Blücherstraße den verkleideten Grafen … Da sagte ich mir, Sie und Algenberg wollten vielleicht nicht angesprochen werden … Ich blieb hinter Ihnen … Ich glaube, ich habe das ganz geschickt gemacht … Ich sah Sie drei dann in der Mietskaserne verschwinden und über die Mauer turnen … Bevor ich wieder herausbrachte, wem der Garten jenseits der Mauer und das Häuschen gehörten, vergingen Stunden. So, nun wissen Sie Bescheid, Herr Harst …“

„Herr Doktor,“ erklärte der Detektiv freudig, „wir sind Ihnen zu sehr großem Danke verpflichtet … Sie haben mir ein schweres Stück Arbeit abgenommen … Bitte, beschreiben Sie mir nur noch die Lage des Blockhauses recht genau … Sahen Sie dort noch Leute außer Gionino und Gamello?“

„Einen älteren Italiener, den ich für den Vater des Gionino halten möchte …“

„Ah – – wirklich?! Das würde dann mit dem Ergebnis der Erkundigungen, die ich ganz insgeheim in Venedig und in der Kampagna anstellen ließ, übereinstimmen …“

Gleich darauf hängte Harst ab …

Sagte zu Tasso:

„Lieber Graf, Ihr Zimmernachbar muß Sie außerordentlich schätzen … Er hat doch lediglich in Ihrem Interesse sich der Mühe unterzogen, uns die Arbeit zu erleichtern … Jetzt wissen wir, wo die Geschwister Trescona stecken … Jetzt wird der ins Rollen gekommene Stein dem Signore Caesare Gionino und dessen Anhang sehr unangenehm die … Hühneraugen belästigen …!“

 

12. Kapitel.

Um Gut und Ehre …

Mitternacht …

Man soll keinen Aprilsonntag vor dem Abend loben … Um neun war ein kühler Wind aufgekommen und hatte von Osten her schwarzes Gewölk zusammengetrieben. Kurz nach neun regnete es …

Arme Ausflügler …

Arme Frühlingshüte, Frühlingskleidchen! Der Berliner belädt sich so ungern mit einem Schirm …

Der Berliner ist Optimist … Und all diese Wetter-Optimisten wurden nun von dem launischen Wettergott gründlichst ausgewaschen …

Die Straßen schwammen … Große Pfützen glänzten im Laternenlicht …

Es wurde elf Uhr …

Still und verlassen lag die Bahnstraße da … Es goß in Strömen …

Die drei Herren oben in Hedwig Tresconas Wohnstübchen hörten das Rauschen und Sprudeln der Wassermassen auf dem schrägen Dache …

Im Dunkeln saßen sie …

Die Tür zur Schlafstube stand halb offen …

Die eingedrückte Scheibe hatte Meister Henniger schon nachmittags ergänzt und eine neue eingekittet …

„Das richtige Wetter für einen Einbrecher,“ meinte Harst flüsternd …

Tasso und Schraut wußten nun Bescheid, wußten aber noch nicht alles …

Der Koffer war wieder in Ordnung gebracht, und Harst hatte eine Kette darum geschlungen – ganz wie er den Koffer dem Italiener geschildert hatte …

Alles war für Gioninos Empfang bereit. Er brauchte nur zu kommen …

Und er kam …

Er hatte das Fenster des Schlafstübchens von außen im Moment offen … Er verstand sich auf derlei Künste.

Er ließ seinen Leuchtstab vorsichtig aufblitzen …

Dort der Koffer …

Triumph: die Kette – – alles stimmte! –

Gionino in seinem triefenden Gummimantel und der triefenden Wachstuchmütze kniete neben dem Koffer.

Hatte Schuhe mit Gummisohlen an …

War lautlos wie ein Marder … Seine Augen funkelten ebenfalls wie die eines Marders …

Eine Stahlsäge arbeitete …

Im Nu war die Kette zerschnitten …

Im Nu die Kofferschlösser offen …

Unter Wäschestücken lag der versiegelte Karton …

Gionino wollte die Verschnürung zerschneiden …

Gioninos Hände wurden plötzlich gepackt …

Festgehalten …

Taschenlampen blitzten auf …

Ehe der zu Stein erstarrte Italiener noch eine Bewegung der Abwehr tun konnte, schnappten schon Stahlfesseln um seine Handgelenke …

