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Die leuchtende Fratze

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 18

 

Die leuchtende Fratze.[1]

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

 

Lizabet Doogstons Opfer.

 

Harst hatte unsere Abreise von Lahore ohne jede Angabe von Gründen so sehr beschleunigt, daß es auf mich ganz den Eindruck machte, als fürchte er irgend einen raffiniert ausgeklügelten Anschlag auf sein Leben. In aller Stille waren wir abends in einem Mietauto auf Umwegen nach einer kleinen Bahnstation an der Strecke nach Amritsar gefahren und hatten den Nachtzug bestiegen, in dem unser Freund Major Marconnay für uns eine Schlafwagenkabine unauffällig belegt hatte. – Ich war recht enttäuscht über diesen Ausgang unseres Abenteuers auf oder besser unter dem Goranna-Hügel; ich hatte erwartet, Harst würde so manches, was bei diesem Attentat auf den Gubdu-Stein noch unklar war, schließlich doch noch aufzuklären suchen, insbesondere sich eingehender mit dem geheimnisvollen James Palperlon beschäftigen, dessen Person mir jetzt weit wichtiger erschien als Warbatty-Doogston.

Wie das so seine Art ist, sprach Harst über die ganze Angelegenheit in den folgenden Tagen kein Wort mehr. Diese Tage waren recht anstrengend, da wir ohne Unterbrechung unsere Reise fortsetzten. Was wir hier in der berühmten Hafenstadt sollten, wo wir schon einmal so wenig angenehme Dinge erlebt hatten, wußte ich nicht. Ich wußte überhaupt nichts, – nicht einmal, ob Harst das ganze Warbatty-Abenteuer endgültig aufgegeben habe. Wir waren in Bombay in einem kleinen, bescheidenen Hotel abgestiegen und ruhten uns nun erst einmal gründlich aus. Wenigstens tat ich dies, denn Harst hatte schon am zweiten Tage nach unserer Ankunft so allerlei vor, was mir[2] keinerlei Interesse abgewinnen konnte. Er ritt und ging viel spazieren, obwohl damals gerade eine unerträgliche Hitzewelle bei völliger Windstille über dem schönen Bombay lagerte. Außerdem war er noch leidenschaftlicher Amateurphotograph geworden, hatte sich eine neue Rollfilm-Kamera gekauft und saß nun oft bis nach Mitternacht auf und entwickelte in unserem gemeinsamen Zimmer die am Tage gemachten Aufnahmen. Ich sah mir die Negative davon des öfteren an, weil ich vermutete, er könnte doch bereits wieder mit Vorbereitungen für eine neue Einkreisung Warbattys beschäftigt sein. Die Bilder zeigten jedoch durchweg nur landschaftlich schöne Punkte der Umgebung.

So vergingen weitere fünf Tage. Ich begann mich zu langweilen. Ich war doch schon zu sehr daran gewöhnt, den dauernden Nervenkitzel einer aufregenden Verbrecherjagd zu schüren, um auf die Dauer eine solche Untätigkeit wie jetzt als angenehm zu empfinden.

Am sechsten Morgen nach unserem Eintreffen in Bombay fand ich beim Erwachen Harsts Bett leer. Er hatte sich ganz lautlos angekleidet und war davongeschlichen. – Ich klingelte nach dem Frühstück. Die Hotelbediensteten waren sämtlich Hindu. Unser Zimmerkellner brachte mir dann außer dem Frühstück noch einen versiegelten Brief für mich, der erst vor wenigen Minuten im Hotel durch einen Boten abgegeben worden war.

Die Anschrift auf dem Umschlag war mit Bleistift sehr flüchtig hingekritzelt. Trotzdem erkannte ich sofort Harsts charakteristische Buchstaben. In dem Umschlag steckte – eine Photographie, und auf der Rückseite dieses 9 mal 12 großen, unaufgezogenen Bildes stand – wieder mit Bleistift: „Belege eine Kabine auf Dampfer Theseus, der morgen mittag nach Suez abgeht, schaffe unser Gepäck rechtzeitig hin und erwarte mich an Bord. – H.“

Also wirklich – es ging offenbar wieder der deutschen Heimat zu! Harst mußte Warbatty-Doogston und dessen heimtückischen Feind Palperlon sozusagen ad acta gelegt haben. – Mir wollte dies gar nicht recht in den Kopf! Er, der doch Frau Lizabet Doogston so fest zugesagt hatte, ihren Gatten aus den Händen dieses Scheusals von Palperlon zu befreien, sollte tatsächlich jetzt auf den ferneren Kampf verzichten?!

Ich hatte mich gerade vor dem Spiegel des großen Kleiderschrankes rasiert, als der Kellner erschienen war, setzte nun diese Morgenarbeit fort und kümmerte mich nicht weiter um den braunen Burschen, der jetzt das Teebrett auf den Balkon hinaustrug und dann im Zimmer ein wenig aufräumte. Den Briefumschlag und das Bild hatte ich auf den Schreibtisch gelegt, der links vor dem zweiten Fenster stand.

Da – fast hätte ich mir eine gehörige Schmarre am Kinn beigebracht! – da sah ich etwas, das mein Zusammenzucken durchaus rechtfertigte. Der Kellner ahnte nicht, daß ich ihn im Spiegel genau beobachten konnte, oder er mag an diese Möglichkeit nicht gedacht haben. Er hatte sich nämlich über den Schreibtisch gebeugt, tat, als ob er von der Platte Staub abwische, und – drehte dabei die 9 mal 12-Photographie, die mit der Bildseite nach oben lag, schnell um und sah sich Harsts Bleistiftzeilen an.

Diese Neugier war umso verdächtiger, als die Hindu zumeist nur lateinische Schriftzeichen kennen. Ein Inder, der auch deutsche Schriftzeichen kann, muß schon ein sehr gebildeter Mann sein.

Ich verriet im übrigen in keiner Weise, daß ich unserem braunen Ganymed jetzt mißtraute, nahm nachher aber das Bild mit an den Frühstückstisch und betrachtete es mir genauer. Auf dem Balkon war es trotz des Leinendaches sehr hell. – Ich hätte mir diese photographische Aufnahme ja auch ohne den Zwischenfall mit dem Kellner in Ruhe und eingehender betrachtet, tat es jetzt aber doch mit einer gewissen argwöhnischen Sorgfalt, die insofern nicht nur berechtigt, sondern auch nötig war, als man bei Harst niemals wissen konnte, ob eine solche Benachrichtigung, die hier doch noch so wenig ihrem Inhalt nach zu ihm zu passen schien, nicht ganz anders gemeint sei.

Das Bild war eine Aufnahme eines Eingangs einer Tempelruine. Links von dem verfallenen Tor war die Mauer mit alten Inschriften und Bildwerken – Tierfiguren und Götzen – geschmückt. Vielleicht wäre einem anderen Betrachter, der nicht gerade wie ich das Glück gehabt, eines Harald Harst Freund, Privatsekretär und Schüler zu sein, die winzige Kleinigkeit gar nicht aufgefallen, die ich nun plötzlich auf der Photographie entdeckte.

Mitten in den alten indischen Schriftzeichen bemerkte ich nämlich ein ganz deutlich erkennbares deutsches E. Dieser Buchstabe ist für unsere deutsche Schrift charakteristisch. Da er nur ganz geringe Anlehnung an die lateinische als die Vorgängerin der deutschen zeigt. Das lateinische E und das deutsche E besitzen nicht jene Übereinstimmung in der Führung der Hauptlinien, wie zum Beispiel das lateinische F oder das deutsche F, und so weiter.

Das E fiel mir auf. Und als ich nun ganz genau hinsah, bemerkte ich auf der haarscharfen Photographie sofort noch mehr Sonderbares: nämlich noch andere deutsche Buchstaben, die sehr geschickt unter die indischen gemischt waren. Und sehr bald hatte ich dann folgenden Satz zusammengestellt:

Erwarte Dich in Baroda. Sehr vorsichtig bei Hinreise.

Aha – Baroda. Das war ja die Stadt, in der Warbatty-Doogston nach der bei einem seiner Helfershelfer aufgefundenen Liste ebenfalls eine Gastrolle und zwar seine letzte in Indien hatte geben wollen! Das bedeutete nichts anderes als die Fortsetzung des Kampfes.

Mit einem Schlage war meine bequeme Gleichgültigkeit dahin. Ich hatte eine Aufgabe – und sicherlich keine ganz einfache. Denn nicht nur Harsts so überaus schlau ersonnene Mitteilung, die einem Vexierbilde glich, sondern auch die Neugier des Kellners bewiesen mir, daß ich von Spionen umgeben war, denen zu entgehen nicht leicht sein würde.

Ich will meinem Freunde Harst hier gewiß kein besonderes Loblied singen und seine Erfindungsgabe nicht herausstreichen. Dessen bedarf es nicht. Aber hinweisen möchte ich doch auf diesen geradezu genialen Trick, durch den er mir gleichzeitig zwei Befehle zukommen ließ, von denen der eine, der geschriebene, offenbar für die Spione und der andere, der photographierte, für mich bestimmt war. –

Da ich nun auf diesem Bilde so Merkwürdiges herausgefunden hatte, stieg in mir ganz unwillkürlich der Gedanke auf: Vielleicht hat Harsts Filmverschwendung in den letzten Tagen ebenfalls lediglich den Zweck gehabt, sich auch mit anderen Personen auf dieselbe geheime Weise zu verständigen.

Ich holte mir also aus seinem Koffer den Karton, in dem er die hier in Bombay gemachten Ausnahmen aufbewahrte, hervor und sah mir diese Bilder mit Polizeiaugen an.

Und – tatsächlich: unter den 62 Aufnahmen gab es drei, die gleichfalls zu sehr geschickten Vexierbildern umgewandelt waren, indem Harst in die Negative mit einer Nadel das eingeritzt hatte, was später auf den Positiven als dunklere Linien erscheinen sollte.

Da war zuerst eine Aufnahme einer Parkpartie mit vier abgestorbenen, entblätterten Bäumen links in der Ecke. In das Astwerk dieser Bäume war der Satz in lateinischen Buchstaben hineingezaubert:

Werde Ihnen beistehen. Weiteres folgt.

Dann eine Aufnahme eines Kistenstapels am Hafenkai. Hier waren in die Signaturen der Kistenwände wieder einige Worte hineingemogelt:

Er in Baroda. Bitte abwarten.

Schließlich in die Felstrümmer eines malerischen Abhangs:

Nach Baroda zu Laki Sing Dau Turbane.

– Diese letzte Benachrichtigung für – ja, für wen wohl, fragte ich mich. – Nun – es konnte sich nur um Lizabet Doogston handeln, denn in der ersten dieser drei Mitteilungen stand ja: Werde Ihnen beistehen! – Also die letzte Benachrichtigung war mir am wertvollsten? Laki Sing Dau, Turbane, – das konnte ja nur irgend ein Mittelsmann sein, bei dem Harst mit Frau Doktor Doogston zusammentreffen wollte. Und dieser Laki Sing Dau war fraglos ein Turbanmacher, was dem deutschen ehrbaren, aber durch die moderne Zeit etwas entwerteten Berufe eines Mützenmachers entspricht.

Harsts Photographierwut hatte nun also eine ausreichende Erklärung gefunden, bewies mir außerdem noch, daß er das Warbatty-Abenteuer nie aufgegeben hatte und daß er triftige Gründe gehabt haben mußte, Frau Doogston nur auf diese etwas umständliche Art – durch die Bilder – Nachricht zukommen zu lassen. Jedenfalls befand ich mich nun wieder mitten drin in der gewohnten, nervenaufpeitschenden Tätigkeit als Gehilfe des Mannes, der im Verlaufe eines Jahres wohl der berühmteste Liebhaberdetektiv des ganzen Erdenrunds geworden war. –

Meine „Abreise“ mit dem Lloyddampfer Theseus läßt sich in wenigen Sätzen erledigen. Ich vertraute mich dem Kapitän Winter an, bei dem der Name Harst sofort Wunder wirkte. – Kurz vor der Abfahrt des Schiffes stand ich an der Reling, so recht sichtbar für auf dem Kai lauernde Spione. Plötzlich tauchte dann neben mir der bewußte Kellner aus unserem Hotel auf. „Master Harst hat etwas liegen lassen,“ erklärte er. „Ich soll es ihm persönlich abgeben.“ – „Gut – Kabine Nr. 11. Harst schläft jedoch. Kannst Du mir das Betreffende nicht aushändigen? Harst fühlte sich nicht ganz wohl.“

Der Hindu war ein langer dünner Mensch mit ein Paar unheimlichen Glutaugen. Ich fühlte, wie mißtrauisch er mein Gesicht beobachtete. Ich spielte aber wohl recht gelungen den lediglich um Harsts Schlaf Besorgten, denn er händigte mir nun das kleine Päckchen aus und verschwand wieder. Das Päckchen war offenbar eine Pappschachtel, die man in braunes Papier gehüllt und versiegelt hatte. – Wenige Minuten später wurde zusammen mit einigen Frachtstücken vom Vorderdeck des Theseus auch eine Holzkiste auf den Kai geschafft, in der nicht nur unsere Koffer sich befanden, sondern auch ein Mensch in sehr unbequemer Lage hockte. Und dieser Mensch verließ abermals zwei Stunden später das Haus eines guten Freundes des Kapitäns Winter in der Verkleidung eines arabischen Händlers. Ich war’s. – Um sechs Uhr nachmittags bestieg ich den Zug nach der Hauptstadt Baroda des gleichnamigen Fürstentums, das direkt nördlich von Bombay in der Provinz Gudscharat liegt. Um zehn Uhr abends war ich in Baroda. Der Bahnhof, etwas außerhalb in der modern gebauten Vorstadt gelegen, entspricht in seiner Größe nicht ganz einer Residenz von rund 120 000 Einwohnern. Immerhin gab es vor dem Bahnhofsgebäude genügend sehr gut bespannte leichte Wagen, von denen einer mich nach der Basarstraße der Eingeborenenstadt brachte, wo ich bestimmt die Wohnung des Turbanmachers zu erfahren hoffte. – Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon der dritte Hindu, den ich fragte, wies mich nach einer an einem schmalen, schmutzigen Kanal entlanglaufenden Seitengasse. Das Haus Laki Sing Dau’s war bald gefunden. Es sah etwas sauberer als die übrige Umgebung aus, wozu freilich nicht viel gehörte, denn das alte Baroda ist, mit Verlaub zu sagen, ein elendes Drecknest.

– – – – – – – –

Im Erdgeschoß lag des Turbankünstlers Laden. Die Tür war verschlossen, und einen zweiten Eingang gab es nicht. – Während ich noch gegen die Tür hämmerte, vernahm ich auf dem Kanal eilige Ruderschläge und das Quietschen von hölzernen Ruderdollen. Ich schaute mich um und gewahrte eines der flachen, indischen Flußboote, die meist sehr leicht gebaut sind und sich ebenso leicht fortbewegen lassen. Da das Boot auf die Uferstelle gegenüber dem Hause Dau’s zusteuerte, erschien es mir ratsam, mich zunächst still zu verhalten. Zu meinem Erstaunen war der schmale Nachen dann jedoch urplötzlich verschwunden. Er konnte nur, da die Kanalböschung senkrecht etwa zwei Meter tief bis zum Wasserspiegel abfiel und mit Balken verkleidet war, in eine Wasserpforte in eine unter der Straße entlangführende Abzweigung eingebogen sein.

Ich hatte vor der Haustür im Schatten eines verandaähnlichen Vorbaus gestanden. Man konnte mich kaum bemerkt haben. Dies machte mir Mut, so etwas auf eigene Faust dem Boote nachzuspüren. Das Holzgestell mit meinen zwei Warenballen, das ich auf dem Rücken trug, stellte ich jetzt in eine Ecke des Vorbaus und schlich nach dem Kanal hinüber, legte mich lang hin und versuchte, etwas von der Wasserpforte zu erspähen. Es war jedoch so dunkel, daß ich nichts als eine fortlaufende Reihe dicker Balken undeutlich erkannte. – Ich wollte mich gerade wieder aufrichten, als dicht vor mir von der Oberfläche des Kanals eine Stimme leise rief:

„Verschwinde gefälligst, lieber Alter. Du bist im Begriff, die Geschichte hier gründlich zu verderben. Mach’, daß Du ins Haus kommst. Links an der Wand neben der Tür ist ein Glockenzug in den Ranken der Kletterrosen –“

Harst! – Aber – nur sein Kopf ragte über das übelduftende Wasser hinaus, wurde jetzt auch schnell undeutlicher und tauchte in der Dunkelheit des jenseitigen Ufers unter. –

Gleich darauf hatte ich den Griff der Zugglocke gefunden, und kaum drei Minuten nach dem ersten Läuten tat sich lautlos die Tür auf und eine Stimme flüsterte aus der Finsternis des Flurs heraus: „Schnell – treten Sie ein!“

Das war ein Englisch, wie’s nur jemand spricht, der es jahrelang Tag für Tag als Umgangssprache benutzte; und das war eine Stimme, die nur einer Frau gehören konnte. Ich riet auf Lizabet Doogston.

Ich holte mein Händlertraggestell und ging in das Haus hinein. Ich stand in tiefstem Dunkel, hörte das Rauschen von Frauengewändern und das Zuschnappen eines Schlosses. Dann wurde von einer Petroleumlaterne ein Tuch entfernt. Der rötliche Lichtschein glitt über mich hinweg, und die Trägerin der Laterne flüsterte: „Kommen Sie, Master Schraut –“

Ich folgte der Frau. Es war wirklich Lizabet Doogston, die unglückliche Gattin des Mannes, den wir seit Monaten als Cecil Warbatty so hartnäckig verfolgt hatten. – Durch den Laden und die dahinter liegende Werkstatt ging’s über einen kleinen Hof in eine Art Schuppen aus Brettern und luftgetrockneten Lehmziegeln. In dieser elenden Bude hingen an Schnüren lange feuchte Tücher. Laki Sing Dau färbte sein Arbeitsmaterial selbst, wie ich später erfuhr. An der Rückwand des Schuppens standen Kisten und Körbe. Mistreß Doogston klemmte sich zwischen diesen und der Wand hindurch, öffnete eine hier verborgene kleine Brettertür und führte mich so in den Hof des Nachbargrundstücks und dann in ein verfallenes Häuschen, das unbewohnt zu sein schien. Ich war daher recht überrascht als sie mich nun im Erdgeschoß linker Hand in ein Zimmer einließ, das ganz wohnlich hergerichtet war. Eine große Petroleumlampe brannte auf einem sauber gedeckten Tische, auf dem allerlei kalte Speisen standen.

„Hier sind wir sicher,“ sagte Frau Doogston müde und ließ sich in einen Korbstuhl fallen. „Entschuldigen Sie, Master Schraut, – ich kann mich aber kaum mehr auf den Füßen halten. Machen Sie es sich bitte bequem. Dort steht auch Ihr Abendbrot bereit. Langen Sie zu. Ich wußte, daß ich Sie um diese Zeit erwarten durfte. Herr Harst hatte es mir signalisiert –“

Die Ärmste sah wirklich entsetzlich verfallen aus. In Amritsar war sie noch eine leidlich blühende Frau gewesen. Jetzt machte sie einen geradezu greisenhaften Eindruck.

„Mrs. Doogston,“ sagte ich nun und reichte ihr mitfühlend die Hand, „haben Sie denn inzwischen so Schreckliches erlebt, daß –“

Sie hatte qualvoll aufgeseufzt. „Ja, ja,“ rief sie leise und rang verzweifelt die Hände. „Grauenhafte Tage und Nächte der Angst und Sorge liegen hinter mir. Ich bin am Rande meiner Kräfte. Es muß ein Ende werden mit alledem – so oder so!“

„Was ist denn geschehen?“ fragte ich, vollständig verwirrt von diesem jammervollen Aufschrei einer gepeinigten Frauenseele und den mir unverständlichen Andeutungen.

„Wie, Sie wissen nichts?“ Ich sah den Unglauben in ihren weiten, krankhaft schillernden Augen.