Blöde glotzte er in drei fremde Gesichter …

Kannte nicht einen dieser Leute …

Schweigend schoben sie ihn vorwärts …

Schweigend die Treppe hinab …

Unten an der Treppe stand Robert Henniger …

Harst gab ihm einen Wink …

Der Verwachsene öffnete die Tür der Schmiede, dann den vorderen Torflügel, eilte auf die Straße … Sah rechts im Regen ein rotbraunes, geschlossenes Auto halten …

Ging vorüber, machte kehrt …

Nur der Schofför saß auf dem Vordersitz …

Robert Henniger trat heran …

Der Schofför starrte plötzlich in eine Revolvermündung …

Drei Männer kamen gelaufen, die einen vierten zwischen sich hatten …

Gamello, der Schofför, mußte herab vom Führersitz …

Alles ging so schnell, daß er erst zur Besinnung kam, als er gefesselt neben Gionino saß. Und – Harst vorn als Fahrer …

Der Kraftwagen glitt davon …

Robert Henniger schaute ihm nach und seufzte … Dachte an … Tasso Algenberg … Der würde nun sein „blasses Antlitz“ wiederfinden … Der würde … der Glückliche sein, der Hedwig Trescona lieben durfte.

Seufzte und kehrte zurück in die Schmiedewerkstatt, setzte sich auf einen Schemel, vergrub das Gesicht in die Hände …

Nahm Abschied in schmerzlichem Seelenringen von seiner ersten und einzigen Liebe … Nur in Romanen, dachte er, heiraten vornehme Damen vielleicht mal einen Schmiedegesellen, der äußerlich alle Reize stolzer Männlichkeit besitzt …

Selbst in Romanen heiratet keine Herzogin einen Buckligen …

Und er preßte in wildem Weh die Fäuste in die Augen …

Er war … Krüppel …

Krüppel …!! Was bot ihm das Leben?! Nichts – – nichts als Arbeit!!

Dann – – schämte er sich plötzlich dieser Gedanken …

Bot ihm das Leben nicht doch unendlich viel?! Hatte er nicht die rührende Liebe seiner Eltern, nicht seine Blumen und grünen Bäume, – – lebte er hier nicht wie auf einer Insel bescheidener Glückseligkeit?! Und – war diese Liebe zu Hedwig nicht ein … Wahnwitz von Anbeginn?!

Er wurde ruhiger … Er ging in sein Stübchen … Seine Gedanken waren draußen in dem Villenvorort …

Dorthin sauste jetzt der Kraftwagen …

Gionino und Gamello saßen Schraut und Algenberg gegenüber … Saßen und schauten in zwei Pistolenmündungen … Gionino machte mehrmals den Versuch, mit diesen ihm fremden, unheimlich schweigsamen Gestalten eine Unterhaltung zu beginnen. Er hielt sie für Kriminalbeamte … Die Beleuchtung war zu schwach, als daß er die Verkleidungen durchschaut hätte … Sein Mißtrauen gegen Harst und die anderen war längst wieder verflogen. Nur vormittags bei Harst hatte er für kurze Zeit Argwohn geschöpft … Den wahren Sachverhalt, die Falle, konnte er nicht erkennen … Er war blind, geistig stumpf in seiner ungeheuren Erregung und Angst … Die Folgen dessen, was er getan, wuchsen in seinem Hirn ins Riesenhafte …

Und weiter jagte das Auto …

Hielt … –

Es regnete wie vordem …

Harst kletterte vom Vordersitz, öffnete die Pforte … Stieg wieder auf … Das Auto rollte den Grasweg hinab zum Stalle der kleinen Blockhausvilla …

Ein älterer Mann trat auf das Auto zu, hielt einen Schirm aufgespannt, fragte durch die Regenschleier …:

„Nun, Gamello, habt ihr’s?“

Der Mann, der nicht Gamello war, packte zu, sprang ab …

Packte den graubärtigen Italiener, sagte ironisch:

„Herr Gamello, das Spiel ist aus … Ich bin Harald Harst, und dort im Auto sitzen ihre beiden Söhne mit Handschellen …“

Schraut stieß die Autotür auf … War neben dem Freunde …

„Wir haben noch zwei Handschellen, Herr Gamello,“ fügte Harst hinzu … „Bitte – wollen Sie Ihre Hände entsprechend schmücken lassen … Keine Umstände bitte … Sonst mischt sich die Polizei ein, und Sie alle lernen ein deutsches Zuchthaus von innen kennen …“

Der alte Gamello wagte keinen Widerstand.