„Nein – nichts. Harst tat in Bombay so, als ob er nichts mehr für Sie oder gegen James Palperlon unternehmen wollte,“ erwiderte ich etwas kleinlaut, denn ich schämte mich geradezu, eingestehen zu müssen, daß Harst mich so wenig eingeweiht hatte.

Frau Doogston schüttelte jetzt den Kopf. „Wie unverständlich ist doch Ihres Freundes Tun und Lassen!“ meinte sie trübe und nachdenklich. „Und – wie ist es überhaupt möglich, daß er vor Ihnen verheimlichen konnte, was er inzwischen abermals in aufopferndster Weise in meinem Interesse –“

Sie schwieg plötzlich. Ihr Blick war auf ihre Armbanduhr gefallen.

„Oh,“ rief sie, „beinahe hätte ich die Zeit verpaßt. Bitte begleiten Sie mich, Master Schraut. Vielleicht hat Harst auch für Sie besondere Befehle bereit.“

Sie nahm die Laterne, führte mich auf das flache Dach des Häuschens. Die Dachluke war offen gewesen. Der Deckel lag daneben. – Es war jetzt heller geworden. Der Mond stand als fast volle Scheibe am nächtlichen Firmament, hatte aber einen dünnen Dunstschleier. – Um uns herum träumte die armselige Eingeborenenstadt in friedlicher Ruhe. Nur hin und wieder kläfften ein paar Hunde; zuweilen hörten wir auch das Rollen von Eisenbahnwagen und das Pfeifen der Lokomotiven vom Bahnhof herüberschallen.

Frau Doogston wies auf ein etwas höheres, mindestens 200 Meter abliegendes Gebäude.

„Geben Sie acht,“ meinte sie leise. „Von dort her kommen die Lichtsignale.“

Gleich darauf blitzte drüben wirklich ein strahlend heller Punkt auf. – Frau Doogston hielt schon Papier und Bleistift bereit, notierte nun durch Punkte und Striche die Aufeinanderfolge der langen und kurzen Lichtzeichen. – Dann waren wir wieder unten in dem bescheidenen Zimmer. Ich half, die Buchstaben des Morsealphabets ins Englische zu übertragen. Bald war die Arbeit erledigt. – Harsts Nachricht lautete:

„Mut! Zuversicht! Und Geduld! – Schraut soll um 2 Uhr morgens an der Westecke der Parkmauer des Nazar Bagh-Palastes sein.“ –

Ich hatte mich bereits vorher über die Sehenswürdigkeiten Barodas aus einem Reisehandbuche genügend unterrichtet. Der Nazar Bagh-Palast liegt hinter dem Schlosse des Fürsten auf einer Anhöhe neben der großen Arena für Tier- und Athleten-Wettkämpfe. Er wird jetzt nur noch als Schatzkammer der Juwelen der Fürstenfamilie benutzt, deren Wert auf 70 Millionen Mark geschätzt ist. Auch dies hatte mir das Reisehandbuch verraten. –

Da es mittlerweile ½1 Uhr geworden, zwang Frau Doogston mich nun, noch ein paar Bissen zu mir zu nehmen. Dann geleitete sie mich wieder durch das Grundstück des Turbanmachers auf die Straße, drückte mir nochmals stumm die Hand und kehrte in das baufällige Häuschen zurück.

Die Straße war völlig menschenleer. Trotzdem hielt ich den gespannten Revolver jeden Augenblick bereit. Mir begegneten auch ein paar zweifelhafte Gestalten, die mich jedoch nicht weiter belästigten. Der Hindu hat vor jedem Araber Respekt, fürchtet dessen rücksichtslose Selbstverteidigung. Diese Beobachtung kann man überall in den Hafenplätzen der Westküste Vorderindiens machen.

Sich zu dem Palast durchzufinden, war leicht. Er überragt ja die ganze, sonst völlig ebene Stadt. Zweimal kamen mir Polizeipatrouillen entgegen. Ich verbarg mich vor ihnen in tiefen Torbögen. Die Polizei in Baroda wird von den Engländern geleitet. Bezahlen muß sie der Gaekwar (Fürst; wörtlich übersetzt heißt Gaekwar seltsamerweise Kuhhirt. Freilich sind in dem Staate Baroda mit seiner hochentwickelten Viehzucht die Kuhhirten seit Jahrhunderten nur Brahmanen, also Zugehörige der vornehmsten Kaste). – Als ich dann durch die Anlagen vor dem Schlosse nach links abbog, glaubte ich hinter mir auf der frisch gewalzten Straße Schritte zu hören. Ich konnte jedoch nichts Verdächtiges bemerken und setzte mich in Trab, trat nur ganz leise auf und langte etwas atemlos schließlich an der Westecke der weißgestrichenen sehr hohen Steinmauer an, blieb aber vorsichtshalber hinter einem starken Fächerpalmenstamm stehen und beobachtete erst eine Weile die Umgebung, bevor ich auf die Mauerecke zuschritt. Dort wuchsen ein paar jener so überaus stark duftenden, fliederähnlichen Sträucher, die der Inder sehr poetisch „Finger des Indra“ nennt. Ich hätte mir in unmittelbarer Nähe dieser niederen Büsche unfehlbar in kurzem starke Kopfschmerzen geholt und zog es daher vor, sechs Meter weiter nach Süden mich am Fuße der weißen, sehr hohen Mauer niederzusetzen.

Kaum hatte ich diesen Platz eingenommen, als auch schon über mir eine wohlbekannte Stimme halblaut ertönte: „Gut, daß Du da bist. Richte Dich auf. Dann kann ich auf Deine Schultern steigen.“

Und Harst schwang sich nun von der Mauerkrone gewandt herab; stand vor mir, reichte mir die Hand.

„’n Abend, mein Alter. – Du hast Dich bewährt,“ sagte er freundlich, aber sehr ernst. „Die Vexierphotographien zu entziffern, war nicht ganz leicht. Ich rechnete damit, daß Du hinter diesen Trick kommen würdest. Frage jetzt nichts. Wir haben noch viel zu erledigen. – Vorwärts!“

Er schritt voran, bog um die Mauerecke und folgte der Mauer nach Nordost zu. Er trug die gelbe Leinenuniform eines der Polizisten des Gaekwar, dazu einen martialischen schwarzen Schnurrbart und einen langen schmal geschnittenen Vollbart. – Etwa achtzig Schritt von der Mauerecke entfernt sprang die Mauer rechtwinklig ein und umging so eine Felspartie, die hier in einem so flachen Lande wie Baroda immerhin eine Merkwürdigkeit war.

Harst begann die Felsen zu erklettern. Ich blieb dicht hinter ihm. Bald hatten wir eine Anhöhe erklommen, von der wir über die Mauer in den Park hineinsehen konnten.

Der Mond hatte seine Wolkenschleier gelüftet und zeigte uns sein strahlend-freundliches Gesicht. So konnte ich denn auch wahrnehmen, daß die etwa vier Meter hohe Parkmauer an der Innenkante ein schräges spitzes Gitter besaß, das sehr stark und dauerhaft zu sein schien. – Ich bemerkte aber jenseits der Mauer auf einer vom Monde hell beschienenen Lichtung noch etwas: schlanke, schmale, große Tierkörper, die mit katzenartigen Bewegungen eine bestimmte Stelle umschlichen.

„Tiger,“ sagte Harst leise. „Der Gaekwar läßt seine Schätze nachts von sechs dieser Bestien bewachen. An der Parkmauer sind alle fünfzig Schritt Warnungstafeln angebracht: „Das Betreten des Parkes ist verboten und lebensgefährlich!“ – Nun – so schlimm ist’s nicht, wenn man vorsichtig ist. Ich war ja soeben auf jener Lichtung und habe erst einen, dann noch einen zweiten frisch geschlachteten Hammel dort niedergelegt, um die lieben Tierchen für seine Weile zu beschäftigen. Wie Du siehst, haben sich fünf der Tiger bereits um das leckere Mahl versammelt. Der sechste wird durch den Blutgeruch auch bald angelockt werden. – Ich denke, wir können nun getrost versuchen, den Kopf auszugraben.“

„Ah – und der Kopf ist im Parke verscharrt worden?“ fragte ich etwas kleinlaut.

„Ja. Vor sechs Tagen. – Es handelt sich um folgendes. Der Nazar Bagh-Palast steht völlig leer. Nur im Erdgeschoß wohnte ein alter Pförtner namens Schan Bera. Dieser würdige Hindu und erprobte Diener des Fürsten ist vor einer Woche plötzlich verschieden.“

„Wie, – und nun – willst Du den Kopf –“

Harst hatte bereits den Abstieg begonnen, wandte sich halb um.

„Ja – nun will ich den Kopf ausgraben. Ich möchte die Drüsen untersuchen –“

Das war alles, was ich über diese seltsame Angelegenheit vorläufig zu hören bekam.

Harst schritt mir voraus an der Nordseite der Mauer entlang. Dann machte er halt, holte aus einem Gebüsch einen eisernen Spaten und ein langes Tau hervor, das an einem Ende einen einfachen Eisenhaken hatte.

– – – – – – – –

Harst warf den eisernen Haken geschickt so über die Mauer, daß er sich oben in dem schrägen Eisengitter verfing.

Er kletterte dann als erster auf die Mauerkrone, rief mir nach wenigen Minuten leise zu:

„Es ist alles in Ordnung. Los denn!“

Er half mir, und ich langte glücklich neben ihm an.

Das Tau wurde nun hochgezogen und auf der Innenseite der Mauer hinabgelassen. – Wieder rutschte Harst als erster hinab. Unten holte er sofort seinen Revolver hervor, lauschte eine Weile und winkte mir dann.

Als ich nun neben Harst stand, sagte er ernst:

„Wir wollen in jedem Falle vorsichtig sein. Der Gaekwar läßt die Tiger absichtlich schlecht füttern, damit sie stets angriffslustig sind. Ich hoffe ja, daß die beiden Hammel ihre Schuldigkeit tun werden. Aber – man kann nie wissen, was geschieht. – Ich möchte – nein ich muß Schüsse nach Möglichkeit vermeiden. Durch zwei, drei Revolverknalle könnte hier alles verdorben werden. Warte also ab, was ich tue –“

Er reichte mir den Spaten. „Bleibe dicht hinter mir. An der südlichen Ecke des zweiten Gewächshauses ist die Stelle –“

Wir schlichen lautlos die Zypressenallee entlang. Nach 60 Schritt gab es in dem Marmorgeländer einen Durchlaß. Harst bog hier ab. Wir hatten jetzt einen schmalen Streifen Gebüsch vor uns. Dahinter mußte das Gewächshaus liegen.

Unangefochten kamen wir auch an die Südecke. Harst zeigte auf den Boden dicht vor einem riesigen Blumenkübel aus Ton.

„Los – grabe, – aber vorsichtig, sobald Du einen Fuß tief etwa bist –“

Ich konnte doch nicht die etwas scheue Frage unterdrücken: „Hier liegt die Leiche?“

„So fang doch an!“ meinte Harst ungeduldig.

Ich grub bald mit aller Behutsamkeit. Dann spürte ich etwas Hartes, kratzte die Erde davon ab und bückte mich. Ich hatte zunächst nur ein Loch von ungefähr einem halben Quadratmeter ausgehoben. Und gerade in der Mitte dieses Loches erkannte ich nun in dem freigelegten Gegenstande den – Leib einer fast armdicken Schlange.

„Weiter – weiter!“ meinte Harst erregt. „Wir sind ja an der richtigen Stelle. Der Kopf muß auch zu finden sein.“

Ich sagte nichts. Aber ich war innerlich empört, daß Harst mich bis jetzt bei dem Glauben belassen hatte, es handele sich um einen menschlichen Kopf.

Ich arbeitete emsiger als zuvor. Jetzt hatte ich keine Scheu mehr vor dieser „Leiche“.

Dann stieß ich auf den vom Rumpfe abgetrennten Schlangenkopf. Es war der einer Kobra, einer Brillenschlange. Ich hatte ihn mit dem Spaten herausgehoben und hielt ihn Harst hin.

„Da!“ sagte ich kurz.

Ich blickte gleichzeitig auf. Und ich sah, daß Harst unverwandt nach rechts hinüberschaute, wo in dem Buschstreifen neben der Allee eine Lücke war.

In dieser Lücke vom Monde klar beschienen, stand regungslos ein Tiger. Regungslos bis auf den katzenartig hin und her pendelnden, langen Schweif.

Alles Blut drängte mir plötzlich zum Herzen. Funken sprühten mir vor den Augen.

Die Bestie war ja keine zehn Schritt entfernt.

Auch ich war zur Bildsäule geworden; wagerecht hielt ich den Spaten mit dem darauf liegenden Giftschlangenkopf.

Harst bückte sich plötzlich, griff in das Erdloch, in dem der fast drei Meter lange Leib des toten Reptils offen da lag.

Dann – dann schwang er diesen eklen Rumpf der Kobra wie einen Lasso um den Kopf.

Ich hatte mich unwillkürlich gebückt.

Der Schlangenleib flog davon – flog dem Tiger mit dem einen Ende gegen den Kopf. –

Indien ist das Land der Tiger und der Giftschlangen. Jeder Tiger fürchtet die Kobra. Diese Furcht liegt ihm im Blute, ist eine ererbte Eigenschaft, ist instinktiv. Der Tiger weiß, daß er wohl imstande ist, das Reptil durch einen Tatzenhieb zu töten, weiß aber auch, daß er an dem Biß der Schlange verenden muß. –

Mit dieser Furcht hatte Harst offenbar gerechnet. Und – er hatte sich nicht verrechnet.

Der Tiger hatte kaum die Witterung seiner gefährlichsten Feindin in die Nase bekommen – und das geschah, als ihm der Kadaver an den Kopf flog, als er auch schon einen Satz nach rückwärts tat und dann mit einem zweiten jenseits der Allee in den Büschen verschwand.

Harst hatte ein Taschentuch hervorgeholt, wickelte den Schlangenkopf darin ein und sagte ganz ruhig:

„Die Geschichte hätte unangenehm werden können. Es war natürlich der sechste Tiger, der auf meine Hammel nicht reagiert hat. – Gehen wir, sobald Du das Loch oberflächlich zugeschüttet hast. Erst muß aber noch der Kobrarumpf hinein.“

Ich beeilte mich nach Kräften. Dieser so scharf bewachte Park war kein Aufenthalt nach meinem Geschmack.

Als das Loch wieder ausgefüllt war, stampfte Harst die Erde fest und meinte dabei: „Ich hatte wenig Hoffnung, daß wir den Schlangenkopf hier noch finden würden. Eigentlich spricht die Tatsache, daß wir ihn gefunden haben, sehr gegen meine Annahme. Na – wir werden ja gleich nachher die Drüsen untersuchen.“ –

Wir gelangten unangefochten wieder über die Mauer und schlugen den Rückweg nach der Stadt ein.

Ich hatte soviel zu fragen, daß ich wirklich nicht wußte, womit ich beginnen sollte. – Harst sagte jedoch plötzlich:

„Ich ahne, daß Du nun am liebsten über mich herfallen und Deinen Fragekasten ausräumen möchtest. Du kannst Dir das sparen. Shesney, der Detektivinspektor und jetzt mein freundlicher Logiswirt erwartet mich mit einem Eiskaffee und einer tadellosen Zigarette, die beinahe so gut wie meine Mirakulum schmeckt. Mein Vorrat meiner Spezialmarke ist ja leider zu Ende. Es wird Zeit, daß wir wieder nach Berlin kommen. Ich sehne mich geradezu nach Berliner Luft. – Also Shesney erwartet uns, auch Dich. Sein Heim liegt im neuen Stadtteil am Bahnhof. Wir sind sehr bald angelangt. – Übrigens: hast Du das Päckchen geöffnet, das der spionierende Kellner, der natürlich von Palperlon bestochen war, Dir auf dem Theseus überreichte?“

„Nein. Wie durfte ich das! Der Hotelwirt hat es an Dich adressiert.“

„So so. – Na – dann laß es vorläufig liegen, wo es liegt. Hast Du es in Deine Händlerballen mit eingepackt? – Ja? Nun – rühre es nicht an. Man kann nie wissen, was drin ist. Ich möchte es selbst öffnen. Jedenfalls ist es natürlich plumper Schwindel, daß in unserem Zimmer etwas liegen geblieben sein soll. Ich kenne Dich doch. Du packst sorgfältiger als ich. – So – da wären wir –“

Er betrat einen Garten, in dem ein hellgestrichener Bungalow lag. Zwei Fenster waren erleuchtet. Diese gehörten zu Shesneys Arbeitszimmer.

Ich lernte nun den Detektivinspektor von Baroda kennen. – Richard Shesney war ganz der Typ des feingebildeten, etwas reservierten Engländers, trotzdem aber von einer Liebenswürdigkeit, die gerade durch ihre feine Abtönung so sehr bestach.

Harst ließ uns beide sofort allein und verschwand in seinem Fremdenzimmer, das rechts neben dem Arbeitszimmer des Inspektors lag. Da Harst von dem Kobrakopf Shesney gegenüber nichts erwähnt hatte, erklärte ich jetzt auf dessen Bemerkung, Harst neige stark zu übertriebener Geheimniskrämerei:

„Ganz recht, Master Shesney. Ich bin doch sein Privatsekretär und Freund. Und trotzdem weiß ich noch jetzt nicht, was er hier in Baroda vorhat.“

„Nicht möglich,“ meinte der Inspektor. „Dann können wir uns ja gegenseitig trösten. – Nur etwas ist mir bekannt, was auch Sie noch nicht wissen dürften: daß mein Kollege, der Polizeiinspektor Orkney, jede Nacht um ½12 der von Harst in dem unbewohnten Häuschen untergebrachten Dame ein paar Worte oder Sätze vom Dache der Polizeiwache des Eingeborenenviertels signalisieren muß.“

Er hatte „einer Dame“ gesagt! Also kannte er deren Namen wohl kaum.

„Wer ist diese Frau eigentlich, Master Schraut?“ fuhr er fort. „Harst tut mit ihr so geheimnisvoll und ist um sie so besorgt, daß –“

– – – – – – – –

„– es vielleicht gar seine Gattin ist!“ vollendete Harst von der Tür her mit leisem Auflachen, trat dann näher und setzte sich zu uns an den Tisch, auf dem eine wundervolle alte Bronzelampe brannte, die für elektrisch Licht umgearbeitet war.