„Wo haben Sie die beiden Gefangenen?“ fragte Harst dann. „– Bitte – reden Sie! Vergessen Sie das Zuchthaus nicht!“

„Im … Keller …!“

„Und der Modesto bewacht sie, nicht wahr?“

„Ja …“

„Dann führen Sie uns in den Keller, Herr Gamello … Auch Herr Modesto soll genau so angemessen behandelt werden wie Sie!“

Herr Modesto schlief in einem Korbsessel und schnarchte …

Sein Erwachen war wenig erfreulich … Er konnte nicht recht begreifen, wie das Unheil so plötzlich hereingebrochen war … Im übrigen war ihm die ganze Geschichte herzlich gleichgültig … Er war nur Angestellter und konnte sich schlimmsten Falles irgendwie herausreden – irgendwie … –

Die Geschwister Trescona waren in zwei nebeneinanderliegenden Kellerräumen untergebracht. Harst schloß die Türen auf, und blaß und übernächtigt traten Hedwig und Eberhard in den Vorraum …

Minuten später waren oben im Wohnzimmer des Blockhauses die sämtlichen Beteiligten an diesem in seiner Art vielleicht einzig dastehenden Kriminalfall versammelt.

Die vier Italiener saßen, die gefesselten Hände im Schoße, nebeneinander auf Stühlen …

Die Geschwister Trescona hatten auf dem Sofa Platz genommen. Schraut und Tasso neben ihnen auf Stühlen … Harst lehnte an einem Schranke …

Das elektrische Licht beleuchtete all diese verschiedenen Gesichter mit grellem Schein …

Gionino standen dicke Schweißperlen auf der Stirn … Nun wußte er, mit wem er es hier zu tun hatte … Trotz seiner Angst sprühten seine Augen unendlichen Haß … Und sein Hirn suchte immerfort nach einem Mittel, diese Schlinge, die ihm bereits um den Hals lag, noch im letzten Moment abzustreifen …

Es gab kein Mittel …

Das mußte er sehr bald einsehen …

Denn Harst begann nun zu sprechen …

Erwähnte Gioninos ersten Besuch bei ihm, erwähnte den Ausdruck des Hasses, der in Gioninos Augen trat, wenn er von der „Hochstaplerin“ sprach …

„Ich will mich kürzer fassen,“ meinte Harst dann … „Ich habe, nachdem ich die Gewißheit erhalten, daß „die Blasse“ und der „Elegante“ die Geschwister Trescona waren, in Italien Auskünfte eingeholt. Sie, Gionino, heißen in Wahrheit Gamello, sind der älteste Sohn des Mannes dort, der die verschuldeten Güter des alten Herzogs vor vier Jahren gepachtet hatte und nun dort gerichtlich bestellter Zwangsverwalter ist. Ihr Vater wollte von vornherein nichts anderes, als diese Güter an sich bringen, deren Wert einst in die Millionen ging … Er wollte es aber nicht aus sich heraus, nicht aus eigenem Antriebe … Hinter diesem ganzen Kesseltreiben gegen die herzogliche Familie steckte als intelligenter Vertreter der Gamellos ein Mann, der sich der jungen Herzogin Hedwig zunächst unter der biederen Maske eines guten, wohlmeinenden Beraters genähert hat – in der Hoffnung, schließlich die junge Aristokratin völlig für sich zu gewinnen … Das – – waren Sie, Caesare Gamello! Und diese Maske behielten Sie auch dann bei, als Sie das aussichtslose Ihrer Bemühungen einsehen mußten, – selbst dann, als der alte Herzog Sie beauftragte, die Diebe der Kassette zu ermitteln …“

Gionino wagte nicht aufzublicken …

Auch der alte Gamello schaute finster vor sich hin … Nur sein jüngerer Sohn, der hier in Berlin als Angestellter des Detektivinstituts tätig gewesen, und der andere Detektiv namens Modesto zeigten eine Gleichgültigkeit, die für ihre unglaubliche Abgebrühtheit sprach.