Harst hatte jetzt Bart und Perücke abgelegt und zeigte uns sein glattrasiertes, kluges und doch so energisches Gesicht, in dem die Augen jetzt lebhafter glänzten, als ich dies an ihm gewohnt bin. – Er langte nach einer Zigarette. Nach den ersten Rauchwölkchen sagte er dann:

„Lieber Shesney, die Stunde ist da, wo ich Ihnen und meinem Freunde Schraut einen Überblick über das geben will, was ich hier jetzt als „neuen Fall“ bearbeite. Ich bemerke jedoch im voraus: viel ist es nicht, was ich an Tatsachen vor Ihnen ausbreiten kann. Ich betone: an Tatsachen! Denn – auf Kombinationen geben Sie ja nichts. Diese Art Berufsarbeit halten Sie für zwecklose Gehirngymnastik –“

„Stimmt. Ich rechne nur mit dem, was ich sehe.“

„So so. Dann haben Sie gerade die besseren Augen bisher nicht benutzt, nämlich die geistigen. Bekehren Sie sich, Shesney! Glauben Sie mir: unsere Augen sind verdammt unzuverlässig, wenn man sie nicht ständig mit dem Verstande kontrolliert. – Zunächst nur eine Frage: Als Master Marconnay Ihnen aus Lahore das chiffrierte Telegramm in meinem Auftrage schickte, worin ich Sie bat, sehr sorgfältig in nächster Zeit auf alles zu achten, was sich hier in Baroda nur irgendwie Auffälliges ereignen sollte, und als Sie mir dann Ihren Kollegen nach Bombay sandten mit der Mitteilung, daß man den alten, in Nazar Bagh-Palast seit vielen Jahren wohnenden Pförtner morgens tot im Parke des Palastes neben einer ausgewachsenen Kobra gefunden hätte, die ihn mehrfach in das Bein gebissen und der er dann den Kopf mit einem eisernen Spaten abgeschlagen hatte: ist Ihnen da an diesem neuen Todesfall durch Giftschlangen so gar nichts aufgefallen?“

Shesney zuckte die Achseln. „Ich bitte Sie – in Indien sterben jährlich Hunderttausende durch das ekle Gewürm. Niemand regt sich hier über einen solchen Unglücksfall auf. Es ist nicht anders, als wenn bei Ihnen in Europa jemand vom Blitz erschlagen wird. Man kann die Giftschlangen hier ebenso wenig ausrotten, wie in Europa die Gewitter verscheuchen. Mein Vergleich mag etwas gewaltsam sein. Aber ich finde keinen besseren.“

„Hm – in Europa, oder doch jedenfalls in Deutschland würde man aber eine aufgefundene Leiche sehr genau daraufhin untersuchen, ob auch wirklich ein Blitz die Todesursache war, denn – Todesursachen lassen sich vortäuschen!“

„Was – was heißt das“ fuhr der Inspektor auf. „Glauben Sie etwa, daß der alte Schan Bera nicht durch die Bisse der Kobra. – Aber – das ist ja Unsinn, bester Harst! Das Bein war blauschwarz und dick geschwollen. Ich habe doch bereits einige vierzig Leute gesehen, die durch Schlangenbisse –“

„– ja – und gerade der 41. ist nur scheinbar ein Opfer einer Brillenschlange geworden!“ unterbrach Harst ihn. „Ich kann Ihnen dies jetzt beweisen. Schraut und ich haben vorhin den Kopf der Kobra ausgegraben, und ich habe soeben dessen Giftdrüsen untersucht, die bekanntlich nur prall gefüllt sind, wenn das Reptil längere Zeit die Giftzähne nicht benutzt hat. Und diese Giftdrüsen sind bei der hier in Frage kommenden Kobra, wie ich feststellte, wirklich prall gefüllt. Mithin kann diese Kobra niemals den alten Schan Bera viermal ins Bein gebissen und seinen Tod verschuldet haben. Die Bißstellen sind vielmehr künstlich hervorgerufen, das heißt, man hat den Greis überfallen, am Schreien verhindert und ihn mit vergifteten Nadeln in das Bein gestochen, hat ihn auch so lange festgehalten, bis das Gift gewirkt hatte. Die Kobra wurde nur zum Schein neben den Toten gelegt. Aber der oder die Mörder begingen den Fehler, eine Kobra zu benutzen, die wie erwähnt prall gefüllte Giftdrüsen hatte. – So muß der Mord verübt worden sein. – Wie ich überhaupt Verdacht geschöpft habe, daß ein solcher vorliegen könnte? – Sehr einfach, bester Shesney: weil das Gift einer Kobra nicht so schnell wirkt, daß es Schan Bera nicht mehr möglich gewesen wäre, bis vor den Palast zu eilen und Leute herbeizurufen, die ihm geholfen hätten, das Bein abzubinden und die Bißstellen auszubrennen. – Ja – gerade dieser Umstand, daß er tot neben der geköpften Kobra lag, erregte sofort meinen Argwohn. – Hier haben Sie also so einen Fall, lieber Shesney, bei dem das Sehen mit den geistigen Augen etwas mehr ans Tageslicht förderte als das, was lediglich der Augenschein lehrte.“

Der Inspektor nickte nachdenklich. Ich aber fragte voller Interesse:

„Die Leiche wurde morgens im Parke gefunden? – Wer sperrte denn die Tiger nach Tagesanbruch wieder ein? Etwa dieser Schan Bera?“

Shesney bejahte. „Die Bestien sind nämlich daran gewöhnt, nach Sonnenaufgang in ihrem Käfig ihre Mahlzeit vorzufinden. Das Raubtierhaus liegt an der Rückseite des Palastes, von dem eine Holzbrücke zum Dache des Käfigs führt. Der Pförtner konnte also ohne jede Gefahr für sich nachsehen, ob die Tiger im Käfig waren, brauchte dann nur die Falltür wieder herabzulassen und hatte dann die Bestien eingesperrt. So wird es jetzt auch Schan Beras Nachfolger machen.“

Harst hatte soeben eine neue Zigarette angezündet und sagte nun: „Hören Sie jetzt das weitere. Ich werde mich mit Depeschenstil begnügen. Die Sachlage in Lahore war die: Warbatty-Doogston und Palperlon waren uns entwischt, – ob ich sie absichtlich entschlüpfen ließ, bleibe unerörtert. – Wir, Warbattys Gegner, wußten bereits, daß er Arzt ist, mit richtigem Namen Doktor Reginald Doogston heißt, in Margate in England beheimatet ist und daß ein gewisser James Palperlon aus Eifersucht ihn durch Hypnose zu einem nichtsahnenden, blind gefügigen Verbrecher gemacht hatte. Nicht Warbatty ist also der Schuldige, sondern Palperlon. Dies erwähne ich für Sie, lieber Shesney.“

„Unglaublich!“ rief der Inspektor. „Wenn mir nicht Harald Harst dies erzählen würde, müßte ich den auslachen, der mir –“

„Schon gut, Shesney. Sie werden noch weit Unglaublicheres hören. – Frau Lizabet Doogston, des Arztes Gattin, ist ihrem unglücklichen Manne nun nach Indien gefolgt. Ich hatte versprochen, ihr beizustehen, damit der Doktor dem Satan von Palperlon entzogen und in einem Sanatorium untergebracht würde. Wir waren außer Verbindung in Labore. So depeschierte ich denn ihrem Bruder, dem Ingenieur Albström in Amritsar, er solle seine Schwester sofort nach Bombay schicken, wo ich mit ihr alles weitere vereinbaren würde. – In Bombay merkte ich gleich am ersten Tage, daß unser Zimmerkellner ein Spion war. Er verriet sich dadurch, daß er meine Brieftasche, die ich im Zimmer auf dem Tisch hatte liegen lassen, durchschnüffelte, während wir auf dem Balkon frühstückten. Ich hatte die Tasche nachher innen ganz leicht mit Graphit bestreut, den ich von einem Bleistift abgeschabt hatte. So fand ich bald an meinen Papieren schwärzliche Fingerabdrücke, die besonders stark auf einem Blatt ausgeprägt waren, an dem ich mir Lizabet Doogstons Lebensgeschichte kurz notiert hatte. – Eine unauffällige Nachfrage bei dem Hotelwirt brachte weiter an den Tag, daß unser Kellner erst nach unserer Ankunft für einen plötzlich erkrankten Kollegen eingesprungen war.“

„Weshalb bestellten Sie Frau Doogston gerade nach Bombay?“ fragte Shesney jetzt.

„Weil Baroda nicht weit entfernt ist und weil eine so große Hafenstadt wie Bombay meine Arbeit mir erleichtert. Die Hauptsache: ich wußte, daß Warbatty in Baroda wieder einen großen Coup unternehmen sollte. – Meine Ausflüge in die Umgebung Bombays und meine Photographiewut – dies sei für Dich gesagt, lieber Schraut – hatten ihre guten Gründe. Ich hatte von der Bombayer Polizei einen kleinen Rennkraftwagen zur Verfügung gestellt bekommen, der mich in vier Stunden nach Baroda brachte. Ich konnte also, als ich erst festgestellt hatte, daß Warbatty und Palperlon bereits in Baroda waren, gleichzeitig an zwei Orten tätig sein. – Nun zu einigen Einzelheiten. Außer dem Kellner hatten Schraut und ich noch drei andere Aufpasser um uns. Wenigstens versuchten diese drei es, mich nicht aus den Augen zu verlieren. Sie abzuschütteln, war nicht schwer. – Hier in Baroda bat ich Sie, bester Shesney, sofort um Ihre freundliche Unterstützung. Sie empfahlen mir Laki Sing Dau, den Turbanmacher, als verschwiegenen, zuverlässigen Junggesellen. Inzwischen war Frau Doogston in Bombay angelangt. Ich merkte sofort, daß auch sie von Palperlons Kreaturen überwacht wurde. Ich durfte sie in ihrem Hotel nicht aufsuchen. Niemand sollte ahnen, daß noch eine Verbindung zwischen uns bestand. So kam ich auf den Gedanken der Vexierphotos.“ – Er erklärte Shesney diese Art von geheimer Nachrichtenübermittlung, und der Inspektor war ganz begeistert davon.

„Frau Doogston, der ich die Bilder ins Hotel als gewöhnlichen Brief geschickt hatte,“ fuhr Harst fort, „war gewitzt genug, den wahren Zweck der Aufnahmen zu erraten und die Buchstaben und Worte herauszufinden. Sie gehorchte und begab sich unter den größten Vorsichtsmaßregeln nach Baroda. Die Dame in des Turbanmachers unbewohntem Häuschen, lieber Shesney, ist also niemand anders als „Warbattys“ Gattin. – Jetzt zu der Hauptsache, nämlich der Frage: was für einen verbrecherischen Anschlag auf das Eigentum seiner Mitmenschen gedenkt Palperlon hier durch sein Werkzeug Doogston-Warbatty ausführen zu lassen? Ich kann diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten; ich kann nur darauf hinweisen, daß, als der alte Hausmeister Schan Bera ermordet wurde, Palperlon und Doktor Doogston bereits hier in Baroda waren, daß Schan Bera die Schlüssel zu den Türen des Nazar Bagh-Palastes neben sich liegen hatte, als man ihn tot auffand, – will weiter nur bemerken, daß sein Nachfolger ein alter Engländer namens Singkins geworden ist, und daß – in den Gewölben des Palastes die Familienkleinodien der Fürsten von Baroda in einer modern gebauten Stahlkammer lagern, zu der der Gaekwar selbst den Schlüssel besitzt, nur er! Hinweisen möchte ich noch auf die Tatsache, daß der alte Kanal, der die Eingeborenenstadt durchfließt, sich auch am Ostabhang der Anhöhe entlangzieht, auf der der Palast und weiterhin die große Arena liegt. Zugeben muß ich, daß ich in der verflossenen Nacht – besser am verflossenen Abend – einem verdächtigen Nachen nicht zum ersten Mal aufgelauert habe, und daß ich weiß, wo er herkommt und wo er verschwindet. Sein Besitzer ist ein Hindu, der schon mehrfach im Gefängnis gesessen hat und dessen zwei Söhne genau so übel berüchtigt sind. Der Mann wohnt neben Laki Sing Dau, und die mit Pfählen verkleidete Kanalböschung hat gerade vor Laki Sings Hause eine gut verborgene Pforte, die den Zugang zu einem engen, überdeckten Graben bildet, der unter des Nachenbesitzers Grundstück hinweggeht und weiter sich bis in den sogenannten Heiligen Teich hineinerstreckt.“

„Ganz recht!“ bestätigte der Inspektor eifrig. „Dieser Graben stammt noch aus der Zeit, als die Fürsten von Baroda über die ganze Provinz Gudscharat herrschten.“ Dann sprang er von seinem Sessel auf und stellte sich vor Harst hin.

„Bester Harst,“ sagte er leise, aber sichtlich sehr erregt, „Sie meinen, dieser Palperlon beabsichtigt einen Anschlag auf die Familienschätze des Gaekwar. Ist’s nicht so?“

„Ich weiß es nicht bestimmt, Shesney. Wir werden aber wohl bald Gewißheit haben.“ – Er gähnte recht ungeniert. „Ich bin müde, Shesney. Auch Schraut wird der Schlaf nötig sein. – Morgen abend treffen wir uns wieder vor dem Mauerwinkel, aber bereits um ¾10, und zwar oben zwischen den Felsen.“ – Gleich darauf führte der Inspektor mich durch den Garten nach einer engen Seitengasse. Ich gelangte dann unangefochten bis zu dem Hause des Turbanmachers, läutete und mußte eine geraume Weile warten, bevor Frau Doogston mir öffnete. Sie brachte mich nun im Nebenhäuschen in einem Erdgeschoßzimmer unter, dessen Tür der ihren gegenüberlag. Sie fragte mich natürlich nach allem möglichen aus, war dann aber recht enttäuscht, als ich ihr erklärte, Harst wisse selbst noch nicht, wie dieses Abenteuer hier enden werde. Den Mord an dem alten Hausmeister verschwieg ich absichtlich. Konnte man wissen, ob nicht ihr unglücklicher Gatte ihn wieder begangen hatte – auf Palperlons Befehl? – Frau Doogston wünschte mir sehr niedergeschlagen eine gesegnete Nachtruhe. – Mein Bett war nur ein mit Decken belegtes Holzgestell. Ich lag noch sehr lange wach. Ich prüfte nochmals in Gedanken alles das, was Harst dem Inspektor und mir mitgeteilt hatte. Und – ich gewann so die Überzeugung, daß er uns gut die Hälfte von dem verschwiegen hatte, was er über die Zusammenhänge zwischen dem Morde und dem Nachen wußte. Ich fand folgende Fragen heraus, die Harst doch zweifellos mit Absicht offen gelassen hatte:

1. In welcher Verkleidung halten Palperlon und Doogston sich hier auf, und wo ist ihr Schlupfwinkel?

2. Gehörten der Nachenbesitzer und dessen Söhne zu Palperlons Helfershelfern?

3. Weshalb erwähnte Harst, daß die Schlüssel des Palastes Nazar Bagh neben dem toten Pförtner lagen?

– Aus diesen drei Fragen ließen sich viele andere ableiten. – Und je mehr ich jetzt in diese Sache eindrang, deren Mittelpunkt mir der Mord an Schan Bera zu sein schien, desto klarer wurde mir, daß es hier ohne Zweifel um die Millionenwerte der fürstlichen Familienschätze ging.

Schließlich erbarmte sich meiner doch schließlich der das logische Denken ausschaltende Bruder des Todes, der Schlaf. Desto verworrener waren meine Träume.

– – – – – – – –

Ich erwachte erst gegen elf Uhr vormittags. Frau Doogston holte mich dann zum Frühstück in ihr Zimmer hinüber. – Ich will über diesen Tag kurz hinweggehen. Ich blieb in unserem Häuschen, und die Unterhaltung mit Lizabet Doogston enthüllte[3] mir immer mehr einen Frauencharakter, wie man ihn nicht oft finden wird. –

Um ½10 verließ ich das Häuschen. Es hatte schon vorher sacht zu regnen begonnen. Bei der Siedetemperatur in Baroda konnte man diesen Regen nur freudig begrüßen. Er kühlte die Luft etwas ab. – Ich langte bereits eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit bei der Felsenanhöhe an. Auch Shesney stellte sich recht früh mit einem seiner Beamten ein. Die beiden trugen heute die Kleidung der ärmeren Bevölkerung und nicht Uniform. Es war dies auf Harsts Wunsch geschehen, wie der Inspektor mir mitteilte. Weiter erzählte er mir, daß er Harst den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen habe, seit sie sich um 9 Uhr früh nach dem Frühstück getrennt hätten. –

Harst selbst erschien dann erst kurz vor zehn Uhr. Er hatte gleichfalls Eingeborenentracht angelegt. Er war über und über mit lehmiger Erde beschmutzt und sehr erhitzt.

„Wir können sofort ans Werk gehen,“ sagte er nach kurzer Begrüßung. „Die Kerle werden sehr bald wieder Feierabend machen.“ – Weiter äußerte er sich über seine Absichten nicht. –

Wir eilten nun nach Norden zu um die Parkmauer herum, bis wir die Ostseite erreicht hatten. Der Palast erhob sich mit seinen Nebengebäuden jetzt unmittelbar vor uns. Nur die Mauer und ein Gebüschstreifen von kaum fünf Meter Breite trennte uns davon. – Der Hügel fiel hier nach Osten, wie Harst schon erwähnt hatte, ziemlich steil mit seinen lehmigen, harten Wänden ab. – Wir mußten mit aller Behutsamkeit abwärts klettern. Dann standen wir – es war infolge des anhaltenden Sprühregens noch dunkler – am Ufer des alten Kanals. Harst schlich jetzt voran. Wir gingen dicht hintereinander. Der Kanal hatte hier ganz niedrige Ufer, die sanft geneigt und mit Steinen belegt waren. – Plötzlich mußten wir uns lang auf den lehmigen Boden legen. Links von uns stieg der Abhang wohl zwanzig Meter empor; rechts befand sich der Kanal. – Ich hatte den Platz dicht am Ufer. Und so gewahrte ich denn sehr bald einen Nachen, der halb auf den Steinen der Böschung lag. – Nach fünf Minuten bereits stieß mich der neben mir liegende Inspektor an und flüsterte: „Harst wünscht nicht, daß Sie bei der Überrumpelung der drei Kerle mithelfen. Sie sollen nur darauf achtgeben, daß die Burschen nichts ins Wasser werfen.“

Von den folgenden Ereignissen nahm ich nicht viel wahr. Shesney war plötzlich von meiner Seite verschwunden. Dann bemerkte ich links vor mir einige Gestalten, hörte halb unterdrückte Rufe und – nun rechts von mir ein platschendes Geräusch im Wasser. Ich schnellte mich sofort vorwärts, sprang in den Kanal hinein, dessen Wasser mir bis zum Gürtel reichte, und erwischte noch glücklich einen Sack, der nur unten ein paar schwerere Gegenstände enthielt.

Dann arbeitete ich mich aus dem schlammigen Kanal wieder heraus und stieß nun auf der Böschung auf Harst und die beiden Polizeibeamten, die inzwischen drei Hindu an Händen und Füßen gefesselt hatten. Neben den Gefangenen lag eine längliche Kiste.

Harst öffnete diese, leuchtete mit der elektrischen Taschenlampe hinein und sagte sehr gelassen: „Ganz wie ich’s erwartet hatte! Ein Sauerstoffgebläse nebst allem Zubehör zum Schmelzen von Stahlplatten! – Die Juwelenkammer des Gaekwar dürfte ausgeräumt sein. – Schütte doch mal den Inhalt des Sackes aus, den der Alte wegwarf, Schraut.“

Ich tat’s. Und – heraus fielen ein Dutzend goldene, altertümliche, mit Edelsteinen verzierte Becher, zwei goldene Räucherschalen und noch zehn ebenso kostbare andere Stücke.

„Aha – der Lohn der Helfershelfer!“ meinte Harst. „Nun – sehr glänzend ist dieser Beuteanteil nicht!“ –

Shesney forderte den Besitzer des Nachens auf, besser sofort ein volles Geständnis abzulegen, um mit einer geringeren Strafe wegzukommen. Der Mann sah seine Sache verloren und gab nun folgendes an: Vor sechs Tagen sei ein persischer Kaufmann zu ihm gekommen und habe ihn durch Geld und Versprechungen dazu bewogen, bei einem Anschlag gegen die Stahlkammer des Palastes mit seinen Söhnen mitzuhelfen. Er hatte zugesagt und mußte nun jeden Morgen kurz vor Tagesanbruch mit seinem Nachen das Sauerstoffgebläse bis hier an den Abhang und weiter dann durch einen bis unter die Gewölbe des Palastes reichenden, gemauerten Gang in einen Kellerraum bringen. Der unterirdische Gang war durch Gestrüpp an seiner Mündung am Fuße des Lehmabhangs gut verdeckt und stammte sicherlich noch aus alter Zeit her. – Unter Anleitung eines Hindu, der aber ein verkleideter Europäer gewesen und an der linken Hand nur vier Finger gehabt hatte, mußten die drei Inder dann tagsüber von dem Kellerraume aus der Stahlwand der Kammer zu Leibe gehen. Erst heute kurz vor Dunkelwerden war die Arbeit so weit gediehen, daß sie in die Stahlkammer eindringen und sie ausräumen konnten. Der verkleidete Europäer hatte lediglich die kostbarsten und leichtesten Kleinodien in zwei Koffer gepackt und sie, seine Helfershelfer, dann fortgeschickt. Was aus ihm geworden, wüßten sie nicht. – Der Einbruch in die Stahlkammer mußte tagsüber gefördert werden, weil während der Nacht regelmäßig vier Mann von der Leibgarde des Fürsten in den Gewölben patrouillierten. Am Tage waren die Keller nur selten und dann nur von dem neuen Hausmeister betreten worden, der sich aber nie die Mühe gemacht hatte, die Nebenkeller zu durchsuchen. – Soweit das Geständnis des alten Spitzbuben. Er und seine Söhne wurden nun in dem Nachen verstaut, den Shesneys Beamter dann allein nach der Stadt ruderte, um dort die Verbrecher im Polizeigefängnis abzuliefern. –

Harst hatte das Geständnis des alten Hindu nur einmal mit der Frage unterbrochen: „Habt Ihr denn den Perser nochmals zu Gesicht bekommen?“ worauf der Alte erwidert hatte: „Nein – niemals mehr. Jedenfalls war der Vierfingerige nicht der Perser Sahib!“ –

Der Nachen mit den Gefangenen war in dem über dem Kanal lagernden Dunkel verschwunden. Harst stand noch immer regungslos da und starrte dem Boote anscheinend in tiefes Nachdenken verloren geistesabwesend nach.

Shesney wurde ungeduldig. „Was fehlt Ihnen, Harst?! Sie machen ja ein Gesicht als ob –“

„– als ob die Sache schief gehen wird,“ vollendete Harst. „Vorwärts – versuchen wir einzurenken, was noch einzurenken ist. Niemals hätte ich vermutet, das Palperlon so – so unverfroren sein könnte, sich dort zu verbergen. Ich habe ihn wie eine Stecknadel hier gesucht. Daß er in Baroda sein müßte, nahm ich als bestimmt an. Aber daß er sich im Nazar Bagh-Palast eingenistet hätte, – damit habe ich nicht gerechnet.“

Er eilte uns voran. Sobald wir die Höhe des Hügels erreicht hatten, ging’s im Trab weiter. Harst war stets einige zwanzig Schritt voraus. – Shesney keuchte neben mir her.

„Master Schraut, was meinte er nur mit diesem „sich eingenistet haben“?“ fragte er.

„Keine Ahnung!“

Wir bogen jetzt auf den freien Platz vor dem großen, schmiedeeisernen Parktor ein.

Plötzlich Harsts laute Stimme: „Hierher –! Schraut – den Weg ihnen abschneiden!“

Ich sah undeutlich einen der plumpen, zweiräderigen Lastwagen, die zumeist nur mit einem Pferde oder einem Kamel in Nordindien bespannt sind. Hier war ein Kamel das Zugtier. Der Wagen kam vom Parktor her, fuhr jetzt immer schneller. – Ich raste nach links hinüber. Ich hatte wenig Hoffnung, der beiden Kerle, die oben in dem Wagenkasten hockten, noch habhaft zu werden.

„Schießen!“ brüllte Harst wieder.

Shesney war jetzt neben mir, kam mir zuvor. Ich hätte bei diesem Licht und auf solche Entfernung mit dem Revolver wohl auch kaum getroffen.

Der Inspektor feuerte im Laufen. Nach dem dritten Schuß machte das Kamel einen wilden Satz nach vorwärts.

Dann war der Wagen in dem stärker fallenden Regen außer Sicht.

Harst hatte uns erreicht, trabte gleichmäßig weiter, indem er rief: „Das Tier ist getroffen –“

Wir verfolgten nun die Hauptstraße nach der Stadt zu. Eine Polizeipatrouille kam uns nach etwa vier Minuten entgegen. Die Leute hatten keinen Lastwagen bemerkt.

Mit keuchender Brust berieten wir.

„Die Kerle müssen links in das Eingeborenenviertel eingebogen sein,“ meinte Shesney. „Dort haben sie die meiste Aussicht, in den winkligen Gäßchen zu entschlüpfen.“

Die Polizeipatrouille – drei Mann – half suchen. Zehn Minuten später war der Wagen gefunden. Leer natürlich. Das Kamel gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. Es lag noch eingespannt quer über einer ganz engen, dunklen Gasse.

Harst sprach jetzt so gut wie nichts. Ich merkte ihm an, daß er sehr unzufrieden mit sich war.

„Wo befinden wir uns hier etwa?“ fragte er den Inspektor dann.

„Hm,“ meinte Shesney, „dort links muß der alte Kanal liegen.“

„Vielleicht haben die beiden im Hause des Nachenbesitzers Zuflucht gesucht,“ sagte Harst etwas lebhafter. „Sie haben ja die beiden Koffer mit den Juwelen bei sich. Damit kommen sie zu Fuß nicht weit –“

Das Grundstück des alten Verbrechers, das links an das Laki Sing Dau’s grenzte, wurde mit Hilfe schnell herbeigeholter Polizeiverstärkung umstellt. Harst leitete die Durchsuchung und entdeckte auch einen Geheimkeller, der mit Diebesgut bis oben gefüllt war. Nur – die Flüchtlinge fand er nicht.

Inzwischen hatte Shesney nicht nur die ganze Polizeimacht, sondern auch die Leibgarde des Fürsten alarmiert. Mit Autos, Fahrrädern, zu Pferde wurde die Stadt und die Umgebung abgesucht. Harst, Shesney und ich saßen auf der Polizeiwache des Eingeborenenviertels und warteten auf irgend eine günstige Meldung. Harst war geradezu niedergeschlagen. – Ein Beamter brachte jetzt vom Nazar Bagh-Palast die Nachricht mit, daß die vier Wachen, die in dieser Nacht dort Dienst gehabt hätten, offenbar[4] durch ein Schlafmittel betäubt in dem vordersten Gewölbe lägen.

Harst begann nun endlich, Shesney und mir zu erklären, weshalb er so gedrückter Stimmung sei.

„Sie sollen jetzt alles wissen,“ meinte er. „Ich habe hier eine böse Schlappe erlitten, und hoffte doch, Palperlon für immer unschädlich zu machen und Doktor Doogston dann mit Hilfe seiner Frau bewegen zu können, zunächst ein Sanatorium aufzusuchen, bis die Untersuchung der Warbatty-Angelegenheit beendet sei. Seine Unschuld ist ja klar erwiesen – jetzt schon! – Es ist anders gekommen, durch meine Schuld. Sie werden bald verstehen, welchen Fehler ich gemacht habe. – Als die Leiche Schan Beras mit den Schlüsseln neben sich aufgefunden worden war und ich sofort dabei an einen gewaltsamen Tod des Alten gedacht hatte, war mir auch gleichzeitig der Gedanke gekommen, dieser von mir geargwöhnte Mord könnte vielleicht die Einleitung zu einem gegen die Familienschätze des Gaekwar geplanten Anschlage sein. Dieser Verdacht bestimmte mich, den Palast wiederholt zu umkreisen und mir seine Lage, Bauart und den ihn umgebenden Park aus der Ferne genauer anzusehen. Hierbei stieß ich nun auf Spuren von menschlichen Füßen an jenem Ostabhang der Anhöhe unweit eines Dickichts. Die Spuren schienen mitten in die Dornen hineinzuführen. Kurz: ich fand den alten Gang, der bis unter die Gewölbe des Palastes hinläuft; ich drang auch ein, aber eine starke, kleine Eisentür gebot mir dann bald Halt. – Mein Verdacht war nun noch reger geworden. Neben dem toten Pförtner hatten doch die Schlüssel gelegen! Von diesen Schlüsseln hatten die Mörder Wachsabdrücke nehmen und sich so Nachschlüssel anfertigen können! – auch zu dieser kleinen Eisentür! – Die Folge dieser Überlegungen war dann eine nächtliche Wache am Abhang, die mit jener Schwimmtour im Kanal endete, bei der wir – Schraut und ich – ein unerwartetes Wiedersehen feierten. Bis dahin hatte ich auch Doogstons Schlupfwinkel nicht gekannt. Nun kannte ich ihn: er hielt sich, als ärmlicher Hindu verkleidet, bei dem Nachenbesitzer auf. – Das wußte ich nun. Aber – wo steckte Doogstons böser Geist, wo steckte Palperlon?! – Und hier – hier versagte meine Detektivkunst diesmal! Hier beging ich den Fehler, mich nicht um Schan Beras Nachfolger zu kümmern, der ja ein älterer Engländer namens Singkins sein sollte! – Dieser Singkins ist fraglos der „Perser“, fraglos – Palperlon gewesen! Der Beamte, der uns die Auffindung der vier betäubten Wachen in den Gewölben des Nazar Bagh meldete, erwähnte ja auch, daß der neue Pförtner verschwunden sei, worauf Sie beide nicht recht geachtet haben! Die Flüchtlinge im Kamelwagen waren Doogston-Warbatty und Palperlon. Ich fürchte nur zu sehr, daß Palperlons überlegene Schlauheit des ganzen Verfolgeraufgebots spotten wird.“

Er stand auf. „Das Warten hier hat keinen Zweck. Wir könnten uns eigentlich einmal die erbrochene Stahlkammer ansehen.“ Er wollte noch mehr hinzufügen. Die Zimmertür öffnete sich jedoch und ein Beamter schob einen bärtigen, buckligen, kleinen Inder ins Zimmer, der dann sofort auf Shesney förmlich zuschoß, vor ihm mehrmals sehr unterwürfig dienerte und mit offenbar vor Angst schlotternder Kinnlade hervorstieß: „Sahib Inspektor, – Diebe, Einbrecher, Mörder –“

Er hielt plötzlich inne, schaute nach uns beiden hin und meinte: „Sahib Shesney, darf ich offen sprechen?“

„Gewiß, Laki Sing Dau, das darfst Du. Die beiden verkleideten Sahibs sind meine Freunde, und der kleinere ist der, den die Mem Sahib Doogston ebenfalls in dem Häuschen untergebracht hat.“ –

So lernte ich meinen Hauswirt, den wackeren Turbanmacher kennen. – Sehr wahrscheinlich hätte Shesney noch eine geraume Weile gebraucht, bis dieser kleine Angstmeier von Laki Sing Dau erklärt haben würde, weshalb er vorhin von Dieben, Einbrechern und Mördern gesprochen habe. – Harst mischte sich jedoch ein und fragte den Zwerg:

„Hast Du Fremde auf Deinem Grundstück gesehen oder verdächtige Geräusche gehört?“

Dies kürzte die Sache wesentlich ab, denn der Kleine erwiderte prompt: „Schüsse habe ich gehört – im Nebenhause, das doch auch mein ist, – dort wo die Mem Sahib Doogston –“

Harst rief schon dazwischen: „Wann – und wie viele Schüsse?“

„Vor einer halben Stunde. Und zwei Schüsse waren’s. Ich mußte mich erst ankleiden, bevor ich –“

Harst winkte uns schon zu. „Vorwärts! Ich ahne Furchtbares –“

Shesney und ich hasteten hinter Harst drein. Der Inspektor hatte Laki Sing noch schnell den Haustürschlüssel abverlangt. – Nun standen wir drei lauschend im Flur des Nachbarhäuschens vor Frau Doogstons Zimmertür. Harst hatte kräftig angeklopft. Als sich drinnen nichts regte, riß er die Tür auf – die Petroleumlampe brannte auf dem Mitteltisch. An diesem Tische saß ein ärmlicher Hindu, der die Arme auf die Tischplatte gelegt und das Gesicht darin vergraben hatte. Es war Doktor Reginald Doogston, denn an der linken Hand fehlte der Zeigefinger. Rechts von ihm standen auf dem Fußboden übereinander zwei ganz neue, mittelgroße Rohrplattenkoffer.

Harst, der leise auf den Tisch zugeschritten war, stutzte plötzlich, hob nun den Arm und deutete auf das an der Rückwand stehende Bett, auf dessen dunkler Decke eine Traumgestalt lag, deren weißes, von einer Fülle kastanienbraunen Haares umrahmtes Gesicht uns jetzt im Lichtschein der Lampe, die ich schnell vom Tische genommen hatte, ein friedlich stilles Lächeln zeigte. In der uns zugekehrten linken Schläfe aber befand sich ein dunkler, blutiger Fleck – eine Einschußöffnung. Eine Waffe war nirgends zu erblicken.

Der Mann am Tische regte sich noch immer nicht. Harst legte ihm nun die Hand auf die Schulter. – „Doktor Doogston!“ sagte er laut. – Ein gurgelndes Röcheln war die Antwort. – Da richteten Harst und Shesney ihn auf. Und nun erst gewahrten wir, daß der schmutzige Kittel Doogstons auf der Brust völlig in Blut schwamm.

Wir legten den Ohnmächtigen auf den Fußboden und schoben ihm eine Decke unter den Kopf. Eine Kugel war ihm über dem Herzen in die Brust eingedrungen und hatte diese quer durchschlagen. – Harst gelang es, den Sterbenden nochmals ins Bewußtsein zurückzurufen. Reginald Doogston schlug die Augen auf. Sein ernster, klarer Blick wanderte langsam über uns hin, blieb auf Harst schließlich haften.

„Ich erkenne Sie,“ sagte er leise, während ein feiner Blutfaden aus dem einen Mundwinkel das Kinn hinablief. „Sie sind Harald Harst. Dieser Teufel von Palperlon hat jetzt keine Gewalt mehr über meine Seele –“

Shesney hatte in einem Schranke ein Fläschchen Kognak gefunden. Doogston trank gierig. Dankbar nickte er dem Inspektor zu.

„Ich will wenigstens noch die Kraft haben, Ihnen den Ausgang dieser meiner Lebenstragödie zu schildern,“ begann er dann wieder. „Vielleicht sind mir diese Minuten noch gewährt. – Mein Geist ist völlig klar. Ich bin ja selbst Arzt und habe mich viel mit hypnotischen Experimenten beschäftigt. Palperlon hatte allmählich eine solche Macht über mich gewonnen, daß es ihm gelang, mich gleichsam in ein anderes Wesen zu verwandeln. Ich lebte zwei Leben. Nur ganz selten geschah es, daß Doktor Doogston undeutlich empfand, noch als andere Persönlichkeit aufzutreten. Die Wissenschaft kennt solche Fälle eines förmlichen Doppellebens infolge Suggestion. Dann hatte der Hypnotiseur stets seinen Einfluß auf das Medium derart gesteigert, daß dieses einen eigenen Willen überhaupt nicht mehr besaß und jeder Befehl so genau ausgeführt wurde, als handle der Hypnotiseur selbst. – Hier in Baroda mußte ich den Hausmeister des Palastes ermorden, damit Palperlon dessen Stelle erhielt. Er hatte dies so vortrefflich schon seit Monaten vorbereitet, daß es auch vollkommen gelang. Er war überzeugt, Sie, Herr Harst, wüßten nichts von diesen Vorbereitungen für die Beraubung der Stahlkammer, wüßten auch nicht, daß er im Nazar Bagh nun den Hausmeister spiele. Es beunruhigte ihn nur, daß er Sie hier in Baroda nicht entdecken konnte. Dann schickte ihm einer seiner Spione aus Bombay einen Film, den er Ihnen gestohlen hatte. In den Film waren nachträglich Worte eingekratzt. So erfuhr Palperlon, daß Lizabet in diesem Hause weilte. Er verschwieg es mir aber bis heute. Er hoffte, Sie durch Lizabet hier irgendwie ausfindig zu machen –“

Blutiger Schaum trat ihm vor den Mund. Er verstummte für eine Weile. Harst kniete jetzt neben ihm, säuberte ihm mit einem feuchten Tuche die Lippen. Gewiß ein Bild von erschütternder Tragik: Harst, der seinem Gegner Warbatty die letzten Liebesdienste erwies!

„Ich war wieder nur Warbatty,“ begann er noch leiser. „war also völlig nur das von Palperlons Willen abhängige Geschöpf, als Sie uns vor dem Eingang des Nazar Bagh überraschten und unser Zugtier den tödlichen Schuß erhielt. Palperlon erkannte, daß wir verloren waren oder die Beute preisgeben mußten, um ohne die Koffer die Flucht fortzusetzen. Da – dachte er an Lizabet, da erst erklärte er mir, daß meine Frau sich hier befand. Durch die Nachbarhöfe drangen wir unbemerkt in dieses Häuschen ein. Lizabet war noch wach und angekleidet. Bevor wir eintraten, erteilte Palperlon mir den Befehl, diese Frau Lizabet Doogston zu bitten, uns bei sich zu verbergen. Für mich, für Cecil Warbatty, war Lizabet nichts als ein weibliches Wesen, das mich nichts weiter anging. – Ich muß mich kürzer fassen; meine Kräfte schwinden. – Lizabet hat dann Palperlon mit dem Revolver dazu gezwungen, mich aus dem hypnotischen Zustand zu erwecken. Palperlon mußte gehorchen. Er sah Lizabet wohl an, daß sie ihn sonst erbarmungslos niedergeschossen hätte. Aber heimtückisch wie immer verstand er dann blitzschnell seine eigene Waffe zu ziehen. Er führte eine Mehrladepistole von großer Durchschlagskraft bei sich. Im letzten Moment bemerkte ich, daß er auf Lizabet anschlug, warf mich dazwischen. So – streckte die eine Kugel uns beide nieder. Aber – im Sturze bekam ich Lizabets Waffe noch in die Hand, feuerte auf Palperlon, muß auch getroffen haben. Er taumelte rückwärts. Und da – hörten wir durch die Wand vom Nebenhause her ein gellendes Geschrei. Es verstummte schnell. Aber – es genügte, Palperlon zu verscheuchen. Er entfloh. Mit letzter Kraft schleppte ich Lizabet dort auf das Bett. Noch einmal öffnete sie die Augen. Unsere Lippen fanden sich in einem langen Kuß letzter Zärtlichkeit. So starb sie. Ich aber wollte hier am Tische noch ein Geständnis niederschreiben über diese Vorgänge. Ich verlor aber das Bewußtsein.“ – Die Hand des Sterbenden suchte die Harald Harsts.

„Nur – ein – Mensch – kann mein – armes Weib – und mich – an – diesem – Satan – von Palperlon rächen, – nur Sie, Harst, – nur Sie! Versprechen – Sie mir –“ Seine Stimme erlosch. Die Lippen zuckten nur noch. Aber die Augen Reginald Doogstons ruhten mit forschendem Ausdruck in denen Harsts, schienen eine Antwort zu erflehen.

„Ihr Weib und Sie sollen gerächt werden!“ sagte Harst langsam und feierlich.

Doktor Doogstons Augen leuchteten auf. Seine Blicke schienen Harst zu danken. Dann reckte er sich noch einmal krampfhaft – und war tot. –

Am Morgen nach dieser Nacht erinnerte Harst sich an das Päckchen, das mir der Kellner auf dem Theseus ausgehändigt hatte. Er öffnete es mit aller Vorsicht. Es enthielt jedoch nur einen in einer flachen Pappschachtel liegenden Zettel, auf dem in einer sehr steilen, großen, schmucklosen Handschrift zu lesen war:

„Hüte Dich! Ich bin stets um Dich!“

„Das dürfte eine Drohung Palperlons sein,“ meinte Harst. „Seine erste, an mich gerichtete Äußerung. – Nun gut, James Palperlon, – ich erwidere Dir:

Hüte Dich! Ich bin stets um Dich!“ –

Der Kampf gegen Cecil Warbatty war[5] beendet. Es begann der neue Kampf. Palperlon mußte unschädlich gemacht werden. Etwa gleichzeitig mit diesem Vergeltungsfeldzug gegen Warbattys bösen Dämon fing auch Harsts die ganze kultivierte Welt in Spannung haltender Wettstreit mit seinem geheimnisvollen Konkurrenten Lihin Omen an. Es kam jene Zeit, in der wir bald in den Sandwüsten Nordmexikos, bald an den eisstarrenden Küsten Grönlands, bald in dem sonnigen Algerien dann wieder in den schneesturmdurchtosten Hochtälern Tibets uns befanden. – Ich werde die Abenteuer gleichfalls nach meinen Aufzeichnungen der Reihe nach schildern, und ich glaube schon jetzt versprechen zu können, daß auch diese Kämpfe zwischen Harsts hochentwickelter Intelligenz gegen verbrecherische Schlauheit und gegen neidvolle Fallstricke meine Leser nicht langweilen werden.