Harst wandte sich nun an den Herzog Eberhard von Trescona …

„Herr Herzog, wir können hier allerseits jetzt mit offenen Karten spielen … Bitte – erklären Sie den angeblichen Diebstahl der Familienjuwelen, die ja in der Hauptsache Eigentum Ihrer Mutter, der geborenen Gräfin Praßmar, sind …“

Der Herzog zauderte nicht einen Moment …

„Meine Schwester und ich müssen uns gleichfalls schuldig bekennen,“ sagte er mit der ruhigen Entschlossenheit eines Mannes, der sich völlig darüber im klaren ist, daß er seine Handlungsweise vor sich selbst, vor dem eigenen Gewissen ohne weiteres vertreten kann. „Die schlechte pekuniäre Lage meiner Eltern hatte es nötig gemacht, wobei die Leichtgläubigkeit und geschäftliche Ungewandtheit meines Vaters freilich eine große Rolle spielten, Wechsel zu unterzeichnen, die ein Geldverleiher in Venedig dann beständig prolongierte, bis diese Schuld ins Unendliche gestiegen war …“

„Ganz recht,“ warf Harst ein … „Dieser Geldgeber war nämlich ebenfalls eine der Kreaturen Caesare Gamellos … Und Ihre Frau Mutter, Herr Herzog, wollte nun ihre Juwelen opfern, um diese wucherische Schuld zu begleichen … Da Sie und Ihre Schwester die Sachlage kannten und wußten, daß es sich hier um eine geradezu haarsträubende Bewucherung handelte, suchten Sie das letzte Familiengut, das letzte Familienvermögen, eben die Juwelen, zu retten, inszenierten den Diebstahl ohne Wissen Ihrer Eltern. Caesare Gamello ahnte den wahren Zusammenhang, reiste Ihnen beiden hier nach Berlin nach, erzählte mir das Märchen von der vierköpfigen Bande von Hoteldieben und wollte seinen letzten eifersüchtigen Trumpf dadurch ausspielen, daß er Sie und Ihre Schwester vor aller Welt bloßstellte. Das konnte er aber nur, wenn er das Versteck der Juwelen ermittelte.“

Harst wandte sich nun wieder an Caesare Gamello.

„Niemals ist mir eine Kreatur von so viel Bosheit, Niedertracht und Gemeinheit vorgekommen wie Sie … Niemals hat ein Mensch mich wochenlang so geschickt zu täuschen verstanden wie Sie! Und doch – auch Sie haben einen schweren Fehler begangen, als Ihnen die Geduld fehlte, Ihre Opfer noch weiter zu beobachten, und als Sie dann in der vorigen Nacht die beiden Geschwister einzeln in Ihre Gewalt brachten, um durch Drohungen zu erreichen, was Ihnen auf andere Weise nicht geglückt war. Sie hofften dabei, ich würde Ihr Spiel nicht durchschauen … – ein schwerer Irrtum, Gamello!! – Wie denken Sie sich nun die Lösung dieser Schwierigkeiten, die Sie durch Ihre gemeine Heimtücke heraufbeschworen haben? Auf Freiheitsberaubung, Erpressung und Bedrohung – all dies liegt hier den Geschwistern Trescona gegenüber vor – steht Zuchthaus, und so, wie Sie, Ihr Vater, Ihr jüngerer Bruder und Ihr Angestellter sich hier und vordem in Italien gegenüber der Herzogsfamilie benommen haben, hätten Sie niemals auf mildernde Umstände zu rechnen. Anderseits ist den Geschwistern Trescona gesetzlich überhaupt nichts vorzuwerfen. Diebstahl unter Verwandten gibt es nicht. Mithin dürfte eine Einigung, wie ich sie vorschlagen will, für alle Teile am günstigsten sein. Sie, Caesare Gamello, geben es mir schriftlich, daß Sie jenen Wucherer in Venedig angestiftet haben, den alten Herzog zu ruinieren, und bezahlen die Wechselschulden … Sie und Ihre Genossen verpflichten sich außerdem zum Stillschweigen. Das Protokoll, das wir hier sofort aufnehmen werden, unterzeichnen Sie alle vier. In das Protokoll kommt natürlich auch Ihr Eingeständnis hinsichtlich der Freiheitsberaubung, der Erpressung und Bedrohung mit hinein. Weigern Sie sich, so rufe ich sofort die Polizei herbei, und mein Einfluß wird dann hinreichen, jede Bloßstellung der Familie Trescona zu vermeiden …“ –

Caesare Gamello überlegte nicht lange …

Eine halbe Stunde drauf verließen die beiden Detektive, die Geschwister und Tasso Algenberg die Blockhausvilla und fuhren nach Berlin zurück …