 

 

Die leuchtende Fratze.

 

Die Nachforschungen nach dem Verbleib James Palperlons hatten nicht das geringste Ergebnis. Und dabei wurde nichts von Inspektor Shesney verabsäumt, was irgendwie geeignet gewesen wäre, einen Erfolg herbeizuführen.

Wir, Harst und ich, waren jetzt beide des liebenswürdigen Detektivinspektors Gäste. Harst zeigte sehr wenig Interesse für all die Bemühungen Shesneys, den Mörder des Ehepaares Doogston festzunehmen. Er sagte unserem aufmerksamen Wirt am zweiten Tage nach jenem ereignisreichen Abend ganz offen, daß man einen Mann von der verbrecherischen Intelligenz eines Palperlon mit den gewöhnlichen Mitteln niemals fangen würde.

Ein dritter Tag verstrich. Shesney hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er baute darauf, daß ein Europäer in Indien nicht so leicht wie anderswo verschwinden könne und daß die ausgesetzte Belohnung von 300 Pfund Sterling auch die Augen des trägsten Beamten schärfen würde.

Am Abend dieses Tages kehrten Harst und ich gegen acht Uhr von einer Autofahrt durch die umliegenden Dörfer zurück. Die Provinz Gudscharat, insbesondere die weite Ebene um Baroda herum, ist außerordentlich fruchtbar. Hier wird auch ein Pferdeschlag gezüchtet, der in ganz Indien berühmt ist. Pferderennen spielen daher in Baroda und Bombay im Vergnügungsprogramm der Einwohner eine große Rolle. Wir hatten uns ein Gestüt im Dorfe Makresch angesehen, dessen Leiter ein gebürtiger Ostpreuße war, der uns mit Stolz die modernen Stallungen und die sonstigen Einrichtungen des Millionenunternehmens zeigte. –

Harst war seit dem Tode der beiden Doogstons sehr still und sehr ernst gestimmt. Ich merkte ihm an, wie nahe es ihm ging, daß er Lizabet Doogston vor diesem traurigen Ende nicht hatte bewahren können. Er sprach möglichst wenig von diesen Vorfällen, und wenn Shesney davon anfing, lenkte er die Unterhaltung stets schnell auf ein anderes Thema.

Auf der Veranda von Shesneys reizendem Bungalow erwartete uns der gedeckte Abendbrottisch. Der Inspektor hatte für Harst einen versiegelten Brief zurückgelassen. Darin stand, daß ihn der Gaekwar, also der Fürst von Baroda, plötzlich telephonisch ins Schloß beordert habe; wir möchten daher ohne ihn speisen.

Als Nachsatz aber hatte Shesney hinzugefügt: „Bester Harst, ich werde doch recht behalten: wir werden Palperlon noch in dieser Nacht fangen!“

Harst hatte mir den Brief über den Tisch zugereicht, meinte nun:

„Shesney jagt einem Schemen, einem Gebilde, nach, von dem er nur den Namen kennt. Du wirst mir recht geben, daß es so ist, mein Alter. In dem Steckbrief steht: „Mittelgroß, vermutlich blond; besondere Kennzeichen hier nicht bekannt. Dürfte versuchen, eine Verkleidung als Eingeborener anzulegen. Trug zuletzt die Maske eines graubärtigen Engländers – und so weiter.“ – Du hast diesen sogenannten Steckbrief selbst gelesen, Schraut. Es ist alles andere nur kein Steckbrief. Palperlon wird einen Lachkrampf bekommen, wenn er diese Veröffentlichung sieht, die doch nichts weiter ist als ein Eingeständnis der absoluten Unmöglichkeit, durch derart mangelhafte Angaben einen Verbrecher irgendwo aufstöbern zu können. – Shesney wird sich blamieren, fürchte ich. Nun – ich habe ihn ja gewarnt. Er weiß, daß ich es für ausgeschlossen halte, einen James Palperlon abzufassen wie jeden Alltagsmörder –“

„Hm – was sollte er wohl in den Steckbrief sonst noch hineinschreiben?“ wagte ich einzuwenden. „Wir selbst konnten Shesney doch nichts weiter für diesen Zweck angeben. Wir haben Palperlon ja nie recht zu Gesicht bekommen! Wir wissen nicht von seinem Aussehen, – ob er besondere Kennzeichen besitzt oder dergleichen. Es dürfte Dir daher auch sehr schwer werden, Dein Versprechen einzulösen und diesen Unhold unschädlich zu machen. Ich mochte bisher hierüber nicht sprechen. Jetzt will ich ehrlich sein: Auch Du jagst doch einem Schemen nach, – wenigstens so lange, bis Du nicht in England, besonders Margate genügend Material über Palperlons Person gesammelt hast, das Dir gestattet, Dir mosaikartig ein Bild dieses Menschen zusammenzustellen –“

„Margate?! England?!“ meinte Harst und begann ein kaltes Brathuhn zu zerlegen. „Margate, weil Doogston dort zu Hause sind?! – Lieber Alter, sei überzeugt: ein James Palperlon wird seine Persönlichkeit in so undurchdringliche Schleier gehüllt haben, daß ich mir die überflüssige Mühe spare, ein solches Mosaikbild zusammenzusuchen. Du unterschätzt dieses Genie. Bedenke, was er alles durch sein gefügiges Werkzeug Warbatty-Doogston an und ausgerichtet hat. Bedenke weiter, wessen dieser Mensch fähig sein muß, wenn er erst persönlich handelnd auftritt! Bedenke schließlich, daß er jetzt in seinem eignen Interesse darauf bedacht sein wird, mir meine Arbeit zu erschweren, denn – daß ich ihn nicht ohne weiteres laufen lassen werde, sagt er sich selbst! – Nein – wir müssen eben abwarten, ob dieses – Schemen nicht selbst sich uns in den Weg stellt. Und – er wird es tun! Sein Leben wäre fortan nur ein ruheloses Umherirren, wenn es ihm nicht gelingt, uns beide für immer von der Liste seiner Verfolger zu streichen; seine Sicherheit verlangt gebieterisch, uns aus dem Wege zu räumen und zwar – schleunigst! Ich rechne mit einem Angriff von seiner Seite schon für die allernächste Zeit.“

Ich ließ ein zweifelndes „Hm!“ hören, fügte hinzu: „Und ich rechne, daß er froh sein wird, den Staub Indiens von seinen Schuhen zu schütteln und einige hundert Seemeilen schleunigst zwischen sich und uns legen zu können! Vielleicht befindet er sich bereits an Bord irgend eines Dampfers und –“

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß Harst mit hochgerecktem Kopf über das Geländer der Veranda hinweg den Gartenweg entlangschaute, daß sein Gesicht einen Ausdruck von gespannter Erwartung angenommen hatte und über seine Lippen leise ein Name kam:

„Timoleit!“

Nun erhob er sich, rief:

„Hierher, Landsmann. Hierher!“

Ich stand gleichfalls auf. – Der breitschultrige, blonde Hüne, der nun die Verandastufen eilig emporschritt, war kein anderer als der Direktor des Makresch-Gestüts, das wir nachmittags besichtigt hatten.

Karl Timoleit nahm Platz, wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann:

„Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, Herr Harst, wer Sie sind, dann würde ich Sie doch schon in Makresch gebeten haben, mir so ein wenig zu helfen, diese alberne Geschichte aufzuklären, die meine braunen Angestellten seit zehn Tagen zu einer Herde verängstigter Affen gemacht hat. Aber erst als Sie wieder davongefahren waren, erinnerte ich mich, den Namen Harst letztens in der Zeitung gelesen haben. Na – so kam denn heraus, daß Sie doch fraglos jener berühmte –“

„Stopp,“ unterbrach Harst ihn. „Also gut – ich bin Harald Harst. Und nun kramen Sie Ihre „alberne“ Geschichte mal aus, Landsmann. – Darf ich Ihnen einen Whisky-Soda von Eis anbieten und eine Zigarre? – Da – bitte, bedienen Sie sich –“

„Danke – bin so frei. Lassen Sie sich beim Essen nicht stören. Die Sache ist nämlich so harmlos, daß ich nie wagen würde, Sie damit zu belästigen, wenn Sie nicht eben auch Deutscher wären und ich daher nicht zu fürchten brauche, Sie könnten mich auslachen, – insofern nämlich, als auch ich zuerst dieses leuchtende Gesicht für etwas Übernatürliches gehalten habe. – Die Geschichte ist mit ein paar Sätzen erzählt. Sie haben heute die Tempelruine gesehen, die im Garten unseres Verwaltungsgebäudes liegt. Ich sagte Ihnen, daß wir den noch gut erhaltenen Keller des alten Hindutempels als Kühlraum benutzen. Jeder unserer verheirateten Leute hat dort unten einen kleinen Holzschrank zu stehen. An der Mauer gegenüber dem Kellereingang zeigte sich nun – ja, es war genau heute vor zehn Tagen zum ersten Male – ein mit dicken Strichen gepinseltes Menschengesicht, ein Kopf, der in gelblich-weißem, mattem Lichte erstrahlte. Diese leuchtende, häßliche Fratze – in dem Keller ist’s auch am Tage stockdunkel – wurde jeden Tag sichtbar, meist mittags, und verlor erst nach einer Stunde langsam an Leuchtkraft, bis sie dann gänzlich wie weggewischt war. Die Weiber wollten sehr bald nicht mehr in den Keller hinein, um aus den Kühlschränken zu holen, was sie gerade brauchten. Auch meine Etienne, meine Frau wurde von dieser Angst angesteckt. Die Fratze an der Wand, die beinahe einen Meter lang war, wirkte ja ein bißchen unheimlich, das will ich nicht bestreiten. – Ich dachte natürlich sofort an irgend einen Schabernack, – daß vielleicht einer unserer Leute mit Phosphorfarben den Kopf hinpinselte. Aber – das war ein Irrtum von mir. Ich habe selbst im Keller aufgepaßt, um den Kerl abzufassen. Und so konnte ich in den letzten fünf Tagen mittags feststellen, daß die Fratze ganz von selbst auftauchte. – Mehr weiß ich darüber nicht anzugeben, Herr Harst. Eigentlich schäme ich mich jetzt, deswegen hier zu Ihnen nach der Stadt gekommen zu sein. Meine Frau riet mir ja auch davon ab. Aber – ich gehe eben allen Dingen gern auf den Grund.“

„Sie taten recht daran, lieber Landsmann, mir die Angelegenheit vorzutragen,“ erklärte Harst lebhaft. „Man soll derartige Dinge, die einen geheimnisvollen Anstrich haben, nie unbeachtet lassen. Man weiß nie, was dahinter steckt. Hier zum Beispiel, wo ein Schabernack scheinbar ausgeschlossen ist, wird wahrscheinlich – doch, wir wollen der Sache ganz systematisch zu Leibe gehen. Ich werde Sie morgen mittag wieder besuchen. Dann dürften wir sehr bald heraushaben, was das leuchtende Gesicht bezweckt. – Wenn Sie heute heimkommen, Landsmann, so erzählen Sie Ihrer Gattin, Sie hätten mich nicht angetroffen. Frauen plaudern gern. Und unser Besuch morgen bei Ihnen soll verborgen bleiben. Wir finden uns ganz unbemerkt gegen zwölf Uhr ein. Wachen Sie nur wieder im Keller. – Hat dieser eine verschließbare Tür?“

„Ja. Ich habe sie erst anlegen lassen. Vorher war nur ein Mauerloch vorhanden. Weitere Eingänge gibt es nicht. Oben der Tempel ist ja nur noch ein Schutthaufen.“

„Die Tür lehnen Sie dann bitte nur an. – Hat sich auf dem Gestüt oder im Dorfe Makresch in letzter Zeit sonst etwas ereignet, das irgendwie auffällig war? – Ich bitte Sie, sehr genau nachzudenken. Ich meine mit etwas Auffälligem auch Geschehnisse, die Ihnen vielleicht recht bedeutungslos vorkommen.“

Karl Timoleit paffte dicke Wolken aus seiner Zigarre und schien sich das Hirn geradezu zu zermartern. Dann erklärte er:

„Nichts, Herr Harst, – wirklich rein gar nichts!“

„Hm – als wir heute auf dem Gestüt anlangten, waren Sie doch zunächst offenbar sehr schlechter Laune. Ich hörte auch Ihre wetternde Stimme schon von weitem. Sie hatten Ärger gehabt?“

„Richtig – richtig, – ich war sogar wütend auf den verdammten Burschen, den Stalljungen Jimmy, der wieder weiß Gott wo gesteckt hatte, anstatt den „Stern von Siam“ den gewohnten Morgengalopp erledigen zu lassen. Der Hengst soll am nächsten Rennen in Bombay teilnehmen. Wir setzten unsere Hoffnung auf ihn; er muß das Viktoria-Rennen machen, wenn nicht gerade irgend ein Mißgeschick dazwischenkommt.“

„Jimmy? Wohl ein Engländer oder Amerikaner, – wie?!“

„Amerikaner, 15 Jahre alt, Sohn des letztens tödlich verunglückten Jockeys Busleyton. Ein ganz gerissener, kleiner Halunke sag’ ich Ihnen! Faul, frech, schlau, – aber ein Reiter, der mal berühmt werden wird. – Der Besitzer des Gestüts, Major Knoxon, hält große Stücke auf ihn. Ich ja auch, nur – nur – ja, denken Sie, Herr Harst, der Bengel spielt schon, wettet, macht Geldgeschäfte, – kurz, er ist mir zu frühreif!“

„Nun, das bringt der Pferdesport so mit sich. – Denken Sie doch nochmals nach, Landsmann. Vielleicht haben Sie sonst noch Anlaß zum Ärger gehabt –“

„Ach – Ärger gibt’s oft, Herr Harst. Meine Tochter –“ Er verstummte plötzlich, meinte dann: „Das sind schließlich nur Familienangelegenheiten, obwohl –“ Das weitere brummelte er in seinen blonden Bart, qualmte dann wieder dicke Wolken und erhob sich bald. „Ich muß heim. Mit meinem Einspänner bin ich doch noch eine Stunde unterwegs. Und später als vier Uhr stehe ich morgens nie auf. Da heißt’s zusehen, daß man noch ein paar Stunden Schlaf erwischt.“

– – – – – – – –

Kaum hatte er uns verlassen, als Inspektor Shesney erschien.

„Der Fürst hat sich ganz genau Bericht erstatten lassen über die Beraubung der Stahlkammer des Nazar Bagh,“ erzählte er uns. „Er ist erst heute nachmittag von einem Jagdausfluge zurückgekehrt. Er möchte Sie gern persönlich kennen lernen, bester Harst. Sie sind für ihn so eine Art Weltwunder. Er bittet Sie, ihn morgen ganz zwanglos zu besuchen, vielleicht gegen Abend.“

„Wenn’s sein muß!“ nickte Harst, der alles andere nur nicht ehrgeizig war. „Weit wichtiger ist mir, ehrlich gesagt, James Palperlon. Sie haben also Aussicht, ihn zu fangen? Da bin ich wirklich gespannt, wie!“

„Oh – das Wie ist schon genügend vorbereitet. Wir haben Glück gehabt. Die ausgesetzte Belohnung hat geholfen. Heute nachmittag kam ein Hindu zu mir nach der Polizeidirektion und berichtete mir folgendes. – Er wohnt in der Nähe des sogenannten Dschemala außerhalb der Stadt –“

„Verzeihung – Dschemala? Das ist doch das frühere Sommerschlößchen der fürstlichen Familie –“

„Ganz recht. Jetzt ist’s seit vielen Jahren unbenutzt. Sie kennen doch wohl die berühmte Geschichte von dem Verschwinden des früheren Fürsten, des Vorgängers des jetzigen?“

„Keine Ahnung –“

„So so. Für Baroda sind diese Vorgänge das wichtigste in der Geschichte des Landes seit 40 Jahren. Der frühere Fürst wollte 1875 seinen englischen Aufpasser Sir Bebberton ermorden lassen. Der Anschlag mißlang. Der Fürst sollte darauf in seinem Sommerschloß verhaftet werden. Er war jedoch anscheinend rechtzeitig gewarnt worden und entflohen. Anscheinend! Man hat ihn nämlich nie mehr zu Gesicht bekommen und nie wieder etwas von ihm gehört. Die Leute hier behaupten nun, der Fürst sei damals ermordet worden und hause als Geist noch heute in dem Sommerschlößchen. Tatsache ist, daß der jetzige Gaekwar jeden Tag durch einen vertrauten Diener Speisen und Getränke in der Vorhalle des Dschemala niedersetzen läßt, die dann stets verschwinden. Dies geht so seit dem Jahre 1875. Der jetzige politische Agent Englands am Fürstenhofe hier duldet diese Geisterfütterung mit überlegenem Lächeln, obwohl dadurch im Volke die Erinnerung an das rätselhafte Ende des früheren Fürsten immer wieder aufgefrischt wird. – In diesem Schlößchen hat nun der Hindu Tomar Sangri, seines Zeichens Gärtner, seit drei Abenden regelmäßig ein Fenster in dem einzigen Turme des Gebäudes erleuchtet gesehen, und sein Enkel, ein Bursche von achtzehn Jahren, wieder behauptet, zweimal einen Europäer beobachtet zu haben, der nach Dunkelwerden das Dschemala verließ[6]. Gestern nacht hat Tomar Sangris Enkel daraufhin eine unweit des Turmes stehende Zypresse erklettert und durch das Fenster in das Turmgemach hineingeschaut. Er bemerkte, daß ein Weißer sich einen dunklen Bart vor einem Spiegel anklebte und dann die beiden Kerzen ausblies. – Die beiden Hindu, Großvater und Enkel[7], hoffen nun schon sehr stark auf die ausgesetzte Belohnung. Ich aber habe das Schlößchen heimlich umstellen lassen und werde jeden anhalten, der nach zehn Uhr abends hinein oder heraus will.“

Shesney strahlte förmlich, als er die letzten Sätze sprach. Leider erlebte er eine arge Enttäuschung.

„Sie glauben also, daß Palperlon sich im Dschemala verborgen hält?“ meinte Harst sehr gedehnt. „Mir erscheint das reichlich zweifelhaft. Aber – wir werden ja sehen! – Natürlich möchte auch ich die Angaben der beiden Hindu nachprüfen. Es ist jetzt ½10. In einer Viertelstunde können wir aufbrechen.“

Der Inspektor schüttelte den Kopf. „Bester Harst, – weshalb zweifeln Sie denn daran, daß –“

„Oh – ich habe verschiedene Gründe, lieber Shesney,“ unterbrach Harst ihn. „Gewiß – möglich ist’s ja, daß Palperlon derartige Dummheiten macht. Aber – auch nur möglich, wenn er damit bestimmte Absichten verfolgt. – Lassen wir das jetzt. Eine Frage, Shesney: Kennen Sie den Direktor des Makresch-Gestüts näher? Es ist ein Landsmann von uns, und –“

„Ja – Karl Timoleit, eine der populärsten Persönlichkeiten der Umgegend,“ nickte Shesney eifrig. „Timoleit ist seit fünfzehn Jahren in Indien. Er war früher Wachtmeister bei der Kavallerie. Jetzt ist er Millionär. Einen so gerissenen Geschäftsmann und gleichzeitig so tüchtigen Pferdesachverständigen findet man nicht oft.“

„So – also „gerissen“ ist er. Den Eindruck macht er nicht,“ meinte Harst nachdenklich.

Shesney lachte. „Stimmt! Man sieht ihm nicht an, daß er an der Börse in Bombay schlauer spekuliert, als ein New Yorker Getreidemagnat. Von dem Gestüt gehört ihm auch mindestens die Hälfte. Der Besitzer Knoxon ist selten dort.“

Harst stand auf. „Machen wir uns fertig. Übrigens, Shesney, Timoleit hat doch eine Tochter, nicht wahr?“

„Ja – die schöne Irmgard. Die ist ganz Französin geworden durch ihre Mutter, eine geborene Lagrange[8]. Der alte Lagrange ist Kaufmann in Bombay und außerdem Rennstallbesitzer.“ –

Wir fuhren dann in Shesneys Dienstauto die Hauptstraße nach der nächsten größeren Stadt Ahmedabad nordwärts. Das Schlößchen liegt etwa zwei Kilometer von Baroda entfernt inmitten einer sehr poetischen Waldlichtung, die sich nach Westen zu öffnet und in weite fruchtbare Felder übergeht. Die Gärtnerei Tomar Sangris schloß sich unmittelbar an die westliche Parkmauer an. – Harst hatte zunächst die beiden Hindu sprechen wollen, die auf die 300 Pfund Sterling so sehr erpicht waren. Er hielt sich mit ihnen jedoch nicht lange auf und kletterte sehr bald uns voran über die niedrige Steinmauer, die den Park abteilte. Dieser war jetzt völlig verwahrlost. Das Dschemala selbst war eines jener alten Bauwerke, deren gefällige Formen leider in Indien so oft durch ein Übermaß von Türmchen, Erkerfenstern und kunstvollem Ausputz stark beeinträchtigt werden. Als Material war grauer und weißer Marmor verwandt worden. In der Mitte des Gebäudes wuchs ein viereckiger stumpfer Turm heraus, der stockwerkweise angeordnet Bogenfenster mit schmiedeeisernen Ziergittern davor und dann wieder weit vorspringende Erkerfensterchen mit bunten Scheiben hatte.

Die Zypresse, von der aus der Enkel[9] des Gärtners den Europäer im Turmgemach des zweiten Stockes beobachtet haben wollte, befand sich rechts von uns.

Shesney hatte sich soeben von uns getrennt, um seinen die Parkmauer besetzt haltenden Leuten den Befehl zu geben, jeden Fremden wohl in den Park hinein-, aber niemand hinauszulassen.

Kaum war er wie ein Schatten in der Dunkelheit des Hauptweges verschwunden, als Harst leise rief: „Ah – tatsächlich! Dort oben im zweiten Stockwerk des Turmes ist es soeben hell geworden!“

Ich schaute empor. Und ich sah auf den geschlossenen hellen Fenstervorhängen nun den Schatten eines Mannes, der in dem Gemach langsam auf und ab ging.

Harst lachte leise auf. „Shesney ist ein recht harmloses Gemüt,“ sagte er. „Palperlon scheint seine ganze Intelligenz in den letzten drei Tagen eingebüßt zu haben. Eine so rapide Verdummung findet man nicht oft.“

Ich wußte nicht, was diese Ironie sollte. Bevor ich noch fragen konnte, wie er diese letzten Sätze meine, zog er mich schon nach der Freitreppe hin.

„Wir wollen warten, bis der Bewohner des Dschemala seinen Abendspaziergang antritt,“ flüsterte er. – Wir drückten uns neben die große Flügeltür in eine Ecke des Steingeländers der Treppe.

„Willst Du allein an ihn heran, oder soll ich helfen?“ fragte ich nach einer Weile.

„Weder das eine noch das andere, lieber Alter,“ erwiderte er. „Shesneys Garde wird den Herrn schon abfassen. Wir werden uns nur das Schlößchen mal von innen ansehen. Mich interessiert diese seit dem Jahre 1875 regelmäßig erfolgende Speisung des hier hausenden – „Geistes“. Du wirst mir recht geben: Seltsam ist diese Gepflogenheit! – Der Gaekwar soll doch ein aufgeklärter Mann sein, wie Shesney behauptet. Er ist jetzt fast 50 Jahre alt und dürfte genügend europäische Bildung besitzen, um sich zu sagen, daß es mit diesen stets verzehrten Speisen und Getränken eine sehr harmlose Bewandtnis haben müsse. Oder aber, mein lieber Alter: hier liegt ein Geheimnis vor, das dem der Leuchtfratze im Tempelkeller in Makresch ziemlich gleichwertig ist. Pst! Soeben hörte ich an der Tür von innen ein Geräusch –“

Kaum hatte Harst das letzte Wort ausgesprochen, als der eine Türflügel sich mit nur sehr geringem Knarren öffnete. Ich erkannte undeutlich einen Menschen, der jetzt den Schlüssel von innen abzog und ihn dann wieder von außen ins Schlüsselloch steckte. Nun drückte er den Türflügel zu, nun schnappte ein Schloßriegel ein.

In demselben Moment schnellte Harst sich vorwärts, wobei er jedoch stolperte und mit dem einen Fuße so laut auftrat, daß der Unbekannte jäh herumfuhr und dann geradezu wie ein Blitz die Treppe hinabschoß. Selten habe ich einen Menschen mit so fabelhafter Geschwindigkeit eine flache Treppe hinabeilen sehen. Daß ich ihn nicht einholen würde, war mir sofort klar. Ich trat daher an Harst heran, der merkwürdigerweise ganz ruhig dastand und ebenso wenig Miene machte, dem Manne zu folgen.

„Es ist geglückt,“ sagte er jetzt und hielt mir den Schlüssel dicht vors Gesicht. „Es kam mir lediglich darauf an, daß der Fremde vor Schreck den Schlüssel stecken ließ. Nun brauchen wir nicht gewaltsam einzudringen. – Komm’, schauen wir uns das Geister-Dschemala in Ruhe an.“ – Harst war jetzt offenbar in bester Laune. Seit dem verhängnisvollen Abend, der dem Ehepaare Doogston das Leben kostete, hatte ich ihn nicht so angeregt und unternehmungslustig gesehen.

Wir betraten die Vorhalle. Hinter uns schloß Harst die Tür ab und ließ den Schlüssel stecken. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein. Auf dem Mosaikboden der Vorhalle standen in der Mitte auf einem hellen kostbaren Teppich mehrere gefüllte Metallschüsseln und -schalen sowie zwei Kannen. Die Speisen waren jedoch nicht angerührt worden.

„Hm,“ meinte Harst. „Sehr merkwürdig. Der Geist leidet an Appetitlosigkeit!“ – Er blickte sich forschend um. Die Halle war mit altertümlichen Möbeln ausgestattet. Linker Hand stand vor einem Ruhebett ein großer, niedriger Tisch, der mit einer kostbaren Decke belegt war.

Harst deutete auf den Tisch. „Machen wir’s uns darunter bequem.“ – Er schaltete die Lampe wieder aus, als wir nebeneinander auf dem Bauche lagen. Unter uns hatten wir ein geradezu prächtiges Exemplar von seidig glänzendem Afghan-Teppich.

„Hier halten wir’s eine Weile aus, mein Alter,“ flüsterte Harst. „Shesney wird sich nun den Kopf zerbrechen, wo wir geblieben sind! Mag er! Zu dreien arbeite ich ungern. Wir beide kennen uns und sind aufeinander sozusagen eingespielt. – Aha – Shesney rüttelt an der Tür! Nun – er wird’s bald aufgeben und denken, wir hätten außerhalb dieser Mauern irgend eine Fährte aufgenommen. – Da – nun ruft er gar! – Tut mir leid, lieber Shesney! Wir können Dich hier nicht brauchen –“

Gleich darauf herrschte um uns herum Grabesstille. Ich hatte mich möglichst bequem gelegt, denn ich rechnete auf stundenlanges Warten. Es kam jedoch anders.

Harst hatte soeben seine Uhr befragt, deren Leuchtzeiger auf elf standen. Wir konnten hier also kaum eine halbe Stunde auf der Lauer gelegen haben. Er hatte die Uhr gerade wieder weggesteckt, als irgendwoher aus dem Innern des Dschemala ein dumpfes Geräusch hervordrang. Es klang etwa wie das gewaltsame Aufstoßen einer verquollenen Tür.

„Achtung!“ flüsterte Harst.

Doch – nach diesem einen Geräusch war vorläufig wieder Totenstille eingetreten.

Die Minuten schlichen wie die Schnecken. Harst regte sich nicht. Er atmete tief und ruhig. Die Uhr lag jetzt auf dem Teppich zwischen uns. Schlief er etwa? „Harst!“ hauchte ich vorsichtig. – Dann nochmals: „Harst! Schläfst Du gar?!“

Keine Antwort. Ich streckte den Arm aus. Ich fühlte, daß Harst noch auf dem Bauche lag und die Stirn auf die Hände gelegt hatte. Er – schlief wirklich! – Beneidenswerte Nerven! Und ich – ich begriff nun: ich sollte ihn um 12 Uhr wecken – um Mitternacht – zur Geisterstunde!

– – – – – – – –

Es war zwölf – endlich! – Ich legte Harst die Hand auf die Schulter. Er war sofort wach.

„Etwas inzwischen geschehen?“ flüsterte er.

„Nein, nichts –“

„Dann dürfen wir’s wagen,“ meinte er nicht allzu leise. „Irgend jemand ist ja fraglos hier im Schloß gewesen, als die Tür dort irgendwo geöffnet wurde. Der Mensch dürfte sich aber wieder entfernt haben. Vielleicht waren’s auch zwei, – Vater und Enkel!“

Er kroch unter dem Tisch hervor. Ich folgte. Aber – ich folgte ungern. Ich finde heute, wo ich dies niederschreibe, genau so wenig Geschmack an derartigen nächtlichen Gebäudebesichtigungen wie damals.

Auf der Treppe, die aus den Gewölben in eine Art Tempelhalle hinaufführte, bückte Harst sich plötzlich und hob ein winziges Etwas auf, das ihm der Strahlenkegel der kleinen Taschenlampe gezeigt hatte. Was es war, konnte ich nicht unterscheiden. Er steckte den kleinen Gegenstand in die Tasche und schritt weiter.

Wir trugen Leinenschuhe mit dicken Gummisohlen. Daß wir jedes Geräusch vermieden, ist selbstverständlich. Lautloser als Harst es versteht, Türen zu öffnen und zu schließen, kann’s kein Einbrecher. – Im Erdgeschoß gab es nichts Bemerkenswertes. Indische Fürstenschlösser kannte ich nun schon zur Genüge. Das Dschemala bot in seiner Inneneinrichtung ganz das Bild einer Art Museum für meine Europäeraugen wie all diese phantastischen Bauten mit ihren seltsamen Möbeln.

Nun ging’s in den ersten Stock empor. Eine breite, doppelte Marmortreppe führte aus der Vorhalle in die oberen Gemächer. Die Flure waren sämtlich mit sehr schönen farbenfrohen Läufern aus feinstem Bast belegt. Offenbar ließ der Fürst hier doch wiederholt alles säubern, denn von Staub war nirgends etwas zu erblicken.

Ich hatte längst zu fürchten aufgehört, daß uns hier irgend etwas Unangenehmes zustoßen konnte. Ich ging hinter Harst drein so recht wie einer, der mit seinen Gedanken bereits daheim im bequemen Bett ist.

Das Erwachen aus diesem Zustand von körperlicher und geistiger Abspannung war so blitzartig, daß ich tatsächlich wie gelähmt an der Tür lehnte, die – jemand hinter mir zugedrückt hatte, bevor ich’s noch tun konnte. Und gleichzeitig war dann auch Harsts Lampe aufgeflammt.

Fast genau in derselben Sekunde ereignete sich aber auch ein drittes:

Von einer altertümlichen, sehr großen Lampe, die erst nachträglich für Petroleum eingerichtet worden war und die einen blutroten Seidenschirm hatte, wurde ein Tuch mit einem Ruck entfernt. –

Was ich nun, beleuchtet durch das rötliche Licht und durch den Kegel der Taschenlampe Harsts, gewahrte, erinnerte mich an – ja – an Kinderzeiten, wo ich in einer Rittergeschichte mal eine Schilderung einer Sitzung des Femgerichts gelesen hatte, die auf mich so stark gewirkt hatte, wie später nichts mehr, was ich in Büchern an Geheimnisvollem – Grausigem fand. Jeder wird, wenn er sich nur die Mühe macht ernsthaft nachzudenken, auf solche Szenen aus Büchern in seinem Gedächtnis stoßen, die sich dem Kindergemüt so fest eingeprägt haben, daß selbst das Erleben und die Lektüre in den reiferen Jahren diese Erinnerung nicht verwischen konnten.

Femgericht! Die heilige Feme. Die Selbsthilfe einer anständig gesinnten Bevölkerung gegenüber Verbrechergesindel war’s. – Und hier?

Zunächst das äußere Bild:

Die rote Lampe stand auf einem langen Tisch. Dieser war mit einer silbern schimmernden Decke verhüllt. Hinter dem Tisch, der links von der Tür schräg ins Zimmer hineinreichte, saßen drei vermummte Gestalten. – Ich will hier kein Kapitel aus einem Schauerroman schreiben, sondern ohne jede nervenprickelnde Aufmachung nur die Tatsachen wiedergeben. – Die drei Gestalten hatten es sich mit der Vermummung leicht gemacht; sie hatten sich dunkle, farbige, seidene Tischdecken umgenommen, die auch die Köpfe verhüllten. Vor den Gesichtern trugen sie Masken aus geblümter Seide, die offenbar von einem Fenstervorhang stammte.

Die drei Femrichter hatten die Arme aufgestützt und hielten in jeder Hand, die sie gleichfalls mit den Seidendecken vorsichtig verhüllt hatten, einen Revolver, so daß wir uns nun sechs Schußwaffen urplötzlich gegenübersahen.

Ich lehnte wie versteinert an der Tür. Meine Blicke hatten im Bruchteil einer Sekunde dies Bild erfaßt und hafteten nun auf Harsts Gestalt, der mir den Rücken zukehrte und in der halb erhobenen Rechten die Taschenlampe so handhabte, daß ihr Lichtschein langsam über die drei Leute dort hinwegglitt.

Ich gebe zu: nichts hätte mir so schnell meine Ruhe und Besonnenheit wiederverschaffen können als diese Gelassenheit, mit der Harst den Tisch und die dahinter Sitzenden gemächlich ableuchtete. Ich fühlte, daß mein wilderregter Herzschlag wieder regelmäßiger wurde. Ich dachte sogar blitzartig daran, in die Tasche zu greifen und meinen Revolver zu ziehen.

Da begann der eine der Vermummten schon zu sprechen. Die Stimme war tief und rauh. Ohne Zweifel verstellt. Das Englisch aber war tadellos.

„Ich warne Sie beide, auch nur die geringste verdächtige Bewegung zu machen,“ sagte der Mann mit einer unverkennbar überlegenen Gemütsruhe. „Auf Hilfe haben Sie nicht zu rechnen. Inspektor Shesney ist mit seinen Leuten nach der Stadt zurückgekehrt. Das Dschemala ist leer. Nur wir sechs befinden uns hier –“

Sechs?! – Unwillkürlich blickte ich nun auch nach rechts in die rötliche Dämmerung dieser Seite des großen Gemaches hinein. Und – dort stand tatsächlich ein vierter Vermummter, der ebenfalls zwei Revolver schußbereit in den Händen hatte.

Auch Harst hatte den Kopf nach rechts gedreht. Dann schaute er wieder den Sprecher an, der der mittelste der drei am Tische war, schaltete seine Lampe aus und sagte:

„Sie irren sich. Wir sechs sind nicht die einzigen hier im Dschemala –“

Der Mittelste lachte ironisch auf. „Sie wollen uns einschüchtern! Das wird Ihnen kaum gelingen. Wir haben diese Falle für Sie so sorgsam vorbereitet, Master Harst, daß wir keine Störung irgend welcher Art zu fürchten brauchen.“

Vor dem Tische standen zwei geschnitzte Hocker aus Ebenholz mit Elfenbeineinlagen. Der Sprecher befahl uns nun, darauf Platz zu nehmen.

„Jeder Widerstand wäre eine Torheit,“ fügte er hinzu. „Wir schießen sofort! – Legen Sie beide die Hände flach auf die Schenkel –“

Ich gehorchte. Harst schlug jedoch ein Bein über das andere und faltete die Hände um die Knie. – „Sie gestatten,“ meinte er. „Ich sitze so bequemer. – Was soll nun eigentlich dieser Mummenschanz?“

Ich wunderte mich, daß die Feme diese Eigenmächtigkeit Harsts ungerügt durchließ. Mein Respekt vor den Herrschaften wurde dadurch nicht größer.

„Sie werden sofort hören, um was es sich handelt,“ erklärte der Sprecher nach kurzer Pause. „Sie beide haben seit Monaten einen unserer Freunde, den Arzt Doktor Reginald Doogston –“

„Aha!“ machte Harst. „Dacht’ ich’s doch!“

„– Reginald Doogston hartnäckig verfolgt und dadurch, daß Sie sich in seine Angelegenheiten mischten, letztens seinen und seiner Gattin Tod verschuldet.“

„Merkwürdige Auffassung!“ warf Harst ein.

„Mund halten!“ fuhr da der Sprecher auf. „Oder ich sorge dafür, daß er Ihnen gestopft wird! – Es ist uns zu Ohren gekommen, daß Sie nunmehr die Absicht haben, dem Freunde Doktor Doogstons, einem gewissen James Palperlon in ähnlicher Weise nachzustellen. Um dies zu verhindern, haben wir beschlossen, Sie beide noch in dieser Nacht gefesselt dorthin zu bringen, wo Sie schon einmal waren: in den Park des Nazar Bagh-Palastes, – damit die sechs Tiger des Fürsten Ihnen klarmachen, wie unklug es ist, sich um Dinge zu kümmern, die eine etwas gefährliche Seite haben.“

Harst zuckte die Achseln. „Wie lange soll diese Komödie noch dauern?!“ meinte er jetzt in einem so scharfen, drohenden Ton, daß selbst ich leicht zusammenzuckte. „Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß ich auch nur einen Augenblick darüber im Unklaren sein könnte, was Sie bezwecken! Sie wollen von mir lediglich das feierliche Versprechen erpressen, Palperlon fortan in Ruhe zu lassen. Das ist alles.“

Jetzt erklang vom Femtische her ein hartes, schneidendes Lachen. Der Mann links von dem Sprecher hatte es ausgestoßen, beugte sich nun zu seinem Nachbar hinüber und flüsterte diesem etwas zu.

Harst saß noch immer mit um die Knie verschlungenen Händen da. Als der Sprecher wieder begann:

„Master Harst, Sie werden sehr bald –“

– da ereignete sich das, worauf auch ich nicht im geringsten vorbereitet war. – Harst hatte nämlich mit einem Ruck beide Beine angezogen und stieß mit den Füßen den Tisch mit solcher Kraft um, daß die Lampe im Bogen herabflog und erlosch.

Dann riß er mich zur Seite, zerrte mich nach den Fenstern hin. Ich kam erst halb zur Besinnung, als ich in einer Fensternische hinter einem schweren Vorhang hockte.

In demselben Moment knallten fünf – sechs Schüsse. Glas splitterte. Irgend etwas polterte zu Boden. Dann abermals Schüsse.

Ich sah nichts – nichts. – Aber – ich fühlte Harsts Hand, die meinen Arm umspannte und mich fest in die Ecke drückte.

Den letzten Schüssen folgten Ausrufe der Wut, der Enttäuschung:

„Die Halunken sind ins Nebenzimmer entwischt.“

„Der Schuft hat nur die eingeschaltete Lampe dem Buddha-Standbild in den Schoß gelegt –“

„Ihnen nach! Jetzt wird die Sache kritisch!“

Dieser letzte Ausruf klang so hell und scharf, als sei der, der ihn ausstieß, das Befehlen gewöhnt.

Eine Tür fiel laut ins Schloß. Dann wurde es still ringsum.

„Sie werden nach uns suchen,“ flüsterte Harst. „Warte. Ich sperre die Türen ab. Dann müssen wir durchs Fenster. Es kann nicht schwer sein, an der Mauer mit ihren vielen Vorsprüngen hinabzuklettern –“

Er lüftete die übereinander fallenden Vorhänge, huschte hinaus. Wenige Sekunden später aber schon seine laute Stimme:

„Schnell, mein Alter, – schnell. Die Bande gibt Fersengeld!“

Ich verließ das Versteck. Harst hatte das andere Fenster linker Hand geöffnet. Einige der bleigefaßten Scheiben waren, offenbar durch Schüsse, zertrümmert. Und unten auf dem nach dem Parktor hinlaufenden Weg bemerkte ich im Lichte des jetzt aufgegangenen, fast vollen Mondes vier Männer, die eiligst das Weite suchten.