Und am nächsten Nachmittag finden wir bei Meister Henniger in der Laube all die Menschen vereinigt, die bei dem in vieler Beziehung so interessanten Kriminalfall mitbeteiligt gewesen – auch den alten würdigen Doktor Mandelstamm, der sogar für Hedwig ein paar wundervolle blaßrote Rosen mitgebracht, während Tasso Algenberg eine andere Farbe für diese Blumen der Liebe gewählt hatte: ein feuriges Rot – leuchtend wie seine Augen, die eine ebenso deutliche Sprache redeten wie die duftenden Blüten …

Mutter Henniger eilte geschäftig hin und her, füllte immer wieder die Kaffeetassen und strahlte vor Freude über diese glückliche Lösung all dieser dunklen, drohenden Vorgänge, strahlte mit dem blauen Himmel um die Wette …

Als die Herren dann zur Zigarre übergegangen waren, begann das „blasse liebliche Antlitz“ ganz von selbst die einzige noch offene Frage zu erörtern: den Inhalt der Papierkugel, des Zettels …

Sagte zu Harst gewandt …:

„Sie, lieber Herr Harst, werden doch gern darüber Aufschluß haben wollen, was ich mit dem Ausdruck „Dampfer bereit“ gemeint habe … Ich wollte meinem Bruder nur mitteilen, daß ich ein Flugzeug zu billigem Preise gemietet hatte, das uns jederzeit schnellstens aus Berlin wegbringen würde, falls man mein Heim hier bei Hennigers entdecken sollte und falls dann die Juwelen irgendwie ernstlich bedroht wären …“

Und mit einem schalkhaften Lächeln fügte sie hinzu:

„Vor Ihnen, Herr Harst, hatte ich stets die größte Angst …!“

Und Harst – sich verneigend: „Mein Kompliment, Herzogin … Noch nie ist es bisher einer Frau geglückt, mir ihren Schlupfwinkel vier Wochen lang zu verheimlichen …!“ –

Nachher schritten Hedwig und Tasso Algenberg langsam durch die sauberen Wege des Gartens – – langsam und allein …

Blieben vor der alten Kastanie stehen, in deren Baumloch die Juwelen verborgen gewesen …

Hier nahm Tasso zärtlich Hedwig Tresconas Hand in die seine …

Er brauchte nicht viele Worte zu machen …

Hedwig schaute ihn still beglückt an …

„Ich weiß, daß du mich liebst … Wer wie du so getreulich jeden Tag mir respektvoll folgte, wer wie du nicht einen Moment an die „Hochstaplerin“ glaubte, der wird mir ein reiches Lebensglück bescheren …“

Und anmutig und keusch legte sie ihm die Arme um den Nacken, schmiegte sich an ihn und küßte ihn …

Drüben in der Schmiedewerkstatt aber stand ein armer Verwachsener und lugte durch die Türspalte in den Garten hinein … Begrub seine Sehnsucht vollends … War ein Mann von schlichtem, verständigen Sinn … –

Abends feierte man Verlobung …

Doktor Mandelstamm hatte eine Sektbowle gespendet, und er als ältester, brachte auch das Hoch auf das Brautpaar aus …

Max Schraut hatte am nächsten Morgen einen gehörigen Kater, und Harst meinte denn auch ironisch zu ihm:

„Mein lieber Alter, heute bist du das „blasse Antlitz“ …! Man kann fast sagen: das grüngelbe Antlitz! Kater sind eben heimtückische Viecher!!“

Und hiermit endet die Geschichte von der … gefährlichen Hochstaplerin …

 

Titel des nächsten Bandes:

Der blaue Weiher.

 

 

Anmerkungen:

  1. Auf dem Titelbild heißt die Erzählung nur „Das blasse Antlitz“ ohne die drei Auslassungspunkte.
  2. In der Vorlage steht: „Wüstenpilgerer“.
  3. In der Vorlage steht: „ihren“.
  4. In der Vorlage steht: „Das“.
  5. In der Vorlage steht: „Elsholzstraße“. Zwei Vorkommen geändert.
  6. In der Vorlage steht: „hochparterre“. Zwei Vorkommen geändert.
  7. Fehlendes Wort „lief“ ergänzt.
  8. In der Vorlage steht: „fünfundsechzige“.
  9. Siehe auch Der Detektiv, Band 173: „Der rätselhafte Gast“ – die zeitliche Zuordnung paßt genau.
  10. In der Vorlage steht: „Detekive“.
  11. In der Vorlage steht: „das“.
  12. In der Vorlage steht: „unangnehmen“.