Harst rieb sein Feuerzeug an; die Petroleumlampe, von deren Zylinder nur noch ein kleines Stück erhalten war, brannte freilich nur recht trübe.

Er hob den umgestürzten Tisch auf.

„Ah – sieh da, die vier haben ihre Femmäntel zurückgelassen. – Sehen wir nach, ob die seidenen Decken vielleicht –“ Er schwieg. Er hatte die eine in den erhobenen Händen ausgebreitet und geschüttelt. Ein blitzender kleiner Gegenstand fiel heraus – eine Krawattennadel, die einen Pferdekopf darstellte. Sie war aus einem Achat künstlerisch geschnitzt. Als Augen waren Türkise eingefügt.

„Ziemlich geschmacklos!“ urteilte Harst. „Für uns aber recht wertvoll. Suchen wir weiter. Vielleicht trug noch ein zweiter der Herren eine Krawattennadel, die in der Decke nachher hängen blieb.“

Wir fanden jedoch nichts mehr. – Harst trat nun in den Flur hinaus. Und dort lag auf dem Bastläufer seine eingeschaltete, aber nur noch schwach glühende Taschenlampe. Die Batterie war verbraucht. –

Harst hatte die Petroleumlampe mitgenommen. Wir stiegen in das zweite Turmstockwerk hinauf. Dieses bildete nur ein einziges quadratisches Gemach. An der einen Wand hing ein kostbarer Spiegel.

„Vor diesem dürfte der Unbekannte Toilette gemacht haben,“ nickte Harst befriedigt. „Der Enkel des alten Gärtners hat also nicht gelogen.“

Im übrigen entdeckten wir auch hier nichts, was darauf hingewiesen hätte, hier könnte jemand längere Zeit heimlich gewohnt haben.

„Was bedeutet dies alles nun eigentlich?“ fragte ich jetzt, als Harst sich sehr gemütlich eine Zigarette anzündete und auch mir das Etui hinhielt. „Glaubst Du, daß einer der vier wirklich Palperlon war?“

„Ja. Und zwar der, der so schneidend auflachte und dann mit dem Sprecher flüsterte. – Die Geschichte hier ist doch sonnenklar –“ Er hatte sich in einen Armstuhl gesetzt. Er lächelte ein wenig. „Ich werde Dir in Gegenwart Shesneys und des Fürsten einen Teil der Geheimnisse des Dschemala und der Vorgänge dieser Nacht erklären. Was noch nicht sonnenklar ist, so zum Beispiel der Zusammenhang des leuchtenden Gesichts mit der Pferdekopfkrawattennadel – und dem goldenen Zahnstocher, den ich vorhin hier auf der Kellertreppe gefunden habe – Du besinnst Dich, ich hob dort etwas auf –, also auch dieser Rest wird sehr bald kein Geheimnis mehr für uns sein. Es ist da fraglos eine große Lumperei im Gange. Ich werde Karl Timoleit – Still?! Da knarrte eine Tür!“ Er war mit einem Satz an der schweren, geschnitzten Tür des Turmgemachs und drehte den großen, kunstvollen Schlüssel um.

Wir lauschten. Und – wir hörten sehr bald Stimmen, lautes Rufen.

„Du – Dein Name! Es muß Shesney sein!“ flüsterte ich.

Harst schaute mich geistesabwesend an. Dann meinte er langsam: „Es stimmt – Großvater und Enkel! Sehr brav von den beiden –“

– – – – – – – –

Shesneys Stimme erklang ganz aus der Nähe.

„Harst – Harst!“

Der hatte schon die Tür geöffnet.

„Hierher, Inspektor!“ – Shesney und fünf Polizeibeamte stürmten auf uns zu.

„Gott sei Dank, – Sie leben!“ rief Shesney und drückte uns die Hände. „Das war ein böser Schreck für mich, als der Enkel des Gärtners nach der Polizeidirektion kam. Ich vernahm gerade den Gefangenen. – Der junge Bursche war auf ungesatteltem Pony nach der Stadt gejagt. Er hatte nach unserem Abzuge das Dschemala noch umschlichen und dabei oben in dem Zimmer einen Lichtschein bemerkt, war wieder auf eine Zypresse geklettert und –“

Harst winkte ab. „Kann mir denken, was er erzählt hat.“ – Das hatte so einen Unterton, als bezweifle er die Wahrheit dieser Angaben. Er fügte jedoch sofort hinzu: „Nun – und Ihr Gefangener?“

Shesneys Leute waren mit hellbrennenden Laternen versehen. Ich bemerkte, wie der Inspektor triumphierend lächelte.

„Der Gefangene, bester Harst,“ erwiderte er nun mit Nachdruck, „– dieser Gefangene hat bereits zugegeben, daß er – James Palperlon ist.“

„Na – dann freuen Sie sich – vorläufig!“ meinte Harst. „Ich nämlich glaube nicht daran. Könnte ich den Mann sehen und sprechen?“

Shesneys Gesicht war sehr lang geworden. Er kannte Harst zur Genüge. Aus Neid machte der solche Bemerkungen nicht.

Harst schritt schon der Treppe zu. – Schweigend verließen wir das Dschemala. Das Auto brachte uns in kurzem nach dem Dienstgebäude der Polizei, wo wir in Shesneys Amtszimmer auf das Erscheinen des angeblichen Palperlon warteten. Sehr bald führte ein Aufseher des Polizeigefängnisses diesen vor.

Der Mann war gut gekleidet, mittelgroß, bartlos, trug das dünne blonde Haar gescheitelt und hatte kleine, graue, sehr unruhige Augen.

In dem Zimmer brannte die dreiarmige, elektrische Krone. Es war so hell wie im strahlendsten Sonnenschein. – Harst hatte stumm auf einen Stuhl an der Wand gedeutet. Der Mann saß nun dort mit übereinander geschlagenen Beinen und suchte eine Sicherheit in seiner Haltung vorzutäuschen, die reichlich gemacht erschien.

Harst hatte sich an Shesneys Schreibtisch gelehnt. „Ich bin Harald Harst,“ sagte er jetzt einfach. „Sie kennen mich, nicht wahr?“

„Natürlich kenne ich Sie. Leider!“ meinte der blonde Mensch mit einem frechen Grinsen.

„Ich werde mich mit Ihnen nicht lange aufhalten. Sie sind nicht Palperlon,“ erklärte Harst beinahe vertraulich. „Es wäre besser, Sie würden das zugeben. Sie sind von gewissen Leuten bestochen worden, hier James Palperlon zu spielen. – Widersprechen Sie nicht! Lassen Sie auch dieses überlegen sein sollende Lächeln. Sie werden sofort sehr klein werden. – Ich nehme an, Sie wissen, daß Palperlon die Kleinodien des fürstlichen Schatzes in zwei neuen Rohrplattenkoffern wegschaffen wollte. Diese Koffer hatten blanke Messingbeschläge. Auf diesen Beschlägen fand ich unter den Fingerspuren, die von schweißfeuchten Händen dort zurückgelassen waren, hauptsächlich zwei Arten von Fingerabdrücken vor. Die eine gehörte zu Händen mit sehr dünnen, spitzen Fingern. Solche besaß Doktor Doogston alias Warbatty. Die zweite Gruppe mußte von Händen mit sehr kurzen, stumpfen Fingern stammen. Verschiedene Anzeichen besagten, daß diese zweite Art nur von den Händen Palperlons herrühren konnte. – Sie aber haben die reinen Spinnenfinger! Außerdem muß Palperlon den Fingerspuren nach an dem rechten Mittelfinger eine tiefe Narbe quer über der Fingerkuppe haben. Zeigen Sie mir Ihre rechte Innenhand!“

Der Mann rutschte jetzt unruhig auf dem Stuhl hin und her. Er war auch sehr rot geworden.

„Bitte – weshalb zögern Sie?!“ sagte Harst gemütlich. „Ich brauche auch gar nicht Ihre Hand zu sehen. Sie können Palperlon nicht sein, denn ein Verbrechergenie wie er, hätte niemals in einem Turmgemach, das er als geheimen Schlupfwinkel benutzt, bei unverhüllten Fenstern Licht brennen lassen. So – dumm stellt ein Palperlon sich nicht an! Nein – alles, was Sie im Dschemala trieben, deutete für mich von vornherein darauf hin, daß ich nur durch Ihre Person dorthin gelockt werden sollte. Das famose Femgericht wollte mich zwingen, Palperlons Verfolgung für immer aufzugeben. Palperlon selbst hätte mich wohl lieber sofort stumm gemacht. Aber die Beisitzer des „Gerichts“ waren offenbar Leute, die einen Mord scheuten. Auch die Schüsse auf die Buddhafigur hat sämtlich nur einer der vier Männer abgegeben, die mich schon in ihrer Gewalt zu haben glaubten. Und dieser eine – war James Palperlon. – Wer Sie sind, bringe ich morgen bestimmt heraus. Wahrscheinlich sind Sie in Bombay ansässig, jedenfalls aber hier in einem der Nachbarorte.“

Harst holte jetzt die Krawattennadel hervor.

„Kennen Sie vielleicht diese Nadel, diesen Achatpferdekopf?“ fragte er.

Der blonde Mensch zuckte leicht zusammen.

„Ich will Sie nicht zu einem Verrat an Ihren Verbündeten verführen,“ meinte Harst. „Ich bekomme doch heraus, was ich wissen will. Nur dürfte es für Sie wenig angenehm sein, als Komplice eines vielfachen Mörders entlarvt zu werden. Denn das ist James Palperlon.“

Der Mann stierte zu Boden. Dann stieß er leise hervor: „Ich – ich wußte nicht, daß es sich um – diesen Palperlon –“ Er stockte, verbesserte sich: „– daß Sie mich für einen Mörder halten –“

Harst trat dicht vor ihn hin. „Mensch. Sie sind ein Narr, daß Sie mir gegenüber sich so ungeschickt drehen und winden! Aufseher, bringen Sie den Gefangenen in die Zelle zurück –“

Der Blonde wurde abgeführt. Aber an der Tür wandte er sich nochmals um, sagte leise: „Herr Harst, ich möchte –“

Harst schnitt ihm kalt das Wort ab: „Die volle Wahrheit würden Sie ja doch nicht eingestehen. Ich merke: die Lumperei, die mit der leuchtenden Fratze im Ruinenkeller von Makresch zusammenhängt, ist weit schlimmer, als ich anfänglich annahm.“ –

Wir drei waren wieder allein.

Shesney ging ärgerlich auf und ab. „Solch’ ein Reinfall,“ meinte er. „Natürlich ist’s nicht Palperlon! Wer aber ist’s? Und was hat nun die Geschichte mit der leuchtenden Fratze zu bedeuten? Geben Sie mir darüber doch Aufschluß. Ich möchte so gern von Ihnen lernen.“

Harst zuckte die Achseln. „Ja – wenn ich nur selbst schon wüßte, um was es sich da handelt. Ich vermute vorläufig einen Rennschwindel. Ich kann mich aber auch irren –“ – Er gähnte herzhaft. „Schlafen wir noch ein paar Stunden, Shesney. Mittags will ich zu Timoleit hinaus; abends wünscht der Gaekwar uns zu sprechen und mit dem Nachtzuge möchte ich nach Bombay. Das ist zu viel des Guten, wenn man nicht ausgeruht ist.“ –

Wir schliefen bis zehn Uhr vormittags frühstückten und fuhren als besser gekleidete Hindu (die Tropensonne hatte uns mittlerweile schon so gebräunt, daß wenig Nachhilfe für die Hautfarbe nötig war) im Polizeiauto bis dicht an das Gestüt heran, stiegen in einem Wäldchen unbemerkt aus und schlichen durch den Garten des Verwaltungsgebäudes auf die Ruine des Tempels zu.

Der Eingang zu dem Kühlkeller lag nach Norden, nach der hinteren Gartenseite. Er sah nicht anders aus als jeder gemauerte Kellereingang. Die schwere Holztür war nur angelehnt. Weit und breit war keine lebende Seele zu erblicken. Um diese Stunde und bei solcher Hitze wagt sich nicht einmal der Inder ins Freie.

Harst hatte in seiner Taschenlampe eine neue Batterie. Wir stiegen die fünfzehn Steinstufen hinab. Der Lichtkegel traf dann Timoleits massige Figur.

„Grüß Gott, Ihr Herren!“ meinte er hocherfreut. „Sie sehen, ich habe hier wie verabredet gewacht. Aber – die verdammte Fratze ist doch wieder erschienen. Dort leuchtet sie an der Wand.“

Der Keller war etwa neun Meter lang und fünf Meter breit. An der Wand gegenüber dem Eingang hob sich, als Harst nun die Lampe ausschaltete, tatsächlich eine grobe Zeichnung eines menschlichen Kopfes im Profil verschwommen ab. Sie sah so aus, als habe eine ungeübte Kinderhand sie mit dicken Strichen hingemalt.

Harst bat uns, stehen zu bleiben. Er durchsuchte nun den Keller nach seiner so gründlichen Methode, was etwa eine Viertelstunde beanspruchte. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Rückwand und der leuchtenden Fratze. Dann verließ er allein den Keller. „Ich will mir mal die Tempelruine genauer ansehen,“ meinte er. „Sie ist recht ausgedehnt, während der Keller hier doch nur etwa 45 Quadratmeter Fläche hat.“

Nach fünf Minuten war er wieder bei uns.

„Ich möchte Sie einiges fragen, Landsmann,“ sagte er nun. „Zunächst: Wann haben Sie heute hier die Wache angetreten?“

„Um zwölf Uhr.“

„Leuchtete da das Bild bereits an der Wand?“

„Nein. Es erschien erst nach einer halben Stunde.“

„Hatten Sie den Keller inzwischen verlassen?“

„Das wohl. Für wenige Minuten nur. Meine Tochter kam mich holen. Sie blieb dann aber so lange hier, bis ich meiner Frau die widerspenstige Fruchtsaftschale entkorkt hatte.“

„Haben Sie auch niemandem von diesem unserem Besuch etwas erzählt?“ meinte er dann.

Timoleit wurde ein wenig verlegen. „Nur meinem Schwager, der seit vier Tagen aus Bombay hier bei uns zu Gaste ist. Doch Robin ist durchaus verschwiegen –“

„Hm. – Vielleicht holen Sie ihn einmal her.“

„Er schläft noch. Er ist erst morgens von der Jagd zurückgekehrt.“

„So so. – War er denn allein auf die Jagd gegangen?“

„Nein. Sein Freund Alvatang hatte ihn begleitet. Jules Alvatang ist ebenfalls unser Gast. – Aber, lieber Herr Harst, Sie – Sie fragen so merkwürdig. Weshalb zum Beispiel wollen Sie auch meinen Schwager sprechen?“

Harst antwortete nicht. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Dann legte er dem Riesen Timoleit plötzlich die Hand auf den Arm.

„Landsmann,“ sagte er leise, „von der nächsten Frage hängt viel ab.“ Er ließ den Lichtschein der kleinen Lampe voll auf Timoleits Gesicht fallen. „Wurden Sie während der anderen Wachen hier ebenfalls von Ihrer Tochter abgerufen?“

Der Hüne fuhr leicht zusammen. Seine Züge verrieten wachsende Bestürzung. – „Was – was soll – diese –“

„Ja oder nein?“ meinte Harst kurz, ihn rücksichtslos unterbrechend.

Timoleits Gesicht hatte sich jetzt verfinstert. In seinen Augen glomm der Argwohn auf. „Herr im Himmel,“ sagte er leise, „sollte wirklich Irmgard uns aus Übermut diesen schlechten Streich gespielt haben?! Ich begreife nur nicht, was sie damit bezweckt hat?!“ Dann besann er sich, daß er Harst noch immer ohne Antwort gelassen hatte. „Ja, ja – es stimmt schon, Landsmann. Die Irmgard war regelmäßig hier, wenn ich aufpaßte, um den Menschen abzufassen, der uns in dieser Weise zum Narren hielt. Und stets hatte meine Frau irgend einen dringenden Wunsch, wenn das Mädel mich holte. – Meinen Sie wirklich, die Irmgard könnte –“

Harst beugte sich vor, flüsterte hastig, ohne Timoleit aussprechen zu lassen: „Ihr Schwiegervater ist doch Rennstallbesitzer? Da ist wohl auch Ihr Schwager begeisterter Sportsmann, nicht wahr? Er liebt es wohl auch, dies durch seine Krawattennadel zu bekunden?“

Timoleit nickte. „Ganz recht. Er trägt stets eine Schlipsnadel in Gestalt eines Pferdekopfes.“

„Aus Achat geschnitzt?“

„Ja. – Aber woher –“

„Lassen Sie nur, bester Herr Timoleit. Nun brauchen Sie mir nur noch zu sagen, ob Sie diesen goldenen Zahnstocher in Form eines Schwertes vielleicht kennen?“ – Er nahm den zierlich gearbeiteten Gegenstand aus der Tasche und hielt ihn dem Gestütsdirektor vor die Augen. – Timoleit prallte zurück.

„Ah – das ist ja –“

„– Jules Alvatangs Zahnstocher,“ vollendete[10] Harst.

„Nein, nein, – der gehört – gehört diesem verdammten Burschen, der meiner Irmgard den Kopf verdreht hat. Na – mir kommt der feine Herr nicht mehr ins Haus! Ich weiß, was ich von ihm zu halten habe. Mich macht keiner dumm. Ich bin hier halber Engländer und recht helle geworden –“

„Wie heißt denn der Herr und was ist er?“ unterbrach Harst den erregten Redefluß.

„Natürlich Tompson, Edward Tompson! So nennen sich alle Schwindler. Tompsons gibt’s ja wie Sand am Meer! – Was er ist? Angeblich Reisender einer Londoner Maschinenfabrik. Ich glaub ihm das nie und nimmer! Der Mensch hat von Maschinen genau so viel Ahnung wie ich – von Ihrem Beruf, Herr Harst, – Ihrem Beruf aus Liebhaberei! – Vor drei Monaten etwa lernte Irmgard ihn in Bombay kennen.

Und bereits eine Woche drauf brachte sie mir den Menschen angeschleppt. Aber ich merkte bald was er wollte. Fünf Tage blieb er hier in Makresch[11] als Gast. Und in diesen fünf Tagen hat er meine Frau gleichfalls rein behext. Er fabelte immer von einer Fabrik, die er in Bombay gründen wollte, wozu ihm „nur“ noch eine halbe Million fehlte. Zwanzig bis dreißig Prozent Reingewinn wollte er erzielen. Und meine Frau war wütend, als ich dem Bruder Luftikus nicht nur Irmgards Hand, sondern auch jede Beteiligung an seinen Luftschlössern rundweg verweigerte. Seitdem habe ich von Tompson nichts mehr gehört. Aber ich fürchte, er steckt mit meinen Weibern heimlich noch immer unter einer Decke. Ich fürchte! Kriege ich das wirklich mal heraus, dann schlägt’s dreizehn! – Sie werden jetzt begreifen, Herr Harst, daß ich unbedingt wissen muß, woher Sie den goldenen Zahnstocher haben. Sollte dieser Tompson hier in der Nähe etwa wieder aufgetaucht sein?“

„Danke, Landsmann, – das genügt. – Noch eins: wie geht das Geschäft Ihres Schwiegervaters Lagrange? Wirft der Rennstall etwas ab?“

„Oh – mein Schwiegervater ist ein gebrechlicher Greis und nur noch dem Namen nach Eigentümer der Firma und des Rennstalls. Robin allein gibt sich die redlichste Mühe, auch den Rest des Vermögens noch durch verfehlte Spekulationen zu verschleudern. Er ist ein netter Kerl alles in allem, nur bodenlos leichtsinnig und – unpraktisch. Ich kümmere mich um all das grundsätzlich nicht, sonst könnte ich dauernd nur Geld geben. Bei mir hat Robin aber kein Glück mit Anleihen. Das weiß er. Er versucht’s gar nicht mehr.“

„Nur angenehm für Sie! – So, nun sind Sie freundlichst entlassen, Landsmann. Wir schleichen nach Ihnen davon. Über das leuchtende Gesicht kann ich Ihnen jetzt nur eins schon sagen: dahinter steckt etwas sehr Ernstes! – Auf Wiedersehen, lieber Timoleit. Morgen finde ich mich wieder ein.“

Timoleit schritt sehr zögernd der Kellertreppe zu. Dann machte er kehrt und sagte leise: „Hm – ich möchte Ihnen nicht verschweigen, daß sich heute früh hier etwas ereignet hat, das man vielleicht mit dem Ausdruck „ungewöhnlich“ bezeichnen kann, lieber Herr Harst. – Um halb sieben morgens fand ich den Stallburschen Jimmy Busleyton, der gerade den Favoriten „Stern von Siam“ zu reiten hat, total betrunken noch im Bett. Da er in letzter Zeit überhaupt sehr nachlässig geworden war – ich glaube, ich erwähnte Ih[nen gegenüber dieses bereits][12] –, verlor ich die Geduld und kündigte[13] ihm auf der Stelle. Er packte denn auch sofort seine Sachen und verließ eine halbe Stunde später das Gestüt, nachdem ich ihm noch als letztes in meinem Bureau den Rest seines Gehalts ausgezahlt hatte. Als dies geschehen, hatte ich wieder draußen eine Stunde zu tun. Gegen acht Uhr betrat ich das Bureau wieder. Und – da fand ich auf meinem Schreibtisch einen Zettel offen liegend, der mit Tinte und offenbar mit verstellter Handschrift geschrieben war und die Worte enthielt: „Du wirst mich kennen lernen!“ – Ich nahm sofort an, diese Drohung komme von Jimmy. Merkwürdig hierbei ist nun, daß das Bureau, dessen äußere Tür aus Eisen ist und ein Kunstschloß besitzt und dessen Fenster stark vergittert sind, weil das Zimmer doch auch den Kassenschrank enthält, verschlossen war. Der Zettel aber hatte vorher bestimmt nicht auf dem Schreibtisch gelegen. Ich wollte Ihnen dies zunächst nicht mitteilen. Angst kenne ich nicht. Die Drohung belächle ich. Aber das jemand in das Bureau hineingelangen kann, ohne –“

„Ganz recht, ganz recht,“ meinte Harst eifrig. „Sie tragen doch wohl Ihren Schlüsselbund bei sich. Kann ich den einmal sehen?“

Timoleit reichte den Ring mit einigen fünfzehn Schlüsseln Harst, der sich noch den der Bureautür und den zu dem Geldschrank zeigen ließ, dann bis zum Kellereingang ging, wo ein schwacher Tageslichtschimmer wahrzunehmen war, und dort mit dem Rücken nach uns hin die Schlüssel besichtigte. Als er sie Timoleit zurückgab, sagte er: „Ich werde nun doch besser noch heute abend mich hier einfinden. Ich rate Ihnen dringend, heute bis zu unserem Eintreffen das Bureau nicht oder doch nur stets dann zu verlassen, wenn einer Ihrer Schreiber dort weilt. Schützen Sie Abrechnungen vor und spielen Sie den dringend Beschäftigten. Ihrem Schwager Robin erzählen Sie streng vertraulich, wir seien zwar hier gewesen, wollten aber erst die Spur des steckbrieflich gesuchten Palperlon in Bombay weiter verfolgen, ehe wir uns hier mit Ihrer Angelegenheit gründlich beschäftigen. – So, nun gehen Sie, Landsmann. Und befolgen Sie genau, was ich Ihnen soeben vorschlug – sehr genau!“

– – – – – – – –

Wir waren allein in dem großen Keller. Harst hatte hier bisher alles nur mit gedämpfter Stimme gesprochen. Jetzt zog er mich vor die Rückwand, deutete auf die leuchtende Fratze und erklärte laut und mit einem heiteren Auflachen: „Ich wette, Fräulein Irmgard ist die Künstlerin, der dieses Bild zuzuschreiben ist. Eine echte Mädchenrache für ihres Vaters Weigerung, ihr eine Verlobung mit Tompson zu gestatten. Nun – wir haben zunächst Besseres zu tun, als hier derartige Kindereien aufzuklären. Machen wir, daß wir nach Baroda zurückkommen.“

Es war mir sofort klar: die Worte waren für einen Lauscher bestimmt! – Wir verließen nun den Keller, bestiegen das in sicherer Entfernung von Makresch unserer wartende Auto und waren bald wieder in Shesneys behaglichem Heim. Der Inspektor erfuhr alles, was Harst mit Timoleit verhandelt hatte. Aber – sonst auch nicht eine Silbe mehr. Wie Harst über all diese Dinge dachte, behielt er für sich. Shesney mußte nur im Schlosse anfragen, ob der Fürst uns um 6 nachmittags empfangen wolle. – Die Antwort lautete bejahend.

Ich will die Audienz beim Gaekwar nur ganz kurz streifen. Sie hat für dieses Abenteuer Harsts lediglich der Person des alten Gärtners wegen Interesse, dann noch wegen der Fortsetzung, die Harst ihr in Makresch gab. – Der Fürst war außerordentlich liebenswürdig. Wir drei – Shesney, Harst und ich – saßen dem Gaekwar auf der Schloßterasse gegenüber. Der Empfang war ganz zwanglos. Der Fürst sprach über die Beraubung der Schatzkammer des Nazar Bagh und händigte dann jedem von uns ein sehr wertvolles Andenken aus. Nein – richtiger: er wollte diese uns überreichen, mußte die prachtvollen Brillantringe aber wieder auf den Tisch zurücklegen, da Harst sehr höflich aber auch sehr bestimmt erklärte:

„Hoheit, ich möchte zuvor eine Angelegenheit mit Ihnen besprechen, die mich im Grunde nichts angeht, deren richtige Enthüllung durch mich ich aber gerade von Ihnen gern bestätigt haben möchte.“ Er berichtete kurz die Vorgänge im Dschemala von der verflossenen Nacht und fügte dann hinzu: „Der Enkel des alten Tomar Sangri hat die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, er hätte von draußen einen Lichtschein in dem „Femzimmer“ gesehen. Nein: Großvater und Enkel befanden sich im Dschemala, als die vier Vermummten über uns zu Gericht saßen und dann die Schüsse auf die Buddhastatue abgefeuert wurden. Von draußen kann der Bursche kein Licht wahrgenommen haben. Dazu schlossen die Vorhänge zu gut. Die beiden haben abends oder auch am Tage im Dschemala regelmäßig zu tun. Sie holen sich stets durch den geheimen Gang die in der Vorhalle niedergesetzten Speisen. Diese tägliche Gabe von Speise und Trank dürfte folgenden Grund haben. Ihr Vorgänger, Durchlaucht, wird noch längere Zeit in dem Häuschen Tomar Sangris in der Verborgenheit gelebt haben. Sie wußten dies und sorgten für das leibliche Wohl des verschwundenen Fürsten durch diese Geisterfütterung. Bei der Besichtigung der Hütte des alten Gärtners fiel mir nämlich die Einrichtung des größten Gemaches auf. Sie war beinahe prunkvoll. Und in einem Bücherschrank las ich auf dem Rücken der Einbände Titel von Werken, die kein einfacher Hindu sich anschafft. Nach dem Tode Ihres Vorgängers ließen Sie dann diese Darreichung von Speise und Trank fortbestehen. – Das Dschemala aber wurde nicht mehr benutzt, damit niemand in die Nähe des Häuschen Tomar Sangris käme, das ja ganz abseits und einsam liegt.“

Der Gaekwar (er ist vor drei Monaten verstorben) bestätigte dann auch wirklich Harsts Annahme in allen Punkten. Einzelheiten hierüber spare ich mir, da wir dem Fürsten Schweigen geloben mußten. – Nun erst erfolgte die Aushändigung der Andenken an uns. Harst wollte dem Fürsten, der sich für die Detektivtätigkeit so glühend interessierte, seinen Dank in besonderer Form abstatten und teilte dem Fürsten nun auch alles das mit, was mit der leuchtenden Fratze zusammenhing, lud ihn dann auch ein, uns nach Makresch zu begleiten. „Ich hoffe, Ihnen eine spannende Abwechslung bieten zu können, Durchlaucht,“ sagte er. „Es wird sehr wahrscheinlich einige recht dramatische und aufregende Szenen geben.“ – Der Fürst war mit Eifer dabei. – Bereits um ¾7 Uhr brachte ein Auto uns vier nach Makresch. In einem anderen Auto waren sechs Beamte Shesneys uns vorausgefahren, die noch eine siebente Person mitgenommen hatten.

Wir stiegen vor dem großen Verwaltungsgebäude des Gestüts aus, in dem im ersten Stock die Wohnung Timoleits sich befand. Wir trafen die Familie mit ihren beiden Gästen bei der Abendmahlzeit auf dem sehr großen Balkon an. – Irmgard Timoleit war eine glutäugige, dunkelhaarige Schönheit. Robin Lagrange und Jules Alvatang[14] stellten den Typ geckenhafter Lebemänner dar; beide waren vor Schreck über unser Erscheinen zunächst so verstört, daß sie sogar vergaßen, dem Fürsten eine Verbeugung zu machen.

Harst nahm darauf, daß er die Familie beim Essen störte, keinerlei Rücksicht. Kaum hatte der Gaekwar sich gesetzt, als Harst sofort begann: „Ich habe hier einiges in Ordnung zu bringen. Es betrifft das Femgericht gestern nacht, weiter das leuchtende Gesicht und schließlich den Geldschrank im Bureau. – Die Herren Lagrange und Alvatang warne ich vor jedem Fluchtversuch. Die Gebäude sind von der Polizei umstellt.“

Lagrange und Alvatang waren jetzt sehr blaß geworden.

„Es tut mir leid, lieber Landsmann,“ wandte Harst sich nun an Timoleit, „Ihr Familienleben vielleicht für immer zerstören zu müssen. Doch ich kann nicht gut dulden, daß Sie in schamloser Weise von den Ihrigen hintergangen und von einem Verbrecher mit Hilfe Ihres Schwager bestohlen werden. – Ob all das im einzelnen richtig ist, was ich mir als Gesamtbild über die Vorgänge hier auf Grund der mir bekannt gewordenen Tatsachen zusammengestellt habe, weiß ich nicht. Die Hauptpunkte müssen jedoch stimmen.“ – Und dann folgte Schlag auf Schlag – jedes Wort wie ein Keulenhieb. – „Die gestrige Feme bestand aus Edward Tompson alias James Palperlon, Robin Lagrange und Irmgard Timoleit. Der vierte an der Wand Stehende war Alvatang. Palperlons Zahnstocher lag auf der Kellertreppe; er allein feuerte dann sämtliche Schüsse auf den Götzen ab. Lagranges Krawattennadel fand ich in der einen Decke. Irmgard Timoleits Hände waren mitsamt den Revolverkolben so weit sichtbar, daß ich sie als Frauenhände erkannte; außerdem tragen Sie auch jetzt wieder den Marquisring, den ich gestern bemerkte, Fräulein Timoleit. Alvatang muß der vierte gewesen sein, da er ja den angeblichen Jagdausflug mitgemacht hat. – Weshalb diese Komödie und wer der geistige Urheber? – Nur Palperlon hat sie veranlaßt, um mich zu zwingen, für immer von ihm abzulassen. Er wird seinen hiesigen Verbündeten eingeredet haben, er sei ein von mir unschuldig Verfolgter, hat sie aber auch zu Helfershelfern bei seinem Anschlag gegen die Stahlkammer des Nazar Bagh gemacht, indem er Lagrange und Alvatang aus ihren Geldnöten herauszuhelfen und Irmgard Timoleit wieder nach dem geglückten großen Schlage mit sich zu nehmen und zu heiraten versprach. Er brauchte diese Komplicen, weil er mit der Riesenbeute in den beiden Koffern nicht weit flüchten konnte – nur bis in den Keller der Tempelruine. Und von diesem Keller sollte – das heißt von dem als Kühlraum benutzten Teile – jedermann nach Möglichkeit verscheucht werden durch die leuchtende Fratze, die zuerst sechs Tage vor dem „großen Schlage“ auftauchte und die nur Irmgard Timoleit stets mit einer Phosphorlösung hingepinselt haben kann. Palperlon wollte mit den Koffern und mit Warbatty-Doogston in dieses Versteck flüchten. Beweis: der Kamelwagen, den eine verschleierte Europäerin in Baroda am Nachmittag jenes entscheidenden Tages gekauft und den sie dann abends abgeholt und vor den Nazar Bagh-Palast geschafft hat. Dies auszukundschaften hat mich zwei volle Tage gekostet. Daß die Verschleierte Irmgard Timoleit gewesen, weiß ich erst heute.“

Bisher hatten alle geradezu wie gelähmt regungslos dagestanden oder gesessen. Nun aber konnte Timoleit nicht länger an sich halten. Er bekam seine Tochter bei den Schultern zu packen, brüllte förmlich: „Du – Du – ist das alles wahr? – Ah – Dein Gesicht sagt genug!“

Harst riß ihn zurück. „Landsmann, vergessen Sie sich nicht!“ rief er. – Timoleit sank in seinen Stuhl zurück. Seine Blicke waren jetzt auf seine Frau gerichtet, die für ihre Jahre noch immer ein hübsches Weibchen war. Die geborene Lagrange hatte den Kopf tief gesenkt. Und als Timoleit nun dumpf fragte: „Hast Du von alledem gewußt, Etienne?“ da fuhr sie plötzlich mit verzerrtem Gesicht auf, sprudelte eine Flut haltloser Vorwürfe heraus, die in der Hauptsache sich auf ihres Mannes Sparsamkeit, unfeines Wesen und Ähnliches bezogen.

Harst beendete diese unerquickliche Szene durch ein sehr energisches: „Hier rede ich jetzt, Frau Timoleit! – Ich habe übrigens nicht mehr viel hinzuzufügen.“ Er gab Shesney einen Wink. Der Inspektor holte nun den Gefangenen herein, der draußen schon bereit gestanden hatte, – den angeblichen Palperlon.

Der blonde Mensch war völlig gebrochen. Er hatte bereits mittags ein volles Geständnis ablegen wollen. Shesney hatte es aber vorläufig abgelehnt. – Jetzt erklärte er hier folgendes. – Er hieß Thomas Lincoln, war Buchmacher, in Haidarabad[15] ansässig und seit langem mit Lagrange befreundet. Aus Not hatte er sich bestechen lassen, im Dschemala den Lockvogel zu spielen. Lagrange hatte ihm nur anvertraut, es handele sich darum, einem Polizeispitzel einen gehörigen Denkzettel zu geben. Von allem anderen wußte er nichts. – Man hätte ihn dafür, daß er sich als Palperlon ausgab, auch nur gering bestrafen können. Palperlon hatte auf diese Weise die Polizei nur noch mehr irreführen wollen. Und Lincoln hätte man nachher die Ausrede wohl oder übel glauben müssen, er habe lediglich aus Abenteuerlust im Dschemala genächtigt und aus Renommiersucht[16] sich Palperlon genannt.

Harst, Timoleit und ich begaben uns nun in den Kühlkeller. Shesney und ein Beamter bewachten oben die ganze saubere Gesellschaft. – Timoleit hatte sich bereits wieder gefaßt. „Niemand soll geschont werden, niemand!“ sagte er ingrimmig. „Ich – ich habe stets nur für die Meinen gearbeitet und gespart. Und der Dank?! – Daß meine Frau und Tochter mich nicht liebten, wußte ich längst. Aber daß sie derart verderbt sein könnten, – nein, das ahnte ich nicht. Ihre Genuß- und Putzsucht, die Leichtfertigkeit der Lagranges ist an allem schuld.“

Wir standen nun vor der linken Mauerecke des Kellers. Harst hatte den gespannten Revolver in der Rechten. – Das Mauerstück drehte sich rückwärts. Ich leuchtete in die Öffnung hinein. Ein kurzer Gang lag dahinter. Dann gelangten wir in einen großen Raum, in dem allerlei einfache Möbel standen: zwei Holzbetten, ein Tisch, Stühle und anderes.

Aber – das Nest war leer! Auf dem Tische lag ein Zettel. Darauf war in uns wohlbekannten Schriftzügen geschrieben: „Ich habe mich bereits heute vormittag empfohlen. Grüßen Sie Irmgard, Master Harst. Sie soll mir nicht nachtrauern. Ich hätte sie nie geheiratet. Meine einzige große Liebe ist Lizabet Doogston gewesen und wird es auch bleiben. – Daß Sie dieses Versteck entdecken würden, davon war ich in demselben Augenblick überzeugt, als Lagrange mir mitteilte, Sie würden sich den Kühlkeller ansehen und als Sie uns dann gestern nacht entschlüpften. – Auf Wiedersehen, Harald Harst. James Palperlon.“

Wir blieben nur noch zwei Tage in Baroda. Harst hatte Sehnsucht nach daheim, nach seiner Mutter. – Aber – wie traurig war dann unser Empfang in der Harstschen Wohnung, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10! Die alte treue Köchin Malwine empfing uns mit rotgeweinten Augen.

Frau Auguste Harst war seit dem vorigen Nachmittag spurlos verschwunden. – Hierüber im nächsten Bande Näheres – über unsere Suche nach Harald Harsts gütiger, liebevoller Mutter.

 

 

Verlagswerbung:

Ein Stündchen

der Ablenkung, Entspannung und Erholung nach des Tages ewig gleicher Fronarbeit sollen die Harstbändchen bringen ‒ nicht mehr. Der aufmerksame Leser wird trotz der Anspruchlosigkeit dieser Erzählungen dennoch auch Belehrung und Anregung darin finden. Die lebenswahre Schilderung von Land und Leuten, die scharfumrissene Gestaltung der Charaktere und die gesunde Spannung der eigenartigen Stoffe sind uns aus den verschiedensten Kreisen der Leser immer wieder bestätigt worden. Seit acht Jahren haben Harsts Abenteuer-Erzählungen nur Freude und Unterhaltung gebracht. Schon dies sowie die vielen günstigen Beurteilungen selbst aus literarischen anspruchsvollen Kreisen beweisen, daß jeder Harstfreund mit Recht die Bändchen seinen Bekannten empfehlen kann. ‒ Jede Buch- und Schreibwaren-Handlung hält die Harst-Erzählungen zum Preise von 0,20 Rm. am Lager. Wo sie nicht zu haben sein sollten, bestelle man sie beim

Verlag moderner Lektüre

G. m. b. H.

Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“. Abweichend von den übrigen Heften wurde hier auch im Innentitel die zweite Geschichte benannt, so daß die erste Geschichte vom Verlag nochmal eine separate Überschrift erhielt.
  2. In der Vorlage steht: „wir“.
  3. In der Vorlage steht: „enthülte“.
  4. In der Vorlage steht: „ofenbar“.
  5. In der Vorlage steht: „wtr“.
  6. In der Vorlage steht: „verlies“.
  7. In der Vorlage steht: „Vater und Sohn“ – Geändert auf „Großvater und Enkel“.
  8. „Lagrange“ / „Langrange(s)“ / „Lagringe“ – Drei Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Lagrange(s)“ geändert.
  9. In der Vorlage steht: „Sohn“ – Geändert auf „Enkel“.
  10. In der Vorlage steht: „vollenget“.
  11. In der Vorlage steht: „Akresch“.
  12. Hier ist der Text einer halben Zeile doppelt. Der fehlende Text wurde sinngemäß ergänzt.
  13. In der Vorlage steht: „kündige“.
  14. In der Vorlage steht: „Alvatong“.
  15. In der Vorlage steht: „Heidarabad“.
  16. In der Vorlage steht: „Renomiersucht“.